Kategorie-Archiv: Markus Peyerl

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Das Haus ohne Dach

Der Herbert rannte vorbei an dem Haus, das kein Haus mehr war, weil ihm oben das Dach fehlte. Eine waagrechte Wand nur saß da, auf den senkrechten Wänden drauf, auf die von oben seit gestern der Regen fiel, und hinein floss, in die Löcher, und durch ein Rohr dann bergab in den Boden.
Ein Umweg nur also.
Maximilian Schuppe pfiff.
Maximilian Schuppe, der pfiff, pfiff zurück den Pudel, nur, der lag schon da, auf der Seite, der hatte den Fahrradständer schon wieder nicht kommen sehen, den gleich nach der Ecke, so schlecht sah der Herbert, seit länger schon.

Und:
Maximilian Schuppe, der, der kam dann ebenfalls herum um die Ecke.
Er kam, ja, aber er lief nicht, es war, mehr ein Schlendern, und er beugte sich hinüber, über die schnell gleichmäßig sich hebenden Pudelrippen, und er fragte sich, was der Herbert wohl träumte, wenn er wie üblich jetzt hechelnd so dalag, und ihm die Nase weh tat.
Vielleicht.
Vielleicht ja von Knochen, die auf der Wiese auf Sträuchern wachsen, auf Sträuchern, und nicht auf dem Baum. Der Baum, die Bäume, jeder soso hoch, ein Schnappen nach Luft wär’ das nur ja, nur ein zu hohes Hüpfen, ein leeres, leeres Maul. Dann lieber doch weiter unten, näher da bei den Zähnen dort, lieber Sträucher, aber ohne Dornen, oder sonst was mit Stacheln drauf. Glatt, glatt die Ästchen, ganze Äste wegen dem wenigen Dicksein allein schon nicht, nur Ästchen also, dünne Ärmchen, an einem Stamm, nicht allzu viel mehr breit. Also Ästchen also, ohne Dornen, und drauf dann die Knochen mit Mascherln fest, vom Gewicht her verbogen wahrscheinlich, nur die Ästchen, sie halten, im Traum.
Im Traum, im Traum ist da die Schwerkraft ja immer ganz wählerisch.
Im Traum, da ist dann nicht immer nur das schwer, was auch runter fallt.
Weil: Einmal fliegt da ein Zebra.
Und: Beim nächsten Mal stürzen die Wolken ab.
Aber: alles weich dann, mit den Wolken am Boden.
Übers Knie.
Bis zum Kinn.
Knochen auf Sträuchern also.

Und womöglich ein Bach daneben.
Ein Bach, genau, und sicher mit Wasser drinnen, eins sogar mit Geschmack vielleicht, ein Geschmack vielleicht, als hätt’ es einmal selbst auch die Felsen berührt, das Wasser. Von ganz weit oben, ja, da kommt der her, der Bach, von dort, wo kein Strauch mehr wächst und kein Baum auch, wo der Schnee schmilzt, und keiner sich beschwert, wenn’s stinkt einmal. Von oben also, von dort aus also kommt der Bach daher da zum Knochenstrauch, und mit ihm die Fische, die erst viel später einsteigen. Oben dort, dort, wo der Bach noch zu flach wär’, ein Rinnsal, dort, dort sind die Fische noch nicht dabei, die kommen erst aus den Eiern dann, und da schwimmen sie. Da schwimmen sie, und da tauchen sie auf mit dem Maul zuerst, so wie jetzt in der Lacke der Regen, so schaut das im Traum sicher aus.

Aber was macht die Katze?
Was macht die Katze da!
Die Katze, die, die mit den grünen Strumpfhosen, die, die da die Steine jongliert mit den Pfoten, die, die da im Kreis rennt, auf der Waschmaschine, und um sie herum lauter Küken? Lauter Küken, lauter gelb, und gelb, von der Farbe allein schon fast Dotter noch, Dotter noch aber, die gemeinsam ein Lied singen, in dem sich absolut nichts reimt. Kein Besen Wesen, Lesen Käsen, Trinken Winken, kein Achten Pachten, keine Endung überhaupt, die sich ähnelt, dieses Kükisch, eine schwere Sprache, so beim ersten Mal Hör’n, nicht zum Versteh’n. Nicht zum Versteh’n, nein, und nicht mal nur irgendwas, und nur irgendwie, so jetzt auf die Schnelle auch, alles hoch, alles Piepsen nur, und die Küken, die hüpfen herum um die Katze, und ihre Strumpfhosen sind plötzlich blau. Grad noch grün, jetzt schon blau, so schnell ist das gegangen mit der Farbe, und auf dem Kopf, da hat die Katze auf einmal zwei Kühe sitzen, kleine Hörner, kleine Euter, et cetera.
Nicht in voller Größe also, die Kühe.
Aber zwei.
Zwei Kühe, geschrumpft, auf Meerschweinchengröße so zirka, und beide sitzen da, am Kopf von der Katze, und kauen mit offenem Mund. Sie kauen, sie kauen und kauen und kauen, so weit so wie breit es geht, aber kein Heu oder Gras oder Gänseblümchen, sie kau’n an Gletscherspeck aus dem Gurktal. Unten das Plastik, und drüber die Folie, am Kopf von der Katze, da kau’n die Kühe sie auf, die Packung mit dem Berg vorne drauf groß, und da fallen sie dann, die jetzt freien Speck-streifen, da fall’n sie, wie gar nicht klebrig und roh. Da fallen sie, also er, er, er fällt, er fällt, der Speck, samtig, und auf und über die Küken, die sich die Speckstreifen umschnall’n wie Bademäntel, die sich Pfeifen anstecken, ohne Rauch. Kein Rauch, nein, und auch keine Seifenblasen, es ist, als wär’ da gar nichts zum Rauchen da in den Pfeifen drin, doch das, das stört kein Küken nicht. Sie ziehen trotzdem, und sie paffen, nichts rein oder raus aus den rosa Schnäbeln, die Schnäbel, wegen dem Trotzdem bald rot schon fast, und sie hüpfen nicht mehr, sie steh’n. Die Küken, sie steh’n, stehen da, flauschig wie am Langhaarteppich, die Flügel verschränkt hinterm Rücken, mit drei Zeh’n, so stehen die da, die Küken, doch da: Da kriecht eine Schnecke heran.
Langsam natürlich.
Langsam.
Nur ist es gar keine Schnecke, was da so langsam heran kriecht.
Keine Schnecke, nein, keine richtige, mit Haus, ja, aber sicher nicht ihr’s, ein Haus ist das zwar bei der Schnecke am Rücken oben, nur keins für Schnecken, für Menschen eins. Eins für Menschen ist das, eins mit Fenstern und Türen, eins mit Ecken und Ecken und Kanten, also praktisch, eigentlich, also nie weit aufs Klo:
Bein heben.
Ahhhh.
Fertig.
Ja.
Also.
Also nicht nur mit Ecken, das Haus, mit Türen halt auch jedenfalls, und mit Fenstern, hinter dem einen ein Licht brennt, ein Licht brennt da, und davor tanzt Gemüse. Es tanzt, und das Dings, das wedelt, das Büschel da, das grüne, das von den Karotten oben, davor, vor dem Licht, das da dauernd die Stimmung wechselt, eine Gurke, eine Zwiebel, ein Kohlrabi, ein Paprika. Die Gurke krumm, und stumm im Kopfnicken, die Zwiebel in Schalen, die sich nach außen wölben vom Dreh’n, der Kohlrabi und der Paprika, heftig und eng umschlungen, so als hört’ da drin keiner dieselbe Musik aus dem gleichen Lautsprecher kommen.

Und da: Ein Salat hängt kopfüber vom Kerzenständer.
Und da: Ein Spargel rollt Papier länglich auf.
Und da: Ein Knoblauch steckt die Hände in die Hosentaschen.Und da: Das Haus kriecht daweil langsam fort.
Langsam fort, ja, so kriecht das Haus, gar nicht auf dem Rücken der Schnecke mehr, dafür auf Rädern dafür, und der Schneckenkopf, der beginnt dann, mit den Augen voran in die Erde zu spritzen, wie ein verpatzter Köpfler vom Beckenrand. Wie ein Bauchfleck, ja, so klatscht die da auf, die Schnecke, wie als wär’ da der Boden ganz flüssig, und die Katze jongliert, die Strumpfhose rot jetzt, und vom Haus bleibt dann nur mehr der Rauchfang mehr über zum Seh’n.
Wie so eine Haifischflosse.
Nur eckig halt.
Und aus Ziegeln, ja, wie so eine eckige Haifischflosse aus Ziegeln, so pflügt der Rauchfang da davon und den Hügel hinauf ganz hinten, durch den Boden, so flink wie elegant.
Langsam.

Der Herbert lag da und die Zunge hing ihm nass aus dem Maul seitlich.
Maximilian Schuppe, der schaute nur, von oben herab hinunter, und er dachte, was dieser Vollmond wohl macht da, so am helllichten Tag? Der Vollmond da, der ohne Gesicht drinnen, der, der da steigt von hinter dem Knochenstrauch und dem Fluss und der Katze und den Küken und dem Hügel ganz hinten, die alle da steh’n, mitten in der Nacht ganz plötzlich. Und auch die Sterne, die kommen, jeder einzeln durch den eigenen Zippverschluss, ein Ritsch und ein Ratsch ist das,  und ganz viele offene Hosentürln, im Himmel, durch den da ein Dampf da durchdampft, als würd’ da gebügelt von außen.

Dann ein Rascheln von rechts.
Dann ein Rascheln von links.
Dann ein Rascheln von rechts, wieder, drei Mal also Rascheln, rechts links rechts, und zwischen dem Rascheln ein Huschen, das klingt, als hätt’s weder Achseln noch Knie. Nein, ohne Knie, und ohne Achseln, und die Arme dazu auch genauso nicht, und da steht er dann plötzlich, der Nudelwalker, ein Zylinder ganz oben am Griff.
Dann:
Der Nudelwalker verbeugt sich, als könnte er sich verbiegen.
Dann:
Ein Zauberstab.
Aus dem Nichts.
Ja.
Aus dem Nichts also, dann also ein Zauberstab, einer, der da auf einmal da dann durch die Luft schwingt, und der Nudelwalker fragt, ob sich wer freiwillig meldet, und abrakadabra ist der Zauberstab puff! ein Strauß Vogelfutter. In der Luft, da schwebt der, die Stängel gebogen aus Drähten, als Blüten drauf in Batzen das Körndlzeugs, so schwebt der da, der Strauß Vogelfutter, gerade noch ein Zauberstab und jetzt das. Jetzt das, nur Körner, nur braune und schwarze und beige, unappetitlich, wie pfui Teufel auf die Stängel vorn draufgeklatscht, aber da: Da kommt trotzdem ein Rotkehlchen im Sturzflug herabgestürzt, und es landet, oben am Strauß, und es frisst sich den Bauch voll.
Da hamma schon uns’re Freiwillige, meint dann der Nudelwalker.
Das Rotkehlchen, es wird dann zersägt.
Aber doch nicht.
Der Nudelwalker, der ist nämlich ein Zauberer.
Ein Zauberer, das ist der, der Nudelwalker, und er fuchtelt herum, der Zauberstab wieder normal jetzt, wieder schwarz und die Spitze weiß.

Kawumm!
Kawumm!, und da steht die Schildkröte, die aus der letzten Reihe, die steht da irgendwie ganz plötzlich nach dem Kawumm! ohne Panzer auf der Bühne oben im Rampenlicht. Ohne Panzer, die Schildkröte, also nackt quasi, und „Die Vorderbeine schnell über die eine Stelle da unten schnellstens!“, das denkt sich die Schildkröte sicher, allein vom Blick schon her, nur aber nicht schnellstens genug, und noch mehr Gefuchtel und Dusch!
Dusch.
Der Rauch, langsam lichtet er sich.
Der Rauch, langsam zieht er nach oben, und da ist er zurück, der Panzer, herum um die nackte Schildkröte, die wieder in der hintersten Reihe sitzt, und überrascht applaudiert.
Der Nudelwalker, der zischt derweil, nach oben wie Raketen.
Immer höher.
Und höher.
Und ganz hoch bis fast zu den Sternen rauf, da zischt der, der Nudelwalker, bis fast zu den leuchtenden Hosentürln, und kurz vorm Mond dann zerspringt er, in rotem, in knallrotem Licht.

Es ist dann nicht mehr Nacht, sondern hell deswegen.
Wie am Tag halt.
Wie am Tag, so, und eine Sonne mit Sonnenbrill’n.
Ja, mit Sonnenbrill’n, die Sonne, mit Brillen und roten Gläsern, dort scheint sie, dort, wo der Nudelwalker grad erst zersprungen ist, und die Katzenstrumpfhose: gelb jetzt vielleicht? Vielleicht gelb, vielleicht weiß, bei dem Licht alles beide nur rosa, und die Katze jongliert und jongliert und jongliert und jongliert, und die Küken, die legen Eier. Eier, ganz kleine nur, gar kein Platz drin für ein Küken wie sie selbst eins sind, so kleine legen die, solche Eier, und da setzt sich jemand dazu an den Tisch, der gedeckt auch einfach so auftaucht. Mit Tischdecke schon, ja, so taucht der da auf, der Tisch, und mit Luftballons drauf auf den Tellern, und der jemand, der da dazu kommt, ist ein Kind, eins mit Bart und mit Augenklappe.
Der Bart natürlich nur aufgemalt.
Am Kopf mit drei Ecken ein Hut.
Ja.
So, ja, und eben, das Kind, das setzt sich also, mit dem Bart und der Augenklappe, und die Küken, die steigen herab dann vom Eierberg, und auch sie nehmen Platz. Rundherum, auf den Sesseln, mit den Speckmänteln immer noch umgeschnallt, und nur die Katze, die bleibt, wo sie war, mit den Kühen, die muhen, wie plötzlich verkühlt.
„Was soll das?“, fragt das bärtige Kind mit der Augenklappe, „Warum geh’n alle als Hühner, bitte? Is’ ja ur nicht fad, oida!“
Hühner?
Küken noch oda?
„Warum geht’s ihr alle als Hühner, heast?“, fragt das bärtige Kind, trotzdem, noch einmal, hinein in die leere Runde, und ein Küken, das sich auf seinem Sessel erhebt, schaut auch stehend niemals über den Tisch drüber.

Das Küken.
Es räuspert sich.
„Zu ihrer Information, wertes Menschenjunges: Wir hab’n uns das bei Gott nicht selbst ausgesucht. Wir sind nur hier wegen euch, und Euresgleichen, die ihr herumsitzt da, in einem Hundehirn. Und nein: Nicht mal im Hundehirn sitzt ihr, nein, nur in dem, was ihr glaubt, wie’s im Hundehirn so innen drin zirka ausschaut, und auch sie, auch sie selbst sind ja gar nicht anders, nur ein Gespinst, eins von ganzganz weit dort.“
„Hä?“, fragt das Menschenjunge, ähh, also das bärtige Kind mit der Augenklappe.
Das Küken, das setzt sich wieder.
Ein anderes steht auf.
Weil: weil die Küken nur reden, wenn sie steh’n, oder sonst irgendwie, aber die Stimme war auf jeden Fall anders.
Tiefer ein bissi.
Sie sagt, also es, das neue Küken, das sagt: „Der checkt’s net, dea Bua!“, und die Katze hört auf, zu jonglieren. Sie fragt: „Hallo? Warum sprechen hier alle mit Worten plötzlich?!“, und sie wirft einen Stein auf den Boden.
Die Strumpfhose fehlt.
Ihr.
Ein weiters Küken stimmt ein:
„Gute Frage! Ja! Wie soll das denn geh’n ohne Lernen?“, und: „Das darf doch nicht wahr sein!“, und, „Also sowas dürft’s gar nicht geben meiner Meinung nach!“, dauernd andere Stimmen, die da kreuz und quer durcheinander rufen, andauernd anders und dann:
Dann wird es still.
Dann ist es still, und alles starrt vor Schreck in das Braune hinein, in das, was da kommt.

Vielleicht ein Schokopudding?
Ein Küken flüstert, „Um Himmels Willen. Wohin soll das alles noch hinführ’n?“
Ja.
Genau.
Also:
Da kommt also ein Schokopudding, ein dicker, fetter Schokopudding, der kommt ver-schwommen da also auf den Tisch da jetzt zugewalzt, alles an ihm wie der Speck so glänzend, und er bleibt davor stehen, vorm Tisch, greift sich einen Becher und trinkt.
Eistee Pfirsich.
Er rülpst.
Der Schokopudding, der rülpst, und um ihn herum fallen Farben, so Farben wie beim Laub drauf am Gehsteig auch, und sein Braun bekommt Strähnen, und was ist das?, ein Ohr?
Er sagt, der Schokopudding mit Ohr’n, der sagt: „So meine Herrschaften! Genug! Jetz’ is’ aus für heut’!“, und dann dreht er sich um, zu Maximilian Schuppe hin.
Er bellt: „Wuff!“
„Wuff!“
Maximilian Schuppe stand da, und er sah auf den Herbert hinunter.
Er streichelte ihm, zur Begrüßung, mit den Fingern durch die Strähnen im Haar.
Und:
Der Herbert stand auf, beide gingen.
Vorbei an dem Fahrradständer.
Vorbei an dem Haus, ohne Dach.

Markus Peyerl
www.markuspeyerl.at

www.verdichtet.at | Kategorie: dada & gaga | Inventarnummer: 15009

(Auf Wunsch des Autors wurde bei diesem Text auf manche Lektoratskorrektur verzichtet und der Text teilweise im Original belassen.)

