Kategorie-Archiv: Annamaria Bortoletto

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So Wahrheit

Die Wahrheit
wollen wir sie sehen?
Existiert
eine Wahrheit?

Die Wahrheit
schüttelt uns
beunruhigt uns
zertrümmert unsere Gewissheiten
und macht sie
bröckelig

Man kann nicht neutral bleiben
der Wahrheit gegenüber
Man nimmt sie an oder lehnt sie ab
man kämpft für die Wahrheit
oder gegen die Wahrheit

Die Wahrheit
ist ein Akt der Rebellion
notwendig
um aus der lauwarmen Schläfrigkeit
des ruhigen Lebens aufzutauchen

Die Wahrheit zu sagen
macht uns einsam
tief einsam
In den Apfel zu beißen
fordert eine Wahl
die Kenntnis
und wer gesehen hat
kann nicht mehr schweigen

Annamaria Bortoletto
https://laltraidea.wordpress.com

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 24069

Der Zettel

Jakob musste zur Bibliothek an der Uni. Er brauchte das Werk „L’ordre du discours“ von Foucault, um ein Einführungsseminar zur Semiotik für die Studierenden des ersten Jahres vorzubereiten.
Jakob liebte seine Stelle als Assistent der Professorin Dubois und träumte immer wieder von dem Tag, an dem er als Professor seine erste Lektion halten würde. Die Universität war seine Welt, er konnte sich keine andere vorstellen. Er lebte in einer Einzimmerwohnung neben der Bibliothek, wo er praktisch nur schlief. Er verbrachte sonst den ganzen Tag an der Uni: Er frühstückte immer um 07:30 mit Madame Dubois in der Cafeteria, aß mit Thomas und Britta, die ebenfalls als Assistenten arbeiteten, in der Mensa zu Mittag und Abends nahm er eine Kleinigkeit allein an der Studentenbar in der Eingangshalle zu sich.
Dort begegnete er dem einen oder anderen Studierenden, die sich gerne mit ihm unterhielten. Er war sehr beliebt mit seiner zurückhaltenden und humorvollen Art, und seine Seminare waren immer spannend, da ihm die Liebe für die Wissenschaft anzusehen war.
Jakob war selbstsicher, ohne überheblich zu sein, sein Humor bewahrte ihn vor jeglicher Hochmütigkeit.

Es war ein verregneter Tag, die Regentropfen klopften an die großen Fenster der Lesesäle, wie unzählige winzige Finger, die die Schwelle zu einer neuen Welt öffnen wollten. Jakob bewegte sich wie ein Kater zwischen den Regalen, er schmiegte sich an die Werke, roch die Blätter und konnte fast aufgrund der Art des Papiers das Alter des Buches erraten.
„L’ordre du discours“ war noch weit weg, Jakob irrte zwischen den Romanen umher und plötzlich wurde er von einer eleganten Frau gelockt. Die Haut war hell und leuchtete, in ihrem Gesicht glühten dunkle und asymmetrische Augen, während die Ohrringe einen geschmeidigen Hals betonten.
Jakob streichelte das Gesicht, das auf dem Buchdeckel des Werkes „Die Glut“ von Sándor Márai die Leser lockte. Es war eine neue Ausgabe, das Papier des Buchdeckels war glatt wie Seide. Jakob öffnete langsam und vorsichtig das Buch, er wollte es nicht zu weit aufklappen. Er steckte die Nase in die Mitte und roch einen zeitlosen Duft. Die Seiten waren Flügel eines Kolibris, er berührte sie entzückt.

Ein leises, fast unhörbares Geräusch von Papier, das auf den Boden fällt. Jakob schaute nach unten uns sah einen roten Zettel. Er sah wie ein Blutstropfen auf einer Leinwand aus. Ein Tropfen, der immer größer und flüssiger werden konnte. Jakob war von seinen Assoziationen überrascht und spürte gleichzeitig Anziehung und Furcht vor diesem Zettel. Er barg vorsichtig das rote Stück Papier. Er hatte das Gefühl, eine Blume mit einer Wespe in den Händen zu halten.
Jakob öffnete es und las: „Und wären wir keine Freunde gewesen, wäre ich nicht anderntags in deine Wohnung gegangen, in die du mich nie eingeladen hattest, wo du das Geheimnis wahrtest, das Böse, unverständliche Geheimnis, das unsere Freundschaft vergiftete.“

