Kategorie-Archiv: Verena Tretter
Stillstand
„Ich muss mal kurz telefonieren“, hast du gesagt, und wie spät ist es jetzt? Eine Dreiviertelstunde hab ich auf dich gewartet, was du unter „kurz“ verstehst, möchte ich mal wissen. - Das und zwei, drei andere Wut-Sätze hat mir mein Freund an unserem Jahrestag an den Kopf geworfen, als ich ihn 45 Minuten lang, im absolut angesagtesten und romantischsten Restaurant der Stadt, warten ließ. Der Grund unserer Auseinandersetzung war meine Mutter – wobei nicht wirklich sie als Person, sondern eher das „Problem“ meiner Mutter: Seit ihre Kinder, drei am Stück, nacheinander von zu Hause ausgezogen waren, um ihr Glück in diversen Städten rund um den Globus zu suchen, war bei ihr leider eine Art „Glucken-Sicherung“ geflogen, die wir nun in tränenreichen Telefonaten ausbaden mussten.
Irgendwie verstand ich meine Mutter ja auch ein bisschen: Da ziehst du die letzten 26 Jahre drei Kinder groß, widmest ihnen all deine Aufmerksamkeit und Liebe, und plötzlich, innerhalb von vier Jahren sind alle weg – dein Lebensinhalt verteilt sich sozusagen in alle Windrichtungen. Wir waren zwar nicht aus der Welt, aber alle Versuche, diese wunderbare Frau auf neue Hobbies aufmerksam zu machen, ihr einen interessanteren Arbeitsplatz – der ihren Talenten entsprach – einzureden, oder sie gar nochmals an die Uni zu schicken, um ihr Kunststudium abzuschließen, das sie für uns abgebrochen hatte, waren vergebens. Sie war und blieb eben eine „Vollblut-Mutter“ und nichts und niemand stellte sich zwischen sie und ihre Kids – nicht mal horrende Telefonrechnungen und Reisekosten.
Ich als Jüngste im Bunde war die Letzte, die das mütterliche Nest verließ, was ihr, in Anbetracht der Tatsachen und unter Berücksichtigung ihres ohnehin schon leicht angeschlagenen Mutterherzens, dann noch den Rest gab. Natürlich war das nicht meine Absicht gewesen, aber wie meine beiden älteren Geschwister musste auch ich meinen Platz in der Welt erst finden, und das war weit weg von der Provinz, wo die Jobaussichten im eigenen Metier besser oder sogar realistisch waren. Ich bekam nach Abschluss meines Studiums, das ich in Mindestzeit absolviert hatte, einen tollen Job als Marketingassistentin. Mein Leben verlief zu dieser Zeit in einer Art „High-Speed-Modus“, und ich hatte permanent das Gefühl, statt 100% für eine Sache, nur jeweils 25% für die vier absolut wichtigen Faktoren in meinem Leben geben zu können. Egal was ich auch tat, ich hatte immer das Gefühl, es würde nicht genug sein – ein metaphorisches Jahres-Abo, voll des schlechten Gewissens, war da vorprogrammiert. Diese vier wichtigen Faktoren waren mein Job, mein Freund, meine Mutter und mein kleiner Hund Billy, den ich aus einem rumänischen Tierheim „gerettet“ – das redete ich mir zumindest ein – hatte.
Meine Mutter hatte jedenfalls ein Gespür dafür, im unpassendsten Moment anzurufen: Wenn ich mich auf dem Klo befand, ein wichtiges Meeting hatte, mit Ben „beschäftigt…“ war oder grade mit vollen Händen an der Kasse stand. So geschah es auch am Abend unseres Jahrestages, an dem sie „nur kurz durchrufen wollte, um nachzusehen, ob es mir auch gut ging“. Als es dann wieder Zeit gewesen wäre, das Telefonat liebevoll, aber bestimmt zu beenden, begann wieder das große Wein-Konzert, was in letzter Zeit leider immer häufiger der Fall war. Sie war einsam und ehrlich gesagt brach mir das auch ein bisschen das Herz.