Die Maschine (Version Schöngeist)

Sie erzählte der Wand, wie es sich anfühlte. Sie erzählte ihr, es fühlte sich an, als würde sie die lauwarme Asche aus dem Becher g’rad in den Sack für den Mist schütten, in den Sack, in den unter der Abwasch, lang davor schon bis oben ganz aufgekrempelt, der Sack, viel zu viel und zu voll schon, und alles steht.
Der ganze Aschenbecher.
Auf die Füße.
Und zwischen den Restl’n die Zehen, die stanken, wie gebrannt und verraucht.
Sie sagte, so ungefähr, so fühlte sich das an, aber anders halt.
Anders.
Wie in breit anders.
Anders wie in groß.
Anders wie in groß, ja, wie in groß, groß wie ein Groß so groß, es sollte gar nicht reinpassen dürfen, nicht reinpassen dürfen in den schmalen, dünnen Spalt, dort, wo ihr bis gestern nur das Drücken dahinter schon gereicht hatte.
Aber was war schon groß anders?
Nur ein winziger Stich.
Gebügelt die Bluse.
Und sie zog hinter sich die Tür zu, zum Schlafzimmer.
Die Tür.
Sie spürte das Schnapperl der Tür hell und heiß wie beim Aussperr’n im Rahmen einschnappen, etwas Hungriges war das, seit langem für Besteck schon zu leer im Bauch, barfuß war das, draußen ohne Schlüssel auf der Türdacke, aber daweil war sie ja erst nur im Wohnzimmer.
Nur: Alles war Beton.
Alles war grau und grau und noch mehr grau ganz in den Ecken innen, und da stand diese riesige Maschine mit ihrem Rücken genau an der Wand, durch die es irgendwann einmal noch am Gang raus gegangen war, und die Stiegen runter.
Mit oder ohne Schlüssel: Sie fühlte sich wie im Keller.
Im Keller, unter der Erde unten, eine Glühbirne nackt an verstaubten Kabeln, im Keller unten, dick, fett, und doppelt unterstrichen.
Die Maschine war, wie gesagt, enorm.
Vom Boden bis hinauf bis zur Decke, kein Herumschummeln auch links und auch rechts, und an der senkrechten Front, da leuchteten Knöpfe, in Reihen und Reihen und Spalten.
Viele Knöpfe.
Sehr viele.
Sehr, sehr, sehr, sehr, sehr viele Knöpfe, die alle auf etwas zu warten schienen.
Alle.
All die Knöpfe, die vielen, wie Augen, alle rund und rot und aus und an wie in Panik die Lider, nur Punkte hier und Punkte dort und Punkte hier wieder, wie im Regen, draußen, auf hoher See.
Ja, sie erwarteten etwas.
Von ihr.
Ja, die Luft schmeckte öl und metallisch, und sie suchte, aber sie fand nichts.
Keinerlei Schildchen, unter und über keinem, unmöglich gleich die Knöpfe, zumindest so weit, wie ihre Augen zum Vergleichen rauf kamen maximal auf die Zehenspitzen.
Dann hörte sie die Stimme, zum ersten Mal.
„Entscheid’ ma uns vielleicht amal, Fräulein?!“
Die Stimme, sie war rau, und vom Groll her mechanisch, Groll, wie ein Mantel aus Schleifpapier.
„Wer ...? Wer spricht da?“
Keine Antwort.
Auch beim zweiten Mal nicht, und beim dritten, „Wer spricht da?“, aber weiter nur Rattern aus der Maschine und Schweigen, dass es unhöflicher nicht mehr ging.
Ihre Zähne mahlten.
Es knirschte.
„Entscheid’ ma uns amal vielleicht endlich?!“
„Was?“
„Entscheid’ ma uns amal vielleicht?!“
„Was entscheiden? Und uns?“
„Entscheid’ ma uns?!“
„Entscheid’ ma uns, ha?!“
„Hopp, hopp, entscheid’ ma uns!“
„Hopp! Hopp! Hopp! Hopp! Hopp! ...“
„Bitte!“
Sie sagte, „Bitte! Von mir aus! Wenn’s sein muss!“, nein, sie schrie eher noch nicht ganz, und ließ dann ihren Zeigefinger über x-beliebige Knöpfe kreisen, drehte den Kopf zur Seite mit den Augen zu, und drückte einen davon hinunter, so weit hinunter er ging.
Der Rest der Knöpfe ging aus.
Beep, beep, beeeeeeeep.
Womit dann alles anfing.
Zuerst:
Ein grausames Ineinander viel zu harter Geräusche, wie Metall auf Metall mit dem Geweih nach vorn, immer und immer wieder, es klang, es klang, es klang, ja, es klang, als würde die Maschine ihr jeden Moment in Fetzen um die Ohren fliegen, ja, so klang das.
Dann:
„A schlechte Wahl schon wieda, meine Liebe!“, gefolgt von Lachen, ganz hässlich, „Entscheid ma uns halt nochamal andas, oda!“, nur wusste sie noch immer nicht, wofür und für was.
Nein.
Alles, was ihr blieb, war das Glück.
Also Zufall.
Und nichts als der Zufall, und nur noch das Glück, dafür, den richtigen Knopf da zu erwischen im Leben, was immer auch richtig war, oder falsch, und was, wenn sie kein Leben mehr Zeit hatte, kein Leben mehr, zum Probier’n, jeden Knopf einzeln.
Ja.
Was, wenn?
„Entscheid’ ma uns halt amal endlich!“
„Entscheid’ ma uns!“
Die Maschine verlangte, fast kindlich im Nachdruck, „Entscheid’ ma uns, entscheid’ ma uns, entscheid’ ma uns!“
„Und warum?!“
Sie schrie jetzt.
„Warum?! Und macht das überhaupt irgendeinen Unterschied dann auch?!“
„Jed’n, mein Fräulein, jed’n!“
Die Maschine wiederholte: „Jed’n.“
Mhmm.
„Und was soll das wieder heißen jetz’?“
Nichts.
Keine Antwort, auch aufs Nachfragen, und sie stand da, schon mit den Zehen in Fäusten in länglichen, und sah den einst gedrückten Knopf elegant aus seinem Schacht wieder auftauchen, als würde er sagen wollen, „Gö, do schaust deppat!“
Ihre Zehen knacksten.
Wirklich!
Die Maschine verlangte erneut, „Entscheid’ ma uns endlich!“, und ihre Zehen krachten, und dieser Raum war hier aufgetaucht, einfach so, aus dem Nichts über Nacht?
Ja.
Aber wie?
Die Maschine grollte, „Entscheid’ ma uns bald amal endlich!“, und, „Des, Fräulein, des is’ die letzte Warnung“, gehässig, bis rein ins Hinterste.
Dröhnen.
Sie fragte laut: „Und? Und was? Und was sonst?“, schon spielten die Knöpfe verrückt.
Die Knöpfe, sie spielten verrückt, und ihr Blinken schwärmte aus und formte Ecken, übers ganze Gesicht der Maschine, Ecken, die von links nach rechts, und von links nach rechts, und von rechts nach links liefen, wie die Kirschen am Leuchtschild im Fenster vom Wettbüro drei Häuser runter die Gasse.
Die Knöpfe, mehr und mehr, rotteten sich zusammen.
Erst lose Ecken, dann Quadrate, erst Quadrate dann Rechtecke, von Rechtecken dann zu Stoppschildern, zu leeren, dann zu Kreisen, die aufgingen, klebriger, roter Germteig, so in sich heraus so aufgelöst, dass ihr die Augen wie Staub so trocken wurden, vom Offenhabenmüssen.
Sie hoffte auf den richtigen Zeitpunkt zum Blinzeln, aber da war keiner.
Keiner.
Schneller und schneller und schneller, die Knöpfe, nur Geblinke ohne erkennbare Form jetzt, spitz, weiter auch, unter der Bluse drinnen, sie, sie konnte es spüren unterm Stoff dort, wie es ihr den Magen tiefer und tiefer ins Becken drückte, und sie flüsterte, „Das kann aber jetz’ nicht euer Ernst sein, oder?“, und plötzlich war alles schwarz.
Schwarz.
Es wurde schwarz, alles, alles war schwarz, alles sah aus, als wäre die Maschine toter als tot, aber doch nicht.
Es begann zu knistern.
Ein Knistern zuerst, leise nur anfangs, dann aber Blitze, die bläulich oben aus der Maschine heraus kraxelten wie Insektenbeine, und Gewitter, über ihr, an der Decke.
Ihre Lippen zuckten.
Und richtig.
Die Maschine war zu hoch, zu hoch als zu hoch schon vorher.
Zu hoch.
So hoch, sie hätte längst schon durchbrechen sollen durchs Dach, die Maschine, durch ein unsaub’res Loch, mit dicken, grauen Wolken als Gürtel, mit Vögeln, die ihr ausweichen mussten, wie jedem anderen Hindernis, derart hoch.
Kein Bersten von Holz und nichts.
Kein Jucken, keine Flocken aus Dämmwolle, die ihr gemächlich runter auf die Schultern sanken, es war, als wäre allem herzlich egal, ob es möglich war, oder nicht.
Sie stand da.
Sie stand da, und sie sah zu, wie die nackte Glühbirne an ihrem verstaubten Kabel von dem  betonenen Himmel trüb auf sie herunter schien, wie es sie zerriss in der Fassung, lautlos, wie die Scherben wie weicher Nebel nach unten sanken, der tanzte, als würde Musik gespielt.
Ihr Mund fiel ihr auf, „So schön“, und alles war vorüber.
Die Maschine sah wieder aus wie tot, der Raum und sie zurück geschnalzt auf normale Größe, und selbst die Glühbirne war wieder nackt und in einem Stück, ihr Licht verzogen und flackernd, wie ein Grinsen unterdrückt, aber schlecht.
Ja.
Alles war wie vorher wieder, nur zitterte ihr der Handrücken, und sie bemerkte erst da jetzt, wo genau dessen Zeigefinger war.
In der Maschine drin, da war er, ihr Finger, drin, bis fast ganz zum Gelenk oben, darunter ein Knopf, ein fest fest gedrückter, ein Nagel, verbogen, zerbrochen und kaputt.
Beep, beep, beeeeep.
Es ratterte.
Sie sagte, „Das … das … Das war ich nicht!“
„A schlechte Wahl schon wieda, meine Fräulein!“, trotzdem.
Die Maschine, sie verlautbarte, „Aba zwei Versuche hamma ja noch, gö!“
Zwei?
Aha?
Gut.
Und sie konnte da nicht mehr anders, als schrei’n.
Es änderte nichts.
Die Maschine grölte mahnend: „Entscheid’ ma uns halt amal!“
„Entscheid’ ma uns endlich amal!“
„Entscheid’ ma uns!”, die Maschine drängelte, „Warum?”, fragte sie, kaum, dass sich ihr Mund bewegte, „Warum jetzt?“
„Entscheid’ ma uns amal!“
„Entscheid’ ma uns, entscheid’ ma uns, entscheid’ ma uns!“
„Heast!“, so sie dazu, und in ihr stieg etwas nach oben, das sich zwar warm anfühlte, nur nicht gemütlich war, in den Knöcheln ein Wackeln, die Knie aus Plastilin.
Sie hätte es wissen sollen.
Alles Irrsinn.
Es roch verbrannt.
Sie hustete kurz: „Und? Zufried’n?“
„Als würd’st as net selba wiss’n!“
Schweigen.
„Also hopp: Entscheid’ ma uns endlich! Letzte Warnung, Fräulein, nochamal!“
Offensichtlich: Das musste ein Albtraum sein.
Sie befahl sich selbst: „Aufzuwachen!“, aber zu spät!
Die Maschine, rote Punkte, wie ein Bildschirm mit ganz wenig Pixel wieder, nur anders diesmal. Keine Formen mehr, keine harten, keine Ecken und Winkel, keine Kanten, nichts zum Messen, nichts zum Zerlegen in Einzelteile. Nur Schweben, nur merklich, nur weich, nur ein Schunkeln, das Blinken der Knöpfe, es trieb, wie auf Brombeergelee.
Geschmeidig.
Die Lichter sagten, „Einer geht noch!“, ohne etwas zu sagen, sie nahmen sie mit wie aus Gummi, und wie schwer war plötzlich ihr Unterkiefer? Sie kämpfte, aber der Mund ging ihr trotzdem auf, ihr Genick, es klappte nach hinten, und beinah’ wär sie ertrunken da, an sich selbst.
Das Licht nahm sie bei der Hand und sagte, „Einer geht noch!“
Es sagte, „Einer geht noch!“, und es zog sie hoch an den Handgelenken, hoch, bis ihre Absätze genau g’rad nicht mehr am Boden ankamen, und sie schwang vor und zurück.
Wie früher am Spielplatz.
Wie wujjjj.
„Einer geht noch!“, sagte das Licht, rot und dunstig, so flüsterte es ihr ins Aug’.
Die Lichter sagten, „Einer geht noch!“
„Einer geht noch!“, und sie atmete aus, wieder zurück am Boden.
Die Lichter sagten, „Einer muss noch!“
„Einer muss noch!“, und es saugte ihr die Lichter an ihren Zähnen vorbei, den Rachen hinunter.
Hinein.
„Einer muss noch!“
Die Lichter sagten, „Einer muss noch!“, als wäre das gar nicht so wichtig mehr, und die Lichter schwärmten aus, von unter ihrem Rock nach vor, und sammelten sich in den Ecken.
Sie kamen näher, wie als würden sie Brustschwimmen.
Die Lichter sagten, „Einer muss noch!“, und die Wände rückten zusammen, wie eins mit dem Licht davor, der Raum schrumpfte.
Sie sagten, „Einer muss noch!“
„Einer!“
„Einer!“, sagten die Lichter, wie Säure stieg es auf, und sie gab nach, mit den Augen schon weit hinterm Oberlid, und sackte zusammen, wie roher Reis:
Beep, beep, beeeeeep.
Sie rang eine Zeit mit dem Recken.
„A schlechte Wahl scho wieda, mein Fräulein!“, die Maschine, gegen Ende, doch kichernd, die Knöpfe wieder aus, auch der gedrückte, und was blieb, war ihr letzter Versuch.
„Entscheid’ ma uns bald amal!“
„Entscheid’ ma uns bald amal jetz’!“
Sie fragte, immer noch bitter die Zunge, „Und was, wenn der auch dann falsch is’? Was? Was dann?“
„Alles andere!“, die Maschine, die Stimme noch tiefer als sonst, sie fragte, „Das kann doch nur ein Witz sein, oder?“, aber niemand lachte.
„Aha.“
„Aha, sehr nett.“
Nichts zu hören, außer das eig’ne Blut.
Es wurde lauter.
Es wurde lauter, lauter, nicht zum Aushalten bald, dieses Raunen, und dieses Rohren, beides in Stücke gehackt von diesem grässlichem Kreischen, als wär’ da ein Zug, der entgleist.
Sie brauchte, dass etwas passierte.
„Wag es ja nicht!“
Ihr Zeigefinger begann, sich zu heben.
„Wag es aber sowas von ja nicht!“, und die Dunkelheit kroch in Schatten auf sie zu, wie ein Tier seiner Beute, wie schwarzer Sand, der sich um sie zusammen zog, ein Wind war das, der plötzlich wehte.
Es war, wie aus.
Wie aus, und sie sah zu, wie die Dunkelheit schon halb ihre Nase verschlang, eine Dunkelheit, nicht wie hinterm Lichtabdrehen, nicht so auf die Art dunkel, wie Schlafen.
Ihre Nasenspitze, sie existierte nicht mehr.
Ihre Nase, war weg.
Sie war weg, und da, da, da, da war ihre Oberlippe, die ihrer Nase rüber auf die and’re Seite folgte, feuchter Beton und Schimmel.
Sie quetschte sich an die Maschine und kaute an ihrer Zunge, so fest es ging, sie spürte ihre Rippen brechen, aber doch nicht, und die Glühbirne drehte sich quietschend, wahrscheinlich aus der Fassung.
Sie sagte, „Oh nein! Neinneinneinneinnein!“, und ihre Stimme, erbärmlich, als Ganzes verschluckt, aber: Licht!
Gleißendes, gleißendes Licht aus dem leeren Sockel der Glühbirne!
Beep, beep, beeeeeep.
Die Maschine, sie ratterte, und sie kontrollierte die Finger, aber alle war’n da. Alle da, wieder, auch ihre Nase und die Oberlippe, und keiner hatte gedrückt, genau niemand.
„A schlechte Wahl scho wieda, mein Fräulein!“
„So! Und zuadrah’t is’!“, und da sprang eine Klappe auf, vor ihr in der Maschine, und das Telefon, das da drin läutete, nahm sie ab, zögerlich.
„Ja?“
„Ja, bitte?“, fragte sie, und eine hässliche Stimme gab Antwort.
„Hallo, ja, ich am Apparat, also du, aber ja, ich hab’ da jetz’ abbrechen müssen, weil das is’ ja nur noch lächerlich.“
„Du bist … wer?“
„Ich bin du, du Hirnederl! Wir sprechen schon noch die selbe Sprache, oda? Ja, jedenfalls: Ich schau’ dir ja sonst gern zu beim Herumstolpern, aber das: Um Himmels Willen, was macht dein Therapeut eigentlich für sein Geld?“
„Hä?“
„Ja: eh. Tätowier’s da auf die Stirn am best’n! Aba ich muss dann eh wieder. Wir seh’n uns dann morg’n um die übliche Zeit. Vielleicht schaffst das ja da amal weiter als übers Anzieh’n, bevorst dich überhaupt nimmer auskennst.“
Die Stimme legte auf, und da war nur noch der Freiton, und die Tür zu ihrem Schlafzimmer ging auf, wie absichtlich, wie gestellt.
Sie ließ den Hörer aus.
Er fiel.
Sie erzählte der Wand, so zirka, so fühlte sich das an halt gerade.
„Aber du weißt eh, das dauert nur, das macht’s immer.“
„Das bleibt nicht so, das macht’s nie.“
„Das is’ das Schlimmste d’ran eigentlich, eh oder?“
„Das Schlimmste überhaupt vielleicht?“, fragte sie, mit der Stirn schon im Polster drin.
Sie sagte, es war halt nur einer von diesen Tagen.
Nur einer von denen.
Die gibt’s.

Markus Peyerl
www.markuspeyerl.at

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 14070

(Auf Wunsch des Autors wurde bei diesem Text auf manche Lektoratskorrektur verzichtet und der Text teilweise im Original belassen.)

 

 

 

