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Kategorie-Archiv: Michael Bauer
Zwei belanglose Geschichten
Eins
Manchmal denke ich noch an damals, es muss ein Sommertag gewesen sein, zu Beginn der 2010er Jahre. Ich stieg in Heiligenstadt in die U4 und sah, dass eine junge Frau links von mir Platz nahm. Von ihr ist mir in Erinnerung geblieben, dass sie sich gleich auf die erste freie Bank hinter der Tür setzte und dass ihre Wangen rot waren. Ob ich sie damals angesprochen habe, weiß ich nicht, und wenn ja, dann sicher nur etwas Belangloses. Ich könnte auch nicht mit Sicherheit sagen, ob es eine Touristin oder eine Wienerin gewesen ist. Sie wäre mir vielleicht gar nicht aufgefallen, wenn nicht ihr Kleidungsstil dem einer guten Bekannten ähnlich gewesen wäre. Wohin sie fuhr, weiß ich leider nicht.
Zwei
An einem warmen Sommertag kam ich aus dem vierten Bezirk zurück. An einer Ampel sah ich eine junge Frau in Plateausandalen, die über die Straße ging. Dabei waren die Bässe aus einem vor der Ampel stehenden Auto zu hören. Die junge Frau schien im Rhythmus dieser Musik über die Straße zu gehen und stieg in die U4 in der Kettenbrückengasse ein. Ich weiß nicht, warum ich ein solches Glück hatte, aber sie stieg gemeinsam mit mir an der Haltestelle Friedensbrücke aus. Als sie die Station verließ, ging sie wieder bei einer Ampel über die Straße. Diesmal fehlte mir die Musik. Aber ich spürte ein kleines Glücksgefühl, sie in einem anderen Bezirk noch einmal sehen zu dürfen.
Ich bin mir bewusst, dass es so viele Menschen gibt, die nur an einem einzigen Tag die U4 benützen. Und ich weiß auch, wie flüchtig die Begegnungen der Menschen zueinander in der U-Bahn sind. Rückblickend hätte ich gerne den beiden Frauen etwas Nettes gesagt, aber ein ungeschriebenes Gesetz hält die Menschen in den öffentlichen Verkehrsmitteln auf Distanz.
Natürlich weiß ich auch nicht, ob es den beiden Frauen gefallen hätte, angesprochen zu werden.
Gerne hätte ich ihnen aber die Wertschätzung zuteilwerden lassen, die sie verdient haben.
Michael Bauer
www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 25122
Le vrai amour³
Eins
Kurz vor Weihnachten überquerte ich in der Stadt eine Ampelkreuzung. Zwischen den teuren Geländeautos stand ein alter japanischer Kleinwagen. Das Fahrzeug war sehr gepflegt und hatte keine Beule. Am Kennzeichen sah ich, dass es den weiten Weg aus Bukarest zurückgelegt hatte.
Als ich einen Blick durch die Windschutzscheibe erhaschte, sah ich ein Ehepaar, einen Mann am Fahrersitz und eine Frau am Beifahrersitz. Beide waren gut gekleidet, die Frau trug einen Hut und einen eleganten Mantel.
Wie armselig kamen mir danach die großen SUV vor.
