Kategorie-Archiv: Christoph Stantejsky

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Geschwurbelt

Die Sonne geht schon früh unter in diesen Tagen, ihr Licht hat auch nur wenig Kraft, gerade einmal genug, um den luftigen, in zartem Orange und Magenta gehaltenen Vorhang leuchten zu lassen.
Ein Leuchten, das die beiden alten Herren wieder anzieht, sie hier ihren Tee hier trinken lässt.
Es sind die Farben des Frühlings und des Sommers, die ihnen etwas Zuversicht in die Gesichter zaubern – auch wenn es bis zum Frühling noch drei Monate hin ist.

Vor drei Tagen haben sie sich hier kennengelernt, heute ist das etwa halbstündige Gespräch aber bereits Tradition. Dabei leben sie schon viele Jahre in dem Heim, ihre unterschiedlichen Gewohnheiten haben sie sich davor aber noch nie treffen lassen: Adam ist mehr der Morgenmensch, wartet jeden Tag minutenlang auf den Sonnenaufgang – es ist genau die Zeit, in der sich Bedam hinlegt; Adam speist mit den anderen im großen Saal – Bedam kennt den nicht, war da noch nie drin, hatte sich schon bei seiner Einweisung ausbedungen, das Essen in seinem Zimmer einzunehmen. Es ist stets kalt, Bedam speist jeweils zwölf Stunden nach Lieferung.

Die Jahreszeit hat es nun – als Schnittstelle – ermöglicht, dass sich die beiden jetzt eine halbe Stunde lang einander widmen.

– Im Mai war ich das letzte Mal daheim ... Die Spatzen sind durch die Luft geschwirbelt ... Ich bin an einem Bächlein gesessen, das vor sich hin geschwarbelt hat ... –
– Das Bächlein hat geschwarbelt? ... Du meinst wohl: Es hat geschwabbelt ...? –
– Nein! Das Bächlein hat geschwarbelt ... Ich finde, dieses Wort beschreibt es besser ... –
– Na gut. –
– Also ich sitz da am Bach, plötzlich wird es dunkler. Die Wolken haben sich geschwärbelt. –
– Geschwärbelt? –
– Ja. –
– Dann ist diese Maschine gekommen und hat ein gleich nebenan gelegenes Wäldchen geschwerbelt –
– Geschwerbelt? –
– Ja. Na sicher: geschwerbelt. Dann haben sie die Bäume geschworbelt und die Stämme geschwurbelt. Damals habe ich geschwörbelt, nie mehr dahin zurückzukehren ... Ja, ich habe es geschwürbelt ... –

Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Sonne hinter den Bäumen auf dem nahen Hügel untergeht, ein leichter Hauch von Abendwind pludert die jetzt samtenen Farben des Vorhangs zu einem ergreifenden Schauspiel, dem beide ihre volle Aufmerksamkeit widmen.
Dann ist Bedam dran.

– Letzten Mai war ich in der buckligen Welt ... Viele Ausflügler sind da herumgeschwimmelt. Das war mir aber egal, hab einfach weiter vor mich hin geschwammelt ... –
– Geschwammelt? ... Meinst du: Spazierengehen? ... Oder: Wandern? –
– Nein, ich bin geschwammelt ... Das trifft es meiner Meinung nach mehr. –
– OK. –
– Alles war gut, aber dann hat es plötzlich vor tausenden Menschen geschwemmelt –
– Geschwemmelt? –
– Ja! ... Es waren wirklich sehr viele ... naja, tausende waren es nicht, da hab ich ein bisschen geschwummelt –
– Geschwummelt? –
– Na sicher ... es waren nur vielleicht zwanzig oder dreißig. Ein paar von ihnen sind in einem Teich geschwommelt, obwohl es sehr kalt war ... Ein Pärchen hat keine dreißig Meter davon ... hahaha .... miteinander geschwämmelt ... Und ich bin mir sicher: Kaum wieder unten im Dorf haben sie dann in der Kirche geschwömmelt ... –

Mit jeder Sekunde verliert der Vorhang an Farbe, das Orange wird zu einem Grau, das Magenta zu einem anderen, Adam und Bedam sehen die letzten Strahlen der Sonne hinter Bäumen auf einem nahen Hügel erlöschen: Adam gähnt, es wird Zeit für ihn schlafen zu gehen; Bedam streckt sich, überlegt sich, was es heute für ihn zu tun geben wird, auch wenn er weiß, dass es für ihn nichts mehr zu tun gibt.
Auf den Sonnenuntergang beim luftigen, in zartem Orange und Magenta gehaltenen Vorhang freuen sich aber schon jetzt beide.

Christoph Stantejsky

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 17042

Der Fremde

Die Bar ist nicht gut besucht, nur ein Pärchen sitzt stumm vor den Gläsern, deren Rest sie problemlos mit einem halben Schluck leeren könnten. Sie warten damit, schließlich ist der Abend lang und die Geldbörse dünn. Der Kellner wird sie nicht fragen, ob sie noch ein weiteres Bier haben wollen, solange im Glas noch etwas drin ist, sich noch irgendein Bläschen an die Oberfläche schwindelt.

Nein, es ist zu früh für eine neuerlich Bestellung, sie haben das schon vor dem Eingang ausführlich diskutiert: Wenn sie zusammenlegen, reicht es für fünf Krügel für sie und sieben für ihn. Das ist etwa die Menge, die sie zum Einschlafen brauchen, zu Monatsbeginn ist das Verhältnis 8:12.
Der Kalender da hinten über dem brummenden Kühlschrank behauptet, dass heute Mittwoch ist, Mittwoch der 24. September. Da hat wohl wer vergessen, den Mittwoch, den Donnerstag und den Freitag abzureißen, denn das stimmt nicht ganz, die beiden haben kurz gekichert, wie sie das gesehen haben, wissen sie doch, dass heute bereits Samstag ist, der 27., es also nur mehr drei Tage dauert, bis die Renten am Konto landen. Auch das haben sie sich schon vor der Tür ausgerechnet, schon um die heutige Ration und deren Einteilung zu berechnen.

Der Kellner, er ist nicht von hier aber trotzdem nett, kommt von irgendwo aus dem Süden – aus Serbien, Albanien oder dem Kosovo, oder noch weiter südlich, Griechenland, Türkei, Tunesien, oder vielleicht mehr aus dem Osten, Tschechien, Ungarn, Ukraine ... ist ja aber auch scheißegal, in ein paar Wochen wird wieder wer anderer da sein, und auch wieder nach ein paar Wochen weiterflüchten, nach England, nach Schweden, nach Amerika.

Adam und Eva sind sehr liberal: Es ist ihnen egal, woher der Typ kommt, sie wollen nur nicht angesprochen werden, der soll weiter und zum wiederholten Mal die Gläser polieren, auch wenn sie trotzdem nicht sauber werden wollen, sie aber in Ruhe lassen. Die beiden tauschen diese Gedanken völlig ungeniert aus – sollte sie der Mann verstehen, wäre es ihnen auch egal, schließlich soll er froh sein, was zu tun zu haben, und immerhin ist hierzulande immer noch der Kunde König. Und die Kundin Königin, wie Eva kurz lächelnd feststellt.