Ein Landschaftsporträt mit Umlaut-a am Schluss

Am Anfang, am Anfang war da nur dieser eine Strich. Kein gerader Strich, nicht mit dem Lineal gezogen oder die lange Seite eines Geodreiecks entlang und in seine Uniform geschleift, der Strich war ganz freiwillig, freihändig passiert. Niemand hatte ihn dazu gezwungen, zu werden, was er war, nicht der abgenagte Kugelschreiber in meiner Hand und nicht das zuerst leere Blatt auf der laminierten Spanholzplatte von einem Tisch in dem kleinen Erdgeschossbüro, in dem ich wie üblich meine Zeit absaß. Es war die Langeweile gewesen, ja, höchst wahrscheinlich das Nichtstun, das den Strich da in all den Stillstand hinein geboren hatte, ohne einen Anflug von Zweck und noch ohne zwickende Hintergedanken daran, was aus dem Strich noch einmal alles werden müsste in der Zukunft irgendwann. Aber da war er nun, dieser Strich, der da auf dem sonst leeren Blatt Papier von unten nach oben und wieder nach unten ging und, ganz plötzlich, begann der abgenagte Kugelschreiber in meinem Mund damit, mir vor lauter Nagen mit jedem weiteren Kauen geschmacksneutrale Stückchen zerkautes Plastik auf die Zunge zu bröseln, ungleich große Plastikkristalldinger, die ich sofort danach angewidert über die Schulter auf den Boden spuckte, und die jubelnd davon hüpften, ohne dass sie dabei jemals weiter gekommen wären als bis zur allernächsten Rigipswand.
Gut.
Auf dem Blatt Papier war am Anfang also nur dieser eine Strich.
Gut.
Gut.
Das konnte natürlich auf keinen Fall so bleiben, nachdem das kalte Quietschen meines Drehsessels beim Zurücklehnen dazu geführt hatte, dass ich wieder zu denken anfing.
Ein Strich, ein einziger, das wäre niemals genug, war ja nichts im Prinzip. Nur ein einziger Strich, in der ungefähren Form eines Berges, nein, ein Strich, der vielleicht maximal annähernd irgendwie so verlief, wie das ein Bergrücken in zwei Dimensionen so ungefähr zirka auch manchmal tun würde, komplett wider die Natur blau auf weiß? Nein! Das reichte niemandem und nirgendwo! Lächerlich! Nicht genügend! Setzen! Der ominöse Berg, bis jetzt, war ja nur ein unförmiges Aufundab, nur ein nackter Bergrücken, der kaum an einen Bergrücken erinnerte, es war der Rücken eines Bergs, den auch die nach und nach dazugepfuschten Details nicht mehr retten konnten vor seinem Nichtbergsein. Da kamen dann als erstes die Nadelbäume, Nadelbäume, die wie vermangelter Stacheldraht aussahen, als wären sie nur starres Gekritzel anstatt Teil einer sich an den Hang schmiegenden Baumgruppe, Gekritzel, das weder Tiefe erzeugte noch einen Hauch von Idylle nach vorne brachte, so, wie das das Anschau'n eines echten Bergs eben so macht. Auch die Wiese, die als zweites dazukam, auch das Gras der Wiese dort rechts über dem Fuß von dem Nichtberg sah viel mehr aus wie ein See, wie ein flüchtiges Wirrwarr aus seichtem Kugelschreibertintengemisch, wie eine Untiefe, in das ein Orkan hinein blies. Genau das, ja, diese Wiese war nur ein außer Kontrolle geratenes Wellenbecken voll ertrinkender Nichtparabeln, struppige Gischt, die auf keinen Fall ihrer Aufgabe als Wiese gewachsen sein konnte, weil sie eben überhaupt keine Wiese war. Es war eine Nichtwiese auf einem Nichtberg, genau, und darüber, da hätte eigentlich eine Almhütte thronen sollen mit einem Rauchfang, der nicht rauchte, heraus kam aber nur ein flaches Rechteck mit einem flachen Trapez als Dach, zu dem eine viel, viel, viel zu steile Straße hinauf führte, ohne Serpentinen und ohne Mittelstreifen. Um Himmels Willen, dass es überhaupt eine Straße war, das konnte man vom Hinschau'n vielleicht gerade nur noch irgendwie so annähernd erahnen, es war in Wahrheit aber nur blankes Weiß gesäumt von zwei unsymmetrisch verlaufenden Grenzen aus eintrocknender, blauer Flüssigkeit, die stellenweise so knapp an sich selbst gerieten, dass sie sich überkreuzten, dass der rechte Straßenrand danach plötzlich der linke war, was selbst einem Auto mit Allradantrieb einiges an Schwierigkeiten bereiten dürfte.
Ein Irrsinn.
Nein, zwei!
Nein, drei, vier, fünf, sechs, sieben!
Der Gipfel war aber so und so die ärgste Frechheit.
Der Gipfel war irgendwie rund und von kreuz und quer auf- und abtauchenden Adern oder von Weißderteufelwas durchkreuzt, alles Striche, alles willkürlich, alle krampfhaft versucht, den Eindruck von Spalten in härtestem Gestein zu erwecken, nur, um den Gipfel doch noch zu einem Gipfel werden zu lassen, auf einem Berg, den es gar nicht gab. Ja, noch immer war der Berg nur ein Nichtberg, ein Nichtberg, dessen rundliche Spitze verkleidet war mit einer verzogenen Kuppel, einer verzogenen Kuppel aus verbogenen Metallstreben.
Und nein.
Nein, es war nicht einmal eine fertige Kuppel, es war da nur das Gerüst einer im Bau befindlichen, notdürftig zusammengeschweißt aus unsicher wirkenden Bögen aus irgendwie gebogenen Eisenstangen, die vom dreifachen Nachbessern des Gipfelverlaufs gegen meinen eigentlichen Willen irgendwie entstanden waren, und die den „Gipfel“ nur noch mehr verschandelten. Grauenvoll, ja, grauenvoll sah das aus, das alles, und der Gipfel blieb gerade deshalb auch weiter kein Gipfel, er war so ungipflich, wie ein Nichtgipfel nur sein konnte, wie auch der Haufen Geröll auf halber Höhe am linken Nichtberghang weniger nach einem Haufen Geröll aussah als nach Jabba the Hutt in Krixi-Kraxi-urban-artform-style, dem gerade eine Baumstacheldrahtperücke auf der spitzen Glatze saß.
Yeah.
Totally.
Ja:
Was aber noch viel schrecklicher war als diese unglaubliche Katastrophe von einem Gipfel und einem Berg und einer Wiese und einer Straße und einer Almhütte, war das Loch, in das auch die eben erwähnte Katastrophenstraße hinein mündete, hinein mündete nach einem leichten Schlenker, als hätte eine Kugelschreibermine Schleuderspuren hinterlassen, die danach, wie alles andere, spurlos im Loch verschwanden. Das Loch selbst aber, an sich, war nicht viel mehr als ein ovaler Kreis, nicht einmal oval, nein, eher in der Form eines allzu entspannten Gummiringerls, öfters nachgezogen, natürlich, allzu entspannte Gummiringerl über allzu entspannte Gummiringerl über allzu entspannte Gummiringerl, wie raue Lippen um den Schlund eines Lochs, das aussah, als hätte es ein Glasdach. Ja, wirklich, ein Glasdach, so schlecht war die Bodenlosigkeit dieses Lochs in der Schraffierung angedeutet, dass die Bodenlosigkeit schon an Glas, an vorgedruckte Durchsichtigkeitsschlieren in einem Kindermalbuch erinnerte, aber, aber trotzdem: Das verglaste Loch lag unbeeindruckt von seiner eigenen Unform weiter nicht einmal mehr auf dem Nichtberg, schon ein bisschen links das sonst unberührte Tal entlang, ein schönes Tal eigentlich, viel weniger hässlich als der verwackelte Strich, der aus der Verglasung des Lochs herauskam, und über dem am anderen Ende plötzlich geschrieben stand, „Warum ist dieses Loch ausgegraben?“, und es so aussah, als würde das Loch mit sich selbst in der dritten Person reden, und gar nicht wissen, warum es überhaupt war.
Unglaublich!
Aja.
Und fast vergessen:
Es sprang nämlich zusätzlich, vor all diesem Desaster von einem Hintergrund, auch noch ein scheinbar lebensmüdes Strichmaxerl herunter von diesem Nichtgipfel dieses Nichtbergs, wobei es gleichzeitig auch nicht irgendein Strichmaxerl war, sondern eins, das diese Entscheidung ohne mein Zutun getroffen zu haben schien, als hätte es einen eigenen Willen, und ich nur nicht gut genug aufgepasst.
Ja, es mag unwahrscheinlich klingen, denn dieses Strichmaxerl hatte, wie es von meinen bereits zur Schau gestellten, eher nichtgenügenden Zeichenfähigkeiten zu erwarten war, keinerlei Ähnlichkeit mit einem lebendigen Wesen außer dem Kopf und den Armen und den Beinen und der Wirbelsäule. Es hatte keine Stirn und auch keine Ohren, es war das Einfachste vom Einfachen, ohne Gesicht, ohne Mund, ohne Nase, es war ein komplett ausdrucksloses, zerbrechliches Exoskelett ohne jedweden Inhalt, das sich da von dem Nichtberg hinunterstürzte und das, ohne Augen, gebannt in das verglaste Loch hinein starren hätte sollen, was nur mit einer strichlierten Linie angedeutet, so nicht wirklich deutlich zum Ausdruck kam.
Eine strichlierte Linie?
Ernsthaft?
Aber wie auch immer:
„Naja. Also Schönheit ist der Kurti keine!“, dachte ich sogleich danach und kam gar nicht mehr dazu, mich ausführlicher über sein kümmerliches Aussehen und seinen von mir aus der Not heraus gehudelten, idiotischen Namen zu beschweren, denn seine blassen, nicht vorhandenen Wangen fingen an, sich über sich selbst zu stülpen, als würde ihm ein riesiger, unsichtbarer Fön tatsächlich schnelle, heiße Luft mit aller Gewalt an dem leeren Kreis seines Kopfs vorbeijagen, als würde es da tatsächlich eine Tiefe geben, die nur für den Kurti und mich auf einmal wirklich tief war. Ja, sicher, der Nichtberg war dadurch noch immer kein Berg nicht, er war aber auch kein Nichtberg mehr, er war ein Berg, zwar immer noch grauslich entstellt von der teuflischen Lüge meines Zweiers in Bildnerischer Erziehung, er war aber ein hoher, und ein siebentelwegs echter und einer, von dem dieses Kurti getaufte Strichmaxerl da gerade herunter fiel, das gerade noch ein Fremder gewesen war, und dessen Körper sich tatsächlich vor mir wie im Daumenkino unscharf nach unten bewegte.
Gut.
Es war aber auch in stotternden Einzelbildern noch immer kein schöner Anblick.
Der Kurti, der hatte zwei Stümpfe als Arme und zwei Stümpfe als Beine und ein ebenso dünnes Rückgrat, das alle vier Stümpfe miteinander verband zu einem praktisch grätenfreien, unnatürlich asymmetrischen Fischgrätenmuster, und so von mir zugerichtet fiel der Kurti nun herunter von dem Nichtberg und, so wie es aussah, in dieses Loch hinein, mit einer einzigen, ungewollt entstandenen Haarsträhne auf seinem Strichmaxerlkopf, um den ich mir langsam Sorgen machte.
Natürlich, das Glas über dem Loch, auf das der Kurti da von hoch oben herunter fiel, war noch immer da, vermeintlich, aber es würde keinen Aufprall geben, der seinen Kopf am Glasdach in Scherben schlägt, nein, ich wusste ja, dass es ein offenes Loch war, ein unverglastes, es war nur für Unbeteiligte relativ schwer zu erkennen, wie offen und tief das Loch war in Wirklichkeit. Im freien Fall darauf zu stürzend, stand es offen, sperrangelweit offen, und es war tief, viel tiefer als der Zehntelmillimeter Papier, in den es hinein führte, so tief, als hätte sich niemand allzu genau überlegt, wie tief das Loch denn jetzt genau sein soll, und es dauerte auch nicht allzu lange, bis der Kurti ohne einen Abschiedsgruß wortlos darin verschwand.
Ich fiel ja eh schon mit, also warum auch?
Ja.
Das Loch, es schien mir schier endlos zu sein.
Nein, nicht schon schier endlos, weil vielleicht war es das ja.
Noch war es endlos, ohne Gegenbeweis.
Endlos.
Endlos, und wir fielen und fielen und fielen, so wahnwitzig lange, dass mir das Fallen bald zur Gewohnheit wurde. Stunden um Stunden um Stunden, so kam es mir vor, fiel ich so mit dem Kurti Seite an Seite diese senkrechten, blauen Schlangenlinien entlang, mit denen das Loch von mir innen schlampigst tapeziert worden war, und die nur ansatzweise so wirkten, als wären es Unebenheiten im Fels, als wären es die stumpfen Bruchkanten im Inneren dieser Rissquetschwunde in der Kruste aus schneebedecktem Weiß, die mich glauben lassen sollten, dass es tatsächlich bergab ging, oder dass wir uns zumindest bewegten.
Naja.
Naja, was will man sich jetzt illustrationstechnisch noch Großes erwarten, aber irgendwann, entlang dieses sich wieder und wieder wiederholenden Rhythmus aus sich vorbei schlängelndem Kugelschreiberaufdrückresultat, das ich eigentlich niemals gezeichnet hatte, und das irgendwie trotzdem da war, erschlich sich das Fallen hinterrücks den Status des Normalzustands. Gut, vielleicht nicht direkt normal, aber es war zumindest irgendwann eine Grenze erreicht, hinter der mein jammerndes „Ojeojeoje“ nicht mehr ausschließlich zwischen dem Fallen jetzt und Kurtis und meinem Tod danach panisch von einer Ecke in die andere flüchtete, sondern das „Ojeojeoje“ sich hinsetzte und sich fragte, ob diese Zeichnung jetzt überhaupt noch meine war, oder ob ich jetzt der Zeichnung gehörte, oder ob der Vater, der Sohn und der heilige Geist jetzt gerade das bisschen Messwein zu viel erwischt hatten nach den zweitausend Jahren und den paar zerquetschten.
Vielleicht war es ja ein Wunder.
Ein Wunder, ja, ein schwer alkoholisiertes, ja, vielleicht war es ja ein Wunder, ein in der Atemluft nachweisbares, das mich nur per Zufall erwischt hatte, das möglicherweise gar nicht für mich bestimmt gewesen und nur irgendwo falsch abgebogen war, das sich vertorkelt hatte auf dem Weg vom Himmel herunter, herunter zu uns Sterblichen, in ein großes Meisterwerk hätte einfahren sollen, anstatt meine belanglosen Schmierereien da zum Leben zu erwecken, weil mehr war das ja alles nicht.
Nein, nein, nein.
Nein, Wunder gab es nicht, nein, es war meine Hand und mein abgenagter Kugelschreiber und das firmeninterne Blatt Papier!
Wer auch sonst?
Genau!
Aber was jetzt?
Und wie?
Und was war das überhaupt für ein Regenschirm?
Was war das überhaupt für eine krakelige Entschuldigung für einen Regenschirm, den der Kurti da zückte und aufspannte? Nein, nicht zückte und aufspannte, eher: Was war das für eine verwitterte Höhlenmalerei, was für ein seelenloses Clipchartprofil eines Regenschirms, das der Kurti da im Fallen aus sich selbst heraus holte, mit den Strichen seines Körpers zu formen begann, und mir fast so war, als würde der Kurti mich halb Strichmaxerl, halb Regenschirm einen Moment lang angrinsen mit dem gebogenen Griff, zu dem sich sein Steißbein verbog, während sich sein Kopf am Kinn entzwei spaltete und sich zu einem Halbkreis aufzufächern anfing, den seine einstigen Arme und Beine nach unten hin mit einer spitzen Wellenlinie abschlossen, während seine einzige Haarlocke sich aufstellte zu dem Abschlussstück, zu dem Dings, das in der Mitte der Bespannung neckisch aus jedem Regenschirm oben herausschaut, ohne dass ich davon etwas auch nur zu zeichnen hätte brauchen?
Egal.
Was immer es auch war, das da gerade vor sich gegangen war, es ließ mich mit dem Fallen allein zurück, allein, während der Regenschirmkurti nach oben davon flog gegen den Fallwind gestemmt, der ihn vom ersten Schwung her beurteilt wahrscheinlich wieder aus dem Loch heraus und zurück auf den Nichtgipfel hob, ein erster Schwung, der ihn rettete vor all dem, was mir noch bevorstand, obwohl das ja eigentlich alles seine Idee gewesen war mit dem Hineinspringen in das Loch.
Ja, seine!
Seine!
Oder doch meine irgendwie?
„Du! Du Oaaaschloooooooooooooooooch!“, schrie ich dem vermaledeiten, immer kleiner werdenden Ex-Strichmaxerl-Jetzt-Regenschirm ungeachtet dessen auf seinem Weg in eine unklare Rettung nach, aber selbst dem hallenden Echo des langgezogenen Os gelang es nicht ganz, die Tatsache komplett zu verschleiern, dass ich noch immer nicht fiel.
Nein, ich fiel gar nicht, ich konnte gar nicht fallen, nein, ich saß ja noch immer an dem laminierten Spanholz meine Zeit ab für nichts und wieder nichts, vor mir das Narrenkastl, in das ich hinein schaute, hinein in den ewigen Rachen eines Lochs, das an mir vorbei zog und nicht umgekehrt.
Das Loch zog an mir vorbei, richtig, und was der Kurti, was ein Strichmaxerl konnte, das konnte ich aber schon lang! Genug, genug jetzt, aussteigen, genug mit diesem angeblichen Fallen, schon überhaupt in ein Loch, das nicht einmal wusste, warum es überhaupt ausgegraben war. Ja, vielleicht hatte das Loch ja gar keinen Grund und deshalb auch keinen Boden, schon einmal daran gedacht, dass ich deshalb mit dem ganzen Fallen da auch nicht wirklich vorwärts kam?
Nein?
Möglich wär's!
So! Und jetzt raus da mit mir!, dachte ich, und plötzlich ging in einem schnellen Luftzug die Tür auf und eine pickfröhliche Frauenstimme fragte, „Braucht vielleicht irgendwer was vom Kaffeeautomaten?“, und ich war von einem Moment auf den anderen endlich wieder draußen aus dieser scheußlichen Karikatur fern jeder Ähnlichkeit mit einer echten Welt, und da war auch der Kurti, zurück, dort wo ich ihn anfangs hingeschmiert hatte, zurück auf einem dünnen Blatt Papier, auf dem der Berg wieder ein Nichtberg war, und das Loch verglast, und der Gipfel die ärgste Frechheit.
Endlich.
„Ja!“, sagte ich, „Einen Cappuccino mit drei Kast'ln Zucker, bitte!“, und ich dachte, ich dachte  zu viel.
Zu viel.
Ja, genau!
Daran musste es liegen.
Genau.
Aber vielleicht war Zeichnen auch einfach nur nicht so meins, und ich machte die heutige „Heute“ auf, blätterte nach hinten und begann mit dem Kreuzworträtsel und füllte wieder nur die Fragen aus, auf die ich die Antwort schon kannte, diesmal alles außer „Öst. Komponist (gest. 1554)“.
Keine Ahnung, obwohl nur der erste und der letzte Buchstabe fehlten.
Keine Ahnung, und ich warf die „Heute“ von heute auf den „Heute“-Stapel neben mir, auf dem schon die „Heute“ von gestern und vorgestern und vorvorgestern auf sie warteten, und schaute enttäuscht auf die Uhr.
Noch zwei Stunden und fünfunddreißig Minuten.
Gut.
Also noch zweieinhalb Stunden, gerundet.

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Markus Peyerl
www.markuspeyerl.at

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 14042

Irgendwie jedenfalls

Willkommen, der Herr!
Ich hoff’, du findest, was wir alle nur suchen.

Paul sah seinem Liptauerbrot in den Brillengläsern seiner Oma beim Zerkautwerden zu. Er mochte das, wie es ihr davor grauste, wie sich ihr Gesicht dabei beim Wegdrehen die ganzen Falten auszog. Gut fühlte sich das an in den Zehenspitzen, das ganze, und Pauls Füße tanzten dazu unterm Tisch einen Tanz ohne Eins-und-zwei-und-eins-und-zwei, und er lachte mit den Augen. Da drüber, wie seiner Oma die lilanen Haare vor dem zergatschten Liptauerbrotbrot auf seiner Zunge bis nach hinter die Ohren flohen, drüber, wie sich ihre Lippen spitzten zu einem stummen Wäh. Und überhaupt. Wie ihr die Runzeln dann sofort danach gleich wieder von hinter den Ohren zurück um die Nase schnalzten, das war schon einfach lustig zum Anschau’n. Da wackelte davon der Oma ja der ganze Kopf hin und her wie ein Flummi, der zwischen zwei Wänden nicht auskann.
„Mit offenem Mund isst man nicht!“
Es war einfach nur lustig zum Anschau’n.
Und ja.
Und warum da dann niemand mit offenem Mund essen wollte, wenn die Oma dabei so lustig zum Anschau’n war, da konnte sich Paul nur noch wundern. Wahrscheinlich, dachte er, weil die alle schon zu alt waren oder sowas. Zu alt vielleicht schon, um sich noch zu erinnern dran, wie lustig ihre eigene Oma wegen so was Harmlosem wie einem zergatschten Liptauerbrot nur herumtun hat können.
Naja.
Seine Oma war ja auch leider nicht immer dabei beim Heurigen.
Nicht so wie jetzt, wo sie die Zwiebel mit ihren dünnen langen Fingern von ihrem Grammelschmalzbrot runter klaubte, und dann die runter geklaubten Zwiebel dem Opa auf seins oben drauf klatschte, was auch nicht ganz ungrauslich war eigentlich.
Aber ja.