Jakob hörte fast die tiefe und vorwurfsvolle männliche Stimme, die diese Worte aussprach. Er sah sich plötzlich in einem großen mit Kerzen beleuchteten Saal, auf einem Sessel vor einem Kamin, in dem ein unruhiges Feuer brannte.
Ganz unten auf dem Zettel war eine Adresse aufgeschrieben: Sackgasse 5, 8008 Zürich.
Jakob schmunzelte und mochte den Geistesblitz sehr. Dann wurde er plötzlich neugierig und wollte nachforschen, ob eine Sackgasse in Zürich tatsächlich existierte.
Er nahm sein Smartphone aus der Tasche und ging online: Ja, eine Sackgasse mit Hausnummern war tatsächlich auf der Karte angegeben!
Er wollte unbedingt hin, ein unerwarteter Drang katapultierte ihn zuerst aus der Bibliothek und dann aus dem Uni-Gebäude. Er stand mitten im Regen und hatte den Regenschirm im Schließfach der Bibliothek vergessen, aber er hatte deutlich das Gefühl, dass er keine Sekunde verschwenden durfte, und stieg flugs in die erste Tram, die vorbeifuhr.

Die Sackgasse war eine Querstraße der Seestraße, ein Zufluss. An dem verregneten Tag fühlte sich Jakob wie ein Papierschiffchen auf einem dunklen und tiefen Wasserspiegel.
Sackgasse 1, Sackgasse 2, Sackgasse 3, Sackgasse 4, und wo war denn die Hausnummer 5? Er schaute sich um, sah die Sackgasse 6, 7, 8 und so fort, aber die Nummer 5 schien im Wasser versunken zu sein. Die Kapuze seiner Jacke war inzwischen durchnässt und seine Geduld fing an zu wackeln. Er musste aber durchhalten, er durfte nicht mehr zurück.

Plötzlich eine Stimme: „Was sucht der junge Herr?“ Jakob sah ein runzeliges Gesicht vor sich, das graumelierte Haar leuchtete fast unter dem roten Regenschirm.
„Wo ist denn die Hausnummer 5?“, fragte Jakob.
„Bei mir zuhause“, schmunzelten die schrumpeligen Lippen.
„Ach so!“, sagte Jakob sprachlos, ohne zu wissen, wie er das Gespräch fortsetzen konnte, und vor allem wusste er jetzt nicht mehr, ob ihn die Sackgasse 5 noch interessierte.
„Haben Sie meine Adresse von Herrn Lehmann bekommen?“, fragte die Stimme.
„Nein, nein, es ist eine lange Geschichte. Ich wusste nicht, dass es in Zürich eine Sackgasse gibt, und ich habe mit einem Freund gewettet, die Nummer 5 zu finden, einfach so“, antwortete Jakob verlegen.
„Einfach so, interessant“, kommentierten die schrumpeligen Lippen.

Jakob zitterte jetzt, er war durchnässt und ihm war kalt. Außerdem fand er diese Begegnung beunruhigend und fühlte sich gefesselt, als ob er jetzt nicht mehr zurück dürfte.
„Kommen Sie doch zu mir auf einer Tasse Tee, Ihnen ist kalt und Sie haben keinen Regenschirm. Bleiben wir nicht länger da.“
„Ich muss zurück zur Uni, ich muss mich für einen Vortrag vorbereiten.“ Jakob versuchte seinen Weg zurückzufinden, als er einen festen Griff am Oberarm spürte.
„Sie kommen jetzt zu mir, ich habe Sie eingeladen, das mache ich nicht mit allen fremden Leuten, das soll eine Ehre für Sie sein!“ Die Stimme war leiser geworden, aber sehr bedrohlich. Zwei kleine dunkle Augen fesselten Jakobs Blick, nun hatte er keine Kraft mehr sich zu wehren.

