Schlagwort-Archiv: es menschelt

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Schuach

Am zweiten Donnerstag des Monats ist Restmüll-Abfuhr in Bockfließ. Als Max am Mittwoch abends seinen schwarzen Container vors Haus stellte, sah er neben dem hoch gefüllten des alten Sepp, seinem Nachbarn, einen alten Lederpantoffel liegen. Der war wohl beim Transport herausgefallen. Als Max ihn obenauf neben den zweiten legte, sah er unwillkürlich schärfer auf die nun mit der Sohle nach oben liegenden Hof-Schlapfen* hin. Seltsam: Die Abnützungsspuren der Profil-Sohlen waren nicht einmal annähernd gleich! Man sollte wohl meinen, dass ein Mensch zwei gleiche, ja eigentlich idente Füße hat, und demnach der rechte Schuh genauso aufgesetzt und abgerollt wird wie der linke. Aber wieso war da der Absatz des linken Schlapfens ganz hinten deutlich stärker abgewetzt als der rechte? Der Sepp war schon 85, hinkte aber nicht! Dafür war die Innenseite beim Ballen am rechten Pantoffel bis zum Sohlengrund abgetreten, während der linke noch zwei Millimeter Profil aufwies! Woher diese ungleiche Abnützung? Da kam der Nachbar mit dem zweiten Kübel heraus und Max zeigte seine Fundstücke. „Ich hab da“ – erklärte der Sepp und berührte mit der Hand Maxens Kreuzgegend – „einen leichten Knick in der Wirbelsäule, deswegen die ungleiche Gangart. Aber guat, dass d’ mir das ‘zeigt hast, die nagel ich auf meinen Lebensbaum. Komm mit eine auf ein’ Nussern“, lud Sepp seinen Nachbarn ein und nahm die Schlapfen mit ins Haus.

Copyright: Robert Müller

Copyright: Robert Müller

„Lebensbaum, was ist das?“, fragte Max. „Wirst schon sehen“, grinste der Sepp und führte Max ins Vorzimmer. Da war an der Wand mit drei Eisenklammern der raumhohe Torso eines Baumes, längsseits halbiert, nur der Stamm und oben zwei Aststummeln, befestigt. Ganz oben auf den Ästen war jeweils ein beschriftetes Foto der väterlichen und mütterlichen Großeltern genagelt, darunter das von Vater und Mutter. Unter der Gabelung sah man das Babyfoto des Sepp, daneben hing sein erster Schnuller. Es folgte ein Klassenfoto aus der Volksschule und die deformierte Klingel seines ersten Fahrrades. „Ein Steyr Waffenradl“, erzählte Sepp, „da bin ich bei einem Sturz fast unter ein’ Lastwagen kommen, er ist aber nur über die Lenkstangen g’fahren und die Klingel war hin.“ Es folgten etliche Gegenstände und Fotos aus seinem Leben, ganz unten war noch ein halber Meter frei. Der Nachbar holte Nägel und Hammer und nagelte die Pantoffel waagrecht an. „25 Jahr’ hab ich die trag’n. Da kommt noch mein eigener Partezettel drunter, dann war’s das“, erklärte er und lachte leise, „und jetzt trink ma was!“ Er zog an einem rostigen Nagel mitten im Baumstamm, da öffnete sich ein schmales Türchen und dahinter stand eine Flasche schwarzer Schnaps und einige Stamperl. „Wie ich vor 50 Jahr einzogen bin, hat g’rad den alten Nussbaum im Hof der Schlag ’troffen, und ich hab ihn da verewigt“, erklärte Sepp und goss die Gläser voll: „G’sundheit!“ Max trank, hustete dabei (der Schnaps war stark) und verschüttete ein paar Tropfen auf seine Schuhe. Als er sich mit einem Papiertaschentuch zum Abwischen bückte, stutzte er.