Meinem Jahrestag hingegen, kam das „Problem“ ordentlich in die Quere, und ich musste nun zusehen, wie ein romantischer und bis ins Detail perfekt geplanter Abend den Bach runter ging. Zu allem Überfluss musste ich mein kaltes Essen alleine aufessen, nachdem mein Freund bezahlt und wutentbrannt das Lokal verlassen hatte – tja, zumindest ging’s meiner Mutter nun besser.
Ben, mein Freund, nahm diese Anrufe eigentlich gelassen hin, aber heute war das eben nicht so gewesen. Als ich das Restaurant nach weiteren fünfzehn Minuten – etwas peinlich berührt – verließ und mit schlechtem Gewissen und hängenden Schultern die Straße hinuntertrotte, klingelte mein Handy erneut – Ben war am anderen Ende: „Sorry Süße, ich wollte dich nicht so anblaffen. Ich war eben enttäuscht, da es eigentlich UNSER Abend werden sollte, und da ruft deine Mutter schon wieder an. Grade heute musste das ja wohl nicht sein oder?“ Ich war über Bens Anruf sehr froh und schluchzte drauflos: „Du hast recht! Es tut mir so leid, dass ich dich da alleine warten ließ, aber du weißt ja, dass ich meine Mama nicht heulend ertrage. Sie macht sich eben solche Sorgen um mich, und in Wirklichkeit glaube ich ja, dass sie einfach nur einsam ist, jetzt, wo sie die Abende ganz alleine in dem großen Haus zubringen muss.“ Ben seufzte geräuschvoll ins Telefon, und ich bemerkte, wie ein kleiner Verständnis-Ballon bei ihm zu wachsen begann. Er bat mich, zu ihm zu kommen, um mit mir gemeinsam eine Lösung zu finden, und ich marschierte einigermaßen gelöst in Richtung der U-Bahn-Station.
Die nächste Bahn fuhr zur meiner Erleichterung direkt mit meinem Eintreffen am Bahnsteig ein, und ich setzte mich zufrieden auf einen freien Platz. Nach der vierten Station – es waren gesamt sechs bis zu Bens Wohnung – blieben wir jedoch abrupt stehen. Ich hoffte inständig, dass wir gleich weiterfahren würden, denn ehrlich gesagt fand ich die Idee, unter Tage gefangen zu sein, schon immer etwas gruselig. Mit mir warteten etwa zehn Personen im U-BahnWagon, doch als sich nach zehn Minuten immer noch nichts bewegte, wurden sämtliche Insassen unruhig. Einer der Fahrgäste – ein rundlicher Glatzkopf um die sechzig – betätigte das Nottelefon, um herauszufinden, „was da um Himmelswillen denn los sei!“, doch die Leitung war gänzlich tot. Auch unsere Mobiltelefone waren unter der Erde ohne Empfang, was die Situation nicht wirklich entschärfte. Ich versuchte möglichst „cool“ zu bleiben, um meine „Oh-mein-Gott-wir-werden-alle-sterben“-Gedanken zu zerstreuen und wippte nervös mit meinem Bein auf und ab.
Eigentlich hatte der ganze Tag schon besch…eiden angefangen: Am Morgen konnte ich meine Brieftasche nicht finden, was wiederum dazu führte, dass mir beide Busse, die ich für den Weg zur Arbeit benötigte, vor der Nase wegfuhren – ich kam zu spät. Tagsüber kleckerte ich mir während der Mittagspause ordentlich Ketchup auf die neue, weiße! Hose, und bis ich für unser romantisches Abendessen meine unfassbar störrischen Haare in eine auch nur einigermaßen ansehnliche Form gebracht hatte, vergingen fast eineinhalb Stunden, was mich – um noch rechtzeitig ins Restaurant zu kommen – auch noch ein Taxi gekostet hatte. Von dem „Jahrestags-Restaurant-Drama“ mal ganz abgesehen.
