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Schneefall

Um Punkt sechs Uhr morgens stehe ich auf. Auch diese Nacht habe ich allein auf der Couch im Wohnzimmer verbracht, und auch diese Nacht hat mich die Sorge um dich kaum schlafen lassen.

Bedrückt registriere ich das unter der geschlossenen Schlafzimmertür durchschimmernde Licht, als ich leise daran vorbei Richtung Küche gehe. Dass du neuerlich nachts das Licht eingeschaltet lässt, ist ein weiteres alarmierendes Zeichen für mich. Unweigerlich muss ich an meine Mutter denken, die ebenfalls eine Zeitlang nur bei Licht schlafen konnte. Auf mich, den damals Siebenjährigen, wirkte das irritierend, ja, bedrohlich: Erwachsene sollten keine Angst im Dunkeln haben.

Ich verzichte auf ein Frühstück, öffne die Balkontür, gehe hinaus, um draußen zu rauchen. Aufseufzend lasse ich mich in den Schaukelstuhl sinken, wickle eine Decke um mich, suche, während ich mir eine Zigarette anzünde, nach etwas Blau am Himmel, vergeblich; suche ebenso vergeblich nach etwas Leichtigkeit in mir selbst. Es gibt kein Entrinnen. Die Welt draußen spiegelt offensichtlich meine Innenwelt. Bedrückendes Grau beherrscht das Außen und lastet schwer in meinem Inneren. Dabei will ich doch vor allem jetzt, in deinem Zustand, heiter, voll Zuversicht, will der berühmte Fels in der Brandung sein.

Ich dämpfe die Zigarette aus, hole tief Atem – und atme plötzlich Schneeluft. Ja, es riecht eindeutig nach Schnee. Verwundert schüttle ich den Kopf. Ich muss mich täuschen, schließlich ist doch erst Ende September. Doch da – es beginnt tatsächlich leicht zu schneien. Aus dieser dunklen Wolkendecke so völlig überraschend zartes Weiß fallen zu sehen, wirkt sich seltsam tröstend auf mich aus. Zuversicht beginnt sich in mir auszubreiten, je länger ich die tanzenden Flocken betrachte.

Es scheint mir inzwischen unmöglich, den Blick von dem weißen Schauspiel vor mir zu wenden, unmöglich, aufzustehen, unmöglich, ins Büro zu fahren, so wie gestern mit dir vereinbart, eigentlich vehement von dir gefordert.

„Ich ertrage es nicht, dass du die ganze Zeit an mir klebst, Oskar“, hast du mich plötzlich, ohne ersichtlichen Grund, beim Abendessen angefahren. „Keine Sekunde lässt du mich allein, obwohl es dazu überhaupt keinen Grund gibt. Ich bin schwanger und nicht krank, also bitte, bitte, geh ab morgen wieder arbeiten!“

Deine Stimme ist immer schriller, immer unangenehmer, jedes deiner Worte zu schmerzhaften Stichen in meinem Gehörgang geworden, wimmernd habe ich mir schließlich die Ohren zuhalten müssen, habe dich angefleht: „Bitte, Anna, ich bitte dich, schrei doch nicht so.“

Doch du bist umso lauter geworden, hast gebrüllt, was das nun wieder solle, die Lautstärke deiner Stimme sei doch dieselbe wie immer, du hast dich hineingesteigert, wie so oft in letzter Zeit, hast das Besteck auf den Tisch geknallt, bist aufgesprungen, hast geschrien, dass das nicht mehr so weitergehe, du willst normal mit mir reden können und nicht flüstern müssen, dass die Kommunikation zwischen uns generell nicht mehr funktioniere, dass meine Harmoniesucht völlig überzeichnet und abnormal sei, ich sämtlichen, auch völlig harmlosen Auseinandersetzungen panisch ausweiche, vor jeder noch so kleinen Reibung flüchte, dass du – ja, dass du meine Art nicht mehr erträgst, meine übertriebene Fürsorge, meine unerträgliche Sanftheit, meine ständige stille Anwesenheit – und dann, als ich dich beruhigen wollte: „Anna, bitte, reg dich doch nicht so auf, denke an unser Baby“, hast du sogar vor Wut ein paar Bücher aus einem Regal gerissen und zu Boden geschleudert.

Wieder fällt mir die Parallele zu meiner Mutter auf, denke an deren Gereiztheit und Unberechenbarkeit. Manchmal, wenn das Nachbarskind zu Besuch war und wir in meinem Zimmer spielten, hat sie uns lächelnd Saft und Kuchen gebracht, war herzlich und fröhlich, doch nur Minuten später hat sie die Tür aufgerissen und uns böse angebrüllt, dass wir gefälligst leiser sein sollen, sie halte diesen Lärm nicht aus. Und wie oft, wenn ich ihr irgendetwas erzählen wollte, hat sie mich hysterisch angeschrien: „Sprich mich jetzt ja nicht an, Oskar! Lass mich in Ruhe, geh weg von mir, ich will allein sein“, um sich dann kurz darauf weinend bei mir zu entschuldigen.