Ahmed poliert weiter Gläser, die schon lange keine Flüssigkeit oder ein sauberes Tuch gespürt haben, aus dem Hintergrund tönt Musik mit deutschen Texten, in denen es um verlorene Liebe und Mütter geht, um den Juchaza, der auf hohen Bergen automatisch, quasi wie von selbst, der Brust entspringt und so ins tiefe Tal tönt, wo es dann alle hören, um die inbrünstige Liebe zum Heimatort mit Seitenhieben auf die beiden Täler daneben, denen – etwas verklausuliert – die Pest an den Hals gewünscht wird.

Die Lautsprecher sind aber schon ziemlich desolat, nur wirkliche Kenner könnten aus dem akustischen Brei heraushören, dass es sich dabei um österreichische Folklore handelt. Adam und Eva vermuten jedenfalls, dass es sich dabei um arabische Lieder mit ketzerischem Inhalt handelt, mit dem dieser Moslem, oder was immer er ist, sie übers Unterbewusstsein zum Tschihad oder irgendeinem anderen heiligen Krieg hypnotisieren will. Sie sind auch deshalb etwas angespannt, lange sitzen Adam und Eva vor ihren Gläsern, blicken immer auf die große Uhr hinterm Tresen, auf der die Zeit korrekt abgebildet zu sein scheint: Zehn Minuten vor neun, also noch zehn Minuten bis zur nächsten Bestellung – sie haben sich ausgemacht, um neun Uhr den nächsten halben Liter reinzuleeren, die anderen dann im Halbstunden-Takt: So kommen sie noch vor eins nach Hause, wo sie dann übereinander herfallen werden.

Dabei: Adam will schon seit längerer Zeit gar nicht mehr so sehr über Eva herfallen, macht es eigentlich nur ihr zuliebe, würde am liebsten gleich so richtig schlafen. Eva geht es nicht anders: Sie spielt nur mit, um Adam den Gefallen zu tun, eigentlich würde auch sie lieber nur einfach schlafen. Gut, von Zeit zu Zeit will sie es ja auch, an den christlichen Sonn- und Feiertagen beispielsweise. Der exakt gleiche Gedanke schleicht zeitgleich durch Adams Kopf. Obwohl sie sich so viele Sachen ganz genau ausmachen – das haben sich noch nicht ausgemacht, dieser Abend im Pub sollte ihnen aber die Gelegenheit geben, dieses Thema endlich einmal anzusprechen, Adam hat sich das für heute vorgenommen, Eva auch.

Beide wollen damit die paar Minuten bis neun noch warten, mit einem frischen Bier lässt es sich besser reden. Gleichzeitig holen sie sich zur Überbrückung ihr Handy, Eva aus der Handtasche, Adam aus der Jean, beide tun, als würden sie daraus wichtige Erkenntnisse gewinnen, sind glücklich, ein paar Minuten nichts sagen zu müssen. Der Kellner poliert ein nächstes Glas, die Boxen leeren neuen Brei drüber, Eintagsfliegen hauchen freiwillig vorzeitig ihr Leben aus, dabei hätten sie sich dafür noch ein paar Stunden Zeit lassen können.

Christoph Stantejsky

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig |Inventarnummer: 16126

Feuerzeug

Das Bic hat er sich nicht gekauft: Es ist irgendwie gekommen, auf einmal dagewesen, da wo kurz vorher noch gar nichts war, nämlich in seiner Hand, da war es auf einmal, hat dann seinen Weg in Haralds Hosentaschen wie von selbst gefunden, ganz ohne willentliches Zutun von Harald selber. Egal welche Hose er sich anzieht, egal welche Lade er aufmacht – in jeder Tasche, in jedem Sackerl findet sich eines der Dinger, mal schlicht einfärbig, mal beschriftet, besonders viele kommen vom Sägewerk Prödl, was ihn oft irritiert, gehört ihm doch das Unternehmen nicht, kennt er auch keinen Menschen, der da arbeitet, außerdem liegt es gut zweihundert Kilometer südlich in einem anderen Bezirk, einem anderen Bundesland, Harald hat das gegoogelt.

So ist das heute, er kennt es aber auch anders: Im letzten, gnadenlosen Winter durchstöberte er die ganze Wohnung, fand nirgendwo ein Feuerzeug, auch keine Streichhölzer; keine Steine, mit denen er Funken schlagen , kein Stroh, das einen davon auffangen hätte können. Damals arrangierte er am E-Herd ein paar schlanke Späne, die er sich aus seinem Kochlöffel geschnitzt hatte, zu einem kleinen Lagerfeuer, darunter platzierte er die Watte eines ungebrauchten Tampons als Futter, drapierte es noch mit hauchdünnen Streifchen, die er aus dem Klopapier gefuzelt hatte – das Flämmchen brennt aber nur kurz – die Zigaretten liegen noch im Zimmer, die Späne fangen das Feuer nicht wirklich, Harald kommt zu spät zurück.
So ist er doch noch runter auf die Straße, die wenigen Passanten rauchen nicht und fürchten sich vor dem Mann, der sie, mit einer Zigarette im Mundwinkel, eine zweite in der anderen feuchten Hand, seltsam ansieht – so als wollte er sie gleich was fragen. Sie wechseln die Straßenseite, so bald sie ihn sehen und beschleunigen ihre Schritte, so bald Harald Anstalten zeigt, eine Bewegung in ihre Richtung zu machen.

Seine Freunde kennen diese Geschichten, schon seit Jahren stecken sie ihm ab Ende September Feuerzeuge zu, lassen ihre unbeaufsichtigt vor ihm liegen. Ende Oktober ist dann Haralds kleine Wohnung so bunt wie der Frühling: in der Küche zu farbenfrohen Grüppchen arrangiert, im Zimmer nach Grundfarben zusammengefasst, auf der Stellage vor den ungelesenen Büchern in einer lange Doppelreihe platziert – diese Exemplare sind mit Werbeaufschriften versehen, Harald ordnet sie täglich alphabetisch nach den Anfangsbuchstaben der Firmen, die diese Feuerzeuge unters Volk streuen. Auch dieses Jahr ist das Sägewerk Prödl prominent vertreten, Harald reiht sie unter „P“ ein, nicht unter „S“.
Auf der Fensterbank, auf und in der Vitrine, am Spülkasten im Klo, auf und im Alibert, auch auf Tisch und Sessel kugeln ein paar, noch nicht sortierte, herum – es müssen tausende Bics sein, die seiner Bleibe einen etwas seltsamen, aber doch irgendwie lustigen, frohen Eindruck verleihen.

Der November und die ersten beiden Dezemberwochen sind Haralds Hoch-Zeit: Er ist stets gut gelaunt, lässt keine Party, kein Konzert aus, er ist überall anzutreffen, wo sich mehr als fünf befreundete Seelen zusammenrotten. In dieser Zeit geht er nicht aus dem Haus, ohne eine stattliche Anzahl der Feuerzeuge mitzunehmen, alle Taschen seines Sakkos beulen sich fast obszön, und er geht mit seinem Vorrat äußerst großzügig um: Er verschenkt sie wie selbstverständlich bei jeder Gelegenheit, drückt an der Busstation einer Greisin eines in die Hand, auch wenn sie nicht weiß, wie ihr geschieht, beglückt den Buschauffeur mit einem roten, die anderen Fahrgäste mit andersfarbigen Bics, bevor er sich hinsetzt.
In der Stadt angekommen, lässt er mit jeder gerauchten Zigarette einen der Feuerspender liegen, sein Sakko wirkt bald unnatürlich, auch wenn sich in seinen vielen Taschen und Täschchens nur mehr wenige befinden. Es geht sich stets gut aus, vor seiner Haustür zündet er sich eine letzte Zigarette an, nimmt das letzte verbliebene Bic sicherheitshalber mit rauf.