Und Paul hatte ja auch nicht nur gern den Mund offen beim Kauen, er schielte ja auch gern, halt nicht mit so viel Erwachsenen rundherum.  Schielen, das tat er dann nur daheim, halt allein in seinem Zimmer, tief und fest, und so weit es nur ging. Ja, so weit schielte Paul da, dass er sich so oft schon so sicher gewesen war, die Augen wären ihm jetzt sicher schon stecken geblieben, und wie er sich schon darauf freute. Wie lustig das dann ausschau’n würde, so, am Klassenfoto, und keiner hätte ihm dann mehr sagen können, er soll g’fälligst jetzt wieder normal schau’n jetzt, so wie die Frau Lehrerin letztes Jahr. Nein, das passierte ihm nicht noch einmal, aber sicher nicht. Wie blöd er dann erst drein geschaut hat, wie er vor lauter Konzentrieren aufs Normalschauen dann kurz vorm Blitzlicht erst drauf gekommen war, dass er gar nicht wirklich wusste, wie Normalschauen geht überhaupt.
Ganz blöd hatte Paul da drein geschaut deshalb.
Und nie wieder.
Und da schielte Paul ja lieber, für immer und ewig von ihm aus, da kannte er sich dann wenigstens aus wenigstens.
Aber ja.
Seine Augen, die wollten und wollten ihm beim Schielen aber eh nicht und nicht stecken bleiben. Und das, obwohl ihm der Kopf schon manchmal ordentlich weh getan hat vom Schielen dauernd. Aber trotzdem. Egal, wie lang und wie fest und wie ernst er auch seine Nase von beiden Seiten gleichzeitig angeschaut hatte ausführlichst, sobald er dann damit aufhörte, waren seine Augen sofort wieder zurück gehüpft in die Mitte. In die Mitte zurück gehüpft waren die schon, bevor er im Spiegel überhaupt erst wieder irgendwas scharf sehen hat können irgendwie, wie verhext.
Aber ja.
Naja.
Mit dem Spiegel war das ja auch so eine Sache.
Seine Mamma, die sich da grad an ihrem Kümmelbraten verkutzte, die hatte ja behauptet, wenn er zu lang da rein schaut, dann würde der Teufel irgendwann da drin auftauchen, und ihm dann bös’ entgegen schau’n. Mit seinen Hörnern und mit seinem einen Huf, und dem Schwanz auch, aber wie lang wollte der Teufel sich eigentlich dafür genau Zeit lassen genau? So lang wie ein Jahr, oder was? Weil einmal war Paul ja schon fast den halberten Tag vorm Alibert im Badezimmer auf dem rosa Plastikschemel gestanden und hatte auf den Teufel in den zwei Spiegeltüren gewartet, aber er wollte und wollte nicht rauskommen aus seinem Versteck. Paul hatte da ja so einige Fragen. Zum Beispiel, wie er das ganze Jahr lang brav sein sollte, wenn seine Mamma ihm immer das Allerlustigste verbot dauernd. Und er zum Bravsein sich ja da dran halten musste, oder? Oder wie die Belohnung für das ganze nur drei kleine Schoko-Nikolos sein konnten und sonst lauter Mandarinen und Erdnüsse? Oder warum er die alle diesmal auch bekommen hat, obwohl er gar nicht brav gewesen ist das ganze Jahr?
Wie konnte das sein, bitte?
Da stimmte doch etwas nicht.
Und Paul hatte dann ja auch schon angefangen, nach dem Teufel zum Suchen vor lauter Warten. Nach fast dem halberten Tag Reinschau’n dann, im Allibert drinnen, zwischen den ganzen Zahnpastas und Dings und Sprühdingern, aber selbst ein noch so klitzekleines Irgendwas zum Reinkommen in die Spiegel war nirgenst zu finden da hinten. Aber der Teufel, der musste doch aber dort irgendwie rein kommen dort, und später wieder raus dann, nur war da nichts in den zwei Spiegeln drin, das Paul auch nur irgendwie groß genug vorgekommen wäre, damit der Teufel da durchpasste irgendwie. Und der konnte ja auch nicht im Spiegel bleiben, für immer, der Teufel, weil wenn der Nikolo dann wieder kommt im Dezember, da musste der ja mit seiner Rute hinter dem Nikolo dann vor der Haustür steh’n. Wie sollte das dann bitte gehen bitte, wenn der auf ewig im Spiegel da feststeckt und nicht rauskommt, wenn’s dann draußen klingelt an der Tür?
Wie bitte?
Aber ja.
Paul verstand das nicht.
Er verstand auch nicht, warum sein Papa fragte, „Wos is’ da jetz’ mit da Kellnarin?“, weil die eh da drüben war und grad jemand anders bediente.
Naja.

Paul schluckte aber auch gern Kaugummis.
Ja, und seinen Magen verkleben, das wäre doch schon einmal was gewesen, oder? Da würden dann alle schau’n, wenn er mit dem Kaugummi dann Blasen machen könnte, noch mit was anderem als mit dem Mund. Also so stellte Paul sich das halt vor so beim Kaugummischlucken. So in die Hocke gehen und die Hose runter und dann, dann hätte das ja auch was Gutes gehabt dann. Da hätte es dann ja nicht nur mehr gestunken vielleicht, wenn wieder mal hinten was raus muss. Da würde dann allen auch der Bauch vielleicht wehtun vor lauter Lachen, wenn Paul da eine Kaugummiblase von hinten dann raus kommt. Und wenn einem der Bauch wehtut vor lauter Lachen, ja, das war ja dann auch das einzige Wehtun, das sich irgendwie auszahlt, oder?, nur Pauls Magen verklebte und verklebte sich nicht. Nicht bei einem, nicht bei zwei, und auch nicht bei allen Kaugummis da in der Stange drin, und Paul begann dann schon dran zu zweifeln ein bissi, ob das geht überhaupt mit dem Magenverkleben. Wie viel Kaugummis sollte er denn da jetzt noch schlucken dafür genau? Wie viele? Einer sollte doch reichen und schwupps wär’ sein Magen verklebt, hat sein Papa gesagt zumindest mit dem Zeigefinger oben, aber jetzt?
Irgendwas musste Pauls Bauch da wohl nicht richtig verstanden haben irgendwie.
Und nicht nur das mit dem Kaugummischlucken.

Auch das mit den Kirschkernen.
Wenn er die nämlich einfach so schlucken würde anstatt ausspucken, da würde dann ein Kirschbaum aus ihm rauswachsen, hat sein Opa erzählt, und Paul hatte es ja kaum noch erwarten können. Ein Kirschbaum, so aus ihm raus, das wäre ja praktisch gewesen. Da hätte er ja dann ganz umsonst ganz viele Kirschen gehabt, und mit all seinen Freunden dann teilen können. Und Paul hat dann gewartet und gewartet, und jeden Tag in der Früh im Nabel drin nach den Ästen gesucht, aber aus dem Kern in seinem Bauch wollte irgendwie kein Baum werden. Wie konnte das sein überhaupt? In Sachgeschichte hatte Paul ja grad erst lernen müssen, dass so ein Baum aus den Kernen kommt, aber vielleicht war es in seinem Bauch drin ja auch zu gemütlich und zu warm zum Rauskommen. Vielleicht wollte der Baum ja eben nur deshalb nicht aus ihm raus, so wie er normal selbst nicht von unter der Decke raus wollte, wenn seine Mamma ihn aufweckte in der Früh und es war schon wieder Mathematikschularbeit gleich in der ersten Stunde. Aber bei den Kirschkernen, da war für die da ja aber gar kein Grund zum Rechnen, die hätten ja dann auch als Baum niemals zu drei vier dazuzählen können müssen. Die hätten sich ja keine Sorgen machen müssen, dass dann beim Zurückbekommen dann wieder alles ganz rot durchgestrichen daher kommt, die hätten ja nur Kirschen machen müssen, und die hat ja eh jeder gern.
Paul kratzte sich am Kopf.
Naja.
„Ein Acht’l noch!“, sagte sein Papa.
„Für mich auch“, seine Mamma.
„Und für mich“, der Opa.
„Also drei insgesamt?“
Und von der Oma ein „Ja“.
Aber ja.
Vielleicht machte Paul ja auch einfach nur irgendwas falsch.

Wie, wenn er seine Füße nicht g’scheit hob beim Spazierengeh’n. Noch nie war er dabei gestolpert über den Randstein, und noch nie war Paul dabei unabsichtlich plötzlich im Donaukanal, weil er das Ende vom Kai übersehen hatte vom Indieluftschau’n. Paul war ja auch nicht blöd. Er wusste ja immer, dass da links oder rechts dann das Wasser kam, und er konnte ja auch gleichzeitig in die Luft schau’n und gleichzeitig noch wissen, wo er gerade war. Und außerdem: Was wenn da ein Vogel plötzlich da über ihn drüber geflogen wäre und er das nicht mitbekommt? Oder eine Wolke, die nach irgendwas ausschaut? Oder sonst was Wichtiges? Der Beton vom Gehsteig, der war ja eh immer gleich, den kannte Paul ja schon auswendig. Und, ja, und zweitens war ja dann da auch so ein Gefühl immer. So eins, das Paul bis jetzt immer gleich dann verraten hatte, wenn irgendwas komisch war. Wenn er den nächsten Schritt lieber nicht macht, bevor er nicht vorher schaut, ob da überhaupt noch ein Boden war vor ihm da vorn, ob da schon nur noch Luft war, oder nicht.
Also eigentlich ganz einfach alles.
Noch nie war Paul was Schlimmes passiert beim Spazierengeh’n.
Noch nie.

Und auch wenn Paul mit der Schere daheim durch die Wohnung rannte, hatte er sich da noch nie damit aufgespießt, so wie seine Mamma ihm das dann immer gleich nachbrüllte. Noch nicht einmal nur ein bissi geschnitten irgendwo hatte Paul sich dabei, kein einziges Pflaster hatte überhaupt je einmal erst aus der Verpackung kommen müssen wegen dem Herumrennen mit der Schere. Paul rannte ja auch nicht einfach nur mit der Schere herum, weil ihm grad so fad war. Er musste da ja immer schnell irgendwo hin und irgendwas aus- oder abschneiden, und Paul rannte ja nicht wie ein Irrer. Er rannte ja nur so schnell, dass er noch stehen bleiben konnte, falls da ein Hindernis war auf einmal in der Kurve nach der Küche, und selbst wenn. Selbst wenn er über irgendein plötzliches Chaos da drüber geflogen wäre plötzlich, er rannte ja so und so immer mit der Schere nach unten in der Faust. So, dass die Spitze, die ihn ja aufspießen hätte können sollen, einen Polster aus Fingern drumherum hatte, also wenn er sich da so damit aufspießte, dann war da sowieso kein Weg dran vorbei wahrscheinlich. Da hätte er auch in Zeitlupe die Schere irgendwo drin stecken gehabt, und da war ja das Rennen dann ja gar nicht der Grund dann fürs Aufspießen am Schluss.
Daweil aber noch kein Blut und gar nichts.
Naja.
Die Kellnerin machte drei Stricherl dazu auf den Zett’l und steckte ihn zurück in sein Glas und dann „Prost!“.
Aber ja.

Und dasselbe in grün mit dem Nasebohren. Geheißen hatte es ja, dass Paul die Nasenlöcher davon ausleiern würden, ganz groß würden die werden, und er dann auch hässlich. Und Paul hatte gebohrt und gebohrt und gebohrt, aber nichts, trotzdem passte da noch nicht einmal der Mittelfinger noch rein in die Nasenlöcher, egal, wie sehr er ihn auch reindrückte von unten. Und das große Ziel war ja der Daumen eigentlich. Der, der ja noch um einiges größer war als der Mittelfinger, und, weil mit dem Daumen in der Nase bohren, das hatte Paul sich ja auch schon ganz lustig vorgestellt. Vor allem jetzt zum Beispiel, wieder was Neues zum Grausen für die Oma, nur war da noch immer nicht Platz genug in seiner Nase drin, und das wurmte ihn. War da was falsch mit seiner Nase?, so dachte er, und ob da ein Arzt besser reinschaut? Vielleicht war da ja schon was drin in seiner Nase, was, das Paul sich beim Nasebohren langsam immer noch weiter nach oben bohrte, und irgendwann rein in den Kopf von ihm. Vielleicht. Vielleicht ja der eine kleine Lego-Stein von der Ritterburg, den er nirgenst mehr finden konnte. Vielleicht hat sich der ja da in der Nase versteckt in der Nacht irgendwann, und ja, aber im Kopf konnte Paul den ja ganz sicher nicht brauchen, oder? Der war ja für ganz oben, oben am linken Turm von der Ritterburg, und sein Kopf war ja nur fürs Gehirn gedacht. Und wer wusste denn, was da was anderes als ein Gehirn alles anstellen konnte, so in seinem Kopf drinnen, wusste das wer überhaupt?
Wusste das wer?
Wahrscheinlich nur Leute mit Lego-Steinen im Kopf oder sowas.
Naja.
„Und ja. Also ja, und heutzutage. Aber wirklich!“
Sein Opa nickte seinem Rotwein zu, als würde da wer drin ertrinken irgendwo und er wünscht ihm dabei viel Glück.
Aber ja.

Aber Paul schaute ja auch genau so ähnlich, wenn er sich seine Augen eckig machen wollte endlich. Aber die Augen schon wieder. Die, die ihm zuerst beim Schielen nicht und nicht stecken bleiben wollten, und eckig wollten sie auch nicht werden anscheinend. Wie als hätten seine Augen irgendwas gegen alles, wie als würde er sie nicht gut genug füttern oder so. Weil ganz nah, wirklich knapp, fast mit der Nasenspitze ist Paul ja schon angestoßen am Glas vorn am Fernseher, aber egal, wie lang er auch zu nah am Fernseher nichts mehr vom Fernseh’n gesehen hatte, seine Augen, die waren immer noch rund. Ganz rund, und nur in den Ecken spitz, aber die spitzen Ecken waren ja auch vorher schon da immer und da war ja dann nichts allzu viel neu dann an dem. Aber die anderen Ecken. Die anderen Ecken, die wollten und wollten nicht und nicht raus kommen von irgendwo anders aus seinen Augen, auch nach vier Folgen Bravestarr nicht. Dabei wären eckige Augen doch ein bissi einmal was anderes gewesen einmal, aber eh trotzdem immer noch Augen. Und was war denn da überhaupt so schlimm dran eigentlich an so eckigen Augen? Weil rund oder eckig, das war ja nur, wie Sachen nur ausschau’n, und das war ja egal dann, wenn sonst alles gleich war, oder? Über eckige Eier, da würde sich ja auch keiner beschweren kommen, dachte Paul sich mit einem sprudelnden Soletti im Almdudler, und dann ist Schluss endlich mit dem ewigen Davonrollen wegen dem Rundsein. Und, ja, und dann entkommt auch seiner Mamma nie mehr ein Ei vom Schneidbrett und platsch. Weil so ein rohes Ei da zwischen den Fliesen zum Rausbekommen, das war ja auch nichts, was irgendwer gern macht, und sowieso:
Was war da jetzt so schlecht an so eckigen Augen?
Können die sich dann eckig nicht mehr dreh’n, oder was?
Oder gehen die dann nicht mehr so schön zu dann?
Oder nicht mehr so leicht?
Naja.
„Was isn mit da Kellnarin scho wieda?“
Aber ja.

Paul kam da einfach nicht dahinter, wo da genau das Problem sein sollte, aber das war er ja schon gewohnt langsam. Nichts wollte so einfach gehn, wie die ganzen Erwachsenen das dauernd so sagten ganz einfach, und auch das Wetter gehorchte Paul nicht. Und drei Tage, drei ganze lange Tage hintereinander hatte er ja extra deswegen absichtlich beim Essen immer zumindest ein bissi was stehen lassen. Und bei den Erbsen am Montag, da war ja das noch wie bei den Fliegen und dem tapferen Schneiderlein, aber beim Schnitzel gestern, wie er da die drei Pommes, also, und nur damit es morgen dann endlich endlich regnet, und Paul mit seinen neuen Gummistiefeln dann endlich endlich in die erste Lacke reinhüpfen kann. Weil seit über eine Woche sind die ja jetzt schon leer im Vorzimmer herum gestanden und haben sich fadisiert. Die Gummistiefel, schön gelb, und mit Marienkäfern drauf, und noch nie hatte Paul die anziehen dürfen, weil, wie zufleiß, war es seit dem ja schöner als schön gewesen. Und wieder nur Sonne wieder. Und, ehrlich gesagt, hatte Paul sich da schon ein bissi mehr erwartet von seinem Pommes-Opfer da gestern. Weil es war ja fast, dachte er, als gäb’ es da jemand irgendwo, der da dauernd extra-extra-genau seinen Teller abschleckt, weil der vielleicht neue Sandalen bekommen hat, und keine Gummistiefel. Und Sandalen konnte man sich ja nicht anziehen, wenn es Lacken gab draußen, aber irgendwann musste Paul doch auch irgendwann dran sein, oder? Sonst wär’ das ja alles unfair alles, und wie viele Leute konnten sich überhaupt da dauernd neue Sandalen kaufen im Herbst? Oder kurze Hosen. Oder vielleicht gab es da aber ja auch so Regeln dafür, also so, wie er die Erbsen mit der Gabel von sich wegschieben hätte müssen, damit das Stehenlassen fürs Wetter erst gilt vielleicht. Aber wo war dann genau, wo dann drin stand, wie das alles jetzt geht genau? Und warum hatten seine Eltern dann so viel Angst vor dem, dass es morgen schirch wird, wenn Paul von seinem Essen was überlasst, wenn er eh gar nicht wusste, wie man das richtig macht.
Aber ja.
So war das halt.
Nichts wird einem g’scheit erklärt richtig, und seine Oma zeigte auf und rief, „Zahlen bitte!“, obwohl es schon so ausgeschaut hatte, als hätten alle andren viel lieber noch was bestellen wollen.
Naja.

Paul hatte ja auch noch nie herausgefunden, wer da grad an ihn dachte, wenn er grad wieder Schluckauf hat. Und das war gar nicht so schön manchmal. Und er hat ja immer seine große Schwester meistens gleich in Verdacht gehabt, überhaupt, wenn das Schluckauf dann überhaupt nicht mehr weggehen wollte, und sie ihn deswegen auslachte mit ihrer Zahnspange. Da konnte er dann noch so viel die Luft anhalten, und kaum dachte Paul sich, es wäre vorbei endlich, fing alles nur wieder von vorne an. Und das war dann sowas, das irgendwie komisch war. Weil es war ja dann auch so, dass das Schluckauf ja dann das Einzige war, woran Paul überhaupt noch denken konnte, also dass es aufhört endlich. Aber wenn er jetzt an das Schluckauf dachte, bekam ja das Schluckauf dann auch davon Schluckauf, oder nicht? Vielleicht hatte seine Schwester ja schon längst wieder aufgehört, da komisch an ihn zu denken, und sein Schluckauf borgte sich nur seinen Körper aus. Ja, weil ja das Schluckauf ja selbst keinen Körper hat so wirklich, aber Schluckauf haben musste, weil Paul selbst ja wieder nur an sein Schluckauf dachte beim nächsten Versuch mit dem Luftanhalten.
Ihm war das aber alles ja schon viel zu kompliziert schon.
Er hätte das ja auch viel lieber gehabt, wenn das Schluckauf halt einfach da war manchmal, und es niemand geben hätte müssen, der da schuld dran war, nur weil er an irgendwas dachte.
Naja.
Aber ja.
So ging das halt nicht.

Genauso wenig, wie es nicht ging, dass Paul ins Bett machte. Ja, gut, absichtlich wär’ das schon locker gegangen irgendwie, aber ins Bett macht ja niemand einfach so nur zum Spaß, oder? Da wird ja dann alles kalt am Bauch und so unten herum, und wenn seine Mamma dann das Bett abziehen kommen muss mitten in der Nacht dann, da war dann ja sowieso alles, also. Da konnte sich Paul ja noch gut dran erinnern, wie das war damals mit den Blicken und allem, aber jetzt war er ja schon größer als früher, und trotzdem: In die Kerze reinschau’n durfte er immer noch nicht. Weil er dann ja ins Bett machen würde, von seinem Papa aus, was aber nie passierte. Alles trocken beim Aufstehen, da konnte er noch so lang reinschau’n in die Kerze beim Heurigen jetzt, während drum herum sich niemand vom anderen einladen lassen wollte.
„Nein, kommt ja überhaupt nicht in Frage! Komm, Ewald! Wir zahlen!“
„Kommt ja gar nicht in Frage! Da Opa und ich zahlen, und Ende der Diskussion!“
Naja.
Paul trank mit seinem Strohhalm daweil noch den lautesten Rest aus von seinem Almdudler, weil er ja wusste, dass seine Mamma dann nur wieder so tun würde.
„Auf dreihundert!“
Mit Trinkgeld und allem.
Und Paul saß da auf der Heurigenbank und schaukelte mit den Füßen. Hin und her und hin und her, während der Opa der Kellnerin das Geld hinhielt, und seine Mamma dann dasselbe Geld dem Opa dann heimlich in die Jackentasche steckte wie jedes Mal.
Aber ja.