Zwei
In einer Radiosendung rief eine Frau zum Thema „Unangenehme Erlebnisse“ an. Sie erzählte selbstbewusst, dass sie bei einem Spaziergang mit ihrem Mann Durchfall bekam. Sie sah eine Sporthalle, zu der sie ging. Als sie eintreten wollte, bemerkte sie, dass die Tür abgeschlossen war. Da sie nicht wollte, dass es in die Hose geht, setzte sie sich an die Hauswand. Als der Radiomoderator einwarf: „Hatten Sie keine Angst, das Ihrem Mann zu erzählen? Hat er geschimpft?“, entgegnete sie: „Ach was, ich habe einen sehr lieben Mann. Er gab mir einen Kuss und scherzte, ich hätte auch ein Gen von einem Hund.“
Drei
Die Klassenbeste bekam in einer Lateinschularbeit in der Oberstufe einmal „Ungenügend“. Mich verwunderte das sehr und ich fühlte mich – wenn ich ehrlich sein darf – auch etwas erleichtert. Ein paar Tage später erzählte sie davon, wie ihre Eltern reagiert hatten. Ich wusste, dass es an meiner Schule gute Schüler gab, die schon bei einer Eins minus in Tränen ausbrachen. Die Reaktion der Eltern war folgende: Der Vater der Schülerin holte eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank und die Familie stieß an. Dabei sagte er: „Wenn meine Tochter einmal ein Ungenügend hat, muss das gefeiert werden.“
Michael Bauer
www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 25112
Blockade
Es war damals im Sommer 2006. Ich hatte mich für den Spanischkurs an der Uni entschieden, obwohl meine Motivation dafür noch zu unterschwellig gewesen war. Schnell war auch die erste Stunde vorbei und wir wurden uns gegenseitig vorgestellt. Bei meinen nächsten Besuchen des ordentlich früh beginnenden Kurses sah ich auf der Bank rechts hinter mir eine Studentin, die mir sehr gefiel und zu der ich oft hinüberblickte. Damals hatte ich aber noch nicht den Mut, sie anzusprechen. Es vergingen ein, zwei Monate und die Spanischstunden waren mehr oder weniger dieselben.
Als der Kurs Mitte Mai früh anfing, setzte sich diese junge Frau unvermittelt neben mich, sagte, dass sie nicht in die nächste Stunde kommen könne und ich für sie dann mitschreiben solle. Mit dem Bleistift schrieb sie ihre E-Mail-Adresse auf mein Blatt und verabschiedete sich.
Was dann geschah, weiß ich leider nicht mehr so genau. Ich erinnere mich daran, dass ich ihr eine E-Mail, in der die Hausaufgaben standen, schickte, aber ich erinnere mich nicht mehr an das, was danach geschah.
Auf jeden Fall hätte ich diese junge Frau kennenlernen wollen, aber irgendetwas hielt mich davon ab, sie zu kontaktieren. Da ich mich in dem Kurs unwohl gefühlt hatte, meldete ich mich kurze Zeit danach ab. Ich sah die Studentin noch einmal an einem Abend vor dem Wohnheim, aber meine Blockade verschwand nicht.
Und dann denkst du dir: Wenn du schon einmal die E-Mail-Adresse hast – warum hast du ihr nicht geschrieben? War es Angst vor Zurückweisung? Schüchternheit? Auch heute weiß ich keine Antwort mehr.
Jahre vergingen, und obwohl ich mich später wieder an sie erinnerte, habe ich ihr nicht geschrieben.
Erst nach neun Jahren wieder eine schüchterne E-Mail. Ich erinnere mich noch daran, dass ich danach im Fernsehen eine Folge „Schätze der Welt – Erbe der Menschheit“ sah, als ich gespannt auf eine Antwort wartete.
Aber die Antwort blieb aus.
Später versuchte ich es erneut mit E-Mails, die nun ausführlicher geworden sind. Aber auch sie wurden nicht beantwortet.
Was ich zwischenzeitlich auch noch bemerkte, war, dass sich vieles von dem wiederholte, was ich neun Jahre davor erlebt hatte. Ich wusste, dass ich die Hobbys von damals nach dieser Zeit wieder aufnehmen musste, aber in einer besseren, intellektuelleren Form. Ein Beispiel waren die Western, die ich spät abends im Fernsehen sah und die mir guttaten. Am besten gefielen mir die klassischen US-Western, aber auch einige Italowestern. Ich nahm die Stimmung nun bewusster wahr, und auch die Landschaft und die Sonnenuntergänge, die ich mit denen aus der italienischen Landschaftsmalerei verglich.
Auch das Reisen nahm ich nach einer mehrjährigen Unterbrechung wieder auf. Wie beim Film nahm ich auch im Urlaub Eindrücke viel besser wahr und konnte mehr über die anderen Länder erfahren.