Die Sackgasse Nummer 5 war hinter einem Wohngebäude versteckt, es sah wie ein heruntergekommenes Häuschen aus, aber die inneren Räume waren sehr gepflegt.
Jakob wurde aufgefordert, am Couchtisch im Wohnzimmer zu sitzen. An den Wänden waren ausschließlich Porträts aufgehängt, sie waren in verschiedenen Größen und in verschiedenen Stilen gemalt oder einfach nur schwarzweiß gezeichnet worden.
„Sind es Freunde von Ihnen, die Bilder an den Wänden?“, fragte Jakob.
„Tja, sie waren Freunde von mir“, seufzte die Stimme.

Jakob wurde bange und spürte die Wände des Zimmers dicht an seine Haut drängen. Er suchte eine Tür, aber im Wohnzimmer gab es keine Fenster und die einzige Tür führte in die Küche, wo das graumelierte Haar zu sehen war. Es leuchtete wie ein Gespenst in der Dunkelheit.
„Ihr Tee, junger Mann“, die Stimme war jetzt warm und beruhigend.
Das Getränk hatte einen seltsamen Geruch und Jakob trank es nicht.
„Schmeckt es Ihnen nicht? Es ist Pfefferminztee!“, sagte der Mann, als ob er überrascht wäre.
„Es riecht nicht nach Pfefferminze, es riecht nach Chemie. Was haben Sie mit dem Tee gemischt?“ Jakob hatte jetzt keine Angst mehr, er spürte Wut in seinen Adern brodeln und es war ein Gefühl, an das er nicht gewohnt war.
„Sie dürfen nicht aus diesem Haus gehen, ohne den Tee getrunken zu haben“, die Stimme war jetzt scharf und zischend, die Hand griff nach einem Messer.
Jakob stand auf und sagte: „Ich habe keine Angst vor Ihnen und will auch nicht Teil ihrer Gemäldegalerie werden. Lassen Sie mich bitte gehen.“

Das runzelige Gesicht war nun einen Millimeter vom Jakobs Gesicht entfernt und die Klinge drückte an seinem Hals. Jakob spürte eine unbekannte Kraft in sich und trat entschieden gegen das Bein vor ihm. Die Stimme wurde ein Schrei, das Geheul eines verletzten Wolfes, während Jakob weiter und weiter nach dem Mann trat, bis die Kraft seinen Körper verließ.
Das runzelige Gesicht lag am Boden, mit weit aufgerissenen Augen, der Mund leicht offen und das graumelierte Haar auf den Fliesen ausgebreitet.
Es war ein sonderbares Porträt der Göttin Medusa, ein Bild, das Jakob immer wieder begleitete.

Annamaria Bortoletto
https://laltraidea.wordpress.com

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 21053

Bahngleise

Petra stand alleine am Gleis, keine Seele war in ihrer Nähe.
Sie wollte den letzten Zug des Jahres nehmen, egal zu welchem Fahrtziel.
Einfach weg, irgendwohin und ein neues Jahr beginnen.
Sie kam um 23 Uhr zum Bahnhof, um sich die Abfahrten anzuschauen und ein Ticket zu kaufen.

Die letzte Fahrt war ein Nachtzug nach Wien mit Busverbindung nach Sofia, abenteuerlich. Sie sprach kein Wort Bulgarisch, kannte niemand dort und hatte keine Unterkunft gebucht. Sie hätte das Ticket nach Sofia eventuell in Wien weiter verkaufen können. Sie spürte jetzt einen tiefen Schmerz im Magen und hatte plötzlich Angst vor dieser Reise ins Unbekannte.
Das Display zeigte 250 Euro, sie steckte ihre Karte leicht zitternd und drückte die Zahlen ihres Geheimcodes auf der Tastatur. Sie hatte für einen Augenblick gehofft, den Code vergessen zu haben und dreimal falsch zu tippen, damit die Karte nicht mehr funktionierte. Es war ihr schon mal passiert, aber heute war es nicht der Fall. Es war, als ob ihr Körper unabhängig von ihrem Geist handelte, als ob er besser Bescheid wüsste.