Es reicht jeweils bis knapp zum Jahreswechsel. So ab der dritten Adventwoche wirkt Harald nicht mehr so eloquent, so freundlich, so rund, wie ihn seine Freunde kennen – auch wenn es nach dem ersten Blick noch so scheint, aber selbst darin ist bereits eine gewisse Nervosität zu erkennen.
In der letzten Woche des Jahres Harald sieht nur mehr seine beiden vertrautesten Freunde und das auch nur in seiner Wohnung, die nun farblos wirkt, grau in grau wie das Schwarz-Weiß-Foto von ihm als Kind – diesem jungen, Gesicht, das ihn ständig aus einem kleinen Rahmen beobachtet: Vom Schreibtisch aus hat es auch einen guten Überblick über Haralds Reich.

Harald ist unaufmerksam, lädt das Handy, auch wenn er es nur mehr kurz und bei dringendem Bedarf einschaltet, sucht beständig irgendwas lange, bis er vergisst, was er eigentlich gesucht hat, überprüft ständig den Wasserstand der ‚Estufa Hidroponica’, die er hydrokulturell aufzieht  –  seine Freunde, die nur mehr die Sorge um Harald zu ihm bringt, bleiben jeweils nur kurz.

Harald lässt Silvester aus, rettet sich ins neue Jahr mit Feuerzeugen, die er noch in der einen oder andere Hosentasche findet, in einem schon so lange nicht mehr angezogen Anzug, in einem der vielen Schränke, vielleicht ganz hinten in der Brotlade, versteckt im Sommerschuh, vergraben in der eigentlich für die Petersilie gedachten Erde im Blumentopf in der Küche. Als letzten Ausweg gibt es noch auf kurzer Schnur vom Balkon herabhängende, ständig Wind und Wetter ausgesetzte Exemplare, vorsorglich hat er sie in kleine Plastiksäckchen eingeschweißt. Es handelt sich um völlig ungebrauchte, farbriksneue Reklame-Tools vom Sägewerk Prödl, genau so wie die Chance, die er in besseren Zeiten, mit Resten vom Silvesterblei beschwert, im Spülkasten versenkt hat.

Der Jänner ist hart, gegen Ende des Monats findet Harald auch die beiden Balkon-Exemplare nicht mehr, was ihn halb verrückt macht: Er lebt in seiner Wohnung in einem geschlossenem Inertialsystem, aus dem, rein physikalisch gesehen, einfach nichts verschwinden kann und Harald hat seine Wohnung schon seit Wochen nicht mehr verlassen, keine Freunde mehr empfangen, weiblichen Besuch gibt es in dieser Jahreszeit sowieso nicht. Zigaretten hat er noch genug, er hat für die schwere Zeit sicherheitshalber fünfzehn Stangen Zigaretten gebunkert – es gibt aber kein Feuer, schließlich funktioniert auch die eiserne Reserve aus dem Klo nicht: Er hat wohl in den guten Zeiten schlampig gearbeitet – das Ding schwimmt in dem Plastik wie ein Goldfisch im Glas. Während es Harald im Backrohr bei nur fünfzig Grad und offener Tür vorsichtig trocknet, durchstöbert er die ganze Wohnung, findet nur Bestandteile von Feuerzeugen, allerdings keinen Zündstein, es gibt auch keine Streichhölzer.

Auch keine Steine, mit denen er Funken schlagen könnte, kein Stroh, das einen davon auffangen könnte. Er arrangiert am E-Herd ein paar schlanke Späne, die er sich wieder aus seinem bereits sehr seltsam geformten Kochlöffel schnitzt, zu einem kleinen Lagerfeuer, darunter platziert er die Watte des vorletzten ungebrauchten Tampons als Futter, drapiert es noch mit hauchdünnen Streifchen, die er aus dem Klopapier fuzelt. Die Zigarette hat er bereits im Mund – das Flämmchen brennt aber zu kurz oder Harald saugt etwas zu spät darüber, er zieht nur kalte Luft in seine Lunge, kalte Luft, die etwas nach Tabak schmeckt.

So geht er doch noch runter auf die Straße, die wenigen Passanten rauchen nicht und fürchten sich vor diesem Mann mit dem etwas seltsamen Blick und einer Zigarette im Mundwinkel, eine andere in der feuchten Hand.

Erst dann kommt der Februar, danach der März und so weiter.

Christoph Stantejsky

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? |Inventarnummer: 16125

Das absolute Nichts

Das ist das absolute Nichts, das allumfassendste Überhauptgarnichts. – Ich bin wach, ich bin ganz sicher wach. Ich bin da. Ich spüre aber nichts. Spüre ich was? – Nö.
Sehe ich, höre ich? Kann nicht die Rede davon sein, welche Rede? Ich kann ja auch nicht sprechen, auch wenn ich wirklich will: Hallo, alle miteinander! Ist da jemand?
Ich hab das nicht gehört, obwohl ich’s gesagt hab. Ich rufe. Wahrscheinlich hat das auch niemand gehört, vielleicht kann ich gar nicht rufen. Noch einmal: Hallo?!
Also ich hab’s nicht gehört. Wie soll das dann wer anderer hören? – Kann ich nicht nur nicht rufen oder bin ich auch taub? Ich höre jedenfalls nichts. Höre ich was? Nein.
Ich spür auch gar nichts.

Was gibt’s sonst noch, außer sehen und hören und spüren, ... ja: Riechen! ... Ich rieche aber auch nichts. Was ist das? Bist du der Himmel? Das Fegefeuer? Die Hölle?
Nein. Ich bin da, irgendwie zumindest. Und ich hoffe sehr, diese Sache jetzt möglichst schnell regeln zu können, hab schließlich anderes zu tun. Hoffentlich bin ich nicht tot und der ganze Zinnober hat nichts mit Religion zu tun.
Aber: Ich denke, also bin ich, ergo sum. Haha! – ja, ich denke ... also bin ich ... aber was?
Wer bin ich? Was bin ich? Ich bin ein Mann. Ja. – Und es gibt Frauen, aber ich bin keine, haha, ich bin ein Mann, das spür ich.
Spür ich was? – Eigentlich nicht. Wie geht Spüren? Ich werde jetzt meine Hände spüren, ich werde jetzt den Stinkefinger zeigen, den rechten Mittelfinger strecken – ich würde jetzt gerne sehen, ob er sich bewegt, bewegt er sich?

Aber da: Da ist doch was, ich spür was. Ist das im Kopf, im Herz, auf der Haut? Da! Ich hab es schon wieder gespürt, ich glaub, es war in der Nase, so ein ganz leichtes Kribbeln. Na eben.
Ich spüre was in der Nase, also bin ich. Also ... ich weiß, wo meine Nase sitzt ... gespürt habe ich da aber eigentlich nichts.
Sehen? – No; Spüren? – No; Hören? – No; Riechen – No. Aber Denken? – Yes.
Denken gehört nicht zu den fünf Sinnen. Sehen, Hören, Riechen, Spüren – was gehört, verdammt noch einmal, noch dazu? Fluchen sicher nicht.
Ah! Schmecken! Aber was soll ich schmecken, wenn ich nicht in ein Steak reinbeißen kann? Flößt mir ein Bier ein, damit ich weiß, ob ich schmecken kann ...
Ihr? Ja, es gibt andere. Es gibt andere und irgendwann wird wer kommen, und dann werd ich ... was werd ich dann ...? Ich werde gar nichts machen können – ich kann mich jetzt nur konzentrieren.