Aber am allermeisten hoffte ich darauf, dass sie sich bei mir melden würde und ich die Jahre, die mir verlorengegangen sind, mit ihr nochmals erleben könnte.
Also entwarf ich ein Szenario, in dem ich ihr etwas über mich und meine Motivation für den Spanischkurs schreiben wollte. Ich könnte auch anführen, dass es mir damals nicht so gut gefallen hat und dass ich – auch etwas überstürzt – den Kurs gewechselt habe. Danach würde ich ihr einen Rat geben, nämlich sich für Kultur zu interessieren, wenn sie es nicht ohnehin schon täte, und ihr von meinen Leseerfahrungen erzählen. Außerdem wollte ich ihr von meinen Vorlieben für Reiseländer – dies waren inzwischen der Ferne Osten und Griechenland geworden – berichten.
Und auf einmal merkte ich, dass sich inzwischen in mir etwas verändert hatte. Ich war viel achtsamer geworden. Es überraschte mich, dass mir diese Bekannte einmal unvermittelt zurückschrieb und dabei anmerkte, dass sie sich nicht mehr genau an diese Zeit erinnern könne, es aber schön sei, dass ich ihr so viele positive Gedanken entgegenbrachte. Sie könnte sich gut vorstellen, dass wir uns einmal in einer Eisdiele treffen.
Nach neun Jahren endlich wieder ein Treffen. Ich wusste gar noch nicht genau, worüber ich mit ihr hätte sprechen können, und für den Fall, dass ich in Verlegenheit geriete, überlegte ich schon vorher einige Stichworte. Es waren die bereits erwähnten Themen, aber ich wollte sie auch noch überraschen.
Das Treffen verlief noch schöner, als ich es erwartet hatte. Es überraschte mich doch sehr, dass sie so nachdenklich war und mir recht gab, dass es besser sei, Bücher zu lesen, auch wenn deren Handlung frei erfunden sei, als nur Tratsch weiterzugeben oder Stammtischgespräche über Politik zu führen. Sie erzählte außerdem, dass auch sie sich in dem Spanischkurs nicht wohlgefühlt und ihn im darauffolgenden Semester abgebrochen hatte. Die Jahre darauf waren vom Berufseinstieg geprägt – sehr viel Stress –, aber es gab auch schöne Momente, wie Urlaube.
Auch ich wollte noch darauf eingehen, was ich in den letzten neun Jahren getan hatte, und fasste zusammen, was ich gelernt hatte: „Es ist am wichtigsten, bewusster – auch auf die kleinen, zunächst unscheinbaren Dinge – zuzugehen. Wir lernen bald, nur das Große, Erhabene zu ehren, und wir schätzen andere, alltägliche Erfahrungen, die wir für trivial oder unbedeutend halten, klein und das möchte ich an einem Beispiel zeigen: Wie sehr gefielen mir die Spaziergänge im Hain, die Abende bei einem Film vor dem Fernseher oder auch nur ein Besuch in einem Café, aber vor neun Jahren habe ich das noch nicht so wahrgenommen und wollte lieber etwas Großes erleben. Eine Expedition, möglicherweise. Heute wäre ich glücklich, ich könnte einen Vormittag in der Kleinstadt flanieren und dabei ein paar Kuriositäten in den Schaufenstern entdecken oder mit einigen Menschen ins Gespräch kommen.“ Dabei unterbrach mich meine Gesprächspartnerin und sagte: „Genauso ging es mir auch. Aber ich habe relativ früh schon Erfahrungen gemacht, die mich glücklich gemacht haben – in meiner Arbeit als Pädagogin oder bei Spieleabenden. Da habe ich wirklich einige sehr schöne Stunden erlebt.“
„Eine andere Erfahrung, die ich gemacht habe, ist, dass sich doch vieles im Laufe der Jahre zum Besseren entwickelt hat. Es war doch meistens übertrieben, zu denken, dass mir doch nichts gelingt, wenn es nur etwas Zeit gebraucht hat, dass sich die Dinge geklärt haben.“ Sie erwiderte: „Das stimmt. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so gut deutsch spreche, aber mit der Zeit ist dies von alleine gekommen.“
