Archiv der Kategorie: Dario Schrittweise

Dasein voller Lücken

Ein Leben voller Lücken,
mit Ecken und Kanten versehen,
ohne unsere Schwächen zu verstehen,
was kann uns damit glücken?

Mängel, Haken und Ösen,
ist das die Wurzel alles Bösen?
Können wir am Ende nur noch träumen
und dabei unser wahres Glück versäumen?

Wir Menschen sind alles andere als perfekt,
doch das macht unser Dasein bunt, nicht defekt,
darum gibt es keinen Grund für Trauer oder Groll,
leben wir optimistisch und hoffnungsvoll.

Dario Schrittweise
dario-schrittweise.org

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 25121

Die geschenkte Zeit

An jenem denkwürdigen Tag wachte Isidor spät auf. Müde blickte er auf den Wecker auf dem Nachttisch. Der kleine Zeiger erreichte schon 09:43 Uhr. Erschrocken stellte er fest, dass er verschlafen hatte.
Isidor stand auf und rannte ins Bad, um sich zu erfrischen. Nach einer schnellen Dusche putzte er sich die Zähne, zog sich an und nahm seine Aktentasche.
Schon 10:17 Uhr – er musste sofort zum Auto.

Die Müdigkeit war verflogen, jetzt dachte Isidor nur daran, so schnell wie möglich zu seinem Arbeitsplatz zu kommen. Er rannte zum Wagen, den er in der Nähe geparkt hatte, und sprang hinein wie in ein Fluchtfahrzeug. Doch als er versuchte, den Motor zu starten, stotterte dieser nur.
„Lass mich jetzt bitte nicht im Stich!“, bettelte er, doch sein sonst so zuverlässiges Gefährt hustete nur.
Dann muss ich mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, beschloss er.

Isidor rannte nach Hause und hastete hinunter in den Keller. Dort lehnte sein altes Fahrrad vernachlässigt in einer schummrigen Ecke. Er machte sich daran, das Fahrradschloss zu öffnen. Doch was war das? Die Kette war aus dem Zahnrad gesprungen!
Stimmt, da war etwas, erinnerte er sich, ich wollte ja das Fahrrad nach der letzten Tour reparieren. Hätte ich das bloß nicht vor mir hergeschoben! Dann eben der Bus.

Isidor eilte zur nächsten Bushaltestelle, die zwei Häuserblocks entfernt war. Er wartete fünf Minuten, zehn Minuten, nach fünfzehn Minuten verlor er die Geduld.
Was ist denn heute los? Nicht einmal auf den Bus ist Verlass, ärgerte er sich innerlich. Ohne auf den Fahrplan zu achten, verließ er entnervt die Haltestelle.
Wie es aussah, musste er zu Fuß zur Arbeit gehen. Nun gut – er wollte sich ohnehin wieder mehr bewegen.
Es regnete leicht. Der Asphalt glänzte. In den Pfützen bildeten die Regentropfen kleine Kreise.

Die erste Besprechung des Tages hatte er bereits verpasst. Die Kollegen würden gerade ihren zweiten Kaffee trinken, wenn er ankam. Sie würden den Kopf schütteln, wenn er keuchend und schwitzend zur Tür hereinkäme. Die zweite Besprechung war ebenfalls in Gefahr.
Isidor hatte einen Weg von etwa zwanzig Minuten vor sich. Leider hatte er im Durcheinander nach dem Aufstehen sowohl sein Mobiltelefon als auch seine Armbanduhr zu Hause vergessen. In einer Bäckerei fragte er nach der Uhrzeit.
„Es ist 10:53 Uhr“, antwortete die Verkäuferin. Sie stand hinter der Theke, in der viele verschiedene Gebäckstücke und Brotsorten präsentiert waren.
„Was darf’s denn sein?“
„Nichts, danke. Ich muss dringend zur Arbeit.“
„Ja, ja, die schwer arbeitende Bevölkerung hat es nicht leicht. Vor allem, wenn man arbeiten muss, während andere die Füße hochlegen“, sagte sie verständnisvoll.
„Ja, danke“, erwiderte Isidor, „ich muss dann weiter.“
„Einen schönen Tag noch“, rief die Verkäuferin ihm gut gelaunt hinterher.
„Einen entspannten Tag“, antwortete er und wunderte sich, warum die Frau so viel Verständnis gezeigt hatte.

