Kategorie-Archiv: Dominik Hödl

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Zum letzten Mal

Das Licht der Scheinwerfer brannte in seinen Augen. Auf seiner Stirn sammelten sich Schweißperlen, bahnten sich ihren Weg durch die Schichten von Make-up, die eigentlich die tiefen Furchen auf seiner hohen Stirn und die dunklen Ringe unter seinen Augen verdecken sollten. Doch dieser Kleister auf seinem Gesicht, der sich anfühlte, als wäre sein Kopf in Frischhaltefolie eingewickelt, vermochte es nicht, die stummen Zeugen seines Lebensstils auch nur annähernd verschwinden zu lassen. Sein Atem wurde schneller. Er hätte schwören können, dass sich dieser beschissene Kragen seines Pullovers von Minute zu Minute enger um seinen Hals schnürte. „Rede!“ Unhörbar für die anderen war da wieder diese Stimme, die sich in seine Gedanken einschlich.

Der Applaus war schon vor Minuten abgeebbt und nun herrschte das erwartungsvolle Schweigen, das er fürchten gelernt hatte. „Ja, ich hab es auch gehört. Der Applaus ist anders als früher, nicht wahr? Konntest du auch den Zweifel heraushören? Weißt du, dass die meisten nur hier sind, um dich scheitern zu sehen? Du hättest zuhause bleiben sollen, mein Lieber“, meldete sich die Stimme von unten wieder zu Wort. Er versuchte sie zu ignorieren, sie wegzusperren, auch wenn es bis jetzt noch nie funktioniert hatte. Wusste er doch, wem die Stimme gehörte.

„Fang an zu reden!“. Durch die grelle Beleuchtung konnte er nur die Silhouetten des Publikums erkennen, doch spürte er die Blicke, wie Stecknadeln, die auf seinen Körper prasselten. Die Stimme erzählte ihm nichts Neues. Von dem Zeitpunkt an, als der Anruf seiner Agentur gekommen war, wusste er, was das für ein Abend werden würde. Eine Fleischbeschau, und er war die Hauptattraktion. Das abendfüllende Programm, das wahrscheinlich irgendein Praktikant der Agentur aus alten Mitschnitten zusammengeschustert hatte, um es dann als Best of zu präsentieren, war nur ein Vorwand, um seinen Verfall live ansehen zu können. Wie hatte es nur so weit kommen können? Diese Frage stellte er sich jedes Mal, wenn er wieder mal als Letzter in dem heruntergekommenen Beisel unter seiner Wohnung an der Bar lungerte. Die Antwort stand jedes Mal vor ihm, in einem halbleeren Glas, das wusste er. Doch hatte es Jahre gedauert, bis er es sich selbst eingestehen konnte.

Das Ende war nicht über Nacht gekommen. Es kam schleichend, setzte sich fest, und er war zu arrogant gewesen, um es zu merken. Die leeren Plätze bei seinen Auftritten hatte er auf die fehlende Werbung geschoben, die Weigerung des Verlags, sein letztes Buch zu veröffentlichen, war, seiner Ansicht nach, dem kurzsichtigen Lektorat geschuldet, und die Tatsache, dass seine Wohnung geräumt wurde, während er besoffen in der Badewanne schlief, war die Schuld seines Steuerberaters gewesen.

Es endete in einer kleinen Wohnung, die jemand von der Agentur für ihn gefunden hatte. Natürlich nur, bis er wieder auf die Beine kommen würde. Das war fast zehn Jahre her und auf die Beine gekommen war er in dieser Zeit nicht mehr.

Alles, was sie ihm gelassen hatten, war dieses alte Sofa, das er bei jedem seiner Auftritte dabei gehabt hatte. Er fand es vor Jahren auf einem Flohmarkt und es sollte, wie er, zu einem Kultobjekt werden. Dieses hässliche Ding. Das verschlissene braune Leder trug den Geruch der wilden Jahre in sich, die die beiden durchlebt hatten. Neben dem Bett und der Küche war es das einzige Möbelstück in seiner Einzimmerwohnung, doch hatte er es seit Jahren nicht mehr gewagt, darauf Platz zu nehmen. Als würde er dieses durchgesessene Stück Dreck damit entweihen und den letzten Rest seines vergangenen Ruhms damit zunichtemachen. Es stand an der nikotinverfärbten Wand und machte ihm stumme Vorwürfe darüber, dass es hier in diesem finsteren Loch sein Dasein mit ihm fristen musste.