Mir ist kalt, ich wickle die Decke enger um mich, denke wieder an dich, an den schönen Beginn unserer Beziehung, und daran, dass du dich doch gerade wegen meiner ruhigen Art, die dir nun so missfällt, in mich verliebt hast. Endlich jemand, der nicht ständig diskutieren und recht haben muss, hast du damals gesagt, endlich jemand, der zuhören kann. Noch vor wenigen Monaten verliefen unsere Tage harmonisch – nie hast du Streit mit mir gesucht, im Gegensatz zu jetzt.  Wie sehr du dich doch verändert hast, speziell in den letzten Wochen. Wieder steigt heiß Sorge um dich in mir auf, und ich fasse den Entschluss, mich weiterhin im Büro krankzumelden, bei dir zuhause zu bleiben, auf dich achtzugeben, auch wenn du das nicht möchtest. Auf keinen Fall werde ich dich alleinlassen. Der Fehler von damals wird sich nicht wiederholen.

Damals – da hatten die Eltern alles für eine Woche Winterurlaub vorbereitet, das Hotel war reserviert, die Koffer gepackt, doch dann, kurz vor der Abfahrt, hat die Mutter zum Vater gesagt: „Sei mir nicht böse, aber ich möchte zuhause bleiben. Ich bin müde, schrecklich müde, ich brauche Ruhe – brauche dringend ein paar Tage nur für mich. Bitte fahrt ohne mich, lasst es euch gutgehen in den Bergen, du und Oskar.“

Als der Vater gezögert hat, ist sie wie so oft wütend geworden: „Jetzt lasst mich doch endlich mal allein! Du und Oskar, ihr klebt ja die ganze Zeit über förmlich an mir. Und immer deine unnötige Sorge um mich, das macht mich fertig! Kapier doch endlich: Ich bin schwanger und nicht krank!“

„Stopp. Aus. Stopp“, sage ich jetzt halblaut, und die inneren Bilder der Vergangenheit verblassen und verschwinden folgsam, ich schließe die Augen, ziehe die Decke bis übers Kinn, schrecke auf, als du plötzlich mit wirrem Haar im Morgenmantel vor mir stehst. Offensichtlich bin ich trotz der Kälte eingenickt.

„Was ist mit dir, warum bist du nicht im Büro?“ Du klingst müde, abgekämpft.

„Ach, Anna – also, ich bleibe doch noch zwei, drei Tage zuhause. Ich gebe im Büro Bescheid, das ist kein Problem“, stottere ich, sehe, wie du deine Lippen zusammenpresst, die Stirn in Falten legst.

„Aber was sagst du zu diesem Wunder: Schneefall im September.“ Ich werfe die Decke von mir, stehe auf, strecke meine Hand über die blühenden Balkonpflanzen, um ein paar Flocken aufzufangen, sehe hinunter in den glitzernden Innenhof. „Der Schnee bleibt sogar liegen, schau!“

Du schaust nicht. Du starrst mich an, lange und sonderbar fassungslos, dann fauchst du: „Jetzt spinnst du also komplett!“

Du wendest dich ab, gehst hinein. Ich folge dir, doch du durchquerst schnell die Küche, gehst, die Tür vor mir zuknallend, ins Wohnzimmer. Deprimiert höre ich dich schimpfen: „… vollkommen übergeschnappt … wird immer ärger, redet von Schnee bei diesem schönen Wetter …“

Dann ist kurze Zeit Stille, und nun vernehme ich gedämpft deine veränderte, ruhige Stimme: „Hi, ich bin’s, Anna …“

Mehr verstehe ich nicht, offensichtlich bist du telefonierend weiter ins Nebenzimmer gegangen. Kurz darauf kommst du zurück, würdigst mich keines Blickes, während du eine Tasse aus dem Küchenschrank nimmst, den Wasserkocher einschaltest, dann Tee aufgießt und sagst: „Oskar, ich habe vorhin Mark angerufen. Wir haben Glück, ein Patient hat abgesagt, um zehn Uhr können wir zu ihm in die Praxis.“

Das kommt völlig unerwartet. Ich muss mich bemühen, meine Erleichterung nicht allzu offen zu zeigen. Ich habe dich unterschätzt: Es ist dir also sehr wohl bewusst, wie gefährdet du bist. Sicher hat es dich enorme Überwindung gekostet, Mark anzurufen, deinen Cousin, der ein paar Straßen von uns entfernt seine psychiatrische Praxis hat.

„Ich finde das großartig von dir“, sage ich und bemühe mich, meine Stimme fest und nicht allzu bewegt klingen zu lassen. „Ich meine, eben auch im Hinblick auf unser Baby.“

Du meidest meinen Blick, nippst nervös an deinem Tee, gehst unruhig hin und her.

„Ich ziehe mich dann mal an, wir sollten bald losgehen“, sagst du, verschwindest im Badezimmer. Während ich mich anziehe, nehme ich mir fest vor, dir eine Stütze zu sein, vor allem nichts zu tun oder zu sagen, was dich reizen könnte.

Als du jedoch kurze Zeit später im dünnen Kleid und Sommerschuhen vor mir stehst, kann ich mich nicht zurückhalten und sage so sanft wie möglich: „Entschuldige, Anna, ich will dich sicher nicht bevormunden, aber du hast doch nicht ernsthaft vor, bei diesem Wetter so gekleidet rauszugehen?“

Ich deute zum Balkonfenster, hinter dem es unentwegt schneit. Ich selbst habe mir dem Wintereinbruch angemessen Daunenjacke und Stiefel angezogen.