Ein Sitzplatz, was sonst zu dem Preis. Wann hatte sie das letzte Mal einen Nachtzug genommen? Sie studierte noch, sie fuhr nach Paris mit ihrem ehemaligen Freund. Sie hatten sich vor kurzem kennengelernt und waren so verknallt ineinander, dass sie sofort ein romantisches Wochenende zusammen verbringen wollten. Sie konnten sich keine längere Reise leisten mit ihren Studentenjobs als Kellnerin und Pizza-Kurier. Sie hatten in einer lauten und schmutzigen Jugendherberge beim Bahnhof übernachtet, aber die Stimmung war so toll, dass ihr alles wunderbar vorgekommen war.

“Der ICE 3457 nach Wien mit Busverbindung nach Sofia fährt ab, bitte steigen Sie ein.”
Der Lautsprecher weckte Petra aus ihrer verträumten Reise in die Vergangenheit. Sie stieg schnell in den ersten Wagen ein, als ob ihr eine Hand von hinten einen kleinen Schub gäbe. Sie blieb einen Augenblick neben der Tür stehen und studierte ihre Fahrkarte: Wagen 7, Sitzplatz 89 Fenster.

Na, zumindest konnte sie nach außen gucken, selbst wenn die ganze Reise in der Dunkelheit stattfand, gab das ihr zumindest das Gefühl, einen Ausweg zu haben. Immer wieder wurde sie von der Angst verfolgt, gefangen zu sein, irgendwo stecken zu bleiben. Sogar jetzt, nachdem sie sich mutig (oder verzweifelt?) entschieden hatte, einfach ab ins Neue! Sie seufzte, um tiefer einzuatmen. Sie und ihre Angst, wie Bahngleise, die in derselben Richtung fahren, ohne sich zu begegnen.

Plötzlich spürte sie etwas Flauschiges unter ihrer linken Handfläche: eine schwarze Katze! Sie drehte ihren Kopf auf Petras Hand, weil sie gestreichelt werden wollte. Petra vergaß auf einmal ihre Grübelei, berührte das weiche Fell und ihre Glieder entspannten sich langsam. Wie es möglich war, dass eine Katze im Zug frei lief, wollte sie gerade nicht nachforschen. Es war so gemütlich, die schnurrende Katze zu streicheln, und das Tier schien Petra gern zu haben. Sie machte es sich auf Petras Schoß bequem, während ihre Lider, wie samtene Vorhänge, langsam ihre zimtfarbigen Augen in Trägheit hüllten. Petra, bezaubert von diesen unerwarteten und angenehmen Gefühlen, sank selbst in eine kuschelige Schlafwolke.

“Ihre Fahrkarte bitte.” Eine tiefe Männerstimme weckte Petra aus dem Dösen. Der Schaffner war noch nicht bei ihrem Sitzplatz angekommen, er war noch eine Reihe weit weg. Die schwarze Katze war nicht mehr auf ihrem Schoß. Hatte sie davon geträumt? Sie suchte über und unter ihrem Sitzplatz, aber es gab keine Spur des bezaubernden Tieres. Es war sehr wahrscheinlich eine Begegnung im Halbschlaf. Schade, die Katze war so kuschelig, dass Petra gerne noch eine Weile mit ihr verbracht hätte.

“Dankeschön”, ein offenes Lächeln wendete sich an Petra. Sie beobachteten sich einen Augenblick überrascht. Das Gesicht kam ihr bekannt vor, aber sie konnte nicht erkennen, was genau so vertraut war. Der Schaffner ging zum nächsten Passagier, und Petra versuchte seine Gesichtszüge zu rekonstruieren.
Georg? Konnte er wirklich Georg sein? Rasiert und mit sehr kurzem Haar? Sie spürte ihr Herz sich gegen ihren Brustkorb stürzen, wie ein Spielball gegen das Fußballtor. Sie wollte aufstehen und zum Schaffner gehen, um nachzufragen, ob er tatsächlich Georg war. Ihre Beine waren so schwer wie zwei Marmorsäulen. Sie versank auf dem Sitzplatz und versuchte tiefer zu atmen, um wieder in der Gegenwart zu landen.