Eines Nachmittags war er aufgewacht und da hörte er diese Stimme zum ersten Mal: „Was hast du uns angetan?“ Er sah sich um, doch war er allein in der Wohnung. „Hey Arschloch, hör mir zu!“ Er sprang auf und taumelte ins Badezimmer. Alles nur Einbildung, dachte er sich. Die, für seinen Zustand, schnellen Bewegungen waren zu viel für seinen Körper, der noch immer damit beschäftigt war, den Alkohol vom letzten Tag zu verarbeiten. Gerade noch rechtzeitig schaffte er es zur Toilette, um sich zu übergeben. Den Ekel davor hatte er schon längst abgelegt, für ihn hatte es inzwischen etwas Reinigendes. Er wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, suchte sich ein Hemd, von dem er glaubte, dass es sauber war und ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Natürlich war kein Kaffee da, aber die Gewohnheit verlangte es von ihm. Seit Wochen war niemand mehr für ihn einkaufen gewesen. Der junge Mann, der das früher für ihn erledigt hatte und sich ihn wohl als eine Art Mentor gewünscht hätte, kam nicht mehr, seit er ihm im Suff eine leere Weinflasche nachgeworfen hatte.

Also setzte er sich wieder auf sein Bett und starrte an die Wand. „Seht ihn euch an, den Meister des bissigen Humors“, erklang die Stimmer wieder. Er hatte sie klar und deutlich gehört, doch war irgendetwas seltsam an ihr. Sie kam nicht aus seiner Wohnung, sie kam aus seinem Kopf. „Sieh dir an, was aus dir geworden ist. Früher war ich der von uns beiden, der verbraucht aussah.“ Schlagartig wurde ihm klar, wessen Stimme in seinem Kopf spukte. „Du?“, sah er sein Sofa fragend an. Doch es blieb stumm.

War das der Punkt, an dem er vollkommen seinen Verstand verlieren würde? Panik brach in ihm aus, und er verließ seine Wohnung, so schnell es ging, in Richtung Beisel. Gesprächig war er nie gewesen, wenn er an seinem Hocker an der Bar saß, doch an diesem Tag sagte er kein einziges Wort. Je länger er darüber nachdachte, umso weniger schockierte ihn die Tatsache, dass er die Stimme eines Möbelstücks in seinem Kopf hörte. Was ihn nicht losließ war, dass diese Stimme recht hatte. Er war dafür verantwortlich oder zumindest das, was aus ihm geworden war.

Als er den Pegel erreicht hatte, bei dem er gerade noch alleine stehen und nach Hause wanken konnte, kratzte er sein Kleingeld zusammen, bezahlte und machte sich auf den Heimweg. Mit Herzklopfen öffnete er die Tür zu seiner Wohnung. Stille. Vielleicht hatte er es sich doch nur eingebildet. Er legte sich ins Bett und wollte gerade einschlafen, als sich das Sofa erneut zu Wort meldete: „Hast wieder einen besonders produktiven Tag hinter dir, oder?“ „Lass mich in Ruhe!“, brüllte er das Sofa an. Keine Antwort.

Er ging in die Küche, holte ein Messer aus der Schublade und war fest entschlossen, dieses elende Möbelstück, so gut er konnte, zu zerstören. Bereit, darauf einzustechen, stand er da und schaffte es letztlich doch nicht. Das Einzige, was ihm geblieben war, zu vernichten, auch wenn es ihn langsam in den Wahnsinn trieb, schaffte er einfach nicht. „Nicht einmal dazu bist du fähig“, verhöhnte ihn sein Sofa, als er auf die Knie sank und das Messer fallen ließ. Stundenlang saß er da und starrte auf dieses Ding, das fest dazu entschlossen war, ihn seines Verstandes zu berauben. Irgendwann schlief er auf dem Boden ein. In den darauffolgenden Tagen und Wochen wurden die Meldungen des Sofas immer häufiger. Er versuchte es zu verkaufen, zu verschenken, einfach nur irgendwie loszuwerden, aber jedes Mal, wenn sich ein Interessent meldete, meistens ein nostalgischer Fan, konnte er den letzten Schritt einfach nicht machen. Was blieb ihm also anderes übrig, als mit den ständigen Meldungen seines ledernen Partners zu leben und es weiterhin zu ertragen, dass es ihm die unverblümte Wahrheit vor das Gesicht hielt: nämlich, dass er an der Endstation seiner Karriere angelangt war.

Ein lautes Räuspern holte ihn zurück in die Gegenwart. Das Publikum wurde ungeduldig. Hier und da hörte man jemanden tuscheln, meist gefolgt von einem verhaltenen Kichern. „Fang an zu reden, du Idiot!“, meldete sich sein Sofa zu Wort. Er krallte seine Finger an der Lehne fest. Der Schweiß stand ihm im Gesicht, und er merkte, wie ihm schwindlig wurde. „Fang an!“ Er sah ins Publikum, das mittlerweile von Dutzenden Handydisplays erleuchtet wurde. Hier und da blitzte ein Kameralicht auf. „Zum letzten Mal“, dachte er sich. Sein Atem beruhigte sich, er löste die Hand von der Lehne und stand auf. Er bemühte sich, so aufrecht wie möglich zu stehen und sah das Publikum an. „Zum letzten Mal.“ Mit aller Verachtung, die er aufbringen konnte, sah er in die Menge. Die Zuschauer wurden schlagartig still.