Deine grüne Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen. „Es ist September, es ist warm draußen, blauer Himmel, herrlichster Sonnenschein. Zieh du an, was du willst, Oskar, aber bitte, bitte, sag ja nichts Verrücktes mehr von Schnee, sag am besten gar nichts mehr, bis wir bei Mark sind!“

Du schnappst deine Tasche, öffnest die Wohnungstür. Ich bin versucht, dir zu widersprechen, greife nach meinem Smartphone, um wetter.com einzugeben und dir die frühwinterlichen Tatsachen, die du einfach leugnest, die du ins Gegenteil verkehrst, in digitaler Form zu präsentieren, denke dann aber an deinen Zustand, an das Baby, und sage nichts, binde mir einen Schal um und folge dir die Treppe hinunter.

Unten im Eingangsbereich wartest du, legst mir kurz deine Hand auf die Schulter.

„Ach, Oskar“, sagst du nun leise. „Ich möchte nicht ständig mit dir streiten, mir ist – mir ist einfach alles zu viel. Wir werden mit Mark reden, er wird uns hoffentlich helfen können. Gehen wir jetzt.“

Ich nicke dir betont aufmunternd zu und öffne die Haustür, was mir Mühe bereitet, denn ein starker Schneesturm wirft sich dagegen, und weht mir eiskalt ins Gesicht, als ich nach draußen trete. Ich blinzle, kann kaum die Augen offenhalten, teils wegen dem Sturm, teils wegen dem strahlenden Weiß, das die ganze Umgebung bedeckt und mich blendet. Du gehst vollkommen unbeeindruckt von all dem an mir vorbei, obwohl du beinahe bis zu den Knöcheln im Schnee versinkst, hältst deinen Kopf aufrecht wie immer, als ob du den eisigen Wind nicht spüren würdest, nicht das Nass, das er dir ins Gesicht, auf dein Haar, in deinen Nacken weht.

„Was ist denn? Nun komm doch!“, drehst du dich zu mir.

Ich schlinge den Schal enger um meinen Hals, stemme mich gegen den Sturm und stapfe zu dir. Der Schnee knirscht laut unter meinen Schuhen.

„Wahnsinn, nicht? Plötzlich Winterwetter!“, entschlüpft es mir. „Frierst du nicht, Anna? Soll ich dir eine Jacke holen?“ Angst um dich steigt in mir auf. Ich kann dich kaum ansehen in deinem dünnen Kleid, das nass an deinen Beinen klebt.

„Oskar, ich warne dich: kein Wort mehr übers Wetter! Mir ist warm, ich brauche keine Jacke“, ist deine böse Antwort, du drehst sich weg, gehst weiter.

Verzweifelt bemühe ich mich, mit dir Schritt zu halten. Ein Radfahrer fährt vorbei. Wie kann man nur zu diesen Bedingungen mit dem Rad unterwegs sein, in kurzen Hosen noch dazu?  Ich verstehe die Welt nicht mehr. Ich muss mich Schritt für Schritt vorwärtskämpfen, der Sturm lässt nicht nach, stellenweise ist es auch sehr rutschig. Unter der Schneedecke liegt anscheinend eine gefährlich glatte Eisschicht, sodass ich alle Mühe habe, das Gleichgewicht zu halten. Das Tröstliche, das der Schneefall am Morgen in mir ausgelöst hat, hat sich längst in Bedrohliches gewandelt. Wie gerne hätte ich dies einfach ausgesprochen. Früher hättest du mich verstanden, hättest meine Gedanken aufgegriffen und sie weitergesponnen, nun aber geht du ein paar Meter vor mir, gefühllos, eine Fremde, die weder Kälte und Nässe noch meine stetig wachsende Angst und Verzweiflung zu spüren scheint.

Als ich um die Ecke biege, passiert es. Ich rutsche aus, lande mit dem Gesicht voran unsanft im Schnee. Ich höre jemanden schreien, laut und anhaltend schreien. Ich halte mir die Ohren zu, presse mein Gesicht in den Schnee. Und jetzt steigt unaufhaltsam und eiskalt die Erinnerung in mir auf. Genauso wie ich jetzt daliege, der Länge nach, das Gesicht im Schnee, genauso ist meine Mutter gelegen, genauso haben mein Vater und ich damals die Mutter vorgefunden. Nach den Tagen in den Bergen das Heimkommen in ein verlassenes Haus, auf dem Küchentisch leere Tablettenschachteln, leere Schnapsflaschen. Hinterm Haus, im schneeweißen Garten, die Mutter – so ruhig, so still, so alleine – die Mutter, in einem viel zu dünnen Kleid regungslos auf einer Schneedecke liegend. Ich sehe vor mir, wie mein Vater sich über sie beugt, panisch immer wieder ihren Namen ruft, wie er hektisch ins Haus läuft, drinnen den Notruf wählt, sich gleich darauf wieder neben die Mutter in den Schnee kniet, laut schreit und weint, sehe mich starr und stumm daneben stehen und denken: ‚Nein, Papa, hör auf zu schreien, Mama möchte doch ihre Ruhe haben‘, sehe mich still auf meine Mutter schauen, auf den Schnee, der sanft zu fallen beginnt und mich seltsam tröstet, auch noch, als mich irgendjemand in die Arme nimmt und wegträgt …

Aber jetzt, jetzt –, registriere ich plötzlich, jetzt bin ich nicht still, jetzt schreie und weine ich, ähnlich wie damals Vater, verzweifelt und laut. Ja, derjenige, wegen dessen markerschütternden Schreien ich mir die Ohren zuhalten muss, bin ich selbst.