Nach fünf weiteren, bangen Minuten in dieser stickigen U-Bahn-Hölle begann sich meine anfängliche Angst in Wut umzuwandeln: Was, wenn Ben nun sauer auf mich werden würde, weil ich zu spät kam? Was, wenn meine Mutter neuerlich versuchte, mich zu erreichen und ich nicht wie gewohnt nach spätestens zehn Minuten zurückrief? Was, wenn ich den heutigen Abend und meine Erwartungen, die ich in ihn gesteckt hatte, nicht retten konnte? Fragen über Fragen gingen mir durch den Kopf und mein eigener Verständnis-Ballon wuchs stetig weiter: Verständnis für meine Mutter, Verständnis für Ben, Verständnis für diese besch…eidenen öffentlichen U-Bahnlinien, Verständnis für alles und jeden – ABER wer hatte verdammt nochmal Verständnis für mich? Nach etwa fünfunddreißig Minuten im absoluten Stillstand kochte ich vor Entrüstung nahezu über, und mir fiel es plötzlich wie Schuppen von den Augen, dass ich eigentlich permanent versucht hatte, es allen um mich herum recht zu machen, und mich dafür dann auch noch unterwürfig entschuldigte! Als ich mich gerade richtig in Rage gedacht hatte, machte es plötzlich einen Ruck und die U-Bahn setzte sich wieder in Bewegung. Über die Lautsprecherdurchsage plärrte eine kaum zu verstehende Stimme, dass man sich für das technische Gebrechen entschuldige und man sich als Entschädigung für die lange Wartezeit am nächsten Ticketschalter einen Gutschein für ein Tagesticket holen dürfe – „naja, besser als nichts“, dachte ich. Ich hüpfte bei Station 6 – Bens Station – aus dem Wagon und war heilfroh, mich endlich auf die öffentliche Toilette begeben zu können. Trotz meiner Verspätung schlug ich ein eher langsames Tempo ein, ich wollte mich an diesem Tag einfach nicht mehr stressen oder aufregen müssen.
Auf halber Strecke zu Bens Wohnung beschloss ich, kehrtzumachen und in meine eigene Wohnung zurückzufahren. Ich hatte genug: genug zugehört, genug entschuldigt, genug gehofft und gehetzt. Mir reichte es!
Zu Hause angekommen wartete Ben bereits besorgt vor meiner Tür, da sich mein verdammtes Telefon auch nach meiner unterirdischen Wiederauferstehung nicht wieder in mein Netz eingewählt hatte. Ich war offenbar für eine ganze Stunde nicht erreichbar gewesen. Als er meinen Gesichtsausdruck und die Tränen in meinen Augen – die mir während des Heimwegs gekommen waren, weil ich mir selbst unheimlich leid tat – sah, nahm er mich einfach in den Arm, und wir gingen schweigend in meine Wohnung. Wir setzten uns auf die Couch und sahen uns lange an: er, weil er herausfinden wollte, was passiert war, und ich, weil ich einfach keine Lust mehr hatte, mich zu erklären. Als Ben nach einigen Minuten aus der Küche mit zwei Gläsern Wein zurückkehrte – Wein hatte ich zu dieser Zeit meines Lebens immer zu Hause – fasste ich mir ein Herz und redete mir alles von der Seele:
„Ich habe es so satt, immer die gehetzte, liebenswürdige, alles verstehende Tochter oder Freundin zu sein. Ich fühle mich mit meinen Bedürfnissen nicht mehr ernst genommen, aber dafür gebe ich weder dir noch meiner Mutter die Schuld, ich habe mich selber total vergessen.“
Als mir die ersten Tränen die Wangen hinunterkullerten, sprang Billy auf meinen Schoß und begann, meine Hand abzulecken. Ich streichelte ihm kurz über sein lockiges Pudel-Mischlings-Fell und setzte fort: „Die Rolle, in die ich das letzte Jahr über geschlüpft bin, zehrt mich aus. Einerseits möchte ich es dir recht machen, meine Mutter nicht vernachlässigen, meinen Job zu 100% erledigen und vielleicht sogar Karriere dabei machen, aber alles, was übrig bleibt ist, dass ich mich permanent schlecht fühle und glaube, es wiedermal irgendwem nicht recht zu machen. Ich habe immerzu geglaubt, alle anderen müssten aufgrund meiner Unzulänglichkeiten mehr und mehr Verständnis für mich aufbringen. Meine Wahrheit ist aber, dass ich nicht bemerkt habe, wie mein eigener Verständnis-Ballon – zuständig für alle Sorgen und Probleme um mich herum – mich völlig eingenommen hat, über mich hinausgewachsen und über die Grenzen meiner eigenen Persönlichkeit mutiert ist. Ich fühle mich von meinem Umfeld nicht mehr verstanden oder unterstützt. Diese vierzig Minuten in einer stehenden U-Bahn – im Stillstand – haben mich seit Monaten erstmals dazu gezwungen, tatsächlich stillzustehen und meine Gedanken zu ordnen – ich hatte das Gefühl, nach einer Ohnmacht zu mir zu kommen.“
Je mehr ich über meine Gefühle sprach und diesen den Raum gab, sich zu entfalten, desto kleiner wurde mein – anfangs prallgefüllter – Verständnis-Ballon. Ich redete fast zwei Stunden ohne Unterlass und Ben hörte mir zu – ohne mich zu unterbrechen oder sich abzuwenden.