Heute war doch ein gewöhnlicher Werktag, an dem niemand die Füße hochlegte. War die Verkäuferin komplett durcheinander?
Isidor ging zielstrebig weiter, schaute sich aber genauer um. So etwas, es waren nur wenig Menschen unterwegs. Gar nicht, was er von einem normalen Arbeitstag gewohnt war. Auch der Straßenverkehr war für gewöhnlich dichter. Waren alle Werktätigen schon in ihren Büros und auf den Baustellen?
Er musste jemanden nach dem Tag fragen. Ein älterer Herr im karierten Anzug kam ihm mit einem aufgespannten Regenschirm entgegen.

„Guten Tag, entschuldigen Sie die Störung. Können Sie mir bitte sagen, welchen Wochentag wir heute haben?“
„Heute ist ein Sonntag, guter Mann“, antwortete der Gefragte verdutzt. Isidor lachte schallend.
„Habe ich etwas Witziges gesagt?“, fragte der Mann verwirrt.
„Nein, ganz und gar nicht“, beruhigte ihn der Glückliche. „Sie haben mir den Tag gerettet.“
„Ich verstehe zwar nicht warum, aber es freut mich, dass ich Ihnen helfen konnte“, sagte der Mann heiter.

Isidor kaufte sich in einer Eisdiele zwei Kugeln Erdbeereis. Der Regen hatte aufgehört. Hinter den grauen Wolken trat schüchtern die Sonne hervor. Isidor spazierte mit dem Eis fröhlich in einen Park und setzte sich auf eine Bank. Seine Aktentasche legte er neben sich. In seiner Nähe führte eine Ente ihre watschelnden Küken zum Teich. Er lehnte sich zurück, genoss sein Eis und freute sich über die geschenkte Zeit.

Dario Schrittweise
dario-schrittweise.org

aus: „Kaleidoskopische Welten: Kurzgeschichten, Miniaturen und szenische Texte

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen … | Inventarnummer: 25108

Das lyrische Ich

In seinem Inneren, ganz tief,
in anderen Sphären verborgen,
lag sein lyrisches Ich geborgen,
es zog sich zurück und schlief.

Eine der Musen, Göttin der Poesie,
erschien dem Schlafenden im Traum,
sie sang ihm ein Lied, er glaubte es kaum,
von neuen Ideen und Fantasie.

Der Träumer begann zu schreiben und lachte,
denn an jenem Morgen spürte er voller Heiterkeit,
wie sein lyrisches Ich nach langer Zeit
wieder zu neuem Leben erwachte.

Dario Schrittweise
dario-schrittweise.org

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 25085

Ein Stelldichein im Cabaret Voltaire

Im Jahre 1916, mitten im großen Kriege,
traf sich in Zürich eine besondere Riege.

Humnama humnama tadum bidum
Null, eins, eins, zwei, drei, fünf, acht, dreizehn
traradadam traradadam tadum bidum.

Sie waren Künstler, Emigranten und Pazifisten,
mit ihren Ideen und Träumen,
wollten sie die verstaubten Künste und Gedanken überlisten.

Humnama humnama tadum bidum
Null, eins, eins, zwei, drei, fünf, acht, dreizehn
traradadam traradadam tadum bidum.

Sie waren Dichter, Maler und Bildhauer,
ihre Kunst nannten sie ein Narrenspiel aus dem Nichts,
auf den ersten Blick nur Nonsens oder Gassenhauer.

Humnama humnama tadum bidum
Null, eins, eins, zwei, drei, fünf, acht, dreizehn
traradadam traradadam tadum bidum.

Das Wort ‚Dada‘ ist ein Mythos,
seine Entstehung eine Legende,
ein reines Ergebnis des Zufalls bloß?

Humnama humnama tadum bidum
Null, eins, eins, zwei, drei, fünf, acht, dreizehn
traradadam traradadam tadum bidum.

Die Kunst des Dada war eine Revolution,
ein Urknall, ein Orkan der Inspiration und Erleuchtung,
ein Ringen um Frieden und gegen geistige Stagnation,
brauchen wir heute eine Erneuerung?

Dario Schrittweise
dario-schrittweise.org

www.verdichtet.at | Kategorie: dada & gaga | Inventarnummer: 25073

Neue Seiten schreiben

Jedes Jahr können wir
Eine Möglichkeit finden,
Etwas Neues zu beginnen.