Von weit weg höre ich eine fremdklingende erschrockene Stimme: „Oskar! Oskar, sag mir, was ist mit dir? Komm, steh bitte auf, ich stütze dich. Hast du dir wehgetan?“

Du? Ja, du bist es. Anna. Ach, du weißt ja nicht, warum ich schreie und nicht damit aufhören kann, du kannst nicht wissen, dass mich durch meinen Sturz in den Schnee die Erinnerung soeben dermaßen überwältigt hat, dass ich schreien muss wie noch nie in meinem Leben, mich nicht unter Kontrolle habe. Nie habe dir davon erzählt, kein Wort von meiner toten Mutter im Schnee, nichts von ihren Depressionen, ihrer Schwangerschaft – nur dies: „Meine Mutter hatte einen Unfall als ich sieben Jahre alt war.“

Du hilfst mir auf, sagst nichts, als ich mir schließlich benommen den Schnee, den Schreck, die Erinnerung von der Kleidung klopfe, nimmst mich liebevoll stützend in den Arm, als wir langsam und schweigend weitergehen, jeder Schritt eine Qual für mich.

Zitternd nehme ich meinen nassen Schal ab, ziehe die schneeschwere Jacke aus, als wir endlich das Vorzimmer von Marks Praxis betreten. Du stehst neben mir, wischt dir mit einem Taschentuch die Nässe aus dem Gesicht, ich sehe dich an – aber nein, das ist kein Schnee, das sind Tränen, die du wegtupfst. Mark kommt uns entgegen. Hinter ihm dröhnen in unangenehmer Lautstärke Stimmen aus einem Radio, automatisch halte ich mir schützend die Ohren zu. Dennoch dringt eine fröhlich klingende Frauenstimme in meinen Gehörgang:

„Die Wetteraussichten: Es ist und bleibt ungewöhnlich mild heute, wolkenloser Himmel, Sonnenschein, bis zu 28 Grad.“

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 25218

 

 

Großstadtepisode

Durch die nasse, vom Regen belegte Scheibe erscheint die Außenwelt wie ein verwackeltes Bild, eine verschwommene Fotografie; die Lichter der Stadt sind nur grelle Punkte auf trübem Hintergrund. Der Regen hält schon seit Stunden an, das heftige Gewitter ist nach der drückenden Hitze der vergangenen Tage eine Wohltat; die Natur wird bald wieder in kräftigen Farben erstrahlen. Scheinbar geräuschlos gleitet das Taxi durch die nächtlichen Straßen Wiens, durch das offene Fenster dringt die frische, abgekühlte Luft in das Innere des Wagens. Die berühmten Gebäude der Ringstraße sind, wenn, nur schemenhaft erkennbar. Die Nacht erscheint, trotz des Wetters, friedlich – es ist, als ob der Regen die Atmosphäre reinigt. Man sieht hauptsächlich Straßenbahnen, Busse und Taxis auf den Straßen. Wer kann, vermeidet einen langen Aufenthalt im Freien, denn selbst Schirme und Regenmäntel vermögen die Wassermassen kaum abzuwehren. Und doch wirkt das Unwetter heilsam, befreiend. Mia liebt Sommergewitter, die sie an die Unschuld ihrer Kindheitssommer erinnern, die sie zum Großteil am Land bei ihren Großeltern verbracht hat.

Seine Stimme hat verzweifelt geklungen, als er sie angerufen und gebeten hat, vorbeizukommen.

Es sind einige Monate vergangen, seit sie sich zum letzten Mal gesehen haben:  Ein Mann und eine Frau sind aus entgegengesetzten Richtungen zu einem kleinen Taxistand am Schwedenplatz geeilt, den sie zeitgleich erreicht haben, um sich das einzige Taxi zu sichern. Augen weiteten sich, wussten nicht, wohin sie blicken sollten, als Marco und Mia sich wieder gegenüberstanden. Er hatte in den Wochen zuvor ein paar Mal versucht, sie zu erreichen, vergebens. An jenem Abend überließ Marco Mia das Taxi – sein Blick war bedauernd, als Mia wortlos einstieg, ohne ihm anzubieten, sich das Taxi zu teilen. Doch sie hatte ihm nicht in die Augen schauen können, seine Nähe nicht ertragen. Das war vor drei Wochen, mittlerweile hat der Frühsommer Einzug gehalten. Deshalb ist sie noch immer überrascht, dass sie seinen Anruf angenommen, seiner Bitte nachgekommen ist und jetzt im Taxi zu ihm fährt. Und sie hat schmunzeln müssen, als sie den Taxistand neben der U-Bahn erreicht hat – im einzigen Taxi erblickt sie ein vertrautes Gesicht; sie kann ihre Freude darüber, Ahmed wiederzusehen, nicht verbergen. Auch Ahmed lächelt und steigt aus, um sie herzlich zu begrüßen. „Wohin geht die Fahrt?“, fragt er schließlich, „kenne ich den Weg schon?“ Mia nickt und lächelt – er hält ihr wieder die Türe auf, so wie bei all den Fahrten zuvor. Und Mia erinnerte sich …

Sie hatte Marco über eine Freundin kennengelernt, die gegenseitige Sympathie war vom ersten Augenblick an unbestreitbar. Sie hatten sich über viele Wochen getroffen, waren sich nähergekommen, ohne die Dinge jemals zu definieren – vielleicht war das ihr erster Fehler gewesen. Er hatte sie immer wieder überrascht, mit Dingen, die sie ihm erzählt hatte.