Die Lichter wurden im Wagen ausgeschaltet, sie saß in der Dunkelheit und guckte aus dem Fenster. Ihr wurde bange. Sie stand auf und suchte eine Toilette. Beim Gehen hatte sie das Gefühl, die Angst besser kontrollieren zu können. Sie und ihre Angst waren wie Bahngleise: Petra versuchte dem Gefühl  zu entgehen, aber es begleitete sie, es fuhr immer an ihrer Seite.
Ein Schaffner lief an ihr vorbei.
“Georg?” Die Stimme kam wie ein leises Quietschen aus ihrem Mund, aber konnte in der Stille des Zuges wahrgenommen werden.
Ihre Blicke begegneten sich einen langen Augenblick im Flur.
“Petra!” sagte der Schaffner und lächelte.“
Ich war mir nicht sicher bei der Fahrkartenkontrolle, du hast dich so verändert.”
“Tja. Wir haben uns allerdings seit einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen! Ich hätte dich gar nicht erkannt, wenn du mich nicht angesprochen hättest. Du hattest lange Rastalocken, nun läufst du herum mit einem Long Bob mit Pony und trägst eine Brille.”
Georg beobachtete ihr Gesicht und  lächelte wieder.
“Gefällt es dir nicht?”
“Doch! Du siehst super aus, einfach ganz anders als früher.”
“Ich bin eine andere Person geworden, ich bin nicht mehr die Petra, die du kanntest.”
“Freust du dich darüber?”
“Ich weiß es nicht. Die Veränderung war nicht von mir gewollt oder vielleicht doch schon. Ich habe mich verändern lassen, weil ich selbst nicht die Kraft dazu hatte.”
“Das stimmt aber nicht! Du warst so tapfer und einfallsreich, da hattest du schon die Fähigkeit dazu. Du Petra, wollen wir uns nicht im Wagenrestaurant hinsetzen und dort in Ruhe plaudern? Zu dieser Zeit ist niemand da und wir können unsere Ruhe haben. Es ist komisch hier im Flur über unsere Leben zu sprechen.”

Petra spürte Wärme in ihren Gliedern, Angst und Dunkelheit waren weg. Es war wirklich ein Glücksfall, Georg begegnet zu sein.
“Ja gerne, setzen wir uns ins Restaurant.”
Eine kleine Tischlampe beleuchtete ihre Gesichtszüge und ihre Hände in der Nacht.
“Was hast du denn in den letzten zehn Jahren gemacht, Georg?”
“Ich hatte mein Studium abgebrochen, ich war einfach nicht mehr motiviert. Ich war zwei Jahre rund um die Welt mit dem Fahrrad unterwegs. Es war eine tolle Zeit! Mein Vater wurde leider krank und ich wollte ihm zur Seite stehen und so kam ich zurück. Er konnte noch drei Jahre leben, aber es wurde für ihn immer anstrengender und so habe ich mir am Ende gewünscht, dass er endlich Ruhe findet. Sein Tod war ein herber Schlag. Plötzlich spürte ich die Leere um mich und wollte einfach pausenlos beschäftigt sein. Ich begann als Schaffner in Nachtzügen zu arbeiten, so konnte ich noch ein bisschen reisen und das Gefühl haben, dynamisch zu sein. Tagsüber schlief ich einige Stunden und spät am Nachmittag besichtigte ich einfach etwas von der Stadt, wo ich war. Es fahren einige Nachtzüge ab Berlin und so ist mein Berufsleben abwechslungsreich.”

“Was ist mit deinem Privatleben?”