Jeden Monat können wir
Ungewohnte Wege gehen,
Indem wir Änderungen schaffen.

Jede Woche können wir
Eine neue Seite
im Buch unseres Lebens schreiben.

Jeden Augenblick können wir
Eine Chance ergreifen,
Etwas besser zu machen.

Daher blicken heute wir
Mutig und optimistisch in die Zukunft,
Dann können wir nur gewinnen.

Dario Schrittweise
dario-schrittweise.org

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 25041

Fragmente der Erinnerung

Eine Kurzgeschichte in Briefform

5. 7. 2031

Meine liebe Fernanda,

endlich finde ich Zeit, dir zu schreiben. Ich bin schon mehr als sieben Monate in dieser Einrichtung, meine Gedächtnislücken und Bewusstseinseintrübungen werden immer weniger. Am besten gefällt mir die Lage. Die Insel ist idyllisch und das Anwesen luxuriös. Internet und Smartphones sind hier untersagt, doch mein neuer Freund Art bringt meine Briefe zur Post, bis ich wieder laufen kann. Der Chefarzt hat mir gesagt, dass ich den Rollstuhl in spätestens fünf Wochen nicht mehr brauche.

Die anderen Patienten sind freundlich und wir unternehmen viel gemeinsam. Stell dir vor, gestern waren wir an einem weißen Sandstrand. Er sah aus wie auf einer Postkarte. Nur du fehlst!

In ewiger Liebe
dein Grimaldo

 

9. 7. 2031

Lieber Herr Esposito,

ich freue mich, dass Sie sich gut eingelebt haben, nur Ihr lückenhaftes Gedächtnis macht mir immer noch Sorgen. Sie haben mich gebeten, stets ehrlich zu sein, daher muss ich etwas richtigstellen: Ich bin nicht Ihre Lebenspartnerin, sondern seit drei Jahren Ihre Therapeutin. Nach dem Unfall haben die Ärzte und ich Sie in die Klinik von Professor Sterling bringen müssen. Sein besonderes Projekt hilft Patienten wie Ihnen. Der Professor wird weiter unsere Briefe weiterleiten. Ich freue mich, wieder von Ihnen zu lesen.

Weiterhin gute Genesung
Dr. Fernanda Summers

 

2. 8. 2031

Lieber Herr Esposito,

warum antworten Sie nicht? Haben meine Worte Sie verletzt? Bitte schreiben Sie mir.

Freundlich grüßt Sie
Dr. Fernanda Summers

 

6. 8. 2031

Liebe Frau Dr. Summers,

nein, Ihr Brief hat mich nicht verletzt. Ihre offenen Worte haben mir geholfen, mich zu erinnern. Danke dafür. Mir ist wieder eingefallen, warum ich in dieser Einrichtung bin. Die Bruchstücke der Erinnerung kehren zurück: der schreckliche Autounfall, die vielen Verletzten und Toten.

Jetzt weiß ich auch wieder, wer Sie sind. Ich habe nur ein Foto mit Ihrer Adresse bei mir entdeckt und Sie für meine Freundin gehalten. Mein Gedächtnis spielt mir weiter Streiche.

Alle sind sehr freundlich, doch es ist zu schön, um wahr zu sein. Das Wetter ist stets sonnig und das Klinikpersonal ist immer gleich und zu gut gelaunt. Und was ist das für ein Projekt? Niemand gibt mir eine vernünftige Antwort.

Allerbeste Grüße
Grimaldo Esposito

 

7. 8. 2031

Lieber Herr Esposito,

ich habe mit der Wahrheit gewartet, um Ihnen den Schock zu ersparen. Beim Autounfall haben nur Sie überlebt, aber schwerstverletzt. Dann haben wir Sie an Professor Sterling überwiesen, der ein experimentelles Projekt leitet.

Sterling hat Ihr komplettes Gedächtnis in eine virtuelle Realität hochgeladen und Ihren Körper in ein künstliches Koma versetzt.

Verzeihen Sie mir, dass ich Ihnen keine erfreulichere Antwort geben kann. Hoffentlich werden Sie auf der Insel glücklich.

Ich wünsche Ihnen alles Glück der beiden Welten, bitte passen Sie auf sich auf.

Alles Gute
Dr. Fernanda Summers

 

Dario Schrittweise
dario-schrittweise.org

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 24202