Ha! Ich hör was ... ich muss mich konzentrieren.
Ja, ich höre was. Aber was?
Es ist ein leises, grunzendes, ja zufriedenes Schnarchen. Juhuu, ich kann wieder hören: Es macht ‚grunz-schnarch-grunz-schnarch’! Da ist wer! Wer ist da? Wer schläft da neben mir?
Nein. Da ist niemand, es ist der Atem. Gut. Es ist mein Atem. Ich atme! Er klingt zwar ungesund, aber immerhin. Ich höre jetzt, ich atme!
Das ‚Grunz-schnarch‘ ist jetzt mehr ein ‚Duff-duff, duff-duff‘. Das könnt mein Herz sein. Haha! Mein Herz pumpt! Mein Herz pumpt und ich atme! Ich lebe! Jetzt klären wir noch den Rest und dann geht‘s weiter, ich habe viel zu tun.
Das Duff piepst jetzt auch. Jetzt macht es Pieps, so wie vorher das Duff!  – Immer wenn es Duff macht, macht es auch Pieps. Es ist mein Herz! Ich spür was, hör was, atme und mein Herz piepst – ich lebe! – Hurra, ich lebe.
Ha! Ich liege im Spital. Schlimmer noch wahrscheinlich: auf der Intensivstation. Aber wieso?

Wer bin ich? Ich hab‘s: Ich bin Christian, Christian Oberegger, geboren am 27. Juni 1996 in Eferding an der Donau. Ich bin römisch-katholisch, hab meinen Militärdienst absolviert und soll am Montag ... ist heute schon Montag? ... nach Frankfurt fahren.
Warum wird das ‚Duff-duff‘ langsamer? Kann da, bitteschön, nicht wer kommen und sich um mich kümmern?!
Was war da los?
Ich war, wie es scheint, ziemlich betrunken. Ja.
Aber wo?
Haha, ja! Am Nachmittag haben wir es uns schon ziemlich besorgt, haha, ja genau, der Ferdi, der Andi und ich. Ja, hahaha, und dann sind wir nach Linz, der Andi ist gefahren.
Genau, haha. Dann hat es diese Sache mit dem Mädel gegeben, sie hat geschrien und ich, wir alle, wollten schnell weg. Ja, ich bin dann gefahren, das war sicher keine gute Idee, so wie ich schon beinander war.

Warum ist das ‚Duff-duff‘ so langsam?
Der Andi hat gesagt: Nimm den Schleichweg, auf der Hauptstraße stehen sicher die Bullen, das Mädel, weiß gar nicht, wie sie heißt, wir haben sie mitgenommen, das war die Idee vom Ferdi, das war nicht meine Idee, ich schwör‘s, sie hat die ganze Zeit geschrien, auch ihre Freundin oder Schwester, noch jünger als die andere, Andi hat sie ins Auto gezogen, kurz vorm Wegfahren.
Ich hör es: Da ist nicht nur das ‚Duff-duff‘, da piepst es jetzt auch.
Mitten im Nichts ist dann in der Kurve dieser vertrottelte Traktor gekommen, was will der da um diese Tageszeit, hab ich mir noch gedacht, wir sind volle Kanne reingekracht in ihn.
Warum hört das Tuten nicht auf, warum tutet es jetzt dauernd ...

Christoph Stantejsky

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 16124

Der Schlafsack

Die Party ist aus, die Musiker haben längst ihr Instrumente verpackt und nach Hause gebracht, Martin ist noch mit ein paar Leuten am Lagerfeuer gesessen, das dann auch irgendwann ausgegangen ist wie das Bier, es dämmert bereits, der neue Tag bricht an, Martin sucht seinen Schlafsack, merkt, dass er zu viel getrunken hat, gegen Schluss haben auch Joints die Runde gemacht, er hat sich erstmals dran probiert und wird schon deshalb nicht mehr genau sagen können, wie lange er nach seinem Schlafsack gesucht hat.

– Hallo, Schlafsack! –
– Hallo Massa. –
– Schlafsack, wärme mich, aber nicht übermäßig ... Es ist ohnehin warm da. –
– Wie Massa wünschen ... Massa, darf ich mir eine Frage erlauben? –
– Na sicher, sag, was du mir sagen willst, Schlafsack. –
– Sie werden mir auch sicher nicht böse sein, Massa? –
– Nein, aber leg jetzt bitte los, ich bin müde. –
– Also, Massa ... –
– Und red mich nicht mit Massa an ... Ich bin der Martin. –
– Das freut mich, Herr Martin. –

– Jetzt sei nicht so steif, Schlafsack. Wir können doch ‚Du’ zueinander sagen – immerhin werden wir miteinander die Nacht, oder das, was von ihr noch da ist, verbringen ... –
– OK, Martin. Per Sie und mit ‚Massa’ hätte ich mir aber leichter getan ... –
– Jetzt komm schon raus damit: Was willst du von mir? Wenn du willst, kannst es mir ja auch in ein paar Stunden sagen ... Ich leg mich jetzt jedenfalls in dich rein. –
– Darum geht es ja auch ... irgendwie ... –
– Wieso? –
– Ich mag heute nicht. Mir geht‘s nicht so gut und würde gerne einmal alleine schlafen. –
– Bist du völlig durchgeknallt, Schlafsack? –

– Ich heiße Severin, Schlafsack ist nur mein Gattungsname ... und wir sind ja per Du. –
– Na gut. Aber pass einmal auf, Severin, es ist ja so: Du bist der Schlafsack und ich bin müde. Also werde ich mich jetzt in dich reinlegen. Das wär ja auch das Letzte, wenn mir der Schlafsack sagt, wann er, unter Umständen, bereit wäre, mich reinzulassen ... Als Nächstes kommt dann der Kühlschrank und sagt, er will einmal Ferien machen ... –
– Das kann dir durchaus blühen ... und ich bin der Severin. –
– Jetzt halt endlich das Maul, ich will schlafen! –
– Ich hab ja nicht mit der Kommunikation angefangen. –
– Gusch, Schlafsack ... Sever ... –
– Schlaf gut, Martin. –

– Weißt du was, Severin? Ich rede nicht mit Schlafsäcken! –
– Tust du aber gerade ... –
– Jetzt aber nicht mehr. –
– My Bonnie lies over the ocean, my Bonnie lies over the sea, My Bonnie lies over the ocean, O bring back my Bonnie to me. –
– Halt jetzt bitte dein Maul! Ich rede nicht mehr mit dir. –
– Ich rede ja gar nicht, ich singe ... –
– HÖR AUF!!! HÖR BITTE AUF!!! –

– OK, komm schon rein, Martin. Ich wollte dich nur verarschen ... –
– Ah, so ... Danke. Ich hab schon geglaubt ... –
– Komm rein, ich hab dich lieb. –
– Ja, ich dich auch. –
– Schlaf gut, Martin. –
– Danke, du auch, Severin. –

Christoph Stantejsky

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig |Inventarnummer: 16113

Österreich : Brasilien

Er hat siebzehn Tage nichts gesehen außer Tastatur und Bildschirm, nichts gelesen, außer endlose Befehlsketten, nichts gegessen außer Junkfood zwischendurch und zu den unmöglichsten Tageszeiten; keine Familie, keine Wärme, kein helles Kinderlachen, kein vernünftiges Gespräch, von Sex keine Rede; auch kaum geschlafen, nie geduscht, selten rasiert – drei Mal den „Tatort“ versäumt, auch wenn es versprochen war, sich den immer gemeinsam anzusehen.
Martin steht jetzt schon fast eine Stunde vor seinem Haus, dabei hat er sich seit zwei Wochen nichts sehnlicher gewünscht als diesen Moment: Nachhause kommen, duschen, baden, rasieren, Frau und Kinder küssen, was Vernünftiges essen, vielleicht einen Nachschlag und noch einen Humpen heben und dann schlafen, schlafen, schlafen, die ganze Nacht durch, schlafen, auch den ganzen Sonnentag lang.