“Ich hatte mich von Anna getrennt, als ich mein Studium abbrach. Ich hatte keine Lust mehr, an der Uni zu sein, und war sehr stur in meinem Vorhaben. Sie hatte sich so vehement durchgesetzt, damit ich die letzten Prüfungen machte, dass wir uns am Ende nicht mehr ausstehen konnten. Wir waren beide sehr hartnäckig und unsere Beziehung war immer sehr stürmisch gewesen. Sie doziert jetzt an der Uni, das Studium hatte für sie eine ganz andere Bedeutung als für mich. Ich war dann zwei Jahre rund um die Welt unterwegs und hatte keine Lust auf eine feste Beziehung. Anna und das Studium waren schon eine starke Bindung für einige Jahre und ich wollte mich einfach mal endlich wieder frei fühlen. Mein Vater wurde dann krank und ich war damit emotional überfordert, so dass es keinen Platz für eine neue Person in meinem Leben gab, und bis heute habe ich noch nicht das Bedürfnis gehabt, eine Lebenspartnerin zu finden. Was ist denn mit dir und … ich weiß seinen Namen nicht mehr, geworden?”
“Uwe hieß er. Du konntest ihn nicht ausstehen und hast seinen Namen einfach aus deinem Gedächtnis gelöscht. Zum Glück sind wir nicht mehr zusammen, es hat aber zu lange gedauert und die Beziehung hat mich kaputt gemacht. Am Anfang schien er so verliebt in mich, er war für alles bereit und hat mich immer wieder mit tollen Erfindungen überrascht. Als wir als Paar eine Routine hatten, hatte er immer mehr meine Freiheit mit seiner Persönlichkeit überschwemmt.”

Petra hörte zu reden auf, als ob sie keine Kraft mehr dazu hätte. Ihr wurde plötzlich bange und sie hatte das Gefühl, von ihrer Angst verfolgt zu werden. Aber je schneller sie davonlief, desto bedrohlicher wurde das Gefühl. Sie und ihre Angst rasten in die gleiche Richtung.
Georg berührte sanft ihre kalte Hand und sagte: “Es ist vorbei, du hast wieder deine Persönlichkeit zurück und vor allem du bist frei! Außerdem haben wir uns jetzt wiedergefunden und du hast einen alten Freund wieder auf deiner Seite. Du bist nicht alleine.”
“Wärst du mir damals zur Seite gestanden, hätte mir das geholfen”, antwortete Petra bitter. Sie spürte auf einmal Wut. Ihr Körper wurde schnell wieder warm, unter ihrer Haut brannte ein südländischer August.
“Petra, es war nicht möglich, die Freundschaft mit dir zu pflegen. Uwe war stinkeifersüchtig auf mich und du wolltest ihn nicht enttäuschen. Es ist jetzt kein Urteil, ich war selbst mit Anna in einer ähnlichen Situation und das habe ich erst im Nachhinein verstanden. Sie war nicht auf andere Frauen eifersüchtig, aber sie war sehr karriereorientiert an der Uni und ihr gegenüber hatte ich intellektuell ein Minderwertigkeitsgefühl, das mich an sie band. Ich war genauso gefesselt wie du, einfach in einem anderen Bereich, und es braucht eine Weile, um es loszulassen. Lass dir Zeit und verurteile Uwe, aber vor allem dich selbst nicht.”
Petra spürte eine kühle Brise im brennenden August und zum ersten Mal nach langer Zeit war nicht mehr die Angst, sondern eine Person an ihrer Seite, die in der gleichen Richtung wie sie ging, ohne ihren Weg zu durchkreuzen.
Sie lächelte Georg an.

Petra stand an der Bushaltestelle in Wien und wartete auf ihre Verbindung nach Sofia.
Eine schwarze Katze schnurrte an ihrer Seite und wurde immer wieder von Petra gestreichelt. Die großen zimtfarbigen Augen des Tieres schimmerten in der Morgendämmerung.

Petra hielt ein Billet in ihrer Tasche, das sie immer wieder – lächelnd – las.

Liebe Petra,
hier meine Telefonnummer. Unsere Lebenswege haben sich wieder gekreuzt, jetzt sind wir wie zwei Züge, die gleich schnell fahren. Unsere Reise zusammen ist neu gestartet, lass uns die Welt erkunden.
Auf bald!
Georg

 Die Zikaden zirpten unter Petras Haut und tauten das Eis vom ersten Januar ab.

Annamaria Bortoletto
https://laltraidea.wordpress.com

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 21027

Die wilde Maus

Mit besonderem Dank an meine liebe Freundin Elisabeth Mohorko, die mir das Bild der Wilden Maus in die Quarantäne sendete und mich inspirierte.