Es war ein ebenso stürmischer Samstagabend gewesen, an dem er sie zum Essen eingeladen hatte; sie hatten viel herumgealbert, es sich gut gehen lassen, bis es beinahe Mitternacht war und sie ein Taxi gerufen hatten. Es hat eine halbe Stunde gedauert, bis das Taxi endlich das altehrwürdige Grand Hotel erreicht hatte, in dessen Sushi-Bar Unkai Marco und Mia zum Abendessen verabredet waren. Die beiden trafen sich seit Monaten regelmäßig, keiner konnte die tiefe Zuneigung dem anderen gegenüber wirklich verbergen, doch standen sie sich noch mit ihren Unsicherheiten, den emotionalen Altlasten im Weg, beide waren Meister im Vermeiden eines ernsten Gespräches. Immer wieder fiel der Blick des Fahrers Ahmed auf das gegensätzliche Paar, welches schon einige Mal mit ihm gefahren war: Die junge Frau trug ihr dichtes, dunkelblondes Haar offen, es reichte bis weit über ihre Schultern. Ihre Gesichtszüge waren weich, passten zu den warmen Rundungen ihres Körpers, ihre vollen Lippen waren zu einem sanften Lächeln geformt, während ihr Kopf vertrauensvoll halb auf der Schulter, halb auf der Brust ihrer Begleitung ruhte. Der junge Mann flößte ihm Respekt ein, obwohl er kaum jemals sprach. Sein Blick ruhte beinahe ununterbrochen auf der jungen Frau neben ihm; gelegentlich schweifte er ab, die Umgebung absuchend, ständig auf der Hut, nach einer potenziellen Gefahr Ausschau haltend. Der dichte, dunkle Bart war gepflegt, verlieh ihm zusätzlich eine respekteinflößende Ausstrahlung, das kantige Gesicht wirkte ungerührt, ließ keine Interpretation zu, die dunklen Augen waren wachsam.

Es herrschte überraschend wenig Verkehr für einen Samstagabend, sie erreichten ihr Ziel, ein mittelgroßes Haus mit Garten in Altmannsdorf, schneller als erwartet. Dieselbe Adresse wie immer, Ahmed erkannte das Gebäude. Das Paar hatte während der Fahrt nicht mit ihm oder miteinander gesprochen, aber Ahmed nahm jede Fahrt, wie sie kam. Er war seit vielen Jahren Taxifahrer, über zwanzig Jahre, also beinahe sein ganzes Berufsleben, und immer in der Nachtschicht. Er hatte unzählige Menschen an ihr nächtliches Ziel gebracht, wenig überraschend waren ihm nur wenige Fahrgäste in Erinnerung geblieben, darunter auch dieses Paar. Die beiden harmonierten, ergänzten sich in ihrer Männlichkeit und Weiblichkeit perfekt. Er hatte den Mann schon oft gefahren, immer in unterschiedlicher Begleitung – nur die dunkelblonde, mollige junge Frau war wiederholt an seiner Seite. Und nur bei ihr, das hatte Ahmed im Laufe der Zeit festgestellt, wirkte der junge Mann wie ein Soldat, der ein kostbares Gut zu schützen hat. Keine der anderen Frauen hatte er je so vertraulich an sich lehnen lassen, oder war in deren Gegenwart so reserviert, im Beobachtungsmodus. Sie waren wie Puppen, mit denen man nicht lange spielt. Ob sie von den anderen Frauen wusste? Und ob der Mann sich an ihn erinnerte? Nichts in beider Auftreten deutete darauf hin.

Marco schreckte kurz auf, als das Fahrzeug zum Stillstand kam, so sehr war er in Gedanken versunken gewesen, während das sanfte, rhythmische Trommeln der Regentropfen auf dem Autodach Mia eingelullt hatte – sie war an seiner Schulter eingedöst. Der Taxifahrer kam Marco bekannt vor, ihm schien, als hätte ihn dieser oft gefahren, wenn er mit diversen Liebschaften den Heimweg angetreten hatte. Er beschloss, den Taxifahrer nach seiner Nummer zu fragen, es konnte nicht schaden, einen direkten Draht zu haben, der Mann erschien diskret, unaufgeregt. Mia, die durch seine hastige Bewegung aus dem Halbschlaf aufgewacht war, blickte sich verschlafen um, nur langsam, müde realisierte sie, dass sie schon bei Marcos Haus angekommen waren, und stieg aus. Während sie schon zum Haus ging, sprach Marco noch kurz mit Ahmed, ehe er ihr folgte.