„Jetzt schau dir das an“, sagte er zum Nachbarn, „meine Waldviertler sind auch ungleich am Oberleder, aber warum weiß ich net. Die trag ich schon fast 20 Jahr’, vier Doppler sind schon drauf. Am linken ist nach der ersten Quetschfalte parallel die zweite, beim rechten ist die zweite viel schwächer und gabelt sich schräg nach unten.“ Der Nachbar betrachtete die Schuhe: „Hast du vielleicht einmal einen Beinbruch g’habt“? Max nachdenklich: „Nein, nix dergleichen, aber mein linkes Wadl ist stärker als das rechte, das g’spür ich immer, wenn ich die Kniebundhosen anzieh. Da muss ich links immer hochziehen. Komisch ist das schon, gell?“ Der Sepp legte den Kopf nach hinten und dachte nach: „Ich hab einmal gelesen, dass es in der Natur keine zwei Grashalme gibt, die völlig gleich auf’baut sind. Lass ma’s gut sein und trink ma noch ein Stamperl, die schmecken sicher völlig gleich!“

Max und der Sepp grüßen einander nun wärmer und bleiben oft auf ein Tratscherl stehen.

*Hof-Schlapfen: Bequem ohne Bücken schliefbare (daher: Schlapfen) Pantoffel oder Sandalen, mit denen man aus der Wohnung in/über den hauszugehörigen erdigen/grasbewachsenen Hof oder kurz vor das Haus geht.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt| Inventarnummer: 24078

Dank an einen wahren Freund

Es war sehr schön gestern, doch vieles blieb offen
Auf baldige Wiederholung ist daher zu hoffen
Wir haben geplaudert über Gott und die Welt
Respekt und Verstehen waren unter einem Zelt
Das schreit ja förmlich nach wiederholen
denke ich ganz unverhohlen
Hoffentlich in Bälde – das wäre sehr zu hoffen
Der Termin dafür ist leider noch offen
Er wird sich sicher bald ergeben
In Freundschaft sind die Wege immer grün und eben

Copyright: Wilfried Ledolter

Copyright: Wilfried Ledolter

Wilfried Ledolter (Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 24071

Ich vermiss dich so sehr

Lichtjahre vergehen ohne dich,
in denen ich wissentlich
nur noch auf Sicht fahre.
Um in dein fahles Gesicht zu sehen,
das nur noch schemenhaft
mit blasser Kraft
an meinen Wänden schimmert.
Und bevor es mir verhasst wird,
versuch ich noch schnell,
es mit liebenden Augen aufzusaugen.
Will einfach nur nicht deine Spur
in den Flurgewölben meiner Seele
aus dem Blick verlier’n
und dich, von mir fürsorglich
ins rechte Licht gerückt,
in meinen Tiefen konservier’n.
Nur noch einen Moment,
der bereits sein Ende kennt,
will ich dich vermissen.
Und danach alle Gedanken an dich,
die als schleichendes Gift ganz schlicht
wie Efeu mein Herz umranken, tiefgefrier’n.
Um mich dann, gedankenverloren,
wieder auf mich selbst zu konzentrier’n.

Claudia Lüer

Diesen Text können Sie hier auch hören, gelesen von der Autorin.

Im Dezember 2023 ist der Gedichtband 'Barfuß durch dein Herz' im BoD-Verlag erschienen.

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt und unerHÖRT!| Inventarnummer: 23182

 

Der Elefant

Er war immer schon „der Elefant“, von der Entbindungsstation bis zur Pension. Eins-neunzig hoch, mit einem Gewicht, das zwischen 110 und 120 Kilo schwankte, gutmütig, eher bedächtig in Rede und Gedanken, mit einem breitflächigen, aufmerksamen Gesicht. Seine schaufelartigen Hände, die seine Rede mit Gesten begleiteten, waren wohlgepflegt, aber doch irgendwie naturbelassen wie die Beine eines Elefanten, eines richtigen. Auch seine Bewegungen, sein ganzes Gehabe waren schwerfällig, aber nicht wirklich langsam, er strömte ganz einfach ruhig dahin wie ein breiter Fluss, der die Kraft hat, zwanzig Mühlen anzutreiben.