„Ein Drittes wäre die Nostalgie. Wenn ich alte deutsche Filme aus den 1970er Jahren sehe, empfinde ich eine Sehnsucht nach der Mode und dem Design und möchte gerne wieder in einer Zeit leben, in der ich noch nicht geboren war. Aber es gibt ja zum Glück Schallplattenläden, die diese Sehnsucht etwas stillen können.“ „Oder Vintage-Läden“, warf sie ein. „Dort habe ich selbst schon einige schöne Sachen gefunden.“
Inzwischen fühlte ich dasselbe Behagen, das ich damals gespürt habe. Ich merkte, dass unser Gespräch nun zu einem Ende kommen würde, deshalb kam ich zu meiner Überraschung: „Da ich damals sehr schüchtern gewesen bin, dich aber immer toll fand, möchte ich mit dir etwas unternehmen, sozusagen etwas nachholen, was ich vor neun Jahren mit dir gerne getan hätte.“ „Und was wäre dies?“, fragte sie aufgeregt. „Ich hätte gerne mit dir einen Ausflug in eine andere Stadt gemacht. In keine Großstadt, sondern in eine der Nachbarstädte. Wenn ich mich damals mehr getraut hätte, wäre ich gerne mit dir nach Aschaffenburg gefahren, wir hätten die Stadt besichtigt und es uns in einem Park gemütlich gemacht. Bist du damit einverstanden, dass wir das nach neun Jahren nachholen?“
„Einverstanden!“, sagte sie, dabei spürte ich in ihrem Gesicht so etwas wie Herzenswärme.
Michael Bauer
www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 25078
Erinnertes, Geschriebenes
Darüber geschrieben hast du ja schon oft. Zuerst vor einigen Jahren über die junge Frau, die du im August 2000 in der Jugendherberge in Waldhäuser beim Frühstücksbuffet gesehen hattest. Besonders fiel dir an ihr auf, dass sie eine schöne Hose im Hahnentrittmuster trug. Mehr wusstest du von ihr nicht und damals warst du noch viel zu schüchtern, sie anzusprechen.
Dann, 2001, Jana, die Gastschülerin, die du gerne einmal in ihrer Wohnung besucht hättest und der du eine Landkarte aus der schuleigenen Kartothek mitgebracht hättest, um mit ihr über Geographie zu sprechen. Im Jahr darauf war es Katerina, die Schwester eines Gastschülers, die dich in ihren Bann zog und nach der du dich bei einem gemeinsamen Spaziergang durch die Stadt umgedreht hast.
Aber vor allem war es Natalia, die sich im Spanischkurs neben dich gesetzt hat und dir ihre E-Mail-Adresse gegeben hat, bei der du aber eine Blockade verspürt hast, ihr zu schreiben. Später suchtest du nach ihr, aber du fandest nichts mehr, wie du es beschrieben hast.
Was war es, in diesen Begegnungen, das dich in den Bann zog? Und ist so etwas wie Liebe überhaupt möglich, auch ohne Kontakt, ohne Adressen, ohne Gespräche? Gibt es einen Menschen, der für dich vorbestimmt gewesen ist, oder verliert sich alles in Wahrscheinlichkeit oder Banalität?
Hättest du auch nur einmal die Möglichkeit, eine Karte zu schicken oder einen Gruß zu bekommen – wie viel würdest du dafür geben? Vielleicht einen Moment des Nachdenkens, des Was-wäre-wenn?
Ein, zweimal ist dir das Unmögliche schon gelungen. Und ob du daran aufbauen solltest? Das zu schätzen lernen, was du hast und das, was du schon erleben durftest?
Michael Bauer
www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 25092
A Sentimental Journey
„In Regen kann’s zwieseln,
aber in Zwiesel kann’s nicht regnen“,
sagtest du dir.
Und wart glücklich zu zweit
auf eurer herbstlichen
Wanderung.Von einer Bank zur nächsten
durch Wälder und Felder.