Als ich mit meinen Ausführungen fertig war, sprachen wir noch bis in die frühen Morgenstunden über uns, meine Mutter, unsere Jobs – einfach alles, was ihn und mich beschäftigte. So hatte ich ihn auch kennen- und liebengelernt, bis ich mich – verblendet durch meinen eigenen Perfektionismus – immer weiter in die Rolle dieses ferngesteuerten und abgehetzten „Persönchens“ gepresst hatte.
Rückblickend bin ich sehr froh, dass die Geschehnisse dieses Tages mein Ventil geöffnet hatten und den Verständnis-Ballon wieder schrumpfen ließen. Wenn ich seither morgens in den Spiegel schaue, erkenne ich mich jeden Tag wieder ein bisschen besser.
Verena Tretter
www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 16086
Lügen
„Schade, jetzt ist es weg“, sage ich zu meiner kleinen Tochter, als sie freudestrahlend ins Zimmer läuft, um das Christkind zu sehen. Solche und mehr Lügen über Osterhase, Nikolaus, Krampus und Co. hab ich ihr seit frühester Kindheit aufgetischt, und ich hoffe inständig, dass mir das nicht irgendwann zum Verhängnis wird.
Aber ehrlich gesagt bin ich sogar noch schlimmer: Eines Tages, als wir im Wald spazieren gingen, funkelte etwas zwischen den Bäumen, und als sie mich fragte, was das sei, erwiderte ich verträumt: „Vielleicht sind das kleine Elfen, die gerade im Sonnenschein tanzen.“ Sie freute sich wahnsinnig über das, was ihre kleine Fantasie – angefixt durch Mamas Lüge – ihr da zu sehen ermöglichte.
Ich freute mich auch, nämlich über die Grenzenlosigkeit, die meine süße Kleine noch erlebt. Über das Glück in ihren Augen, während sie in dieser „alles ist möglich“-Welt lebt, die neben Hexen und Zauberschülern auch das Christkind und den Osterhasen beherbergt. Ich frage mich manchmal, ob ich traurig war, als ich erfahren habe, dass diese Wesen nicht existieren. Leider habe ich keine Erinnerung mehr an diesen Tag, aber mir ist heute noch sehr bewusst, dass der Zauber von damals weg ist – gefressen von bösen Monstern, wie „Geldsorgen“ oder einer allzu nüchternen „Realität“. Vielleicht sind diese Lügen, die wir Kindern auftischen, in Wirklichkeit kleine Zugeständnisse. Wir gestehen ihnen damit eine Art Galgenfrist zu, bevor für sie der Ernst des Lebens beginnt und aus fantasievollen kleinen Leuten, die weltverbessernde Ideen entwickeln, funktionierende Retorten-Bürger werden.
Ich finde es schade, dass die Grenzenlosigkeit dieser kindlichen Zauberwelt weichen muss, wenn man als mündiger Mensch in die Strukturen dieser Gesellschaft gepresst wird. Es darf nicht sein, dass man über den Tellerrand hinaus an etwas glaubt, das vielleicht sehnsüchtig in einem schlummert und das einem vielleicht sogar das Gefühl gibt, ein Stück weit frei zu sein.