Schon bei der Geburt wog er über fünf Kilo! Seine Mutter, eine schmächtige kleine Frau, erzählte später, sie habe nie geglaubt, dass sie ihr Riesenbaby auf normalem Weg zur Welt bringen könne. „Es hat mich fast zerrissen, ich hab gefürchtet, ich springe auf wie eine Nussschale“, sagte sie nach der mühsamen Entbindung, „und was er allerweil für einen Hunger gehabt hat! Gott sei Dank war im Bett neben mir eine dicke Wirtin, die immer zu viel Milch gehabt hat, so hat er schon im Spital eine Zusatzration bekommen. „Geben S’ her den klein’  Elefanten“, sagte sie bei seinem ersten Brüllkonzert und legte ihn an die Brust, „na schaun S’, jetzt lacht er!“

Ich selber kannte den Erwin schon von der Volksschule her, er besuchte die Klasse über mir und wohnte drei Gassen weiter. Wir waren nicht eng befreundet, trafen einander aber oft auf der Straße, unterhielten uns fallweise über Bezirks- und Schulangelegenheiten, und ein paarmal hat er mir bei Mathematik-Hausübungen geholfen. Rechnen konnte er immer gut, und später ist er auch Buchhalter in einer großen Firma geworden. Nach der Schule haben sich unsere Wege wohl getrennt, aber die Nachbarschaft ließ uns immer wieder einmal zusammenkommen.

Erst mit 27 hat er, nach sehr kurzer Bekanntschaft, ein jüngeres, quicklebendiges Mädchen geheiratet, und trotz ihrer total verschiedenen Temperamente und Neigungen lief ihre Ehe sehr gut. Sein geliebtes „Annamirl“ war schlank, knapp eins-sechzig, hatte rötliches Haar und ein Tempo, das ständig auf 100 war. Fröhlich, lebhaft, arglos, immer neugierig und optimistisch, kam sie allen Menschen offen entgegen und machte aus jedem Tag ein Fest, während er, der Erwin, sein Tagwerk und sein Leben gelassen und eins nach dem anderen mit hartnäckigem Fleiß bewältigte. Sie ergänzten einander ideal: Ihre vorschnellen unbedachten Entscheidungen bügelte er geduldig hintennach immer wieder aus, ihre bühnenreifen Auftritte hinterlegte er mit seiner breiten Anwesenheit, Verlässlichkeit und respektablem Charakter. Es hatte eben alles, was er sagte und tat, Hand und Fuß, weshalb er bei Bekannten und Kollegen gut angesehen war.

Er hieß Erwin Doppler, was ältere Menschen an die Zweiliter-Weinflaschen erinnert, aber in Hinsicht auf seine Körpermaße durchaus passend war. Bei einem zufälligen Zusammentreffen im Café Hummel in Wien ergab sich einmal ein längeres Gespräch, wo er mir auch über seine erste Beziehung erzählte:

„Ich hab sie, da war ich 25, bei einer Vernissage am Cobenzl kennengelernt, wir haben uns sofort gut verstanden. Es hat eben ganz einfach gefunkt. Warum es nicht lange gehalten hat? Weil, wir waren einander zu ähnlich. Ich hab immer gewusst, was sie gerade braucht, und die Hannelore hat genau dieselben Vorstellungen vom Leben gehabt wie ich. Es war schön, es war harmonisch, aber halt manchmal ein bissel fad – wie ein altes Ehepaar. Dabei war sie, als Frau, verstehst’, verdammt gut, und hat super ausg’schaut, immer gepflegt, aber dezent, und sehr g’scheit. Mit der Hannelore hast überall hingehen können! Aber das Spontane, Lebendige hat halt gefehlt, weißt eh, ich brauch das, weil ich ja selber ein ruhiger Typ bin. So ist das nach ein’ halben Jahr wieder auseinand ’gangen. Ja, schon auch schade. Und weißt’, was das Interessante war? Sie hat mir dann auch g’sagt, sie möchte mit einem flotteren Burschen beinand sein, was sie mitreißt. Komisch, gell?“