Und er hatte da auch so eine Idee, wie ihm die Luft da so schnell an den Knöcheln vorbei kam.
Weil eines war da ja noch.
Ein so ein Ding, dass er noch gar nicht probiert hatte, weil da hatte er ja schon ein bissi Angst davor.
Vor dem mit den nassen Haaren.
Mit denen durfte er ja nicht ins Bett gehen ohne Föhnen vorher. Da würde er ja davon am Morgen dann mit Gesichtslähmung aufwachen, und das war ja nicht so unbedingt das Idealste so. So, wo das ganze Gesicht sich dann nicht mehr bewegen kann, und Paul dann dalag und ja, sein Gesicht halt gelähmt war. Da konnte er dann ja keine Grimassen mehr schneiden, und um die Wette spucken ja vielleicht auch nicht mehr, oder Schlimmeres. Was ja auch der einzige Grund war, warum er sich von seiner Mamma dann immer doch die Haare föhnen hat lassen, weil das war ja eigentlich nur lang und fad und heiß und blöd.
Aber was, wenn das auch gar nicht stimmte vielleicht?
Das mit der Gesichtslähmung und allem?
Dann war das ja alles umsonst alles, das Haareföhnen, da war dann ja gar nichts, warum das so wichtig war, außer seiner Mamma vielleicht.
Aber die war ja auch seine Mamma.
Und die musste ihn ja lieb haben, auch mit nassen Haaren, und auch mit Gesichtslähmung falls.
Schon oder?
Aber Paul hatte da jedenfalls so eine Idee.
So einen Idee hatte er da, dass er heute nach dem Schlafengeh’n noch einmal aufstand. Ganz leise, und so auf Zehenspitzen, und dann machte er sich die Haare nach dem Föhnen einfach noch einmal nass, und dann würde er ja sehen. Weil, ja, an seiner Mamma, da kam er mit den nassen Haaren ja so und so nicht vorbei ins Bett, aber so? Ja, so machte Paul das, und er ließ das Bussi auf den Mund von seiner Oma brav über sich ergehen, und er winkte ihr und dem Opa aus dem Auto nach, länger als die zwei das überhaupt sehen haben können wahrscheinlich.
Paul mochte das ja.
Er mochte ja seine Oma und seinen Opa.
Und seine Mamma und seinen Papa auch.
Aber ja.
Naja.
Nur das mit den nassen Haaren, das musste er halt ausprobier’n, trotzdem, und die Sonne schien ihm warm auf die Wangen am Morgen dann.
Was Paul auch gleich dann auch sagte, dass sein Gesicht nicht gelähmt war, trotz all der nassen Haare.
Und, dass er nicht alles einfach so glauben durfte auch gleich.
Und, dass alles einfach so glauben vielleicht auch das Einzige war, das er nicht dürfen dürfen sollte eigentlich.
Oder so halt zumindest.
Irgendwie jedenfalls.

Markus Peyerl
www.markuspeyerl.at

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 14031

Ameisen, und Fruchtfliegen, und Silikon dazwischen

Kariert. Kariert, nicht gestreift: Gestreift ist nicht kariert. Das Hemd, nicht die Fenster! Alles, alles, nur die Fenster nicht. Die undichten, die, die noch undichter sind als die Tür. Die Tür! Da! Die ganzen Ameisen, da, da rennen sie den Hintern nach, alle dem ersten nach und dann dem zweiten und dann dem dritten nach, Tausende, viele. Alle unter der Tür durch, und auf die Brösel zu, auf den Zucker, im Zimmer, am Boden, verstreut, ein Hoppala zum Frühstück vor zwei Wochen. Und erst die Fruchtfliegen, die ganzen, die herumtaumeln in der Luft wie Industrieschnaps, wie Marillenbrand, angesetzt an die Lippen, Marillenbrand, der fast schon die Zunge berührt. So kurz vor dem Recken, das nachher kommt, so kurz vor dem Bremsmugel am Parkplatz vom Stadionbad. Der zum Magenausheben, der, nach dem das Stamperl am Rückweg dann erst wieder oben rauskommt. Im Auto, eins aufgeheizt vom Stehen, vom Stehen dort, wo der Schatten einmal war am Vormittag, vor der Ausfahrt noch, zuhause!
Zuhause, nein, zuhause!
Daheim spielt sich das alles erst ab.

Und, und wo kommen die jetzt alle her, diese Fruchtfliegen? Aus welchem Spalt? Aus welcher Ritze? Welcher von denen ist es, die sich da alle durch die verfärbte Farbe ziehen?, durch die Wände selbst, in die Wände hinein, wart!
Wart!
Senkt sich da etwa, das Fundament?
Senkt es sich?
Senkt es sich und reißt es das Dach in Trümmer? Regnet es dann? Regnet es? Regnet es Balken und Schindeln und Holz und Ton? Auf den Kopf? Auf die Schulter? Die Nase! Gebrochen!, die Nase ab, und die Mauern purzeln. Staub und Ziegel, grau in grau, die Ziegel unten, der Staub, der oben drauf sinkt, es stinkt. Riechen!, nur nicht, nur nicht Einatmen, die Kartoffeln!
Die Kartoffeln!
Uralt, geschrumpft und verschrumpelt, flüssig und runzlig, dort ist er also daheim, der Schwall aus schwarzen Punkten. Die Fruchtfliegen, daheim im weißen Tapperg’schirr, mitsamt Kartoffeln von vor mehr als fünfzig Wochen!
Ja!
Ja!
Jetzt, mit dem Deckel unten, direkt offensichtlich: Dort kommen die Fruchtfliegen also her.
Direkt ekelhaft!

Alle Fruchtfliegen sofort in der Luft jetzt, Schwirren im Nasenloch, Niesen!
Ha-Ha-Ha-Hatschi!, kein Gesundheit.
Nur fuchtelnde Arme in einer Wolke aus Fruchtfliegen, einer, die auch noch zurück fuchtelt, nasses Mehl! Nasses, nasses Mehl, der Geschmack vom Kartoffelgestank, wie eine zweite Haut hinten an den Zähnen. Seit länger schon. Schwer, klebrig, und süß fast, aber nicht  süß wirklich, nur nicht den Mund aufmachen, nur nicht.
Nur nicht, und zu mit den Augen!
Zu damit!
Zu wie den Mund!
Zu damit und her mit dem Müllsäcken! Hüfthöhe mittig, im Glasbodeneinschubfach, überm gärenden Kartoffelpüreegatsch, in der Küchenstellage, in der Wohnküche, blind.
Augen zu!
Zu gefährlich!
Die Fruchtfliegen weiter unten schon halb im Mund!
Jetzt! Her damit! Her damit, her mit den sechzig Litern, Müllsäcke, premium, mit Zugband, hellblau, perforiert.
Perforiert!
Die Perforation!
Sie, sie kommt und kommt nicht.

Sekundenlang, ganze Meter, Meter und Sekunden aus glattem Vorbeirascheln, wie ein Tixo ohne Anfang, wie endlos, dann aber Schluss. Schluss! Schluss ist und Augen halt wieder auf und da liegen sie aufeinander in ihren runden Falten wie eine Küchenrolle ganz abgerollt, die zehn Müllsäcke, die zehn, die nur eins sind, unzugeschweißt, nicht perforiert.
Frechheit!
Fabrikationsfehler, Fehler, Fabrikation!
Nur Fehler, Fehler von oben bis unten.
Klump! Klump! Klumpert!
Und da, ah, eine Fruchtfliege im Aug auch noch, endlich, schon. Das kommt davon. Das kommt davon vom Augenwiederaufmachen im Fruchfliegenschwarm drinnen und da: spitze, dünne Beinchen, die Zehenspitzen raufkraxeln. Spitze, dünne Beinchen, die schon bald oben ankommen, und dann, schnell, nach hinten zum Knöchel und rundherum.
Was zuerst, was zuerst, was zuerst ermorden?
Was?
Was!
Waswaswas!
Fruchtfliege, Aug, Ameise, Fuß, und Blinzeln, Reiben, Tränen. Es juckt, noch immer, es juckt, im Aug, rot!, rot!, und rosa mindestens! Aus damit! Aus! An den Wimpern ziehen, wuahaha!, und das Lid, drüberstülpen, hinunter zum anderen, und dort dann, dort dann loslassen.
Ein grauslicher Sog, ein grausliches, geräuschloses Schmatzgeräusch und weg.
Weg!
Nur leicht verschwommen nur noch.
Weg ist die Fruchtfliege!
Weg, wohin auch immer!
Und da, die Ameise! Die Ameise, die wieder zurück, nach vorn zu den Zehen rennt: Insekten, Eiweiß, hirnloses! Runter!, runter!, runter da!, runter!, Fußausschütteln! Abschütteln!, runter!, runter da von dem Rist, herrunter!, herunter jetzt von dem Fuß!
Die Ameise, sie, sie wehrt sich!
Sie hält sich, hartnäckig, lang, zu lang, zu lang zu lang schon!
Also doch besser Wegschnipsen.
Tadaaaa, genug jetzt aber!
Es reicht mit dem ganzen Hausfriedensbruch da! Elektrozäune, Säuregräben, winzig kleine Minen, ja!, wär’ nur die Zeit, keine Zeit, Silikon! Ha! Genau! Wegen der Badewanne, Silikon!, neues, wegen dem Schimmel am alten, gekauft, nie benutzt, nur gekauft, das neue, ergo voll!
Muahahahaha!

Wird schon noch gut sein von zweitausendirgendwas, aber, aber wer schaut schon aufs Ablaufdatum bei sowas? Wer schon? Im Ausnahmezustand? Na wer?
Nur wo nur, wo nur, wo?
Ah, ja, aja, da, dort, unter der Waschmuschel, im Unterkastl, im Badezimmer. Hinter den ganzen leeren Kloputzmitteln mit Meeresbrise, Zitronenhauch, Orange und Lavendel, nicht mischen, nicht mischen, mischen verboten! Da! Da steht es, dahinter, das Schimmel-Blocker-Aktiv-Silikon, blockt aktiv Schimmel, steht da, groß geschrieben, von Ameisen und von Fruchtfliegen nichts.
Trotzdem!
Ja, sicher!
Problemlos!
Und da, da kommt es schon, das Weiße, das Silikon, vorn raus  aus der Spitze, aus der Aufsteckdüse, die, die aus „im Lieferumfang enthalten“. So! Dann zwischen Tür damit und Türstock, zwischen Tür und Angel! Zu sein, zu muss es werden, zu! Zu, so zu, ein Durchzwängen ausgeschlossen, zu, zu, zu, so zu wie zu nur sein kann. Mit dem Daumen glattstreichen, immer Glattstreichen das Silikon, mit dem Daumen, schön, rundherum, um die Tür, oben, links, rechts und unten.

Silikon!
Alle Kanten entlang, jede, den ganzen Umfang, in den Spalt hinein, ja, das nennt sich Abdichten, ja, sowas heißt Dichtung! Dichtung!, dichte, nicht dieses lächerliche Kautschukband, dieser schmale Streifen, dieses leere Profil voller Luft, nachträglich reingeklebt in den Türrahmen, eingezwickt, nutzlos, alles kommt durch, alles!
Da!
Fertig!
Nichts!, nichts kommt mehr durch, durch die Tür, kein Vorbei mehr, keine Ameise, keine Fruchtfliege, keine Milbe, kein Hausstaub, nichts.
Und jetzt!
Jetzt die Fenster.
Die zwei, die Jalousien unten, unten, unten und zugedreht, andauernd, und Ameisen, Ameisen überall!, und Fruchtfliegen!             Jetzt!
Schnell!
Mehr Silikon!
Mehr!

Und rein damit in die letzten Schwachstellen, die letzten schmalen Durchlässe, die Fenster, nach raus, nach rein, egal wohin, aber reicht überhaupt das eine? Reichen die dreihundert? Die dreihundert Milliliter? Dreihundert Milliliter Qualitätssilikon, steht da, ja!, sie sollten, sie reichen, sie müssen. Vorsichtig, Vorsicht! Trotzdem spaaarsam, so sparsam wie möglich, nur nichts verschwenden, keinen Tropfen aufs Fensterbrett, keinen Tropfen, der tropft wie Zahnpasta. Eine Unachtsamkeit, ein matschiges Aufklatschen nur, und was dann?: die Ameisen!, die Fruchtfliegen!, nicht mehr aufzuhalten! Nicht aufzuhalten, die beiden, nicht mehr, wenn es ausgeht, das Silikon, die Ameisen, draußen, wahrscheinlich halb die Fassade schon oben!, die Fruchtfliegen, drinnen, sie lauern!
Verdächtig!
Verdächtig unauffällig.
So lauern sie, aufs Ausbrechen, aufs Verstärkungholen, nein!, also!, schnell! Nicht die geringste, nicht die winzigste Lücke darf bleiben, nicht die geringste, nicht die winzigste, mikroskopische, nano, pico, femto. Null Toleranz, plusminus gar nichts, null, genau null, ohne Komma, ohne Beistrich, das erste Fenster: fertig!

Und ahh, da, da krabbeln sie.
Da krabbeln sie am Boden, und da fliegen sie herum in der Luft, ach, ja, wüssten sie nur. Wüssten sie nur, und könnten sie ahnen, der Tod!, die Zeitung schon eingerollt unterm Arm. Nur noch den Rückzug abschneiden, nur noch den Nachschub und dann. Dann! Entkommen?, keines, bald, Vergangenheit, unmöglich, in Kürze, gleich vorbei! Ein Fenster noch, eines, ein letztes, versiegelt, auch bald.
Silikon!
Kein Rein mehr, kein Raus und nichts mehr dazwischen.
Ja, das passiert, da passiert es!
Ohne Glauben, ohne Hoffen, kein Wirdschonallesgutwieder, aus ist es dann, aus! Aus! Na?, und wie hört sich das an? Wie hört sich das an, aus? Gut? Schlecht? Mittel? Vorher überlegen das nächste Mal!, vorher, nicht nachher!, zu spät jetzt nachher, zu spät jetzt: Wiewaswie? Nochamal? Eine Ausnahme? Eine machen? Das eine Mal nur? Nur dieses eine Mal?
Ha!
So auf allen sechs Knien?
So auf kein Euzerl Stolz mehr im Leib?
Schau, da: Da!, schaut!
Bei der Hälfte schon, der Hälfte vom zweiten Fenster, da!, vom letzten, jetzt, als Aus, als endgültiges. Endgültig!, ja, so, so, so wie die Art, wie es aufhört! Das kommt davon! Das kommt davon, vom Vergessen, vom Nichtmehrwissen, wo der Platz ist, der eigene! Nicht hier, hier nicht, hier, wer zahlt denn die Miete da? Mit Bankeinzug? Mit Menschengeld?
Mund halten!
Weitermachen!
Ja, jetzt! Jetzt nur noch schön um die letzte Ecke, die letzte Ecke, die letzte, da!, hört ihr? Da!, ein bisschen nur noch verstreichen, ein Daumennagel noch, ein Strich damit, Kosmetik! Geschlossen, für immer: So! Und was jetzt? Jetzt was? Was jetzt?, was genau ist der Plan? Die weitere Vorgangsweise? Das, was als nächstes kommt?
Erschlagen?
Nein!
Erschlagenwerden!
Aufplatzen, zermatschgert, erschlagen mit der Presse, der eingerollten, Gratisabo, drei Wochen, Altpapier! Kein Weg vorbei, kein Zurück und kein Vorwärts! Für euch! Ihr! Nur noch Flecken, nur noch breit, nur noch flach, am Boden, an der Decke, ein verschmierter Fleck an der Wand, an einer jeden.

Wart!
Halt einmal kurz!
Geht das dann wieder weg wieder?
Geht das weg, geht das runter, nachher, bleibt das, da? So schirch und braun? Die Überreste? Ha! Gerade noch! Ha! Oh nein, von Ameisen, von Ameisen und Fruchtfliegen, von stecknadelkopfgroßen Köpfen fast überrumpelt fast, die Wohnung verschandelt fast, peinlich! Peinlich, ja, fast, fast!, fast, aber das und nur das, unblutig!, fleckenfrei!, Staubsauger! Philips, Holland, die Niederlande, moderne Technik, made in China, mit CE am Pickerl daruf. Mit Strom und Spannung, in derselben Frequenz oder so, mit Kabeln und Knöpfen, mit Saugstärkeregler zum Drehen.
Kompliziert?
Kompliziert?
Zu kompliziert für euch Ungeziefer?
Da!
Da!
Ganz einfach!

Rausziehen, Anstecken, linke Fußtaste, links, nicht rechts; links! Rechts rollt die Kabeltrommel, aber hört ihr das? Dieses endlose Luftholen, dieses gierige? Durch das Rohr, das hinein in den Bauch führt? In den Bauch, durch den Schlauch, in den Bauch, in den Beutel, dunkel, schwarz und reißfest? Sonne? Hörensagen!, ab bald, ab jetzt, los geht’s, und durch da! Durch da! Rein! Die erste, die zweite, die dritte, die Fruchtfliegen an der Decke, leichte Opfer. Sitzen da!, nur da, kein Wegfliegen mehr, kein Rettesichwerkann, da ergeben sie sich also, die Fruchtfliegen.
Brav.
Sehr brav.
Nicht so die Ameisen!
Die Ameisen!, widerspenstig!, das ganze Volk!
Kreuz und quer, quer und kreuz, vor der frisch aufgesteckten Hartbodendüse da rennen sie. Sie rennen, links-rechts-links, unter die Couch, in den Spalt, dorthin, wo nur Lurch sonst hinkommt und Socken und Münzen und Mais. Dorthin, hinein in den Schatten, hinter die Stoffkante, unter die Polster zum Sitzen, dorthin, wo die Fruchtfliegen nimmer mehr hinkommen, die meisten schon weg, am Gebläse vorbei. Sicher fünfzig, locker mehr, nur noch Versprengte, Versprengte! An der Decke ein, zwei, nur noch, die Ameisen vollzählig, verschanzt, versteckt, die Ausziehcouch, sie muss weg!
Anheben!
Auf Drei!
Drei!
Ein Stechen im Kreuz, und zu schwer, und Verschieben. Deutlich leichter, ja, ah, und da:
Da kauern sie in den Ecken, da klammern sie sich fest an den Sesselleisten, die Ameisen, da treffen sie sich im Eck. Feig!, feig!, alle über und unter und übereinander, alle drängelnd, im Gedränge, aber jeder, jeder kommt dran!, auch der am nächsten zur Wand.        Idiotisch!
Weiter weg?
Immer noch viel zu nah.
In Reichweite.

Und runter mit dem Hartbodendüse und wieder direkt rein ins Loch. Ins Loch, ins Rohr, ins rauschende, ja, da, da verschwinden sie, da endet ihr Dasein, ihr unbequemes, Unmengen auf einmal, fast alle. Nur noch die letzten, der letzte Rest Ameisen, der letzte Rest Fruchtfliegen, dasselbe Schicksal, egal ob mit oder ohne Ausweichen. Eins, zwo, drei, vier, wup, wup, wup, wup, fünf und wup oder wie Einsaugen halt klingt in echt, noch neunzehn Mal und dann! Alle drin, alle, keine schwarzen Punkte, kein Schweben mehr, kein Krabbeln, zwei Beine! Zwei Beine als Maximum, zwei nur, soweit die paar Quadratmeter reichen, allein, daheim, so weit, so gut, aber wart!
Wart!