Obwohl wir den Kindern, wenn sie größer sind, nach und nach ihre Kindlichkeit aberziehen und die anfänglichen Lügen dann wieder zurücknehmen, gibt es doch noch Institutionen, die sich das Recht vorbehalten, ihre sogenannten Wahrheiten in die Welt hinaus zu blasen.
Da wird dann von fünf Pflichten, einem dreifaltigen Gott, dem Messias, einer ewigen Ordnung oder von vier Ausfahrten gesprochen – schlicht, die fünf Weltreligionen. Der Glaube an diese Religionen ist laut unseren gesellschaftlichen Normen anerkannt.
Nun frage ich mich aber doch, warum der kindliche Glaube an Elfen, Zauberer und Co. als falsch betrachtet wird, während der Glaube an die fünf Weltreligionen anerkannt ist. Ich denke, dass jeder Mensch auf dieser Welt das glauben sollte, was tief in ihm schlummert. Es sollte keine Prediger geben, die den Menschen ihre Ansichten einimpfen und ihnen überlieferte Lügen ohne jegliche Beweiskraft auftischen.
Ebenso sollten jene Menschen, die auf diese Lügen angesprungen sind, sich fragen, weshalb sie sich auf der Suche nach Spiritualität nicht einfach auf ihre Kindheit besinnen, um den Zauber dieser Tage wieder entstehen zu lassen. Lügen sind also relativ, obwohl das Wort für sich einen äußerst kraftvollen und im negativen Sinne dominanten Charakter aufweist.
Leider muss ich meine Kleine nach den derzeitigen gesellschaftlichen Moralvorstellungen anlügen, wenn ich ihr den Glauben an ihre Zauberwelt nicht nehmen will. Schade, dass es sowas wie eine globale Fairness nicht gibt – eine Ethik der Superlative – wo alles wahr sein darf, was in unschuldiger Verträumtheit wahr sein will, und nichts als Lüge beschimpft wird, was in edler Gesinnung mündet.
Ich wünsche mir, dass meine Kleine auch mit dreißig oder gar hundert Jahren noch verträumt durch den Wald spaziert und sich bei einem Funkeln insgeheim denkt, sie hätte dort oben wieder eine Elfe im Augenwinkel gesehen. Ich wünsche mir eine Welt, die sie in diesem Glauben belässt, ohne ein selbsternanntes Recht auf Zuerkennung und Benennung von Wahrheit oder Lüge. Ich wünsche mir eine Welt, die erkennt, dass auch das Verschweigen von Wahrheit eine Lüge ist, wenn dadurch – und wenn auch nur in kollateraler Form – jemand geschädigt wird. Schlussendlich wünsche ich mir noch eine Welt, die Kinder nicht anlügt, sondern ihnen statt Lügen die Möglichkeit gibt, ihre Fantasie durch Vermutungen wachsen zu lassen. Ich vermute also, dass Elfen existieren – bitte verzeihen Sie mir diese Lüge.
Verena Tretter
www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 16067
Ballonfahrer
„Verständnisvoll“ ist einer dieser unfassbaren Begriffe… Ein Wort, das nicht klar darstellt, wie viele Opfer man tatsächlich dafür erbringen, oder wie viel Groll man dafür hinunterschlucken muss, um eben für sich selbst als verständnisvoll zu gelten. Wie sehr man sich innerlich auch verbiegt, um Verständnis zu zeigen, das Wort selbst verändert sich nicht. Selbst Adjektive wie: „sagenhaft“ oder „unsagbar“, die man davorstellt, um die Intension zu betonen, bringen den tatsächlichen Sachverhalt oft nicht zum Vorschein. Manchmal ist es eine Kleinigkeit und mit einer einfachen Entschuldigung ist wieder alles im Lot - so als würde man in einer vollgestopften U-Bahn angerempelt, woraufhin der Rempler sich entschuldigt und man selbst gar nicht auf die Idee gekommen wäre, mit der Erwiderung: „nichts passiert“ Verständnis gezeigt zu haben.