Gewohnt haben der Erwin und sein Annamirl dann am Stadtrand von Wien. Er hat dort sein geerbtes Gartenhäuserl schön ausgebaut. Das war auch irgendwie ungewöhnlich. Der Erwin hat kein Handwerk gelernt, nie praktisch gearbeitet, aber die ganze Holzarbeit hat er selber gemacht. Jedes Brettl, was der abgeschnitten hat, war gerade und hat auf den Millimeter gepasst, jede Schraube ist wie von selber ins Holz gerutscht, und auf der Baustelle war nie ein Chaos. Dafür hat man im Zimmer vom Annamirl (sie hat nebenbei ein bissl geschneidert) einen Kompass gebraucht, um wieder rauszufinden. Dort hat auch ihr Liebling, der schwarze Kater Mohrli, untertags geschlafen, und jede Nacht neben ihrem Bett.

Ja, so haben die zwei sehr glücklich dreiundreißig Jahre miteinander verlebt, bis das Annamirl plötzlich an Krebs erkrankt ist. Der Erwin ist verfallen, er hat sich frühpensionieren lassen und ist jeden Tag bei ihr im Spital gewesen. „Ich möchte immer bei dir sein“, hat sie da bei seinem letzten Besuch gesagt, „versprich mir das, ganz nah bei dir!“ Der Erwin hat geweint und gesagt: „Na freilich, du kommst zu mir, nix kann uns mehr trennen.“ Tags darauf ist sie gestorben und Erwin hat dann ihre Urne mit Sondererlaubnis in eine Nische seiner Gartenmauer gestellt.

Und wie vom Teufel bestellt, musste knapp danach auch sein Mohrli eingeschläfert werden. Da ist der Erwin zu mir gekommen: „Bitte, fahr du morgen mit ihm zum Tierarzt, ich bring das net z’samm“, hat er mich mit Tränen in den Augen gebeten. Er hat den Kater ja auch sehr gern gehabt, und gerade jetzt hätte er was zum Liebhaben gebraucht. Ich habe noch mit ihm Kaffee getrunken und wir haben über vieles geredet, auch über seine stärker gewordenen Herzprobleme.

Da ist er auf einmal eine Minute still, schaut mich geradeaus an und sagt: „Du, wir kennen uns schon ewig, kannst du mir einen großen Gefallen tun? Bitte sag ja, es ist mir sehr wichtig: Mein Annamirl, du weißt ja von der Urne im Garten, soll einmal gemeinsam mit mir bestattet werden. Würdest du sie mir dann in den Sarg legen? Am liebsten hätte ich ja den Mohrli auch dabei, aber das geht halt nicht.“ Ich habe es ihm versprochen, ja, ich mach das, wenn ich ihn überlebe.

Die Geschichte hat mir keine Ruhe gelassen, ich hab von Erwins Begräbnis geträumt, und da kam mir eine Idee. Der tote Kater wurde, in Plastik geschweißt, von mir bis zum Tag X eingefroren. Ein halbes Jahr danach ist Erwin an seinem Herzleiden gestorben, er hat mich zum Testamentsvollstrecker ernannt. Der besuchte Bestatter hat zugestimmt, die Urne beizupacken. Gut. Beim Hinausgehen habe ich gesehen, wie sein Gehilfe in der Werkstatt aus einem versteckten Doppler getrunken hat – den konnte ich wohl anreden! Ich habe mit einem Geldschein gewachelt und ihn gefragt, ob er mir heimlich helfen würde. „Ja, klar, bringen S’ den Kater am Begräbnistag um halber achte, der Chef ist eh erst um achte da.“