Ding doing, ding doing – es wird schon Sonntag, Martin lehnt weiter am Gartenzaun gegenüber von seinem Haus, das der Bank gehört. In knapp 34 Stunden wird sich herausstellen, ob es bald seines wird oder er noch gut fünfzehn Jahre ganz tief in leere Taschen greifen wird müssen: Es hängt alles von dieser Präsentation am Montag um zehn ab. Wer wird dabei sein? – hoffentlich nicht dieser Hofer – könnten technische Probleme auftreten? – alles auf der sicheren Seite, but shit happens – wär es vom Konzept her vielleicht nicht besser, das Pferd noch einmal von ganz hinten aufzuzäumen? – ...
Es beginnt leicht zu nieseln, Martin bleibt unter einem großen Baum zwar trocken, trotzdem ist ihm klar, dass er all diese Fragen nicht hier heraußen wird klären können, außerdem muss er rauf: Er hat ja auch von hier unten mitbekommen, dass sich hinter dem schwach beleuchteten Fenster die Buben gestritten haben und Peter, der Ältere, dem kleinen Paul kräftig eine drübergezogen haben muss.
Natürlich hat er auch die beiden anderen Fenster zur Straße beobachtet, die von seinem Schlafzimmer, also ihrem Schlafzimmer, dem von Erna und ihm. Den weißen Vorhang treffen unrhythmische bläuliche Blitze – Erna sieht wie immer fern, Martin meint, am Rhythmus der Lichter erkennen zu können, dass sie sich einen Actionfilm reinzieht. Endlich löst er sich, geht rüber – es ist ihm auch schon kalt – und öffnet die Haustür leise. Leise hängt er auch Mantel und Jacke hin, vorsichtig schlüpft er aus den Schuhen, achtsam steigt er die Stiege hinauf, vermeidet die vierte Stufe, die immer knarrt – die Reklamation wollte er immer schon loslassen, spätestens am Dienstag wird sich der Tischler was anhören können.

Oben angekommen schleicht er zur Wand zwischen den Türen von Kinder- und Schlafzimmer. Im Kinderzimmer ist es jetzt leise, wär er gleich raufgegangen, hätte er den Buben noch gute Nacht wünschen können, sie noch was fragen, ihnen noch was erzählen können.
Die Tür zum Schlafzimmer ist nur angelehnt, die Blitze beleuchten einen Spalt des grässlichen Teppichs, der hier immer nur dann liegt, wenn sich Ernas Eltern angesagt haben – sie haben gemeint, ihnen damit ein schönes Geschenk zu machen: shit happens – die werden sich wohl fürs sonntägliche Mittagessen angesagt haben.

Dieser eine Algorithmus in dem Programm macht Martin noch Sorgen: Er ist sich ganz sicher, dass er passt, er funktioniert ganz sicher – nur: Er kann es noch nicht beweisen. Er könnte ihn bei der Präsentation wie selbstverständlich einführen. Nur: Was ist, wenn sich der Hofer genau darin verbeißt? Dieser Algorithmus ist der Clou der ganzen Sache – Martin kann ihn also auch nicht unerwähnt lassen. Außerdem sind da noch ein paar Routinen, die sich sicherlich noch eleganter, noch anwenderfreundlicher gestalten lassen könnten.

Es wird gleich eins und Martin lehnt weiter an die Wand, im Kinderzimmer bleibt es ruhig, und er überlegt sich, noch einmal runterzugehen, in der Küche den Laptop auszupacken und sich bei einem gemütlichen Bier die Sache noch einmal genau durch den Kopf gehen zu lassen. Ja, das wird er machen. Aber erst nachher, zuerst muss er endlich Erna begrüßen, ihr zumindest sagen, dass er noch lebt – und jetzt endlich wieder einmal da ist.
Dabei weiß er, was ihn erwarten wird, es wird so sein, wie vor siebzehn Tagen auch: Erna wird sagen: “Martin, bist du‘s?“ – auch wenn sie ihn schon längst gesehen hat.
Nein: Vorher wird er noch zu den Buben gehen, ihnen einen schnellen, sanften Kuss auf Wange und Schläfe geben, Peter wird dabei aufwachen, nach einem weiteren Gutenachtkuss und dem Versprechen, mit ihm morgen Fußball zu spielen, rasch einschlafen. Erst dann wird er zu Erna gehen und sie wird ihn wieder verblüffen – sie verblüfft ihn immer.

Martin hat sich nicht getäuscht: Peter schläft noch nicht, er kriegt seinen Gutenachtkuss und das Versprechen, Paul schläft bereits tief und fest, Martin sieht ihm dabei zu, verliert sich in dem hübschen Gesicht, schweift gedanklich in die Zeit, in der er gleich alt war und selber dran war, das Verhältnis vom Ich zur restlichen Welt zu klären. Behutsam steht er wieder auf, vorsichtig schließt er die Tür, nicht ohne noch einmal einen Blick ins Zimmer zu werfen, der ihm bestätigt, dass jetzt alles seine gute Ruhe hat.

“Martin, bist du‘s?“, tönt es aus dem Schlafzimmer, im Nachtprogramm gibt es ein Gemetzel: Die trickmäßig ausgefeilteren Guten siegen über die brutalen, aber überlisteten Gangster. Abspann gibt es keinen, und so öffnet Martin sein Herz kurz nach dem letzten letalen Schuss: „Ich möchte mir dir reden, in letzter Zeit sind wir ja nicht mehr recht dazu gekommen.“
Erna sagt „gerne“, sucht die Fernsteuerung, findet sie unter ihrem Hintern und schaltet um.
„Morgen, also am Montag, hab ich den entscheidenden Termin.“
„Gut“, sagt Erna und stellt lauter. In den Nachrichten gibt es Bilder von Horden entschiedener Chinesen, die gegen eine Mauer treten, aus der sie Stück für Stück Steine lösen, die schließlich zu Boden fallen. Die nächste Einstellung zeigt die Szene aus der Luftperspektive: Es ist die chinesische Mauer und sie ist schon zu einem Gutteil beschädigt, im Schwenk wird offensichtlich, dass es sich dabei nicht nur um ein Teilstück handelst, sondern vielmehr großflächig an der Demontage des Weltkulturerbes gearbeitet wird.