Marco liebte Mias mollige Figur, ihr dichtes, dunkelblondes Haar, ihre großen Brüste, die sich während des Aktes immer wild bewegten. Er konnte seinen Kopf stundenlang zwischen ihnen vergraben, ihre sinnliche Weiblichkeit einatmen. Sie war alles, was er so bisher nicht kannte: auf reizende Weise in manchen Belangen unerfahren, warmherzig, uneigennützig, freigiebig, präsenter und aufmerksamer als jede andere Frau, die er bis jetzt kennengelernt hatte. Er fühlte sich ruhig, angenommen in ihrer Gegenwart. Doch was, wenn es ein Trugschluss war? Sie war leise, klar, bestimmt – doch was, wenn wieder alles schiefging? Die lauten, überbrodelnden, besitzergreifenden, manchmal vulgären Frauen waren ihm immer schon vertraut, ein Muster, das er kannte. Das Sanfte, Bedachte, Aufmerksame verwirrte, ängstigte ihn. Noch konnte sein rastloses Herz keine Ruhe finden, keine Entscheidung treffen.

Als sie bei der Haustüre ankamen, waren beide durchnässt – noch immer regnete es in Strömen. Marco war froh über die kurze Unterredung mit Ahmed, sie würde seine amourösen Aktivitäten sehr vereinfachen. Sobald sich die Türe hinter ihnen schloss, umarmte Marco Mia von hinten, küsste ihren Hals zärtlich, fuhr mit seiner Zunge daran entlang. Sie erschauderte – selbst überrascht von der zwischen ihnen bestehenden Anziehung. „Ich will mit dir duschen“, flüsterte Marco und drehte Mia mit einer sanften, aber bestimmten Bewegung um, um sie zu küssen. Ihre Lippen schmeckten nach Gin Tonic, sie war  die einzige Frau in seinem Umfeld, die nicht rauchte. Unter dem warmen Wasser kamen sich die beiden wieder näher: Marcos erfahrene Hände wanderten über Mias sanfte Rundungen, seiften sie ein – sie lehnte sich mit geschlossenen Augen an ihn, genoss die sanfte Massage ihrer großen Brüste, war erfreut über seine deutlich wachsende Erregung, die sie zwischen ihren Schenkeln spürte. Sie liebte es, sich ihm hinzugeben, sich seiner Führung zu überlassen.

Es regnete noch, als die beiden aus der Dusche kamen, die Regentropfen trommelten rhythmisch gegen die Fensterscheiben. Marco lenkte Mias Schritte ins Schlafzimmer; er liebte es, Mia zu verwöhnen, ihre Lust mehrfach zu entfachen und sie danach verschwitzt, aber glücklich im Arm zu halten. Ob sie etwas von den anderen Frauen ahnte, vielleicht dachte, dass sie exklusiv zusammen seien? Marco konnte sie sich nicht mit einem anderen Mann vorstellen, aber sich auch nicht dazu entschließen, nur mit ihr zusammen zu sein. Ein Teufelskreis.

Die Wochen vergingen, immer öfter brachte Ahmed die, wie er fand, wunderschöne mollige Frau nach Altmannsdorf; ein privater Deal mit Marco; der Zuverdienst kam bei drei Kindern gelegen. Manchmal unterhielten sie sich, über das Wetter, Urlaubspläne, Alltägliches … Doch ihr von den anderen Frauen zu erzählen, das brachte Ahmed nicht über sich. Mia war gespalten, Ahmed bemerkte während den Fahrten häufig ihren nachdenklichen Blick aus dem Fenster, sie vermutete nur, dass sie nicht die Einzige war, dass es vielleicht nicht reichte für einen gemeinsamen Alltag. Manchmal überlegte sie, ob sie den Fahrer nach anderen Frauen fragen sollte, vielleicht hatte er etwas mitbekommen, doch immer wenn sie kurz davor war, verließ sie der Mut.

Manchmal bemerkte sie Marcos sehnsuchtsvollen, suchenden Blick, der auf ihr ruhte, doch ohne ein eindeutiges Bekenntnis wollte sie ihm keine tiefere Bedeutung beimessen. Er schickte ihr seit geraumer Zeit ein Taxi, wenn sie verabredet waren, immer den ruhigen, bedachten Fahrer aus jener stürmischen Nacht. Das Taxi war immer schon vorausbezahlt, es behagte ihm nicht, wenn sie, vor allem in den Abendstunden, alleine unterwegs war, sie sollte sicher sein.

Es war ein stürmischer Augustnachmittag, ein verregneter Samstag, als Mia erstmals eine andere Frau sah, eine Bestätigung für ihre Vermutung erhielt. Die Ferien machten sich bemerkbar, es herrschte kaum Verkehr auf den Straßen, das Taxi erreichte sein Ziel früher als geplant. Als das Taxi zum Stehen kam, lachte Mia noch über einen Witz, den Ahmed gemacht hatte, als ihr Blick auf die Frau fiel, die gerade Marcos Grundstück verließ. Ihr Herz verkrampfte sich für einige Sekunden, während ihre Augen sich mit Tränen füllten. Ahmed wusste nicht, was er sagen sollte, als er die Situation erkannte – hätte er doch früher etwas sagen sollen?