Gelb, schwarz und braun
bis zum abendlichen Wein.
Aber ansonsten verlor sich
jede Spur.Hätte ich dich doch
früher gekannt.
Sagen wir:
Vor einem halben
Jahrhundert.
Mir ginge mein Herz
über
vor so viel Schönheit.
Michael Bauer
www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 24119
Mein Leben mit A.
Es waren zwei Figuren, die der eher naiven V., die ebenso sicher ihren Platz im Wiener kulturellen Leben zu verteidigen wusste, als auch A., die es eher verkrampft, aufsteigerisch dazu bringen wollte: der Drang über anderen stehen zu wollen, kulturell, intellektuell, moralisch. Nichts auslassen zu wollen: Kultur als eine Möglichkeit, das Leben ändern zu wollen. Ebenso nahbar wie andererseits unnahbar.
Ich hätte mich nicht mehr erinnern können, wann der Regen begonnen, noch, wann er wieder aufgehört hatte. Die Situation, die – historisch betrachtet – auch als Brautlauf betrachtet worden war: Sie zur Rechten, ich zur Linken. Ich den Regenschirm haltend, wortlos.
Das eigentlich Sonderbare war die Abwesenheit von wechselseitiger Aggression, also auf beiden Seiten, und vielleicht hätte ich die Sicht der anderen Person doch kennenlernen müssen.
Denn siehe, der Winter ist vorbei, die Regenzeit ist vorüber, ist vergangen.
Nicht einmal das genaue Aussehen ist ihm geblieben außer den dunklen Haaren, und als er später einmal ihr Gesicht auf einem Foto gesucht hat, ist er erschrocken, dass er nichts mehr finden konnte. Die erste nicht wahrgenommene Gelegenheit.
Was mir noch an ihr aufgefallen war seit unseren ersten Gesprächen: Sonnenbrille, ein neongelbes Kapuzenshirt und ein abgeschnittenes bonbonfarbenes Stück einer Gardine, das sie damals darunter getragen hat, gewissermaßen als Rock: „Ganz so irre dürfen Sie sie sich auch nicht vorstellen“, sagte ihre Mutter einmal, sie habe schon ein gewisses Niveau, und wenn sie in eine Aufführung geht, dann ist alles in bester Ordnung, dann ist sie äußerlich wahnsinnig gepflegt. Dazu kommt noch die Schönheit unbefangener Gespräche: Sie war darin Weltmeisterin.
War diesen Gesprächen aber nicht immer auch zu eigen, dass in ihnen vor allem die Langeweile erstarb, welche den Ich-Erzähler durch das Aufwerfen der Fragen und Gedanken, die sie immer und immer wieder vor sich hergetragen hatte, aber den anderen um sich herum verschwiegen hätte?
Belanglosigkeiten. Mit Belanglosigkeiten provozieren. Die Kunst, dass einem dies auch gelang.
Eigenartig, dass sich ein solches Entsetzen über Beiläufigkeiten manchmal wiederholen konnte. Theoriebildung auch über die am weitesten hergeholten Ereignisse:
Der Tiananmen-Jahrestag war vorgestern, darauf muss man aber auch erst mal kommen, und wenn die Chines/Innen vielleicht etwas mehr Glück gehabt hätten, so sagte es mir gestern wieder A., wer weiß, ob die Europäische Gemeinschaft nicht längst schon den Laden dichtgemacht hätte. China ist halt anders. Bei uns legitimiert sich die Macht der Politiker/Innen daraus, dass wir alle vier Jahre auf einen Zettel ein Kreuz zeichnen können, in China müssen die Politiker/Innen halt Leistung bringen, um ihre Legitimität zu bestätigen: Arbeitsplätze, Wirtschaftswachstum, Kindergartenplätze und so weiter. Ich finde diese Situation aber surreal. Denn obwohl sich viele Städte der Millionengrenze genähert haben, werden rasch Zweifel an ihrer Urbanität laut. Denn, wenn der/die geneigte Leser/in ebenfalls schon einmal in den Genuss eines Besuches westlicher Metropolen gekommen wäre, würde er/sie wahrscheinlich sehr schnell bemerken, wenn er/sie dort einmal gezielt nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden Ausschau hielt, dass letztere dann doch überwiegen dürften. Vielleicht hätte es ja etwas damit zu tun gehabt, es kann aber überhaupt nichts damit zu tun gehabt haben. Den Genuss des anderen stehlen, indem der Nichtgenuss des anderen genossen wird.