„Was ist das?“, fragt Martin mehr in die Luft.
„Na, das mit den Chinesen und ihrer Mauer ...“, antwortet Erna und fühlt auch eine Mauer zwischen sich und ihrem Mann, „ ..., sie treten sie einfach ein, die Chinesen.“
„Und was bedeutet das?“, fragt Martin eine Spur zu laut, eigentlich wollte er sich diese Frage intern stellen.
„Keine Ahnung. Aber vorige Woche – war eh überall groß drin – sind sie mit Händen und Füßen losgestürmt. Hast du die Bilder nicht gesehen? Hat doch völlig doof ausgesehen: die vielen Menschen, die da mit Füßen auf diese große Mauer eintreten und dann auf einmal: bumm – fliegt wirklich ein Teil um.“
„Welche Bilder ...?“, fragt er – wieder eigentlich sich selbst.
„Na, im ORF und ZDF und ARD und NTV und RTL, überall ...“ – Erna sieht Martin fragend und ernsthaft und bekümmert und aufmerksam an: „... Sag jetzt bloß, du hast das nicht mitgekriegt?“

Martin steht wieder mit dem Rücken an einer Wand, diesmal im Schlafzimmer. Er braucht sie jetzt dringend als Stütze: Er will aufrecht stehen, sich keinesfalls hinsetzen oder umfallen – das ist er sich schuldig, das hat er geschworen, damals als Pfadfinder oder Ministrant, oder irgendwann: Er will aufrecht bleiben, sich nicht von irgendwelchen Informationen umhauen lassen, auch wenn sie schwer zu verarbeiten sind.
Martin lehnt sich fester an die Wand als notwendig, Ernas Ernst, Kummer und Aufmerksamkeit sickern langsam in ihn, und so vergeht doch einige Zeit, bis er eine schlüssige Antwort auf ihre Frage parat hat, die er zuerst durch ein ganz langsames horizontales Schwenken seines Kopfes kundtut: „Nein, also davon hab ich gar nichts gewusst, davon hab ich nichts mitgekriegt, die Arbeit ...”.
Er stammelt das vor sich hin, Erna sieht ihn fragend an: „Na, Und das mit dem Governor ...?“, die Frage beruhigt ihn etwas – jaja, da weiß er was: „Du meinst den, der sich bei den Demokraten auch gemeldet hat als Kandi ...“
„Nein, den mit dem elektrischen Stuhl.“
„Nein, den mit dem elektrischen Stuhl kenne ich noch nicht ...“, gibt er zu.
„Er hat drauf bestanden, selber der Letzte zu sein, der in Amerika auf den elektrischen Stuhl kommt und hat sich draufgesetzt ...“

Martin, der in den letzten Minuten gehofft hat, irgendwas zu hören, was ihm Zuversicht geben könnte, erheitern würde oder zu einem Lachanfall verführen könnte, entkommt ein kurzes, schrilles Kichern, dann folgt eine stumme Phase, in der er auch diese Neuigkeiten in sich reinsickern lässt. Er stemmt seinen Rücken immer fester zur Wand, die Füße rutschen dabei immer weiter von ihr weg.
„Du bleibst jetzt ein paar Tage zuhause, ich erzähl dir alles, was so in letzter Zeit passiert ist, du informierst dich, die Zeitungen sind alle noch da, wir schauen ein bisschen fern und in ein paar Tagen bist du wieder dick da.“
„Ich muss am Montag präsentieren“, meint Martin, der an der Wand hängt wie ein geschlagener Preisboxer in den Seilen und ständig tiefer sinkt – die Füße finden auf dem sündteuren und blankpolierten Parkettboden immer weniger Halt.

In den Nachrichten sind sie beim Kurzblock angelangt, in dem es um internationales Papperlapapp geht: Ein paar tausend Ungarn und Ungarinnen haben genauso viele Finnen und Finninnen geheiratet (Erna hat die Live-Übertragung schon am Vormittag auf RTV gesehen), in Belgien ist ein bekennender Nationalsozialist zum Ministerpräsidenten gewählt worden, Indonesien ist durch den steigenden Meeresspiegel innerhalb weniger Tage auf die Hälfte seiner ursprünglichen Fläche reduziert worden, und Aldi erreicht ungeahnte Höhenflüge auf der Börse mit seinen Sonderangeboten mit den Übersiedlungsprogrammen zum Mars.
Martin schüttelt es kurz, er sinkt dadurch noch weiter an der Wand runter, seine Füße rutschen noch ein wenig weiter, schließlich klatscht sein Hintern auf den Boden.
Erna setzt sich neben ihn, hält ihn dabei weiter auf dem Laufenden: „Naja, und letzte Woche hat Österreich im Stadion Pacaembu in Sao Paolo gegen Brasilien 17:2 gewonnen ...“
Es dauert einige Zeit, bis Martin vom Hier ins Jetzt findet.
Und: „Ach ja, hätt‘ ich doch glatt vergessen, wollte ich dir eigentlich gleich sagen: Dein Chef hat vorhin angerufen, das mit dem Termin morgen ... der ist abgesagt, daraus wird nichts.”

Christoph Stantejsky

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? |Inventarnummer: 16112

Kurze Begegnung

Der Polizist deutet anzuhalten, sie bleibt stehen, die Scheibe surrt runter, er blickt hinein:
Fahrerin: N'Abend.
Polizist: N'Abend.
Fahrerin: Und? Habe  ich was verbrochen?
Polizist: Nein, an sich nichts.
Fahrerin: Und? Kann ich jetzt weiterfahren?
Polizist: Ja. Aber einen Moment noch bitte … –  wissen Sie überhaupt, mit wem Sie's zu tun haben?
Fahrerin: Naja, Inspektor? Oberinspektor??
Polizist: Jeder hier kennt mich, Fräulein, und ich weiß, dass auch Sie mich kennen, bin ja schließlich neben Ihnen auf der Schulbank gesessen. Jahrelang. Von der Ersten bis zur Siebenten.
Fahrerin: Ah ja, jetzt erinnere ich mich.
Polizist: Na, und?
Fahrerin: Na und,  was?
Polizist: Die Antwort auf meine Frage!
Fahrerin: Die letzte Frage war: „Na und?“
Polizist: Die mein ich nicht.
Fahrerin: Was dann?
Polizist: Wissen Sie überhaupt, mit wem Sie es zu tun haben?
Fahrerin: Ah, ja.
Polizist: Was, ah ja?
Fahrerin:  Ah, ja. Die ursprüngliche Frage ...
Polizist: ... Und?
Fahrerin: ... Sie haben gesagt:  „Wissen Sie überhaupt, mit wem Sie es hier zu tun haben???“
Polizist: Ja. Wir waren in der selben Klasse.
Fahrerin: Ja.
Polizist: Ja. Und – also einmal ganz ehrlich gesagt – damals in dem sonnendurchfluteten Klassenzimmer vermeinte ich manchmal, bald öfters, ab Ende der Fünften täglich, Sie in die Arme nehmen zu müssen, elegant über die Schulbank zu schleudern, um dich dann ekstatisch zu nehmen. Ich hab es bei Ihnen mit einer Person zu tun, die mich einerseits erotisch anzieht wie sonst niemand, andrerseits ...
Fahrerin: Entschuldigung, aber ich hatte eigentlich vor weiterzufahren ...
Polizist: Ja. Entschuldigung auch. - Sie haben aber meine Frage noch nicht beantwortet.
Fahrerin: Die, ob ich weiß, mit wem ich's zu tun habe?
Polizist: Ja, genau die.
Fahrerin: Ja. (überlegt)
Polizist: Was ja?
Fahrerin: Ja. Ich erinnere mich.
Polizist: An was?
Fahrerin: Und ja, ich weiß, mit wem ich es zu tun habe ...
Polizist: Gut.
Fahrerin:  ... Und auch in mir regten sich in jenen Stunden im hellen Klassenzimmer Lüste ... Anfangs schämte ich mich für meine Vorstellung, von Ihnen über die Schulbank geschleudert und von dir genommen zu werden, später wurde diese Vorstellung immer mehr zu einem guten Freund, ohne den ich alleine in meinem Bettchen keinen Schlaf mehr finden konnte...
Polizist: Ja?
Fahrerin: Ja.
Polizist: (...)
Fahrerin: (...)
Polizist: Gut. Alles in Ordnung. Sie können weiterfahren. Gute Fahrt noch.
Fahrerin: Danke. Noch einen schönen Abend.
Polizist: Danke. Auf Wiedersehen.
Fahrerin: Auf Wiedersehen.
Die Fahrerin lässt das Fenster rauf, legt den ersten Gang ein, gibt den Blinker raus, überzeugt sich durch einen Blick in den Außenspiegel davon, dass die Fahrbahn frei ist, lässt die Kupplung langsam kommen und fährt los.