Ich bin der letzte Mensch auf Erden und ich suche verzweifelt Orte, in denen Menschenseelen herumflattern.
Ich bin so einsam, dass ich das Sprechen fast verlernt habe. Daher schreibe ich alles in meinem Tagebuch auf und hoffe, es eines Tages jemandem erzählen zu können.
Ich besitze eine besondere Fähigkeit: Wenn ich an etwas denke, wird es sofort umgesetzt.
Seitdem es keine Menschen mehr auf der Erde gibt, ist die Luft so leicht, dass sie Gedanken transportieren und verwirklichen kann.
Wenn ich Menschen schreibe, meine ich die ehemaligen Bewohner der Erde, die einen physischen Körper wie ich hatten. Die Seele war nicht bei allen vorhanden. Ich will allerdings die Geschichte der Menschenseelen schreiben, die noch auf diesem Planeten wandern und ihnen dabei meine lesen lassen, damit wir verbunden bleiben.

Ich bin seit zwanzig Jahren auf der Welt und seit zehn Monaten bin ich der letzte Mensch auf der Erde. Was wohl passiert ist? Nichts. Ich bin an einem Frühlingsmorgen aufgestanden und keine menschliche Stimme war mehr zu hören. Ich rannte durch meine Stadt und konnte niemanden, weder unterwegs noch in den Gebäuden, sehen. Ich spazierte durch den Stadtpark und sah nur Tiere. Ich stoppte erschöpft an einem Baum und umarmte ihn. Es war eine Eiche, die mir zuflüsterte: “Sei nicht traurig, du bist nicht einsam. Habe Vertrauen und begebe dich auf die Suche nach Menschenseelen. Du wirst nicht gleich welche finden, aber es gibt noch einige auf diesem Planeten und sie wollen gehört werden!”
Ich blieb noch eine Weile, mit meinen Armen um die Eiche, stehen und spürte ihre Wärme. Plötzlich war ich federleicht und dachte sofort an das tolle Gefühl, das ich am Meer habe. Ich schwimme und schwebe über den Meeresgrund, während alle Sorgen ihre Schwerkraft verlieren.

Nachdem der Gedanke zu Ende  war, befand ich mich im Atlantik, bei Cabo de Maria in Portugal. Es war ein heiβer, windiger Sommertag und ich konnte nackt baden: Niemand hätte mich gesehen! Ich blieb dort eine Weile und fing sogar an, nackt herumzugehen. Meine Haut war, genauso wie Sand und Wasser, Teil der Landschaft.
An einem Morgen war es so windig, dass ich das Gefühl hatte, Achterbahn zu fahren. Ich war lange nicht mehr in Wien und fing an, an den Prater zu denken. Ich schloss die Augen und erwachte auf einem kühlen Sitz in einem kleinen Wagen, der auf einem einsamen Gleis fixiert war. Er bewegte sich nicht, niemand konnte ja die Achterbahn bedienen.
Ich herrschte über den Prater.

Es war ein grauer, windiger Tag und ich fühlte mich wie in einer Freiluft-Geisterbahn.
Das Riesenrad bewegte sich kaum, der Wind lieβ die Kabinen leise quietschen, wie rostige Wimpern eines weit aufgerissenen Glasauges.
Ich war hypnotisiert vom Hin und Her des Quietschens und hörte auf einmal ein “Ich” aus dem “Quietsch, quietsch”. In dem Moment spürte ich eindeutig, dass es sich um eine Menschenseele handelte.
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich ausschlieβlich auf die Laute, die mir zugeflüstert wurden.