Sicher, wie Lilien blühen nur Lilien und war es nicht endlich an der Zeit, sich diese botanischen Metaphern ein für alle Mal abzugewöhnen?
Obwohl ich sie seit Längerem kannte, war unsere Nähe stets eine ambivalente – ich kann nicht dichten, das ist es. Und wenn ich diesen Raum noch einmal mit meinem inneren Auge betrachtete, dann ist mir dieser Moment immer noch so starr eingefroren da oben. Es erhob sich plötzlich ihre Stimme […] meine unbeschreiblich große Distanz zu diesem Menschen …
Sicherlich wäre es für seinen Charakter erbaulich gewesen, sich mit dem verschmutzten, seit dem letzten Winter vom Schimmelpilz befallenen hölzernen Klappgartentisch auseinanderzusetzen, aber nicht jetzt. Um 2:45 Uhr ein Taxi gerufen, zu Fuß nach Hause wäre jetzt nicht mehr möglich gewesen. [Auch eine Möglichkeit: der Dachboden; was früher hier passiert ist, interessiert keinen.]
Als wäre es das schon gewesen, sagte ich, bevor ich von ihr ging, dass ich nicht die Absicht gehabt hätte, hier meine Arbeit fortzusetzen, und irgendwann würde mir dies auch mit Sicherheit furchtbar leidtun, aber so weit sei ich gerade gefühlsmäßig noch nicht gekommen. Sie sollte das zu verstehen versuchen und ohne mich eine Lösung finden. Aber vielleicht wollte ich es ja gar nicht, so sehr hätte mich allein der Gedanke, dass meinem Gegenüber durch diese Bestrebungen alles zuwiderlaufen würde und sich der Graben zwischen uns beiden noch mehr auftun würde, aus meinen Tagträumen reißen müssen. Leider war diese Idee in meinem Kopf noch viel zu lebendig, als dass ich mich kurzfristig hätte davon losreißen können. Ich hoffte ja auch, endlich von dem Druck befreit zu sein, der sich jahrelang in meinem Inneren angestaut zu haben schien und den ich jetzt in einen gewaltigen Schlussakkord überführen wollte, gleichgültig, ob dessen Ergebnis gut oder schlecht ausfallen sollte. Wie in einem süßen Traum: Alles schien zu gelingen, du scheinst dich wohlzufühlen, du kannst dein Glück noch nicht fassen, bist aber dennoch ständig getrieben, eine Kleinigkeit erledigen zu müssen, bevor du dein Glück genießen darfst. Und dann ist es meistens auch schon wieder zu spät.
Ausbilden: Einen Menschen aus ihr machen, vielleicht war das mein Plan und sie auch dazu bringen, wo er sich nie sehen konnte: Verwirklichen all die hehren Gedanken, die er mit sich herumgetragen hatte …
Michael Bauer
www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 24070
Ein einziger hundert Jahre andauernder Sonntag
Begrüßenswerterweise hat er heute die Verwaltung der Bibliothek übernommen. Nicht so, dass er es ungern getan hätte, aber es war damals im Oktober noch sehr warm draußen und die Sonne schien und er hätte sich auch in anderen Teilen der Stadt aufhalten können. Es war der Sommer im Jahre 2008. Es waren Olympische Spiele in Peking und der Krieg um Südossetien. Wärmere Gedanken, als ich noch über die Dächer blicken konnte. Haus und Chaos sind ein Minimalpaar, oder etwa nicht?