Christoph Stantejsky

www.verdichtet.at | Kategorie: ü18 | Inventarnummer: 16055

 

 

Housewarming Party

Die Wohnung ist einfach optimal, Walter von der ersten Sekunde an in sie verliebt. Ja, diese Wohnung will er haben, hier will er die nächsten Jahre leben und, wenn es sein soll, auch für immer: Mitten im pochenden Herz der Stadt, also genauer: mitten im pochenden Herz des Bezirks neben der Innenstadt, wo sie noch lauter pocht als mittendrin. Schon vor vielen Jahren haben, vermutlich vom Bauhaus inspirierte, Architekten diese nicht ganz 42,5 Quadratmeter so auf Küche, WC, Bad, Wohn- und Schlafzimmer verteilt, dass es nicht besser sein könnte.

Walter ist, freundlich formuliert, etwas übergewichtig, schafft es aber ganz hinauf, einige der anderen Interessenten haben die Besichtigung der Wohnung schon im ersten Stock abgebrochen.
Ja, Walter unterschreibt, vielleicht auch schon deshalb, weil die Möblierung ungefähr seinen Vorstellungen entspricht und er sich scheut, seine Zeit in Möbelhäusern und Baumärkten zu verlieren. Er unterschreibt mit zitternder Hand, seine Signatur könnte genauso gut von einem x-beliebigen Patienten einer Palliativstation stammen, ähnelt zumindest der in seinem Reisepass und Führerschein keineswegs, Walter ist auch wirklich erschöpft. Der Makler nutzt die Gunst der Stunde, die Unterschrift hat er jedenfalls, der Rest der Geschichte interessiert ihn nicht, er macht sich schnell auf die Socken, streicht Walter schon auf dem Weg nach unten völlig aus seinen Gedanken.
Der sitzt, noch immer schwitzend vom Aufstieg – es kann auch wegen der Aufregung bei der für ihn wegweisenden Unterschrift unter diesen Mietvertrag sein – lange in dem Ohrensessel, der ihm gleich beim Reinkommen aufgefallen ist, weil es das Mobiliar ist, das den meisten Platz in Anspruch nimmt und auch, weil er es keinen Schritt weiter mehr geschafft hätte.

Walter ist nicht besonders groß, aber sehr schwer, also mehr rund, und er hat seine Unterschrift schnell unter den Vertrag gesetzt, die Wohnung ist also seit wenigen Minuten sein Mieteigentum. Eigentlich wollte er sich noch gerne Bad/WC ansehen, den Durchlauferhitzer, die Dichtungen der Fenster überprüfen, den Zustand des Backrohrs und des Stromkastens kontrollieren. Beim Reinkommen hat er schon viele Mitbewerber abgehängt, nur noch wenige haben sich in seinem zukünftigen Domizil etwas unschlüssig umgeblickt, Walter war klar, jetzt gleich, ganz schnell, Nägel mit Köpfen machen zu müssen – er ist gekommen, um zu bleiben. Die genaue Inspektion hebt er sich im Ohrensessel für später auf, es überwiegt die Freude über dieses Erfolgserlebnis, jetzt ist es ihm auch viel wichtiger, seine Freunde zur Housewarming Party einzuladen, schließlich sollen sie den Weg in seine neue Wohnung kennen und immer wieder finden.

Karin ist krank, Max und Petra gesund, aber ihr Kind, die kleine Sandra nicht, Richard, Alina und Hanna haben ihr Handy auf tot gestellt. Er erreicht nur Christian, der ist zwar nicht unbedingt erste Wahl, aber immerhin: Er wird kommen und Freunde mitnehmen und ja, sie werden auch für Speis und Trank sorgen.
Mit ‚seinen‘ Freunden hat Christian seine gemeint, nicht die gemeinsamen, die kleine Wohnung ist jedenfalls wirklich perfekt für eine Fete: Zweiunddreißig Menschen prosten sich zu, tanzen miteinander, auch wenn es noch keine Musik gibt, scherzen, rauchen, trinken, lachen und sind nach zwei Stunden wieder weg. Walter sitzt noch immer im Ohrensessel, außer Christian hat ihn niemand begrüßt, niemand mit ihm geredet. Walter hat die anderen auch gar nicht gekannt, sie noch nie gesehen.
Er steht auf, und auch das nur, weil der oder die Letzte die Tür nicht zugemacht hat, irgendwer hat zwischen Tür und Angel eine rote Handtasche liegen lassen. Walter schleppt sich zurück in den Ohrensessel, es ist schon spät, eigentlich sollte er jetzt schlafen, macht es auch gleich.

Der Morgen ist noch nicht erwacht, die Nacht noch nicht ganz eingeschlafen – Walter ist munter, Walter hat Hunger, findet sich im Ohrensessel und ist glücklich, in seinem neuen Reich aufzuwachen.
Die Inspektion von Durchlauferhitzer, Fensterdichtungen und Stromkasten lässt er bleiben, stolz verschließt er sein neues Domizil, stapft Treppe für Treppe hinunter, was sich leichter anfühlt als der Weg in der anderen Richtung vor ein paar Stunden, wird sich unten, gleich nebenan beim Bäcker frische Semmeln holen.

Walter schreitet die dreizehn mal zwei Stufen vom dritten in den zweiten Stock, weitere dreizehn mal zwei Stufen vom zweiten in den ersten Stock, dreizehn mal zwei Stufen vom ersten Stock ins Obergeschoß, dreizehn mal zwei Stufen vom Obergeschoß ins Mezzanin und diesmal elf Stufen vom Mezzanin ins Erdgeschoß – alles in allem sind es hundertfünfzehn Stufen, die er wieder erklimmen muss, um sich den bequemen Ohrensessel zu wuchten. Diesen Wermutstropfen der ansonsten perfekten Wohnung hat er aber als Medizin für seinen viel zu schweren Körper gerne in Kauf genommen.
Noch bevor er sich in die Bäckerei gleich nebenan schleppt, die ihren Kunden auch auf zwei Tischen Kaffee und ein komplettes Frühstück serviert, sieht er sich das Haus an, in dem er jetzt wohnt, kann an den jetzt unnötig erleuchteten Fenstern erkennen, wo er jetzt leben wird – gleichzeitig kann er sich nicht mehr vorstellen, wie er es bei der Erstbesteigung bis da hinauf geschafft hat, Lift gibt es nämlich keinen.