“Ich heiβe Mario und ich bin der Wächter vom Prater. Ich passe auf die Karussells auf, sie sind meine Lieblingsspielzeuge. Obwohl sie seit einer Weile nicht mehr besucht werden, sind sie poliert und farbenfroh. Täglich hauche ich allen Staub weg, dann reibe ich mir die Hände und feine, glitzernde Sternschnuppen fallen auf die Glieder meiner Puppen. Wenn das Gebimmel vorbei ist, hört man das silberhelle Gelächter der Kinderseelen.
Sie kommen wie ein Hauch Wind und rutschen in die Achterbahnen. Dann springen sie hoch in den Himmel und drehen sich um sich selbst, wie wirbelnde Raketen. Schlieβlich landen sie auf dem Riesenrad, wo sie in einer Kabine einschlafen und wild träumen. Das Quietschen ist die Stimme ihres Unterbewusstseins. Sie sind neugierig und wollen einen Menschen sehen, die Seelen ihrer Eltern erzählen immer wieder von der Zeit, als es Menschen auf Erde gab. Heute bist du wie ein Wunder hier erschienen, und sie werden sich riesig freuen, wenn sie wieder wach werden!
Damit du mit ihnen Kontakt aufnehmen kannst, sollst du deine Kinderseele wieder ins Leben rufen. Schau, du bist genau auf der Wilden Maus gelandet, das Lieblingskarussell der Kinderseelen. Der Wagen auf dem du sitzt, ist durch eine Bremse ans Gleis gefesselt. Die Bremse ist das Lieblingswerkzeug des Menschen, der alles steuern will. Wenn du dich traust, die Bremse zu lösen, wirst du wie die Kinderseelen rutschen und dann hoch in den Himmel springen. Wenn nicht, wird der jetzige Prater eine Freiluft-Geisterbahn für dich bleiben.”

Höhenangst und Schiss vor Geschwindigkeit sind schon immer meine unangenehmen Begleiter. Allein der Gedanke, wild zu rutschen und in die Luft zu springen, war übel, ich könnte gleich ohnmächtig werden. Allerdings vergaß ich dabei meine Sondergabe, Gedanken gleich umzusetzen, und so hörte ich plötzlich das saubere und trockene Geräusch der sich lösenden Bremse. Das Quietschen der lange stillgestandenen Räder folgte. Die ersten Sekunden drehten sie sich noch langsam, und dann ging es richtig los! Mein Herz sprang hoch bis zu meiner Kehle und ich schrie so laut, dass der ganze Prater leicht bebte. Die Kinderseelen wurden vom seltsamen Geschrei geweckt, und ich konnte das neugierige Gebimmel ihrer Stimmen hören. Sie kamen alle zusammen wie eine Schar und rutschten mit mir. Als ein Knick mein Körper aus dem Wagen katapultierte, spürte ich die Kinderseelen um meine Glieder. Sie umwickelten mich und wir sprangen zusammen höher und höher in den Himmel, bis der Prater nicht mehr zu sehen war.
Mein Körper wurde von der Schwerkraft befreit, ich fühlte mich immer leichter und luftiger, wie eine Himmelslaterne.

Die wilde Maus (Foto: Elisabeth Mohorko)

Die wilde Maus (Foto: Elisabeth Mohorko)

Annamaria Bortoletto
https://laltraidea.wordpress.com

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 20066

 

 

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Die Himmelslaterne

Mehl, Hefe, Wasser, Salz, Olivenöl auf einem Tisch am Fenster.
Ein heißer Sommertag mit leichter Brise, die Mehl und Salz streichelt. Das Mehl ist weich, ich würde mich gerne darauf hinlegen und träumen, wie auf einer Wolke. Salz ist roher, kratzt, reizt die Haut, aber gleichzeitig heilt es. Es glitzert wie eine Handvoll Kristalle, ein verborgener Schatz. Er kommt aus der Meerestiefe, wurde von den Piraten begehrt und war der Schmuck einer kecken Meerjungfrau. Jetzt ist es auf einem Küchentisch gelandet und glänzt. Ein Glücksbringer für Genießer.

Eine Fliege summt und hält sich auf einem Würfel Hefe: „Aha, ein Wolkenkratzer!”, denkt sie sich, aber merkt, dass es keine Fenster gibt und keine menschlichen Stimmen darin zu hören sind. Komisch. „Ist es vielleicht ein Spielwürfel? Könnte sein … jedenfalls hat es was Geheimnisvolles, Magisches.” Die Fliege ist neugierig und versucht ein Stückchen abzubeißen: „Das kann man doch essen, was für ein eigenartiger Geschmack!” Sie spürt plötzlich heiße Luft in ihrem Körperchen und fliegt aus dem Fenster. Sie wird größer und größer, leichter und runder. Die Fliege kreist im Himmel und wird von den Vögeln bestaunt. Sie kann die Flugrichtung nicht mehr bestimmen und lässt sich treiben.

Annamaria Bortoletto
https://laltraidea.wordpress.com

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 20056