Außenpolitisch ist Erdogan längst
Es gibt von Zeit zu Zeit Vorkommnisse, die sind nicht einfach nur im Vorübergehen zu erklären, schon gar nicht, wenn man versucht, nur die einfachste Alltagssprache zu verwenden.
in anderen Sphären. Von der EU
Was damals gewesen ist: In einigen Tagen kann es anders werden.
hat sich der Autokrat verabschiedet.
Manchmal geht es ganz schnell. Eine Person, ein Gegenstand, an den man sich noch erinnern konnte, ist einfach weg. Von einem Tag auf den anderen.
Sie hat ihre Schuldigkeit getan, als ihr
Er fragte sich neuerlich, warum gerade er die letzten Tage nicht so zugebracht hat, wie er es eigentlich vorher geplant hatte.
der einstige Annäherungsprozess die
Nicht, dass er es wirklich gewollt hatte, aber das gewünschte Ergebnis seiner Planungen hatte sich nicht im Geringsten als tragfähig erwiesen, schlimmer noch: Die Unerfüllbarkeit seiner Vorstellungen hätte ihm von Anfang an bewusst sein sollen.
Ausrede dafür lieferte, seinen größten
In einer lauschigen Nacht traf ich damals eine junge Frau mit langen, lockigen Haaren. Sie trug eine Jeans mit Ledergürtel. Auch sie ist sehr schnell verschwunden.
Gegner, die Armee, zu entmachten.
Worin man sich doch auch noch getäuscht haben könnte. Vor allem dann, noch, auch wenn man gesehen hat, dass die Jahre anders verlaufen sind, damals. Und du sagtest doch, damals, ich könnte jederzeit zurückkehren.
Schon sind die Ziele größer, der Wunsch
Fünfzehn Jahre danach erinnerte ich mich an sie und machte eine Zeichnung, die ich ihr widmete.
Aber das ist zu wenig. Ich erinnerte mich, aber konnte mir nicht vorstellen, wer sie war.
nach Ausweitung seiner islamisch-konservativen
Leider kannte ich diese Person nicht. Ich hätte diese Person gerne kennengelernt. Oder ich hätte wenigstens ein Wort mit ihr gewechselt. Von woher das Wohlgefühl stammt, das ich von ihr bekommen habe, weiß ich nicht.
Herrschaft stärker.
Auch sie ist eine Verschwundene.
(News 38, 6.6.2015, S.19)
Es vergeht ein Tag wie der andere.
Nur das hat der eine Tag mit dem anderen gemeinsam.
Schnell hat man gemerkt, dass für diesen Traum
nicht war Raum, nicht war Zeit.
Es zerrinnen mir die Tage
meines geliebten Lebens
wie Sand.
Michael Bauer
www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 24048
Die schöne Unbekannte
Zum ersten Mal traf ich sie in der Bibliothek. Das war gleich nach Neujahr. Ich setzte mich neben sie und bemerkte, als sie ging, dass sie einen schönen gemusterten Schal trug.
Die erste Begegnung blieb folgenlos. Ich ging meinen Tagesgeschäften nach und beschäftigte mich mit anderen Dingen. Es war mir klar, dass ich nicht allein sein wollte und dass diese junge Frau mit dem gemusterten Schal eine gute Gelegenheit gewesen wäre, sich zu verlieben. Leider wusste ich über sie so gut wie nichts. Und dass ich so gut wie nichts über sie wusste, versetzte mich in einen sehr unangenehmen Zustand: Ich hoffte sehr darauf – so unwahrscheinlich es auch war – , dass ich sie wiedersehen und mich mit ihr austauschen könnte.
Eine dieser Gelegenheiten war eine Veranstaltung in einem Jugendzentrum, wo ich hoffte, sie wiedersehen zu können. Ich war schon voller Vorfreude auf dieses Treffen, aber leider war dieses Zentrum, von dem ich nie zuvor etwas gehört hatte, zu weit außerhalb der Stadt und ich kam nur bis zur Endstation der Straßenbahn. Von dort an ging ich am Abend einige Kilometer weit, aber das Jugendzentrum war, wie gesagt, nicht zu finden.