„Willst du zurückfahren?“, fragte er leise, um irgendetwas zu sagen, „die Fahrt geht auf mich!“ „Nein“, antwortete Mia kopfschüttelnd, „da muss ich durch!“ Mit diesen Worten stieg sie aus, nicht ohne noch einmal dankbar lächelnd zurückzublicken.  Das Schweigen zwischen Marco und Mia war an diesem Abend laut, bis Mia schließlich die eine Frage stellte, die ihr am meisten in der Seele brennt: Gab es die anderen Frauen von Anfang an? Marco schwieg, bis er schließlich ehrlich gestand: Ja, aber du warst aber die Einzige, die regelmäßig gekommen ist, weil du mir etwas bedeutest, alle anderen waren immer nur für eine Nacht, wenn überhaupt. 

Mia verließ das Haus wortlos, ohne auf Marcos Angebot einzugehen, ihr ein Taxi zu rufen, damit sie nicht öffentlich fahren musste; der Weg zur nächsten Nachtbus-Station war weit. Sie war überrascht – Ahmed hatte gewartet, wenige hundert Meter von Marcos Haus entfernt, für den Fall der Fälle hatte er seine Pause genommen. Mia weinte lautlos, während das Taxi durch den Regen fuhr – wieder einmal.

Erneut fährt das Taxi lautlos durch die stürmische Nacht, Mia hat keine Ahnung, was sie erwartet, sie kann sich nicht vorstellen, was Marco von ihr möchte. „Ahmed, hast du in der letzten Zeit viele Frauen zu ihm gefahren?“, fragt sie schließlich. Ahmed antwortet nicht, aber ihre Blicke treffen sich im Rückspiegel. Mia hat es geahnt, fragt nicht weiter nach. Als sie vor Marcos Haus ankommen, gibt Ahmed Mia eine Karte – er hat ihr seine Nummer aufgeschrieben. „Melde dich, wenn du etwas brauchst“, sagt er, sein Ton klingt väterlich. Er parkt einige Meter weiter, nachdem Mia ausgestiegen ist. Für den Fall der Fälle.

Mia steht eine Weile vor dem Haus, im Wohnzimmer brennt Licht, hinter der Terrassentür aus Glas ist eine Silhouette wahrnehmbar. Doch sie bringt es nicht über sich, zur Haustüre zu gehen und zu läuten. Schließlich dreht sie sich um, sieht das Taxischild in der Dunkelheit der Nacht und geht auf das geparkte Auto zu. Ihr Handy läutet mehrfach, bis sie es schließlich abstellt. Noch ist die Zeit zu reden nicht gekommen.

Cornelia Hell

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten| Inventarnummer: 25214

Idole

Ich weiß nicht, was das soll?
Ich habe kein Idol!
Niemand, den ich so dann und wann
bewundern und nachahmen kann.

Jemanden, der mich inspiriert!
Der mich als Vorbild motiviert!
Verdammt, eine Persönlichkeit,
die mir durch ihre Fähigkeit
die Lösungen vermittelt
und so an meinem Ego rüttelt.

Würd sie bewundern und verehren,
blind würd ich ihr vertrauen.
Ihr Tun und Lassen heiß begehren,
und ehrfurchtsvoll zu ihr aufschauen.

Ein Idol, das mich richtig anspornt.
Das, was ich sage, nicht verballhornt.
Dem ich, ganz in diesem Sinn,
mit Hingabe als Fan dann dien!

Und hab ich nicht als junger Spund
Popstars gern verehrt, na und?
Wie sie sich gaben, imitiert,
daran hab ich mich orientiert.

Auf der Suche, wer ich bin,
das machte mir damals wohl Sinn.
Habe versucht, mich zu verhalten
oftmals so wie Filmgestalten.

Jagger war’s und Peter Fonda,
auf der Harley, nicht auf Honda.
Eastwood gar und Dennis Hopper,
mit der rot-gelb-farb’nen Chopper.

Später, als ich älter war,
Martin Sheen, als Captain gar.
Wirres, der Apokalypse
vagen Selbstbewusstseins Stütze.
Doch niemals wollt’ ich Hitler sein,
Stalin, oder sonst ein Schwein!

Aber jetzt, als alter Mann,
fang ich damit nichts mehr an.
Niemand kann und will ich sein
als nur mehr ich, das ganz allein.


Copyright: Norbert Johannes Prenner

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Norbert Johannes Prenner (Text und Grafik)

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 25213

Neid

Ich gebe zu, dass es so ist,
und dass der Neid mich manchmal frisst.
Wenn man and’ren was nicht gönnt,
was man selber haben könnt’.

Sei’s der Wunsch nach dem Vergnügen,
über and’re zu verfügen,
oder einfach beim Vergleich,
ich bin arm und der ist reich.

Und so kommt es, dass ich spür,
mir geht was gegen die Natür,
weil da jemand es ganz leicht,
ohne Anstrengung erreicht.

Wenn ich dann somit vergleiche,
seh ich, dass ich’s nicht erreiche.
Und ich fühl als Reaktion
ein Defizit meiner Person.

Und weil ich sowas echt nicht fass,
krieg ich oftmals einen Hass!
Sieht vielleicht wer besser aus,
oder scheint’s, der ist groß raus.

Was da wenige besitzen,
kriegt man nicht mal durch Stibitzen.
Welchen Sinn macht eine Welt,
die man doch für unfair hält?