So haben wir den Mohrli heimlich unter Erwins Füße geschoben. Ich weiß nicht, was Erwin in seiner letzten Stunde gedacht/geträumt hat, aber da war in seinem Gesicht dieses verschlagene Grinsen, wie als Bub, wenn ihm was gelungen war. Vielleicht hab ich mir das auch eingebildet. Jedenfalls wurde es ein würdiges, schönes Begräbnis mit vielen Besuchern, weil den Erwin haben alle Bekannten geschätzt, und das lustige Annamirl hat jeder gerne gehabt. Der Pfarrer hat in berührenden Worten gesagt, dass wir nicht auf den Himmel warten, sondern uns schon zu Lebzeiten ein Stück Paradies schaffen sollen, wie es uns der Verstorbene und seine Frau vorgelebt haben. Ich habe dann ein zerkrümeltes braunes Katzenstangerl ins Grab geworfen und in die Hand mit dem Erd-Schauferl einen kleingefalteten Schein geschoben. Der Totengräber und ich haben verstohlen gelächelt, und Erwin oben wohl auch.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt| Inventarnummer: 23170

Das erste Mal

Das erste Mal.
Es gibt immer ein erstes Mal.
Das erste Mal Luftholen.
Der erste Tag in der Schule.
Das erste Mal Sterben ist es auch das letzte Mal.
Was hat dir dein Leben gebracht?

Die vom Schwert getroffene Jungfrau Maria und Jesus in ihren Armen im Stift Viktring

Die vom Schwert getroffene Jungfrau Maria und Jesus in ihren Armen im Stift Viktring

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 24017

Sterbender Moment

Ich renne durch die Zeit,
will was hinterlassen,
für die Ewigkeit.
Will nichts verpassen
und jeden einzelnen Moment
feiern mit dir!
Ausgelassen, ungehemmt,
im Jetzt und Hier.
Ihn aufkochen, so lange,
bis er Seifenblasen schlägt,
die ich für uns fange.
Die uns so lange, wie der Moment noch trägt,
bunt schillernd umhüllen
und mit Dopamin befüllen,
das unser Herz beflügelt,
Schmerz ausbügelt,
sodass wir fröhlich singend schweben
einkehren und mit berauschten Sinnen
durch Glückshemisphären schwingen …
bis zum Firmament,
wo sich der Moment
dann festsaugt und eingräbt.
Uns prägt.
Für unser ganzes Leben.

Und wenn die bunten Blasen schrumpfen
will ich der dumpfen Leere entkommen,
gieße ganz unvoreingenommen
Sauerstoff ins Feuer,
bis es wieder brennt
und erneuer den Moment,
wenn ich in einer spannenden Geschichte
brühwarm von ihm berichte.
Geb meinen letzten Atem,
will genießen und warten,
bis er dem Jetzt entflieht
und mich nicht mehr sieht.
Will alles ausschöpfen, was geht,
solange mein Herz schlägt.

Stell mich der Zeit in den Weg, die noch schneller rennt,
halte sie auf und plane schon einen neuen Moment
wider der Vergänglichkeit List und Tücke,
ahne, erkenne, stopfe die Zeitlücke
und fühle mit jedem Herzschlag,
wie ich ihr immer näher rücke.
Verzweifle, wenn du mir, weil du mich schätzt,
Grenzen setzt, mich schützt,
bevor es mich zerreißt,
weil mir das Leben beweist,
dass es nur bedingt planbar ist.

Doch eines Tages steh ich da
und sehe ganz genau, was war.
Hab genügend Zeit
zum Reflektieren der Vergangenheit,
mich mit großer Freude in alten Bildern,
die meinen langen Weg beschildern,
zu verlieren.
Dann wäre es fatal,
wenn mir mit einem Mal
klar würde, dass mir ein lichter Moment
entkam. In einem Sturm, der einst vehement
über mein Leben fegte. Vor vielen Jahrn.
Dann bin ich vielleicht froh,
wenn ich ihn doch irgendwo in mir trage,
weil ich ja immer alles gegeben habe,
und erzähle dir davon.
Und wenn nicht,
so bin ich frei,
weil ich mir verzeih.
Denn heute ist mir klar, ich kann nicht alles wissen,
planen und erahnen,
deshalb werd ich ihn in dem Moment,
der mich dann beschenkt,
auch nicht vermissen.