Er verneigte sich, drehte sich um und verschwand in der Dunkelheit hinter dem Vorhang. Zum letzten Mal.

Dominik Hödl

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig | Inventarnummer: 15087

Naives Tagebuch: Wiener Sud

Naives Tagebuch,

eine wilde und doch plausible Theorie, die mir viele schlaflose Nächte bereitet hatte und die es jetzt zu beweisen gilt, hat mich nach Wien geführt. Dort sitze ich jetzt im Café eines namhaften Hotels und warte auf einen fachkundigen Kellner, der mir womöglich weiterhelfen kann.

Nach einer schier endlosen und sehr emotionalen Diskussion mit dem Kellner, einer durchaus aufschlussreichen Vorführung mit Handpuppen seitens des Putzpersonals und einem Diavortrag im Büro des Hoteldirektors, bei dem auch Sippie der Hausmeister anwesend war, bin ich jetzt überzeugt, dass es unmöglich ist, Süßspeisen dazu zu bringen, von selbst nachzuwachsen. Obwohl ich meine Theorie von wachsenden Torten nicht bestätigen konnte, bin ich doch froh, in diesem traditionsreichen Kaffeehaus in Wien gewesen zu sein, denn ich habe hier Freunde fürs Leben gewonnen. Sippie erzählte mir sogar sein, wie er sagte, größtes Geheimnis. Und obwohl ich seiner Behauptung skeptisch gegenüberstehe, dass er tatsächlich ganz Wien und Teile von Graz mit einem weit verzweigten Tunnelsystem untergraben hat, finde ich es schön, wenn man mir so viel Vertrauen entgegenbringt. Um alle Zweifel zu zerstreuen, hat er mir sogar angeboten, mich in seine unterirdische Welt mitzunehmen. Ich bin gespannt.

Drei Tage sind vergangen, bis man mich gefunden hat. Das Tunnelsystem stellte sich als Abstellkammer im Keller des Hauses heraus und die Angestellten sagten mir, dass sie von einem gewissen Sippie noch nie etwas gehört hätten. So schnell gehen Freundschaften wohl zu Ende. Vielleicht war es die Ruhe in dieser kleinen Kammer, vielleicht auch der Sauerstoffmangel, aber ich fühle mich wie neugeboren und bin bereit, meine Wienreise fortzusetzen.

Da ich mir die Kosten für eine Unterkunft erspart hatte und sowieso schon in der Nähe war, nahm ich mir die Zeit und besichtigte auch den Stephansdom. Schade nur, dass sich in all den Jahren noch immer keiner die Mühe gemacht hat, das Ding endlich fertigzubauen. Beim Eingang geriet ich in eine japanische Reisegruppe. Ich habe mich noch nie in meinen Leben so groß gefühlt. Eine ältere Frau wich mir während der ganzen Führung nicht von der Seite und redete immer lauter werdend auf mich ein. Ich glaube, sie wollte mich mit ihrer Tochter verheiraten, es könnte aber auch ein Rezept für eine Bohnensuppe gewesen sein. Sie wurde bei ihrem unverständlichen Monolog immer aggressiver, sprang mich schließlich wutentbrannt an und riss mir büschelweise die Haare vom Kopf. Der Mann vom Sicherheitsdienst benötigte drei Dosen Pfefferspray und einen Elektroschocker, um die wildgewordene Frau dazu zu bringen, von mir abzulassen. Trotz des Zwischenfalls lud mich der Reiseleiter ein, beim Gruppenfoto der Reisegruppe dabei zu sein. Ich konnte schlecht ablehnen, da die aggressive Frau neben ihm stand und mich mit ihrem Blick spüren ließ, dass sie ein Nein nicht akzeptieren würde. Wir tauschten Nummern aus, versprachen uns, in Kontakt zu bleiben und schließlich verabschiedete ich mich von meinen asiatischen Freunden, denn ich musste noch meinen Zug erwischen.

Ich verlasse Wien wieder, naives Tagebuch. Ich sitze bereits im Zug, doch fühle ich mich noch immer unbehaglich, da mir die japanische Touristin bis zum Bahnhof gefolgt ist und mich jetzt durch das Fenster des Zuges hindurch anstarrt. Ich wollte sie ignorieren und auf meinem Handy die Fotos meiner Reise ansehen, doch waren diese von dem Mann, der sich selbst Sippie nennt, gelöscht und durch Selfies von ihm ersetzt worden. Sollte ich ihm je wieder begegnen, werde ich ihm sagen müssen, dass ihm Lippenstift nicht sonderlich steht. Dafür sind Freunde schließlich da.

Bis bald, naives Tagebuch!

Dominik Hödl

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 15030