Sind die jetzt tot, da drin?
Sind die am Leben?
Sind die am Leben da drin in dem Staubsauger?
Sind die tot?
Ganz?
Tot, so tot wie gedacht, oder?, oder vielleicht?, oder vielleicht?, oder vielleicht rotten die sich zusammen, da drinnen, die Ameisen und die Fruchtfliegen, gerade jetzt? Da drin im Schutz der Dunkelheit, unter der Oberfläche, dem marmorierten Kunststoff, hinter den Schlieren am Klarlack, im Beutel, im Bauch von dem Staubsauger drumherum. Im Hinterhalt? Mit lauter kleinen Messern bestimmt für den Rücken? Zum Reinstechen? Im Schlaf? Beim Schlafen? Ha! Gerade noch! Gerade!, zu billig! Zu billig wär’ das, zu billig, wenn da jetzt noch wer lebend davon kommt, mit dem Leben, mit ihren hunderttausend Kindern, die sie vielleicht schon zu zeugen beginnen, gerade, in aller Eile, jetzt!
Raus!
Raus damit!
Raus mit denen und anzünden!
Anzünden!
Anzünden!, sofort!, aber: Wohin mit dem ganzen Rauch?
Wohin nur? Wohin damit? Alles zu, die Fenster, die Fenster und die Tür, nein, dicht, zu mit Silikon, dicht zur Sicherheit! Wer weiß?, wer weiß, was da draußen wartet?, wer weiß es? Schäumend, wütend, aufgebracht? Rache!, Fletschen Beißwerkzeuge?
Ertränken!
Ja!
Genau!

Mit Wasser, im Wasser, in der Abwasch, ohne Feuer, ohne Rauch, ohne Ruß, ohne Dreck als Konsequenz! Perfekt!, perfekt!, keine Fische, die Fruchtfliegen und die Ameisen, ja, sicher, sicher, keine Seepferdchen auch nicht. Kein Atmen unter Wasser, und auf mit der Klappe mit der Feder, nur kurz am Hebel ziehen, entsperrt und offen, der Staubbeutel drinnen, eingespannt, ohne Regung! Ruhig, im Papier kein Rumoren, im hellbraunen, keine Wellen, der Staubbeutel voll, aufgeblasen, leicht, als wäre nichts drin.
Sicher ist sicher.
Schnell raus, und dann untertauchen, Hintragen, ein Schritt nach dem anderen, Quietschen!
Quietschen.
Quietschen, wie ein Mädchenmädchen, Quietschen wie beim Sauabstechen, eine Ameise, der Grund, eine Ameise! Heimtückisch, ja, so muss sie heraus gekrochen sein aus dem Loch, heraus aus dem Eingang aus Pappendeckel, heraus aus dem Loch, wo sonst alles nur reinkommt. Raus! Aus dem Staubbeutel, die Ameise, und über den Ringfinger, rauf auf die Hand!

Überraschung!
Und Schock!
Und Quietschen.
Runter! Runter, runter, runter, und Zappeln!, und Igittigittigitt, und da fliegt er.
In hohem Bogen.
Ausgekommen.
Im ersten Reflex.
Der Staubbeutel.
Mir.
Und da fliegt er. Da fliegt er, da fliegt er und da fliegt er, genau drauf zu, auf den Ventilator dort drüben, den Standventilator, dem, dem das vordere Schutzgitter fehlt seit dem Aufbauen. Zwei Schrauben nur, zwei Schrauben, zwei winzige, das Gewinde so kurz, kaum das Weglassen wert, aber nein. Aber nein, passieren wird nichts, nichts wird passieren!, nichts!, übertrieben, so und so, das Schutzgitter, nur mühsam, und jetzt?             Und jetzt?
Jetzt?
Zerfetzt! Zerfetzt und aufgerissen, der ehemals heile Staubbeutel, offen, hinten, aufgeschlitzt, von den stumpfen Blättern vom Rotor, wie groß ist die Chance da? Was ist da die Wahrscheinlichkeit? In Prozent? In Zahlen? Als Tortendiagramm?
Keine Ahnung!
Pech?
Jaja.
Das wird’s sein.
Ja, das ist es.
Nein!

Fürn Hugo ist das, nicht Pech, nicht wohl oder übel, fürn Hugo! Fürn Hugo!, noch vornehm ausgedrückt, butterweich eher, weil da, da, im Luftstrom, auf der höchsten Stufe, der mit den drei Stricherln daneben, da entlädt er sich, der offene Staubbeutel, nach vorn, und in die Breite. Alles, die Fruchtfliegen und die Ameisen, die Asche und Zehennägel, die Haare, die Schuppen, der Mohn vom Mohnstriezerl, alles, alles wieder da. Alles da, alles frei, alles schwebt, alles flimmert, alles fällt, langsam, wie hässlicher Schnee. Überall hin, auf alles oben drauf, kein frischer Staubbeutel mehr, kein Ersatz, kein Staubsauger!
Der Besen!
Zu weit weg, weg, viel zu weit!
Weil da, da kommen sie, die Ameisen und die Fruchtfliegen, und es schreit nach Vergeltung, nein, nach verfaulten Kartoffeln stinkt es.
Ah, da, da war ja noch was.
Da war ja was, der Gestank!
Der Gestank!
Der, der jetzt auch nicht mehr raus kann, egal! Da kommen sie!, die Ameisen unten, und die Fruchtfliegen drüber, mit Brummen, viel zu viele, viel zu viele auf einmal. Das Hundertfache, die hundertfache Anzahl, im Vergleich zu vorher, viel, viel weniger eingesaugt!

Schaut das vielleicht nur so aus?
Wie zwei Teppiche, zwei, die leben, beide dunkel, wie die Nacht schwarz, einer, der fliegt, und einer, der drunter sich ausstreckt, nach den Zehen.
Die Zehen!
In Gefahr, in Gefahr, in großer!
Nur schnell!
Nur, schnell, weg, von, hier!
Nur weg, weg von hier, und da, gedacht dran zu lang nur, und der Weg ins Vorzimmer abgeschnitten. Wie absichtlich, wie gezielt, und umzingelt. Umzingelt! Umzingelt, die Ameisen und die Fruchtfliegen in der Übermacht, knuspernd, zischend, sie bäumen sich auf, wie die Tiere!
Und jetzt?

Ohne Wasser, ohne Zeitung, ohne Feuer, ohne Staubsauger, wehrlos!, bloßfüßig?, nicht zu denken dran! Sicher nicht, nicht bloßfüßig, nein, lieber rauf auf den Beistelltisch, lieber rauf, lieber Zeitschinden! Zertreten, zermatschgern, nein, grauslich, unmöglich, mit dem nackten Fuß, mit der nackten Haut, die Fruchtfliegen, die fliegen, schon gar nicht.
Nein!
Wieder zu mit dem Mund, die Augen, die Nase, die Ohren!
Die Ohren!
Auf die Zehenspitzen, am Beistelltisch, zu wenig Hände, zu wenig. Zu wenig, zu wenige, zu wenig Hände, um eine, ein Ohr bleibt offen, ein Ohr, ungeschützt!, eine Einladung fast.
Nein!
Das rechte?, das linke?, das rechte?, das linke?, welches?, welcheswelcheswelches?, welches?, in welchem steckt ein Zeigefinger nicht?
Silikon vielleicht?
Ins Offene?
Oder in den Nase?
Aber ha!
Idee!

Das Ohr!, gegen die Schulter, gegen die Schulter drücken, das Ohr, mit der Schulter zuhalten. Kopf schief, Wirbel krumm, Schmerzen, Luftanhalten! Luftanhalten! Achtung! Die Ameisen, sie klettern, sie kraxeln, sie klimpern, spürbar, nach oben, über die Beine vom Beistelltisch, die Fruchtfliegen landen. Im Gesicht, am Kinn, an der Schläfe, zum Eierlegen?, es kitzelt, ihr, ihr, ihr, ihr, ihr, was soll einem dazu noch Großes einfallen? Sie, sie klettern und sie landen, die Ameisen und die Fruchtfliegen, sie klettern und sie landen, sie klettern und landen, klettern und landen, aber hinein?: Nirgenst! Nirgenst, kein Eingang, alles zu an mir außen, alle am Suchen, die Ameisen, auf den Lippen, die Fruchtfliegen, am Kehlkopf, am Muttermal. Ameisen, in der Augenbraue, in beiden, spitze Schritte, spitze Schritte im Kreis, die Fruchtfliegen sitzen, immer mehr, immer mehr, immer mehr.
Ja, da!, und jetzt?
Und jetzt?
Nichts mehr!
Alle ratlos, ratlos im ganzen Gesicht, draußen, alle! Keine drinnen!, nicht drin, da!, ha! Und? Wer bleibt da jetzt über am Ende? Und wer ist da jetzt oben auf? Da, jetzt, wer? Ein bisschen selbst überschätzt, hm?, schon, ha?, ein bisschen? Ein bisschen selbst überschätzt? Aber schwerst!

Markus Peyerl
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www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 14022

Das Fleisch unsrer Kinder zart

Da ward ein Fremder am Tore verlangend nach Einlass, mit ihm sein Eslein, dem auf dem Rücken nach vorne er beugte sich. Ein Weiter, es blieb ihm verwehrt. Des Fremden Faust, sie ward steif und gefror’n dann geschickt gen Himmel, mit der Kraft der, die seine letzte war. Wie könne er, ein Männlein, ein schwaches kleines, kein Einlass bekommen zu so einer derart Stadt? Mit den Zinnen der Mäuer, dick mit Gold sie beschlagen, einer welchen, derer ihr Wachposten, so es schien, nicht zu erkennen im Stande ward, welch Elend da vor ihm stünde. Von wie weit her er gekommen schon, erkenne er sie denn nicht, die Wärme, um die er zu betteln sich nicht mehr zu schade ward? An der Kutte durchnässt, in den Rissen der Frostbrand, an den Ärmeln, den magren, am Anblick, schier jämmerlich ganz? Erkenne er denn das nicht?, fragte der Fremde, bemüht im guten Glauben, die Antwort doch, sie schüttelte durch ihn mit Graus:
„Nein, mein Herr. Das erkenne ich nicht, mein Herr.“
Der Wachposten gab Antwort, gleich höflich wie ernst ebenso, und tat die gute Lanze drei Mal am Boden dann aufstampfen.
Worauf sich eine Gestalt erhob.
Im Lichte der Fackeln, tiefer drin in der Stadtmauer Rachen,  beinah im Vorhof bald schon. Dorten, dort schlürfte ihr Schatten gar garstig das Bier mit den Lippen vom Barte sich noch, und eilte nach vorne hin.

Der Fremde.
Entgegen ihm rief, entgegen ihm rief im Verzweifeln:
„Sind sie jener Einer, der sich zeigt hier für dies hier verantwortlich? Für diese Schmach, die hier frisch mir wird angetan?“
„Stets zu Diensten, euer von und zu Gnaden! Stets zu Diensten.“
Der Kommandant.
Heran er kam, und er trat hin vor des Esleins Nüstern trocken, mitnichten gewillt, den Hof zu machen dem Fremden. Mit den Armen verschränkt gleich vorm ledernen Harnisch, dem Bauche dick, breit stand er da zu Verbergen seines Korporals Zähne, die aus dem Mund ihm schon kamen spitz.
„Ihr Anliegen, euer Durchlaucht?“
„Mein Anliegen?! Seid ihr bei Trost so wenig wie die Mannschaft, die ihr euer nennt? Brot und Wasser und ein Platze zum Schlafen, das Einz’ge wonach es mir sehnen kann, nicht? Wie allem auf Gottes Erden?“
„Auf des Herzogs Befehl: mitnichten!“, ein Schreiben eins, mit Grobheit sehr, der Kommandant zog aus dem Beutel um die Schulter.
Das Papier ward bräunlich.
Das Siegel ward wie Blut.
Im Wachse gebrochen, zwei Drachen gefangen, der Kommandant hielt vors Gesicht sie dem Fremden nun hin, auf das nicht zu übersehen mehr ward, die Schwere seiner Worte.
„Was draußen sei, das bleibe dorten!“

Der Kommandant.
Stramm senkten sich die Brauen seiner Augen rot.
„Nur wisset ihr denn selbst noch nicht?! Die Ungetiere! Sie lauern dort, dort jenseits unsrer Mauer! Auf uns, und auf das Fleisch unserer Kinder zart!“
Der Fremde.
Er hob sein eisig Hand zum Kiefer hoch und ergriff es, den Witze suchend in dem, was er grade gehört. Seine Stirn, dem Zeugnis seiner Ohren nicht ganz trauen sie wollte, sein Kinn, es tat bewegen dann sich:
„Bei allem Ernst, der euch sei zugestanden: ein Ungetier? Ein Dunkelheit Gespinst? Das darf nicht hindern doch niemand am Atmen. Am Stillen von dem Hunger, der nur Hefe und Weizen hat im Sinn.“
„Sehr wohl, der Herr! Auf des Herzogs Befehl, sehr wohl!“
„Was draußen sei, das bleibe dorten! Also vergessen schon?“, der Korporal, er johlte, „Hinfort mit euch, ihr, der ihr doch nur eines wollt!“

Die Fersen tiefer in die Seiten gedrückt seinem Eslein saß der Fremde nun, schlecht sich fügend. Die Zügel fest, im Griffe schwach, ein Huf ward asbald an der Luft oben. Ein Schnauben kurz folgte, aus des Esleins Hals es sich kratzte wie Regen zäh. Regen zäh, einer welcher, der auf dem Kommandanten sein Wangen dann nieder flog, heiß und fiebrig.
„Halt, werter Herr, werter Herr, Einhalt! Was gedenken wir vorzuhaben? Die Ungetiere! Ihr selbst könntet eines sein!“
„Ein Ungetier? Eines ich? Sagt, seht ihr nicht das Leid an mir, das nur als Mensch uns plagt?“
„Der Herr, warum denn, der Herr? Was haben der Herr zu verbergen denn, daß sein Menschsein so betonen er müsse hier?“
Der Korporal.
Er fragte hervor das von hinter dem Kommandanten sein mächtig Rücken, des Korporals Knie, wie am Haupt so viel Haare, was der Fremde nicht sah jedoch noch.
„Verbergen? Ich? Wer tut sich verstecken denn da? Hinter dem Kommandanten seinem? Hinter den Ziegeln aus Stein? Wär’ ich denn ein Ungetier, sagt, wär’ ich nicht schon eines? Hätt’ um Erlaubnis ich je gefragt, ob mein Leben ich retten darf?“
Der Fremde.
Das zu bedenken er gab, und an den Zügeln er zog, sodaß sich streckte der Nacken des Esleins gar grässlich.
Es tat iahen dann.
Heiser erbärmlich.

Kommandant jedoch, und Korporal, bewegten sich kein Stückchen nicht trotzdem, die Finger lang und länger. Vom Korporal, die Augen schräg sie sich stellten, in tiefer und tiefer Höhlen. Die Lanze sie, um Erbarmen sie knirschte, vor der Klaue der, die sich schloss um ihr’n Hals aus Holz.
„Zu verbergen nichts, der Herr? Nichts? Warum ist sein Kleidung dann gar so gar ausgeleiert? So weit schon die Kutte, daß verhüllen den Schweif sie schon muss, heraus aus des Ungetiers Steißbein?“
Der Korporal.
Die Nase, sie wuchs ihm zum Maule.
„Die Kutte weit? Oh nein, ihr versteht nicht! Viel zu mager nur drunter ist der Leib schon geworden mir. Der, der, so es euch sei gedankt, sich formt zum Gerippe noch gänzlich.“
Der Fremde.
Die Zügel er peitschte, mit Pech in den Venen, des Esleins Brust sich schob dem Kommandanten zu seiner hin ganz nah.
„Letzte Warnung! Die letzte, der Herr! Was draußen sei, das bleibe dorten, so auch ihr! Mit euer aller Märchen, mit allem eurem Leugnen von dem Ungetier, das steckt doch in euch drin.“

Der Fremde.
Beim Blinzeln schnell, verlor die Augen beinah er an die Lider, „Nun gut, nun zum hundertsten Male! Aufs Neue: Seht mich an! Kann’s sein, wovor es fürchtet euch, die Not ist, die mich ziert? Hier? Daß etwas möglich ist der Art? Und drunter ich bin so wie ihr?“
An seiner Zunge rau sich weitend, der Korporal fast verschluckte sich.
„Den Mund, er so voll hier nicht nehme, bei Gott, der Herr!“, bald scheppern es tat, retour von den Wänden. Die Lanze, die gute, entzwei sie gebrochen ward, hindurch ihr getrieben des Korporals Krallen, nur Schärfe über, wo keine Hand mehr ward.
Der Mond.
Hinein ins Tor er kroch.
„Was draußen sei, das bleibe dorten!“

Der Kommandant.
Sich äußerlich dann auch verlor sich ganz.
Die Haut, zu wölben sie begann des Kommandanten Ellen, lodernd, in vieler Wellen Gang. Asbald. In Büschel trockner Gischt ans silbrig Licht der Pelz dann platzte ihm, bis all das, was einst menschlich, bedeckt nun ward mit Gier.
Gefletscht, die Zähne, sie zeigten sich.
Die Tropfen klar, vom Stahle weiß.
Beißen tat daweil nur der Wind.
Der Korporal.
„Was draußen sei, das bleibe dorten! Dann unsers selbst ist das Fleisch unsrer Kinder zart!“
Der Kommandant.
Er leckte über die Lippen sich lüstlich.
„Nur unsres, der Herr, nur unsres!“
Der Fremde dann.
Er kam dann zum Sprechen nicht mehr.

Markus Peyerl
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www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 14023

Mein Vater (beim Kübelausleeren)

Der Tag war blau hinten und grün vorne, keine Vögel, ein paar Katzen, ein Pferd. Ein Zaun drumherum, um die Tiere, ein weißer, ohne Bretter, nur die Pfosten, die ganz allein in der Erde steckten, auf einem ein Schmetterling, oben drauf.
Es war ein schöner Tag.
Mein Vater hat schon begonnen damit, die Kohle zum Hacken.

Die großen Stücke in kleinere, damit die dann besser ins Bügeleisen passen, so auf einer Picknickdecke wegen den ganzen Restln, die zu klein sind zum Aufheben. Die sollen ja nicht da liegen bleiben, im Gras, um den Hackstock herum, sagt mein Vater immer, und beim nächsten Regen dann weiter ins Grundwasser. Deswegen auch die Decke. Die, die um die Mitte selbst schon ganz schwarze, in die mein Vater dann die zu kleinen Kohlerestln immer vorsichtig einschlägt, und dann in den Eisenkübel schüttelt, im Schuppen hinten.

Mein Vater sagt immer, wohin denn leicht sonst daweil?, manchmal zuckt er aber nur mit den Schultern.
Das geht aber auch nicht immer.
Manchmal ist der Kübel auch voll.
So wie heute, randvoll voll, und mit Gupf oben drauf, weil der Kübel wird ja nur ausgeleert, wenn überhaupt nichts mehr reingeht schon. Wenn alle neuen Kohlerestln nur noch am Gupf runter rodeln würden und über die Kante vom Kübel, und das geht ja nicht. Da wär’n ja die Kohlerestln dann erst wieder am Boden unten, was ja, sagt mein Vater immer, dann ja alles nichts bringt das Ganze. Da könnte er die Kohlerestln ja gleich auch draußen im Gras liegen lassen, weil so ein richtiges Fundament hat der Schuppen genauso nicht. Und das Dach?, naja, solala, ein Haufen Löcher sind da ja schon drin, schön verteilt über das ganze rostige Wellblech, Tupferln aus Licht von draußen, auf die mir mein Vater dann immer zeigt. Weil der Regen, der da dort dann ja auch durch tröpfeln kann wie die Sonne jetzt, der wascht uns die ganzen Kohlerestln dann erst wieder rein ins Grundwasser, das sagt mein Vater da dann immer dazu und fragt:
Wer trinkt’n das Wasser denn dann?
Na wer?
Na genau.