Claudia Lüer

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www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt und unerHÖRT!| Inventarnummer:  23159

Das Jucken

Ich konnte nicht sagen, wann es begonnen hatte. Irgendwann bemerkte ich, dass es schon seit einer Weile da war. Ich konnte einzelne Momente benennen, in denen es mir besonders aufgefallen war, aber eine Angabe in Monaten machen konnte ich nicht. Um mich ungefähr zu orientieren, setzte ich den vergangenen Spätherbst als Zeitpunkt seines ersten Auftretens fest – zu Weihnachten war es schon da gewesen, an Halloween noch nicht. Es auf einer Zeitleiste zu verankern, gab mir fadenscheinige Sicherheit.

Auf einer etwa handbreiten Stelle an meinem linken Unterarm verspürte ich ein Jucken. An Tagen, an denen es besonders schlimm war, rötete sich die Haut nach vermehrtem Kratzen, aber für gewöhnlich sah man nichts. So sehr ich suchte, ich entdeckte keinen Ausschlag, keine Schuppenflechte und keine Insektenstiche.

Ich befragte Google. Von Allergien über Umweltfaktoren bis zu einer HIV-Infektion kam als Ursache alles infrage. Ich schenkte meinen neuen Weichspüler her, kaufte wieder den alten und wartete ab. Das Jucken blieb.

„Fieber, Müdigkeit, weitere Hautveränderungen?“ Der Arzt drehte meinen Arm hin und her.
Ich schüttelte den Kopf.

„Vielleicht eine Allergie.“

Ich erzählte ein bisschen defensiv von meinem Weichspüler, damit er nicht dachte, auf die Idee wäre ich selbst noch nicht gekommen.

Er verschrieb mir eine Salbe.

Zweimal am Tag cremte ich mir den Unterarm ein, überzeugt, dass es damit ein Ende hatte. Manchmal kratzte ich noch über die alte Stelle und freute mich, dass ich nichts spürte. Dann juckte es wieder. Ich redete mir ein, dass ich es mir einredete. Es juckte dennoch.

Ich begann, das Jucken zu beobachten. Wann es auftrat, wo es auftrat, wie stark es war. Ich stellte Theorien auf: Wenn es bis mittags noch nicht da gewesen war, kam es nicht mehr; es war besonders stark an Regentagen; wenn ich meine Periode hatte, blieb es aus. Eine Weile lang war ich überzeugt, es hätte mit dem Verzehr von Hafermilch zu tun. Auch psychosomatische Ursachen wollte ich erkennen: Bei schlechter Laune war die Wahrscheinlichkeit des Auftretens höher.

„Das sind deine uneingestandenen Probleme, die jetzt an die Oberfläche kommen“, sagte meine Schwester. Ich zuckte mit den Achseln. Probleme hatte ich genug, aber keine uneingestandenen.

„Hast du mal Teebaumöl probiert?“ Meine Freundin schob mir eine Flasche zu. Nach drei Tagen schob ich sie ihr wieder zurück, sie warf mir mangelnde Ausdauer vor und sprach von Akupunktur, Reiki und Bachblüten. Eine Weile lang besuchte ich sie nicht mehr.

Die Haut an meinem Unterarm war inzwischen dauerhaft gereizt. Mitten im Sommer trug ich langärmelige Oberteile, die ich zurückschob und überprüfte, ob die Rötung verschwunden war. Meine Gedanken kreisten um die Stelle wie Wasser um ein Abflusssieb und langweilten mich zu Tode. Ich konnte nicht aufhören zu grübeln und ich konnte nicht aufhören, darüber zu reden. Mitgefühl und gute Tipps verwandelten sich in Seufzen und abgewandte Blicke, aber ich tat, als würde ich es nicht bemerken.