Und ich werde zum Berserker,
denn der Neid wird immer stärker
und sich der, wie man oft sieht,
auf Gleichaltrige gern bezieht.

Das kann so den blutrünstigen
Neid oft schon begünstigen.
Dasselbe schafft auch eine fiese
unverhoffte Lebenskrise.

Das ist kein Spaß, ich krieg Beschwerden,
die durch gar nichts besser werden,
und hab Lust, auch trotz Entsetzen,
oft andere herabzusetzen.

Kluge Ratgeber, die sagen,
besser wäre, sich zu fragen,
was mag hinter’m Neid wohl stecken?
Is’ mir gleich, auch ums Verrecken!

Das Bewusstsein eig’ner Grenzen
zu erweitern und ergänzen!
Aber was, da pfeif ich drauf,
denn der Neid, der frisst mich auf!

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Norbert Johannes Prenner (Text und Grafik)

www.verdichtet.at | Kategorie: Perfidee | Inventarnummer: 25212

Platz da

Kann doch nicht so schwer sein, rechts zu gehen?
Weicht man nicht von selber aus, ist es besser, man bleibt stehen.
Leute, so ist’s heute üblich, bloß nicht Rücksicht nehmen, gilt!
Alles ist vergessen worden, was man einst für richtig hielt.

Auf dem Gehsteig tummeln sich Radler, Scooter, Kinderwagen.
Geht dazwischen wer zu Fuß, ist er Freiwild, muss man sagen.
Touristen geh’n in Viererreihen, denken nicht dran, auszuweichen.
Hier sind wir, und habt bloß Acht, wollt ihr vorbei, dann gebt ein Zeichen!

Musst du auf die Straße treten, weil der Gehsteig ist besetzt,
kommen flugs von allen Seiten Biker her, man ist entsetzt!
Hallo, bleibt auf eurer Seite, schreist du hilflos, aber barsch,
keiner schert sich wirklich um dich, fahr’n dir beinah über’n Arsch.

Einbahnstraßen, liebe Leute, wie ihr seht, die gibt’s nicht mehr.
Fahrzeuge aus jeder Richtung fall’n gnadenlos über dich her.
Jeder darf, scheiß auf die Route, Hauptsach’ ist, es geht sich aus,
alle, die da rüber müssen, jetzt und gleich, es ist ein Graus!

Schick ist, Ampel ignorieren, wurscht ob gelb oder schon rot.
Am Radl kann mir nichts passieren, denn ich bin schneller, oder tot.
Echt, da greift man sich aufs Hirn, das Verkehrskonzept scheint grün.
Wer fragt schon, sinnvoll oder nicht, durchgesetzt, Hauptsache „in“.

Vorsicht auf dem Weg der Räder, nämlich, was Sie wissen müssten,
pfeilschnell schneiden fliegend’ Mütter Kurven kühn mit ihren Kisten.
Stromgetrieben, heikle Ware, drei, vier Kids, im besten Fall,
überhol’n dich blitzeschnelle und hab’n Vorfahrt überall.
Aus dem Inner’n des Behälters frohlockt die verwöhnte Brut.
Man schert sich wenig um die andern, Hauptsach’ ist, uns geht es gut!

In den Öffis steht auch keiner wegen ein paar Alten auf.
Junge starren in ihr Handy, stundenlang und blöde drauf.
Glücklich die, die gar nicht merken, mag die Welt zugrunde geh’n!
Wichtig ist, mein Platz ist sicher, und die and’ren dürfen steh’n.

Kann das sein, was ich da wahrnehm’, ist das immer so gewesen?
Träum ich, wach ich, oder spinn ich oder werd ich einfach alt?
Hab’n die Zeiten sich gewandelt, steh ich kurz schon vorm Verwesen?
Besser scheint ein guter Rat, der wäre, dran gewöhn dich halt!

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Norbert Johannes Prenner (Text und Grafik)

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 25205

Gespenster

Um fünf Minuten vor eins in der Nacht sitzen die Gespenster an ihrem Abendbrottisch, der weiß-transparent ist wie sie. Zwei ehemalige Männer und zwei ehemalige Frauen. Sie müssen nicht essen und trinken, aber sie tun es, als Ritual. Die Esswaren und Getränke haben sie aus deinem Kühlschrank entwendet. Deshalb also fehlt ständig etwas! Olaf, das ältere Männergespenst, trinkt Puntigamer Bier aus einer Dose. Du siehst, wie die Flüssigkeit seine Kehle hinunterrinnt.

Das lustige Gespenst auf dem Skateboard

Das lustige Gespenst auf dem Skateboard

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig | Inventarnummer: 25210

Das Blatt des Ahorns

Ich spüre den Hauch eines Hauches.
Der Wind, dessen Geschwindigkeit mit 0 km/h angegeben ist, kann ein Sturm für mich sein.
Ich bin das Blatt des Ahorns, das fällt.
Ich schaukle mich zu Boden.

Der kleine Schneemann mit dem Ahornblatt schmilzt am 21. Dezember 2022

Der kleine Schneemann mit dem Ahornblatt schmilzt am 21. Dezember 2022

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: Kleinode – nicht nur an die Freude | Inventarnummer: 25208

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