Aber nächstes Jahr dann aber, dann steigt er dann eh rauf aufs Dach, und stopft die Löcher eh endlich zu mit Stroh. Das hat sich mein Vater fest vorgenommen, seit drei Jahren schon, heuer aber, heuer wird’s halt noch so geh’n müssen einmal, und er legt dann immer die Decke mit den heutigen Kohlerestln behutsam rauf auf die Werkbank, weil er zum Kübelausleeren ja alle zwei Hände braucht. Der Kübel, der ist ja dann schon ein bissi schwer, so bis oben hin voll mit Kohlerestln, und der Gupf, auf den muss mein Vater dabei ja dann immer ganz besonders gut aufpassen. Der ist ja dann immer schon hoch, der Gupf, wenn nichts mehr oben drauf passt, da kommen dann gleich ja ganz leicht gleich Lawinen. Lawinen aus Kohlerestln, vorn oder hinten und seitlich, beim kleinsten Wackler nur, und dann fallen ja erst wieder Kohlerestln am Boden runter und dann erst wieder ins Grundwasser rein. Ganz langsam also, ganz langsam muss das also dann gehen immer, das mit dem Kübelausleeren, auch wenn die Arme bald weh tun und die Oberschenkel. Langsam, mit beiden Händen fest herum um den Griff von dem Henkel, und mein Vater hebt den Kübel dann immer vorsichtig weg vom Boden, und muss mit Luftanhalten da dann immer am allerfestesten drauf achten, was der Gupf gerade macht.
Rodelt da schon was?
Ui, da oder?
Nein, nur Schatten, nein, Licht.
Ein Schritt.
Und jetzt?
Nein.
Oder?
Der nächste Schritt.

Mein Vater kommt da dann ja so immer nur sehr mühsam vorwärts. So vornüber gebeugt, leicht in den Knien, und mit dem Kopf unten, und nicht erst einmal ist er da schon über was drüber geflogen beim Kübelausleeren so. Ein Mal über den Rechen, das war lustig. Auch auf einen angebissenen Apfel, da ist er einmal drauf gestiegen, was aber nicht ganz so lustig war. Einmal abgebissen nur, von ihm selber, und dann weg damit, im hohen Bogen, weil der Apfel doch noch nicht ganz süß genug war, und mein Vater hat sich dann ordentlich in die Zungen gebissen beim Hinfallen, also beim Aufkommen am Boden dann gleich danach.
Sein Gesicht, das ist dann ganz schwarz gewesen.
Das Gras rundherum genau so.
Den Kübel hat mein Vater dabei ja halbert ausgeschüttet dabei.

Und dann halt wieder das Übliche: das Gras drunter weggraben. Mit der Schaufel, mein Vater sagt immer, überhaupt der feine Kohlenstaub, der geht halt nicht mehr so runter zum Wischen vom Gras. Also Weggraben. Ein paar Zentimeter tief, mindestens, schaufelblattbreite Quadrate aus verkohltem Gras, also Gras wo halt Kohlenstaub oben drauf liegt, und die dann rein damit in die Scheibtruhe, die mein Vater erst letztens erst wieder gebraucht hat.
Er hat da nämlich plötzlich niesen müssen, beim Kübelausleeren letztes Mal.
Ein neuer Regenwurmrekord.
Gleich fünf, fünf Regenwürmer hab’ ich da gefunden das Mal, und wieder zurück auf den Boden, hinter dem dann nicht irgendwann nur mehr Luft kommt wie bei den Grasquadraten. Ja. Regenwürmer sind ja auch gut für was, oder?, mein Vater sagt aber immer, „Geh bitte. Was die da herumgraben, davon wachst da ja trotzdem nix mehr“, und sticht ein neues Quadrat aus.

Die Wiese schaut auch schon aus genau deshalb.
Überall Fleckerl, die fehlen, in so eckigen Löchern, so ohne Gras, lehmig, und wenn’s regnet: voll Gatsch. Voller dreckigem Wasser, voll braun und so, besonders tief dort, wo mein Vater immer am öftesten unabsichtlich Kohlerestln ausstreut, früher ja hinter und vor dem Zaun. Früher halt, und der Zaun noch mit Latten drauf, also Drüberheben, weil durchs offene Tor vorn wär’ das ja ein Umweg gewesen, ein ordentlicher. Schon fünfzig Schritte knapp, viel zu weit mit so einem wackligen Gupf zum Schleppen, aber das war natürlich auch nicht so einfach, den Kübel da weit genug hoch zum Heben und dann sanft wieder runter auf der draußeren Seite. Immer ein bissi, ein bissi was von den Kohlerestln ist da dabei dann ja immer dann runter gerodelt, vom Gupf, und weiter auf den Boden, weshalb die ganzen Latten jetzt ja auch weg sind alle. Zuerst ja nur zwei, die im kürzesten Weg rüber aufs Nachbargrundstück, damit das endlich ein Ende hat mit dem Drüberheben über den Zaun, nur ist mein Vater dann aber dann drauf gekommen: „Wie schaut das denn aus, bitte? Als würd’ da was fehlen! Was soll’n sich die Leute da denken?“
Seit dem hat der Zaun nur noch Pfosten.
Ohne Bretter dazwischen überall.
Ja.

Also mein Vater hat die Pfosten dann eben nicht aus der Erde heraus bekommen, wie die ganzen Latten schon unten waren, so tief sind die Pfosten da drin gesteckt, und, ja, aber die Tiere, die sind gar nicht davon gelaufen deswegen. Aber, gut, da waren ja auch nur noch die paar Katzen, für die der Zaun eh nie wirklich gegolten hat, und dann das Pferd, das nur noch zu alt war für alles. Der Rest, die Hühner und die Schweine und alle, die waren da ja lang schon verkauft schon, von damals, wo mein Vater noch den ganzen Tag nur noch Schnaps getrunken hat.
Über ein Jahr hat das gedauert.
Und Viehbauer hat mein Vater dann ohne Vieh ab dann nicht mehr weiter sein können.

Nein, er muss ja jetzt sogar Bügeln für sein Geld, sagt mein Vater immer, wie eine Frau, und am Kübelausleeren führt dann wegen der zu großen Kohlen kein Weg halt vorbei, und er macht auf halbem Weg dann immer seine Rast. Wegen den Armen, weil die schon zu schwach werden, und die Beine, und er muss sich dann immer kurz hinsetzen, immer auf halbem Weg, immer beim Walnussbaum, und mein Vater erzählt mir dann immer dasselbe dort. Wie er als junger Mann da hier immer her gekommen ist mit meiner Mamma, zum Sterneanschaun, damals, wie der Baum noch gelebt hat. Und meine Mamma auch.
„Vorbei“, sagt mein Vater dann immer, niemand mehr da zum Sterneschaun, was aber gar nicht so schlimm wäre, würde der Baum auch endlich komplett verwittert sein. Am besten verschwunden, gleich, jetzt, und mit ihm das Herzerl, das er damals hinein geschnitzt hat in die Rinde. Das mit dem ersten Buchstaben von seinem Vornamen und dann dem ersten Buchstaben vom Vornamen von meiner Mamma drin, und dazwischen ein Plus.
J+S.
Die Schrift ist zwar schon dünkler geworden, und grauer, da aber noch immer.
„Ja, so is’ das halt.“
„Wuascht ob gut oder schlecht.“

Vielleicht hat mein Vater den Baum auch deshalb nie umgeschnitten, und irgendwann geht er dann weiter.
Mit dem Kübel und dem Gupf voller Kohlerestln am Henkel, vornübergebeugt, Schritt für Schritt, und dann kommt dann auch schon nachher der Steg bald.
Da ist nämlich so ein kleiner Bach im Weg dann, und gleichzeitig auch die Grenze.
So ein kleiner Bach mit einem rutschigen Steg drüber, zwischen unserm Grund und dem vom linken Nachbarn, und auch wenn’s lang schon nicht mehr geregnet hat, im Bach drin ist immer Wasser, und der Steg immer rutschig. Wegen dem Holz wahrscheinlich, voller Schimmel, oder Algen, aber grün auf jeden Fall, und rutschig, und das ist dann auch dort, wo mein Vater dann immer, dann immer auch aufhört damit, ganz genau hinzuschauen.

Er gibt’s zwar nicht gern zu, also überhaupt, aber trotzdem: Ich kann das dann ja immer in seinen Augen schon sehen, wenn er dann den ersten Fuß auf den Steg setzt. Mit dem Kübel mit den Kohlerestln und dem wackligen Gupf, und in den Bach sollte davon ja eigentlich schon gar nix reinfallen dürfen, oder? Weil das Grundwasser und so, viel schneller drin dann die Kohle, und da gibt’s ja dann nicht mal ein Weggraben mehr.
Schon, oder?
Also das, was mein Vater nicht wollen hat, von Anfang an.
Weshalb auch das Ganze.
Das, wegen dem, wegen dem Bügeleisen, das kleine Kohlen braucht, und den Restln, und dem Grundwasser vor allem.
Also ja.
Wegen dem allem so.
Bis dahin wenigstens.

„Der erste Fuß zuerst“, sagt mein Vater dann immer, der erste Fuß zuerst, was nicht unbedingt das Einfachste war. Der erste Fuß, ich mein’, das ist dann ja schon wie zum Ausrutschen gedacht. Wie das ist eben, mit einem Fuß am Glitsch, und dem anderen noch am Ufer, also so ohne Glitsch, also mit Halt halt.
Da wird’s dann schon schwierig ohne Ausrutschen.
Also es geht schon, aber die Gefahr is’ schon, also da.
Da halt, und nicht erst einmal, nicht erst einmal ist mein Vater da nass geworden. Nicht erst einmal, und dann lauter Kohlerestln im Bach, noch nie alles zum Glück, aber trotzdem.
„Naja, der Bach, der, der fließt eh schon fast drüben“, sagt mein Vater da immer.
Halb so schlimm also alles.

Und nach dem Bach und dem Steg, da passt mein Vater dann so und so nicht mehr ganz so richtig auf, dass der Gupf oben bleibt am Kübel. Dort rieselt was, und da rieselt was, aber dann sind die Kohlerestln am Boden dann nicht mehr so ganz das Drama, drüben, auf der anderen Seite.
„Ja, ewig hamma auch nicht Zeit, oder?“, fragt mein Vater dann immer, und es geht damit dann dadurch auch wirklich viel schneller weiter. Nicht mehr so Schritt für Schritt, jetzt ohne Pause dazwischen, der Kübel, der schwingt dann schon, zwischen seinen Beinen, wie eine Kuhglocke, halt ohne Läuten halt, und der Gupf, der wird auch dann schnell niedriger und niedriger vom Beeilen.
Niedriger.
Und niedriger.
Aber dann kommt aber da eh schon der Brunnen vom Nachbarn, von dem, der gar nicht mehr da wohnt.
Seit dem Unfall, da hat der es bei uns in Gamsbruck irgendwann nicht mehr ausgehalten.

Sogar einmal in der Kirche, wie da mein Vater noch den ganzen Tag Schnaps getrunken hat, ja, höflich war was mein Vater da geschrien hat eher nicht.
Im Gegenteil.
Und: „So“, sagt er dann immer, „Und das dafür“, und er leert dann die Kohlerestln mit einem komischen Grinsen rein in den Brunnen vom Nachbarn, und klopft den Kübel danach gründlich von außen auch aus.
Und dann wieder zurück wieder.
Halt bis zum nächsten Mal.
Mein Vater sagt immer, „Da schau! Das alles nur wegen dem Grundwasser.“
Nur kann ich’s ihm nur nie so recht glauben.

Markus Peyerl
www.markuspeyerl.at

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 14013

Drei, eins, zwei

Die Zigarette war aus. War sie an? Kein Rauch, nein, kein Rauch, ja. Nein, sie war aus. Roter Kreis, Zigarette durchgestrichen, Herr Mauerstahl konnte sich wieder erinnern. Er  rauchte gar nicht, er hatte nie geraucht, er hasste Rauchen. Schon gar nicht drinnen, draußen auch nicht. Dieser Gestank, diese grässlichen Schwaden, die unter dem verschnörkelten Lampenschirm ihre graue Zwischendecke einziehen würden oder die der Wind davonreißen würde am Balkon und hinein in die Statistik, in den Balken für die Feinstaubbelastung, hinein in die Zeit im Bild. Ja, er hatte Wichtigeres mit seinen Lungen anzufangen, ja, genau, Schluss damit. Sauerstoff, mehr Sauerstoff. Schluss damit. Endgültig.
Ein Zweier.
Der Würfel hatte sich kaum überschlagen. Nur ein lächerliches Umkippen und dann war er auf die Seite gefallen, widerwillig, ungelenk, nein, hämisch grinsend. Der Winkel war zu stumpf geraten, ja, das musste es gewesen sein. Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel, federleicht, gleitend, wie ein flacher Stein auf dem Wasser. Drei Mal, vier Mal, sechzehn Mal, bam bam barapapam. Ja, Herr Mauerstahl hätte nur so eine Chance, seinen Rückstand wieder aufzuholen. Eine Chance, dachte er, ja, genau! Chancen hatte jeder, nur: Er hatte ein System. Ein System! Ein ganzes! Auf das eine Sechstel verlassen? Lächerlich, einfach lachhaft!
Konzentration.
Einatmen, Ausatmen.
Den Zweier musste Herr Mauerstahl schnell vergessen.
Langsam und tief, langsam, und bis es brennt.

Dann für die nächste Runde schon einmal gedanklich den Vierer fest in die Lebenslinie drücken, diagonal von links oben nach rechts unten, links oben nach rechts unten, nicht vergessen! Dann die Handfläche wölben für den Unterdruck, leicht nur, nicht zu viel, schwingend ausholen, nicht nur mit dem Handgelenk. Der Ellbogen, der Ellbogen war der Schlüssel. Fünfundvierzig Grad Öffnungswinkel und ein Fünfer zu vierundsiebzig Prozent, zweiunddreißig Grad und ein Dreier in über der Hälfte aller Fälle.
Der Sechser aber war am schwierigsten.
Beinahe neunzig Grad.
Und ganz knapp vor der Tischkante musste er dann loslassen. Zu früh oder zu spät und alles davor war umsonst gewesen. Umsonst! Da ging es um Millisekunden, wenn nicht gar um viel weniger. Und feuchte Hände, oh, das wäre sein Untergang. Unvorhersehbar, alles Zufall sonst. Nein, Herr Mauerstahl glaubte nicht mehr daran, schon lange nicht mehr. In seinem Keller hatte er das Spiel ja studiert, dann, wenn alle anderen schon im Bett waren, wenn sie sich herumwälzten in ihrer Ahnungslosigkeit. Nichts wussten sie über seine Tischtuchtheorie. Nichts wussten sie! Gar nichts.

Die aus Baumwolle, die war die schlimmste.
Zu weich, zu leicht schlug sie Wellen.
Ein Glas Wasser, voll, halb-voll, dreiviertel-voll, leer, mit oder ohne Untersetzer. All das galt es miteinzuberechnen, akribisch auszutesten. Und war es nur eins oder zwei oder vier Gläser und wo stand die Flasche, die in dem wenigen Licht kurze Schatten warf. 150 Gramm Chips, neun Stangen Soletti, dreiunddreißig Gummibären, es war das Gewicht, das den Ausschlag gab. Nein, nicht nur das Gewicht, es war auch die Grundfläche, hohe Physik, dachte Herr Mauerstahl, höchste Physik. Ja, und erst die ganzen Unterarme, die die dazugehörigen Kiefer abstützten, und das Kauen, das Schlucken und die ganze Vibration, die sich fortpflanzte durch die Knochen und hinein in den Stoff, der sich spannte und dehnte, synchron mit dem Mahlgeräusch ihrer Zähne. Mehr Schwung, ein bisschen weniger. Nächtelang hatte Herr Mauerstahl all das im Keller simuliert. A4-Hefte, voll mit Skizzen, bis über den Korrekturrand, ganze Werkzeugschränke bis oben hin voll, von oben bis unten.
Sechs, noch mal würfeln, vier, zehn.
Das Klappern von Plastik auf Karton.
Zehn!
Herr Mauerstahl konnte es kaum fassen.

Und erst diese grauenhafte Zahnlücke in diesem Milchgesicht, das ihm da gegenüber saß und triumphierend die Fäuste ballte. Ekelerregend, einfach ekelhaft. Allein nur wie sich die Mundwinkel nach oben schoben, hinauf zu einem schiefen Lächeln, einer grauenvollen Fratze, einer Verhöhnung all seiner Mühen. Zu einer Kampfansage, die Herrn Mauerstahl das Blut gegen die Stirn schießen ließ, so als wollte es ihm aus dem Schädel fahren wie die Fontänen vom Springbrunnen am Schwarzenbergplatz. Diese Hitze, diese unsägliche Hitze, nein, kalt, nein, Prickeln, nein, Hass, blanker Hass. Was wusste er schon, dachte Herr Mauerstahl, was wusste er schon. Nichts wusste er! Reines Glück, nur Glück und nichts als Glück und erst diese Wurstfinger, nein, mit rechten Dingen konnte das nicht zugehen hier. Nein, der Würfel, der musste es sein. Unregelmäßigkeiten im Material, ja, ein Fabrikationsfehler, mehr nicht. Ja, freu’ dich nur ruhig weiter, dachte Herr Mauerstahl, das kommt alles retour. Alles!
Dann der nächste, eine übelriechende Gestalt, die an einem Stück Plastik kaute.
Eins!
Ha, der war weg, zweifellos, zu hundert Prozent, 99,999 periodisch.
Nur noch einer vor ihm.
Eine!
Eine Frau.
Wurfhand schütteln, auflockern, unter dem Tisch, Schweiß an der Hose abwischen, im Geheimen. Nein, nein, sie brauchte das natürlich nicht. Das geht sicher auch so. Amateurin! Zum Abgewöhnen!
Ein Trauerspiel.
Oh, ja, und erst diese kümmerlichen Fingernägel, dieser geschmacklose rostbraune Lack. Viel zu lang für eine nennenswerte Flugkurve, viel zu lang schon, verachtenswert lang. Herr Mauerstahl sah sich schon im Rücken des Ersten, ein Messer zwischen den Zähnen, drei oder vier. Drei Runden vielleicht noch, vier maximal. Fünfeinhalb Augen pro Wurf, ja, das sollte reichen. Risiko, jawohl, vertretbar ebenfalls. Nur keine Fehler jetzt, nur keinen Fehler.

Fünf!
Um Himmels Willen, dachte Herr Mauerstahl, um Himmels Willen.
Eine Verschwörung, ja, das ganze Universum hatte sich verschworen gegen ihn, anders konnte das gar nicht sein, das ganze Universum! Die Schöpfung selbst vielleicht sogar! Buddha, Jesus und dieser Elefantengott. Ja, das sah ihnen ähnlich. Dabei hatte er ganz genau hingesehen, gesehen, wie ihr der Würfel viel zu spät vom viel zu abrupten Abbremsen ihres Wurfarms von der klebrigen Haut geschält worden war von dessen Trägheit. Mit ihrem Wurfarm, das musste man sich nur einmal vorstellen, dachte Herr Mauerstahl, mit den Fingerkuppen ihres Wurfarms hatte sie davor Schokolade in ihren Mund befördert, Schokolade! Fett und Karamell, geschmolzenes Gift für jeden Versuch einer sinnvollen Herangehensweise. Nein, dachte Herr Mauerstahl, so nicht, nicht mit mir, nein, so ganz sicher nicht!
Er war an der Reihe.
Einatmen, Ausatmen, her mit der inneren Ruhe.
Einatmen, Ausatmen, in langen, tiefen Zügen.
Ja!