Manchmal blieb das Jucken eine Woche oder länger aus. Am ersten Tag wartete ich noch ständig darauf, schielte auf meinen Arm und spürte in ihn hinein, bis ich nicht mehr sagen konnte, ob er juckte oder nicht. Dann gewöhnte ich mich daran und dachte fast mitleidig an das Jucken zurück, als wäre es Pubertätsakne, die abheilte, wenn man erwachsen wurde. Aber immer, wenn es erneut auftauchte, kamen mir die juckfreien Phasen seltsam vor; ich tauchte ein in bekanntes Gewässer, wo mir jedes Leid vertraut war und ich wusste, wie ich damit umzugehen hatte. Ich kannte die Intensität und die Kneiftechnik, mit der ich den Juckreiz linderte, ohne dass er nachher unerträglich war, ich hatte eine Salbe, die kurzfristig half, und ich amüsierte mich dabei, Theorien aufzustellen; in Gedanken redete ich mit dem Jucken wie mit einem Vertrauten, den ich nicht mochte und der dennoch alles über mich wusste. Als ich an einer Lebensmittelvergiftung erkrankte, vermisste ich die Zeiten, in denen ich mich nur mit dem Jucken beschäftigt hatte; ich wünschte es mir zurück, wie sich andere Leute ihre Jugend zurückwünschten. Mit der Wiederherstellung meiner Gesundheit war auch das Jucken wieder da, zur Begrüßung gönnte ich uns eine neue Körpercreme und schloss Wetten mit mir selbst ab, ob sie es wohl schlimmer machen würde. Meine Schwester schüttelte den Kopf, als sie meinen Arm sah. Wann ich den nächsten Arzttermin hätte, fragte sie. Ich sagte, nächste Woche. Sie sagte, es wäre höchste Zeit, dass ich das in den Griff bekäme. Ich nickte. Ich hatte den Termin abgesagt.

Ich saß an meinem Schreibtisch im Büro, die Kollegen stressten, die Kunden hatten unmögliche Wünsche und ich kratzte mich am Arm. Er juckte. Ich lächelte.

Christina König

FM4 Wortlaut 2022
Mosaik Literaturzeitschrift

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 23157

Die Armee

In der demokratischen Volksarmee wird ständig abgestimmt. Das muss so sein, es herrscht ja Volkes Wille. „Wer ist dafür, dass wir angreifen?“, fragt der Hauptmann in die Runde. Drei von hundertfünfzig zeigen auf. „Also nicht“, fährt er fort, „was wollt ihr dann?“ „Hierbleiben und die Ausrüstung pflegen“, sagt einer. „Warten, was passiert“, ein anderer. „Wie wär‘s mit Schützengräben ausheben?“, fragt der Hauptmann. „Nein, nein, zu anstrengend“, kommt es aus vielen Kehlen. „Essen, freihaben, ins Puff gehen“, ist ein weiterer Vorschlag. „Aber Männer“, sagt jetzt der Hauptmann, „wir sind doch eine Armee, und ich bin euer Kommandant.“ „Ja“, sagt nun ein junger Leutnant, „aber wir sind eine demokratische Armee.“ „Volksarmee“, ergänzt ein anderer.