Als ich sie zum zweiten Mal traf, ging sie im Sommer mit einer Sonnenbrille die Stiegen in der Universitätsbibliothek hinauf. Ich hätte sie ansprechen können. Aber es bot sich mir keine Gelegenheit.
Ich hatte eigentlich gar nicht mehr damit gerechnet, sie wiederzusehen und war mir im ersten Moment auch noch nicht sicher, ob es sich um die selbe Person handelte, die ich schon zu Beginn des Jahres gesehen hatte.
Dieses zweite Mal des Sehens war für mich schon etwas vager. Ich verspürte nicht mehr das große Bedürfnis, dieser Person näherzukommen, aber dennoch war wieder etwas mit mir geschehen, das mich in seinen Bann zog.
Es vergingen einige Jahre und die Frau geriet in Vergessenheit. Ich weiß nicht, was es ausgelöst hat, aber eines Tages ergriff mich plötzlich die Erinnerung an diese Person sehr stark. Zwar konnte ich nur erahnen, dass sie Michaela hieß und Pädagogik studierte. Auch an ihre warmen Worte „Auf Wiedersehen und einen schönen Tag dir noch!“ erinnerte ich mich. Zu dieser Zeit lebte ich schon in einer anderen Stadt und war ihr entfernter. Entfernter noch als an diesem Tag im Jänner, als ich das Jugendzentrum suchte. Wenn es doch irgendwie möglich gewesen wäre, ihr von mir etwas zukommen zu lassen. Einen Liebesbrief oder ein Geschenk. Oder ihr einen Gefallen tun.
Mich ergriff die innere Leere. Und es gab nichts, womit diese Leere auszufüllen gewesen wäre. Ich übte mich im Zen.
Eines Tages streifte ich wieder durch die Stadt und ich hatte die vage Hoffnung auf eine ähnliche, aber neue Begegnung dieser Art. Nach einigen Minuten des Umherflanierens sah ich den Eingang eines indischen Restaurants. Da mich die exotische Speisekarte sehr reizte, trat ich ein und bestellte mir ein Curry. Die Gedanken an Michaela würden stärker, und als ich das Essen serviert bekam, merkte ich anfangs noch nicht, wie stark das Vindaloo gewürzt war. Ich nahm einen Bissen und noch einen Bissen. Dann ergriff mich die Schärfe und ich war kurz davor, in Ohnmacht zu fallen. Ich kämpfte mit mir, da es mir schwindlig wurde, und mir schnürte es die Kehle zu. Mir tränten die Augen und die Außenwelt wurde immer verschwommener.
In diesem Moment sah ich Michaela noch einmal in der Bibliothek, diesmal in einem Sommerkleid und mit einem Strohhut. Sie sah mich lange an, dann begann sie zu lächeln.
Nach einer Weile, die sich für mich wie eine Ewigkeit angefühlt hat, sagte sie:
„Schön, dass du die ganze Zeit an mich gedacht hast.“ Und verschwand.
Natürlich war der letzte Teil meiner Geschichte erfunden und das Erlebnis im indischen Restaurant hat es nie gegeben. Dennoch – soweit es mir noch möglich ist – möchte ich die Erinnerung an Michaela festhalten. Ihr sei diese Erzählung gewidmet.
Michael Bauer
www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 24034
Ohne germanistisches Gespür
„Warum haben Sie nicht Theologie studiert?“, fragte der Therapeut, selbst studierter Theologe, den Germanisten. Dem Germanisten war die Herablassung des Therapeuten zuwider. Wie konnte er dessen Studienwahl nicht nur nicht würdigen, sondern als Fehler verstehen?
Aber lassen wir es, uns über einen Menschen zu ärgern, der alles andere außerhalb des eigenen Horizonts geringschätzt, und gönnen wir ihm das Gefühl, sich stolz wie der Hahn auf dem Misthaufen zu fühlen. Denn daran gibt es nichts zu rütteln: Er ist halt ein Banause.
Michael Bauer
www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 23191