Kurze Begegnung

Der Polizist deutet anzuhalten, sie bleibt stehen, die Scheibe surrt runter, er blickt hinein:
Fahrerin: N'Abend.
Polizist: N'Abend.
Fahrerin: Und? Habe  ich was verbrochen?
Polizist: Nein, an sich nichts.
Fahrerin: Und? Kann ich jetzt weiterfahren?
Polizist: Ja. Aber einen Moment noch bitte … –  wissen Sie überhaupt, mit wem Sie's zu tun haben?
Fahrerin: Naja, Inspektor? Oberinspektor??
Polizist: Jeder hier kennt mich, Fräulein, und ich weiß, dass auch Sie mich kennen, bin ja schließlich neben Ihnen auf der Schulbank gesessen. Jahrelang. Von der Ersten bis zur Siebenten.
Fahrerin: Ah ja, jetzt erinnere ich mich.
Polizist: Na, und?
Fahrerin: Na und,  was?
Polizist: Die Antwort auf meine Frage!
Fahrerin: Die letzte Frage war: „Na und?“
Polizist: Die mein ich nicht.
Fahrerin: Was dann?
Polizist: Wissen Sie überhaupt, mit wem Sie es zu tun haben?
Fahrerin: Ah, ja.
Polizist: Was, ah ja?
Fahrerin:  Ah, ja. Die ursprüngliche Frage ...
Polizist: ... Und?
Fahrerin: ... Sie haben gesagt:  „Wissen Sie überhaupt, mit wem Sie es hier zu tun haben???“
Polizist: Ja. Wir waren in der selben Klasse.
Fahrerin: Ja.
Polizist: Ja. Und – also einmal ganz ehrlich gesagt – damals in dem sonnendurchfluteten Klassenzimmer vermeinte ich manchmal, bald öfters, ab Ende der Fünften täglich, Sie in die Arme nehmen zu müssen, elegant über die Schulbank zu schleudern, um dich dann ekstatisch zu nehmen. Ich hab es bei Ihnen mit einer Person zu tun, die mich einerseits erotisch anzieht wie sonst niemand, andrerseits ...
Fahrerin: Entschuldigung, aber ich hatte eigentlich vor weiterzufahren ...
Polizist: Ja. Entschuldigung auch. - Sie haben aber meine Frage noch nicht beantwortet.
Fahrerin: Die, ob ich weiß, mit wem ich's zu tun habe?
Polizist: Ja, genau die.
Fahrerin: Ja. (überlegt)
Polizist: Was ja?
Fahrerin: Ja. Ich erinnere mich.
Polizist: An was?
Fahrerin: Und ja, ich weiß, mit wem ich es zu tun habe ...
Polizist: Gut.
Fahrerin:  ... Und auch in mir regten sich in jenen Stunden im hellen Klassenzimmer Lüste ... Anfangs schämte ich mich für meine Vorstellung, von Ihnen über die Schulbank geschleudert und von dir genommen zu werden, später wurde diese Vorstellung immer mehr zu einem guten Freund, ohne den ich alleine in meinem Bettchen keinen Schlaf mehr finden konnte...
Polizist: Ja?
Fahrerin: Ja.
Polizist: (...)
Fahrerin: (...)
Polizist: Gut. Alles in Ordnung. Sie können weiterfahren. Gute Fahrt noch.
Fahrerin: Danke. Noch einen schönen Abend.
Polizist: Danke. Auf Wiedersehen.
Fahrerin: Auf Wiedersehen.
Die Fahrerin lässt das Fenster rauf, legt den ersten Gang ein, gibt den Blinker raus, überzeugt sich durch einen Blick in den Außenspiegel davon, dass die Fahrbahn frei ist, lässt die Kupplung langsam kommen und fährt los.

Christoph Stantejsky

www.verdichtet.at | Kategorie: ü18 | Inventarnummer: 16055

 

 

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