Beim Hinaufgehen war er getrieben, ihm scheint, die Herde hätte ihn getragen – und er wollte nicht das letzte Schaf sein. Beim dritten Kipferl und einem nächsten Faschingskrapfen kann er sich nicht mehr vorstellen, alleine diesen Aufstieg noch einmal zu überleben. Ein Taxi bringt ihn danach zurück nach Hause, seine Mutter ist froh, ihn zu sehen, tischt ihm auch gleich ein kräftigendes Mittagessen auf, zum Nachtisch gibt es Erdbeeren mit einer doppelten Portion Schlagobers.

Christoph Stantejsky

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 16039

Mich gibt’s noch nicht

Ich hab mir in letzter Zeit schon ein paar Mal überlegt wieder einzusteigen da unten – aber jedesmal, wenn ich mir meine potenziellen Eltern anschau’, vergeht mir die Lust auf eine neue Reinkarnation. Ich weiß, das ist nicht richtig, ganz abgesehen davon, dass nur Paradies irgendwann auch fad wird: Sünden sind tabu – dabei wär’ es wieder einmal nett, welche zu begehen, schon um den Alten zu ärgern. Dann das ständige Gedudel – keine Ahnung, warum sich immer die talentfreiesten im Blockflötenensemble finden, Flügel, die sich pausenlos irgendwo verheddern und viel mehr Pflege brauchen als gemeinhin angenommen: Engerl zu sein ist auf Dauer ein beschissener Job.

Unlängst (Er: Reisender, Sie: Lehrerin) habe ich mich nicht wirklich entschließen können (viel Tagesfreizeit einerseits, Familienwochenende andrerseits) und wie ich endlich aus einer inneren Eingebung heraus ‚Hier!‘ gerufen habe, war der Käse längst gegessen: Ein Klaus hat sich vorher gemeldet und war vor mir dran. Ich bin ihm nicht wirklich böse deswegen.
Es war ja nicht das erste Mal, wo es mich gereizt hätte. Vor ein paar Tagen wollte ich mir eine echt coole Sache geben: Vater unbekannter Soldat, der obendrein in der Stunde meiner Geburt standesrechtlich erschossen worden wäre, die Mutter arm, jung und namenlos, U-Boot in Buenos Aires. Ist da als Vierjährige hingekommen, mitgenommen von Verwandten, die nicht einmal ihren eigenen Namen buchstabieren konnten. Spannende Geschichte, hab ich mir gedacht. Ich hab aufgezeigt, aber der Bewusstseinsbrei um mich herum hat mir die Hand heruntergezogen und gesagt: ‚Sei nicht so blöd‘, ‚Du verdienst was Besseres‘, ‚Hau dich nicht runter‘, ‚Verlier nicht die Nerven‘ und ähnliche Sachen.
Bonita hat den Job dann gemacht – ich hab mir von hier oben die Geburt natürlich angeschaut und muss sagen: Ich hab wirklich nix versäumt. Es war eine unangenehme Sache, hat nur etwas mehr als zwei Stunden gedauert – Bonita ist jetzt zusammen mit ihrer Mutter längst wieder bei uns.
Bald darauf ist was Besonderes passiert: Heinz hatte sich gar nicht gemeldet, ist aber trotzdem drangekommen – in den Chefetagen ist nämlich schon längst registriert worden, dass die meisten von uns gar keinen Bock mehr auf diese Scheiß-Inkarnationen haben. Jetzt haben wir aber ein sehr geburtenschwaches Jahr heuer und bei dringlichem Bedarf entscheidet das Los – so ist das ausgemacht. Der Karl wird jedenfalls Sohn für ein Ehepaar, das einen neuen Bäcker bestellt hat.

Das wär’ nichts für mich: Ich will Mädchen werden und mit dem Bäckerhandwerk nichts mehr zu tun haben – das hat mir Ench-al-Inch, so ein arabischer Hofbäcker schon so um 526 vor Buddha gründlich ausgetrieben. Interessieren würde mich die Sache aber als Beobachterin, und kaum denke ich mir das, gibt es zwei Ecken weiter die Möglichkeit dazu: Solokind für Graf und Gräfin von Ceverovits ist angesagt, Villa, drei Badezimmer, jede Menge Personal – eine richtige Prinzessin zum Verwöhnen wird gesucht. Die meinen ganz offensichtlich mich und ich zeige sofort auf.
Znotsch.
Also komme ich raus, mir bleibt jetzt schließlich auch nichts mehr anderes übrig. Der Bewusstseinsbrei um mich herum weicht, ich schwing’ wieder durchs schwarze Loch ins Licht, wie ich es schon von den anderen Reisen her kenne, wieder die übliche Prozedur: Der Typ (wieder einer mit Brille und hohem, grauen Haaransatz) schaut mich ungläubig an und holt mit der Rechten aus. Ich schrei natürlich gleich wie am Spieß, er lächelt zufrieden und lässt die Hand sinken. Diesmal aber (neu für mich): helles Licht und emsiges Treiben, viele Köpfe über mir, andere Mütter neben mir und dann die Schrecksekunde: ‚Es ist ein Sohn!‘ – ich glaub’, ich hör nicht recht. ‚Unser Ceverovits!‘ kreischt meine zukünftige Mama der Ohnmacht nahe noch.
Es geht von ganz von vorn los: Mir wird die Brustwarze reingesteckt, wenn mir der Arsch brennt, die scharfen Fingernägel der Gouvernante kratzen mir den Arsch aus, wenn ich Hunger habe: Die Kommunikation im frühen postnatalen Stadium war immer schon unbefriedigend – in den letzten drei, vier Jahrhunderten ist sie aber eine einzige Katastrophe: Du kriegst nie, was du brauchst, alle Bedürfnisse werden verkehrt interpretiert – nie befriedigt.
Kaum dass ich ‚Mama‘ sagen kann weiß ich, dass das für mich wirklich das letzte Mal ist in den nächsten tausend Jahren ist, mir reicht’s jetzt nämlich endgültig: Lieber da oben in der Bewusstseinssuppe herum schwabbeln, als noch einmal zurück auf diese Kugel. Das da oben ist zwar auch kein Honiglecken, aber das hier herunten tue ich mir einfach nicht mehr an.

Anmerkung:
Thomas Ceverovits wurde Jurist, war in seiner Jugend Dritter in der Staatsmeisterschaft der Rückenschwimmer. Er heiratete und wurde Vater von drei Söhnen. Nach seiner Pensionierung und dem Tod seiner Frau widmete er sich mit mäßigem Erfolg der Lyrik. Er verstarb im kalten Winter 1929, zwei Monate nach dem Schwarzen Freitag, an den Folgen eines Schnupfens.
Durch ein Missverständnis – er hustete, was als Zustimmung interpretiert wurde – inkarnierte er als Maria Schroll gleich ein halbes Jahr später erneut. Schroll wurde Jugendleiterin beim Bund deutscher Mädchen und erlag im Winter 1944/45 nach einem Bombenangriff ihren schweren inneren Verletzungen.
Gerüchten zufolge inkarnierte sie vorletzte Woche doch wieder, diesmal als erstgeborene Tochter einer Bäckerfamilie in A-458o Windischgarsten, Laubenweg 21 A.

Christoph Stantejsky

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht| Inventarnummer: 15010