Der Militärwagen am Faschingsdienstag 2019 in Waidmannsdorf

Der Militärwagen am Faschingsdienstag 2019 in Waidmannsdorf

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 24009

Leben

Die Gänge des Lebens
verschachteln sich
sorgen für Verwirrung
im Herzen
schmerzen
je mehr Jahre es frisst
Straßenverläufe
können kompliziert
unübersichtlich
und verworren werden
verwirren
lassen verirren
weil die Richtung
nicht klar erkennbar ist
manche Wegweiser täuschen sogar
falsche Fährten vor
erweisen sich nicht
als hilfreich und
mit den Jahren
häufen sich Sackgassen
die eine ungebremste Fahrt
erschweren
oder gar
ganz blockieren
zurück geht es nimmer

Wege verschmälern sich
von Zeit zu Zeit
und am Straßenrand
lauert Gesagtes
das sich nicht mehr
verrücken lässt
sorgt für überraschende Fortläufe
die so
nicht geplant waren
sowieso
ist die Reise
nicht planbar
unvorhersehbar
mal bunte Blumen
dann karges
felsiges
Ungesagtes
das den Weg versperrt
unerhört
den Fluss stört
und Verdruss
ist unausweichlich

Wahre Lebenskunst beweist
wer sich im Schildergewirr
nicht verirrt
sich im richtigen Tempo
fortbewegt
nicht zu schnell
und nicht zu langsam
sich nicht verrennt
mögliche Beifahrer
die zur Entwirrung beitragen
erkennt
und den falschen
die Tür verschließt
einen Stau
schon von Weitem wittert
großräumig umfährt
und dabei
über eine fast vergessene
duftende Blumenwiese fliegt
die dich in eine andere
Richtung denkt
verloren geglaubte Träume
wiederbelebt
die Sinne anregt
deine Bahnen leerfegt
und dich in freier Fahrt
durch dein Herz lenkt

Claudia Lüer

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www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt und unerHÖRT!| Inventarnummer:  23115

Von Zeit zu Zeit vermiss ich dich

Wir sind aus dem gleichen Holz geschnitzt
und aus der Tiefe unserer Augen blitzt
verschmitzt die verwandte Seele. In unsren Adern
fließt das gleiche Blut, vielleicht hadern
wir mit der gleichen Wut und mit ähnlichen Sorgen.
Und in unsrem Innern verborgen
liegt der gleiche Kern, der einst mit der vertrauten Wärme umhüllt
und sich bis heute aus dem gleichen Liebesfluss füllt.

Deshalb will mir so oft
nicht in den Kopf,
wie es sein kann,
dass ich den Mond einfang
und du die Sonne …
Und mein Herz wird ganz schwer,
weil ich mir so sehr wünsch,
dass es anders wär.

Ich frag mich, wann es geschehen ist,
dass ich nicht mehr sah, wo du grad bist,
schwimm kraul durch mein Gedankenmeer,
dreh mich im Wasser hin und her,
tauch bis zum Grund, schwimm dann rund-
herum im Kreis, denk mir meine Synapsen wund
und kann ihn nicht sehn,
den wahren Grund als kostbaren Fund am Meeresgrund, um zu verstehn.

Dann rätsele ich, wie es sein kann,
dass ich den Mond einfang
und du die Sonne …
Warum wir wie Feuer und Wasser sind
und ich partout keine Antwort find.
Vielleicht ist es einfach zu lang her.
Doch von Zeit zu Zeit
da vermiss ich dich sehr.

Heute Nacht hab ich mit dir getanzt,
wir haben gelacht, und ich fühlte du kannst
mir endlich verzeihn, hast mich so liebevoll angesehn,
ich wollte mich immer weiterdrehn,
vom Glück beschwingt, das in mir ums Überleben ringt,
weil du im Licht zur Wirklichkeit mutierst,
und wenn der Tag ausbricht dein Lachen verlierst,
dann löst sich für mich dein Gesicht auf im Sonnenlicht.

Doch solang
ich ab und an
von dir träumen kann,
ist es nicht mehr so schwer,
dann hol ich dich her
und tanze mit dir.
Niemand kann mir
meine Träume nehmen.

Ich will sie dicht ins Leben weben,
um dem Tag mehr Farbe zu geben.
Denn in meiner Fantasie
sind Mond und Sonne in Harmonie.

Claudia Lüer

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www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt und unerHÖRT!| Inventarnummer: 23081