Jetzt noch einmal alles durchgehen, nur nicht abschweifen, oh, dieser Bauch mit seinen krampfhaften Nerven. Nur keine falsche Bewegung, nicht einmal ein Zucken mit der Wimper war jetzt noch tolerierbar, bedrohte gar Herr Mauerstahls weitere Existenz, sein Weiterleben und wer weiß was noch über die Hintertür. Aufpassen! Aufgepasst!
Jawohl!
Perfekt!
Was für eine Schönheit!
Noch nie hatte Herr Mauerstahl eine derart makellose Rollphase hinbekommen, ja überhaupt gesehen, ja, sich überhaupt vorstellen können. Bam bam barapapam wippte sein Fuß, bam bam barapapam hüpfte der Würfel, ein herrlicher Purzelbaum nach dem anderen.
Sechs!

Herr Mauerstahls Herz sprang. Er konnte es gerade noch verhindern, dass sich seine Arme von selbst mit nach oben in Siegerpose rissen. Noch war ja noch nichts gewonnen, dachte er, zwar greifbar nah, ja, wirklich greifbar, und außerdem war ja ohnehin festgestanden, dass sein Plan nichts anderes konnte als zu funktionieren. Flüssigkeit in seinen Augenwinkeln, ein undefinierbares Gefühl, das ihm den Nacken hinauf zog.
Noch einmal, dachte Herr Mauerstahl, noch einmal, und alles war wieder offen. Für ihn. Für niemanden sonst. Das war das, was ihm von der Gerechtigkeit her zustand, und worauf er schon viel zu lange hatte warten müssen. Jetzt! Endlich! Erst!
Fünf!
Elf!
Elf!

Jetzt zeigte er es ihnen! Endgültig! Er zeigte es ihnen, so wie er es ihnen immer hatte zeigen wollen, dann aber am Ende wieder nur dagesessen und sich gewundert hatte, warum da jemand vor ihm die vier bunten Kreise voll hatte, der aus seiner Sicht nie hätte auch nur einen Trostpreis gewinnen sollen bei der Technik, bei diesem Wahnsinn, den sie Würfeln nannten. Ja, weit weg von Fairness war das Ganze gewesen, schon lang, so weit weg, dass Herr Mauerstahl nicht einmal mehr hatte verstehen können, warum die Welt noch stand. Nein, jetzt war es aus, dachte er, jetzt war ihr Glück aufgebraucht, herausgekratzt mit einem Dessertlöffel aus der Schräge ihrer einst randvollen Suppenschüssel, der letzte Rest. Die letzten Brösel von ganz hinten aus der Besteckschublade. Ja, genau!
Nein!
Das konnte nicht sein, nein, das durfte nicht, nein, es war unmöglich.
Nein und nochmals nein!

Herr Mauerstahl konnte es beinahe fühlen. Wie ein Schlag in die Magengrube, ja, so fühlte es sich an, als der nächste Wurf der hinter ihm lauernden Zahnlücke als Dreier zum Liegen kam. Asymmetrisch, wabbernd, wobbelnd, wie ein Fahrrad mit Achter vorn und hinten war der Würfel ausgerollt, war er schlenkernd an seinem mangelnden Drehmoment erstickt, war er kampflos an der Kante des Spielfelds qualvoll verreckt. Verreckt war er, ja, mehr war das nicht, dachte Herr Mauerstahl, der seine Zähne fletschte, der sich am liebsten in die Hand gebissen hätte, der Amok lief mit seinen Blicken.
Nein! Nur nichts anmerken lassen. Keine Angst, keinen Groll, kein Gefühl mehr zulassen. Das Gesicht ruhig, nach außen gewölbt wie ein Meer aus Quecksilber, ganz so, als wäre nichts.
Er konnte nicht hinsehen, alles auf Zeitlupe, so langsam, dass Herrn Mauerstahls Ohren selbst den Schall in die Länge zogen zu einem röhrenden Irgendwas, zu einem unaufhörlichen Rütteln an seiner Selbstbeherrschung.
Vielleicht merkt er es ja nicht, vielleicht, ja, vielleicht!
Ja, jeder übersieht einmal, jeder!
Kein Schlagzwang, nein, so spielten sie nicht.
Einatmen, Ausatmen.
Scheißdreck, g’schissener!

Ein Hääääähääääh, und dann ein Zucken mit dem Handgelenk.
Dann ein Kegel aus Plastik, der im seichten Bogen über den Tisch plätscherte, mit dem Kopf aufschlug, dann ein Salto, noch einer und noch einer. Brutal, ja, brutalst.
Niemals hätte das passieren dürfen, ja, niemals und erst recht überhaupt. Man stelle sich das einmal vor, dachte Herr Mauerstahl, kaum auszudenken mit welchen primitiven Mitteln, mit welchen Steinzeitmethoden es hier möglich war, sein sorgfältig ausgeklügeltes Spielkonzept einzustampfen, es zu zerfleddern, in Millionen winzige Fetzen. Aber nicht mit ihm! Alles, aber das nicht. Herrn Mauerstahls Fingernägel krallten sich fest in seinen Oberschenkel, drückten sich hinein in den Stoff, hinunter ins Fleisch, bis das Nagelbett weiß und der Schmerz ihn zurück holte, zurück an den Tisch und gerade rechtzeitig für eine weitere Überdosis Absurdität.

Nicht, dachte Herr Mauerstahl, dass es ausreichend war, ihn fertig zu machen, ihn zu vernichten, nein, es war anscheinend von äußerster Wichtigkeit, ihn dabei auch noch zu verspotten, ihn zu drangsalieren mit einer Unmenschlichkeit, die keine Steigerungsform mehr zuließ. Nicht, dachte er, dass es genug war, dass sein letztes Männchen jetzt wieder in einem der quadratisch angeordneten, runden Startfelder gefangen war und nur mit einem Sechser von dort wieder entkommen würde können, einem Sechser, der wie er wusste am schwierigsten zu bewerkstelligen war, nein, es war auch noch so, dass alle anderen derart viel Spaß dabei hatten. Kein Wunder, dachte Herr Mauerstahl, sonst war ja da nichts. Kein Denken, kein Überlegen, nein, nicht einmal ein Funken Ehrgeiz war deutlich sichtbar auszumachen. Sinnlos wurden da die Würfel in der Handfläche herumgeschwenkt und dann einfach auf den Tisch geschüttet, wie Speisereste in die Klomuschel. Es war so, dachte Herr Mauerstahl, als würden Einzeller, weich und matschig, ohne Gehirn, ja ohne zentrales Nervensystem, ihn, das einzige Lebewesen an diesem Tisch mit bewusstem Verstand, mit einer Ahnung von irgendwas hinunter in die Knie zwingen.
Vier, fünf, eins.
Muahahahahaha.

Herr Mauerstahl hatte das Gefühl, wahnsinnig werden zu müssen, das Spielfeld zu nehmen und es mitsamt der darauf befindlichen apokalyptischen Anordnung farbiger Maxerl gegen die Wand zu schleudern, mit einer solchen Wucht, dass das gesamte Haus in sich zusammen fallen und um sich herum das gesamte Weltall mit in den Abgrund reißen würde, so weit in den Abgrund reißen würde, bis nur noch ein dunkler Teppich aus Nichts alles bis zur Unendlichkeit überzog. Ja, dachte Herr Mauerstahl, und das zu Recht, mit allem Recht das noch übrig war, nach all dem Unrecht, das sich hier auftürmte zu einem spitzen Berg, der wie ein Pfahl durch die Wolken stach und in die Sonne hinein, die aufplatzte, die aufhörte zu scheinen, aus Protest über das, was die Wirklichkeit Herrn Mauerstahl hier antat.
Zwei, zwei, vier.
Zwei, zwei, vier!
Aber nicht ernsthaft!
Hintereinander zwei Zweier, wo war sie da die Wahrscheinlichkeit?
Wo?

Mit aufeinander gepressten Lippen saß Herr Mauerstahl da und musste mitansehen, wie er zerbröselte, in sich versickerte, wie er den Würfel nur noch derart auf dem Tischtuch einschlagen ließ, dass er von dort aus nach oben geschleudert, in der Luft Pirouetten drehte, während alles andere in Weißglut unterging.
Drei, eins, zwei.
Nein, nein und nochmals nein. Herr Mauerstahl hatte sich verabschiedet, von seinen zahllosen Tabellen, von seinen Bleistiften, von all dem, woran er nicht alles gedacht hatte, von all dem, das ihm den Sieg versprochen hatte und nun sein Versprechen brach. Vergessen waren Winkelmaße, vergessen war die Flugbahn, die dann folgte. Verloren in einem Wellenbad aus wogender Verzweiflung, gefangen in einem Pyjama ohne Zipp, ohne Knöpfe, ohne Naht, die hätte auseinander gehen können und ihn retten, in letzter Sekunde. Immer enger, immer enger, kein Platz mehr zum Atmen, kein Platz.

Es kam, wie es kommen musste, wie Herr Mauerstahl sich Schicksal vorstellte.
Baparap bam bam.
Ein Zweier und da standen sie, vier Maxerl in einer Reihe, erneut nicht im Grün von Herrn Mauerstahl. Seine Hände erwürgten sich, ihm wurde schlecht.
Bravo! Und gut hast du das gemacht.
Von überall her diese Stimmen, von überall diese Glückwünsche sabbernden Versager, die Herrn Mauerstahl erneut allein mit bitterer Galle auf der Zunge zurück ließen, sich scharten um den Sieger, einen Sieger, der falscher nicht hätte sein können.

Diese kurzen Finger, diese Lücke in der Reihe aus Zähnen ohne Wurzeln, die nur darauf warteten, mit dem Wackeln zu beginnen, an ihrem letzten fleischigen Faden zu hängen, sich zu sträuben vor dem Unvermeidlichen. Ja, das war es, was da zu ihm herüberschaute und wahrscheinlich noch hoffte, dass Herr Mauerstahl ihm über den Hinterkopf streicheln oder eine sonstige Form von Anerkennung heucheln würde, eine Anerkennung, die er niemals verdient hatte, niemals verdient, die Zahnpasta spritzte. Herr Mauerstahl war es doch, der hätte dort stehen sollen auf dem kleinen Plastikschemel, er hätte es sein sollen, dessen kindliche Freude danach ins Bett verfrachtet worden wäre nach dem Ausspülen. Er hätte es doch sein sollen, dem sein Vater die Decke sorgfältig unter den Körper stopfte, er hätte es sein sollen, dem der Moment ganz allein gehörte.
Er hätte es sein sollen.

-

Ein Klack und das Licht war an.

Dreißig Schritte, die Stufen hinunter, Herr Mauerstahl setzte sich hin auf seinen Drehsessel, den abgenutzten Drehsessel unten im Keller. Vor ihm der Tisch, zerkratztes Metall.
Irgendwas, dachte er, musste er übersehen haben.
Übersehen haben in diesen ganzen Stapeln aus chlorfrei gebleichtem Papier.
Irgendwas, dachte er, musste fehlen.
Irgendetwas.

Markus Peyerl
www.markuspeyerl.at

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 14011

Erklärung des Versicherungsnehmers zum Beratungsgespräch

Pulsierend. Wie ein Herz geformt wie ein Hirn. Schwarz lackiert, gewachst, und auf Hochglanz. Glatt, glatt wie flüssig. Darauf weiße Balken, die gebogen das Gegenlicht spiegeln, auf den Windungen von dem Herz, das ein Hirn formt. Als würde es leuchten von hinter mir, als würde mein Schatten mir fehlen. Wenn ich das bin überhaupt, der das sieht selbstverständlich: Als wäre ich gar nicht da. Aus dem schwarzen Hirn wachsen Wurzeln. Nach oben, verzweigt, wie Gestrüpp. Nur Rinde, nur Risse und Spalten und rau, bis ganz hinauf bis zur Kante. Bis oben. Bis dort, wo mein Blick sie mir abhackt, die Wurzeln, unter der Erde noch. Abhackt. Mein Blick. Mit dem Rand von sich selbst, der, zwischen dem, was man sieht und dem anderen, und ganz schmal nur der unscharfe Übergang. Ganz dünn nur die Grenze von dem Kastl zum Rausschaun, mit seinen vier spitzen Kanten, egal, wie rund das Kastl auch tun mag, durch das man da schaut. Auch vom Denken her. Dort drin findet es statt, das Leben. Dort drin:
„Und? Wie schaut’s bei Ihnen aus mit der Vorsorge?“
Ich tauchte wieder auf aus dem Strudel im Kaffeehäferl und fragte: „Ähm?“
„Prämienpension? Lebensversicherung? Krankenversicherung? Unfallversicherung? Haushalt? Nein?“
„Nein.“
Ich hätte früher schlafen gehen sollen.

„Na, dann wird es aber höchste Zeit, Herr Breitenberger. Da kann man nicht früh genug damit anfangen, ans Alter zu denken.“
„Aha“, sagte ich und legte den Löffel zurück auf die Untertasse.
„Ja. Und ich kann Ihnen da ja gern ein paar Möglichkeiten ein wenig detaillierter aufzählen.“
„Mhm.“
Ich nickte aus Gewohnheit.

Frau Binder kletzelte zwei, drei Prospekte heraus aus ihrer Ledermappe.
Sie sagte, „Sehen Sie ...“, aber ich sah nichts, und da war wieder etwas vor mir, das auch nichts an einem Glastisch verloren hatte: Finger. Ringe über Ringe über Ringe, und sie drehten sich. Als würden sie fließen in ihren zerdrückten Kreisen, um sich selbst herum, zurück zum Anfang, aber da war keiner, da war nur Fett, nur meins, und dazwischen ein gleich großer Abstand. Mein Fett war das, und der Fingerabdruck ich. Auf diesem Glastisch. Jetzt. Nicht morgen. Nicht am Morgen von morgen von morgen von morgen, et cetera, „Fünfundvierzig Jahre Laufzeit“. Pro Monat so und so viel, für so und so viel pro Monat. Am Ersten fällig, dazwischen: Zeit, die verging, die vergehen musste, die Prämienzahlungsdauer: Tausche Geld für Geld. In unbekanntem Verhältnis. „Da die zu erzielbaren Überschüsse nicht vorausgesehen werden können, beruhen Zahlenangaben über die zu erwartende Gewinnbeteiligung auf Schätzungen, denen die gegenwärtigen Verhältnisse zu Grunde gelegt sind.“ Falls ich dann halt noch da war. Also lebte. Im Erlebensfall. Klassisch. Sicher ist sicher.
„Oder vielleicht lieber was staatlich Gefördertes?“

Ich verschmierte den Fingerabdruck mit meinem Ärmel unauffällig bis zur Unkenntlichkeit.
Ich sah Frau Binder zu tief in den zu tiefen Ausschnitt und fragte, „Vielleicht?“
Vielleicht. Vielleicht nur. Und dann war da wieder das schwarze Gehirn, das, das wie ein Herz pulsierte. Nur das schwarze Gehirn, das auf Hochglanz, und dessen Wurzeln sich verzweigten wie Nerven. Oder Blutgefäße? Das Pulsieren gleich schnell, gleich tief, gleich unangenehm her vom Dasein. Irgendwo in mir drin. In der Mitte. Darunter: „SEPA-Lastschrift-Mandat (Ermächtigung)“, Enter, Zahlungsempfänger, Doppelpunkt. Das schwarze Hirn pulsierte, und ich las, „Im Rahmen der zwingenden gesetzlichen Bestimmungen (siehe „Bitte beachten Sie“) wähle ich ...“, die Wurzeln sahen aus, als würde aus ihnen getrunken. Wie ein Netz, wie geknüpft aus dünnen und dicken Strohhalmen, die sich hinter dem, was da durchkam, zusammen zogen, die das Etwas nach unten schluckten, bergauf und bergab, zick und zack. In das Schwarze, hinein ins Gehirn, ins pulsierende, hinein, dorthin, von wo aus es brennt. Brennen tut es, da drin, von dort aus, und strahlt aus in die Härchen am Handrücken, strahlt aus und strahlt aus und strahlt aus. Kein fixer Rechnungszins. Da war sie, die Zukunft, und dort die Vergangenheit, und nur das Kleinste vom Kleinen dazwischen.

„Gerade wegen dem derzeitigen Pensionssystem. Da muss man sich schon diesbezüglich. Hab’ ich recht?“
„Mhm“, Frau Binders hängende Unterarme blätterten vorwärts.
„Und das wär’n dann die unverbindlichen Modellrechnungen.“
„Aso?“
„Naja, Sie wissen eh: Mündelsicher dürfen wir ja jetzt offiziell nicht mehr sagen.“
Ich wusste eh.
Frau Bauer hatte Lippenstift auf den Zähnen.
Rosa.
Pink.
Eins von beiden.

Dann Reihen von Zahlen in viel zu breiten Spalten. Alle genau, auf die zweite Kommastelle, sie sagten, „Wenigstens bei einem Punkt dann, bei einer Sache zumindest, endlich, ein Hackerl bei erledigt“. Und die Abschlusskosten? Gesundheit! „Rauchen Sie? Wenn ja, was und wie viel?“. Kommt drauf an, auf die Nacht, kommt drauf an, wie dunkel, Größe, Gewicht, BMI. Zwei zu hoch, eins zu niedrig, „Im Sinne einer möglichst einfachen Darstellung ...“. Möglichst einfach, ja, bitte, her damit. Von mir aus auch ein Vorhang aus Apfelschalen. Braun und letschert und süßlich, hinter dem das schwarze Gehirn dann nur mehr dahinter pulsiert, und nicht mehr offen vor allen. „Antrag auf Erstattung der Einkommensteuer (Lohnsteuer)“, bis zum jeweiligen gesetzlichen Höchstbetrag. Ankreuzen, Ankreuzen, Ausfüllen. In Blockbuchstaben, in Heinzelmännchenschrift, der Rest vorgedruckt, der Rest gegeben.         Endlich.

„Sie werden sehen. Sie werden bald keine Sorgen mehr haben brauchen, wegen dem später dann.“
„Aha“, sagte ich, während ich mich an der Ohrmuschel kratzte mit dem zerkauten Hintern vom Kugelschreiber.
„Dort auf der gestrichelten Linie. Auf der langen.“
„Hm?“
„Da. Dort ganz unten.“
„Ah.“

Dort. Dort ganz unten. Über der Provisionskontonummer, die Schlusserklärung erst auf der Seite danach. „Rücktrittsrecht nach §3 Konsumentenschutzgesetz“, binnen einer Woche, nicht allzu viel Zeit, sehr gut. Das schwarze Gehirn, es pulsierte. Auch die Wurzeln, gleich fest, gleich deutlich, die Windungen glänzten, auf Hochglanz poliert. Es würde alles nichts bringen, würde es? Das Jetzt im Morgen auflösen, runterschlucken, und dann warten bis die Wirkung einsetzt: „Ausschließlich zu Illustrationszwecken“.
Ganz klein.
Unter der Illusion.
„Ihren Ausweis kopier’ ich mir nur noch schnell und dann sind wir auch schon gleich fertig, wir zwei.“
„Aha.“

Sie stand auf.
„Ich bin dann kurz.“
Sie ging. Frau Binder ging, und die fünfundvierzig Jahre bis zum Auszahlen wurden mir zu lang, in ihren ersten vier Sekunden. Zu lang, zu viel Zeit war schon drin in dem Hochglanzgehirnherz, dem schwarzen, das mit den Wurzeln, das, das genau gleich stark pulsierte, trotz allem. Das jetzt Hunger hatte, und nicht später, das nach mehr verlangte, als die Zukunft von selbst würde abwerfen können, vielleicht, irgendwann, und womöglich.
Mein Ausweis gehörte ihr.
Mit dem Passfoto von vor einer Ewigkeit.

Ich stand auf und ich wusste: Es würde knapp werden.
Knapp.
Im Plus, genau wie im Minus.
Solange mein Herz nur ein Hirn formt.
Ein schwarzes.
Auch noch so auf Hochglanz poliert.

Markus Peyerl
www.markuspeyerl.at

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 14007