Doch in gewissen Angelegenheiten dehnt und wächst dieser Verständnisbegriff auf Ballongröße heran. Nicht auf Luftballongröße, sondern auf die eines Heißluftballons, der schnell mal einen Korb mit Elefanten über die Alpen schleppen muss. Das sind genauer gesagt solche Situationen, die einen zutiefst verletzt haben, man aber trotz allem versucht, die Perspektive oder noch präziser, das Motiv des Gegenübers nachzuvollziehen. Wenn man dann dahinterkommt, dass man im Zusammenspiel der Ereignisse eigentlich nur ein Kollateralschaden war, ist es eigentlich noch einigermaßen verzeihbar. Wenn so eine Verletzung aber aus reiner Nachlässigkeit, Ignoranz oder gar Böswilligkeit passiert, stürzen plötzlich ganze Konstrukte diverser Weltanschauungen – die Freundschaft betreffend – in sich zusammen und der metaphorische Verständnis-Ballon wächst in schmerzhafte Dimensionen.
Leider habe ich in meinem Leben schon einige dieser Verständnis-Ballons wachsen lassen, um Konflikte mit Menschen, die mir lieb und teuer sind, nicht zu eskalieren. Genau diese Menschen, die einem so nahestehen, dass man einen mietfreien Fixplatz in seinem Herzen für sie reserviert hat, verletzen einen dann am härtesten, und selten aber doch hält der Ballon die Spannung nicht mehr aus und explodiert, einem Weltuntergangsszenario nahe, in tausend blutende Stücke. Katastrophal ist für dieses Szenario nur ein Hilfsausdruck, weil ringsum sämtliches emotionale Leben ausgelöscht wird. Die weltliche Übersetzung dieses Infernos,nennt man auch „in einen Blutrausch verfallen“ oder wenn es einem schlicht „die Sicherungen raushaut“.
Nun kann man sich unter einem Blutrausch so einiges vorstellen, doch Anna, die vor kurzem exakt so einen am eigenen Leib erlebte – es waren tatsächlich fast alle Sicherungen in ihrem Hirn geflogen – beschrieb ihn in einer späteren Erzählung wie folgt: „Als ich an diesem Abend nichtsahnend in mein Stammlokal ging, um mir nach der unfreiwilligen Trennung von meinem Exfreund in aller – passiv-aggressiven – Seelenruhe einen in die Rübe zu kippen, hätte ich niemals gedacht, dass ich an diesem Abend auch meine damals beste Freundin, zusammen mit dem Ex, verabschieden würde. Ich saß an der Bar und wartete auf Betty, weil meine erste Wahl, Christina, seit einigen Tagen nicht mehr erreichbar war. Etwas enttäuscht über Christinas Verhalten – da ich sie als offiziell ernannte „beste Freundin“ nach der Trennung dringend als Anker gebraucht hätte – war ich Betty sehr dankbar für ihren Solidaritätsakt, sich mit mir an diesem Abend zu betrinken.
Nach zwei Gläsern Wein wurde das Gesprächsthema immer brisanter, denn Betty hatte sich schlichtweg verplappert und nach meiner selbstmitleidigen Anklage, Christina sei seit einigen Tagen nicht mehr erreichbar, emsig geantwortet, dass diese mit T…horsten um die Häuser ziehen würde. Als ich sie ungläubig ansah, da ich meinte, sie nach ihrer „T-Pause“ entlarvt zu haben, und sie dabei auch noch beschämt errötete, war meine Vermutung also richtig: Sie traf sich mit Tim, meinem Tim, meinem „Wir-sollten-künftig-getrennte-Wege-gehen-Tim“, schlicht, meinem EX! Betty sah mich aus Hundeaugen an und sagte: „Bitte verrate mich nicht, ich habe geschworen, dir nichts davon zu sagen!“ Ich blickte Betty weiter an, nahm ihre Hand und begann leise draufloszuheulen, zum Glück befanden wir uns mittlerweile an einem versteckten Tischchen im hinteren Eck des Gastraumes, so konnte man mich zumindest nicht gleich auf den ersten Blick bei meinem Gefühlsausbruch erkennen.
Der Gefühlscocktail, der sich nun in mir zusammenbraute, bestand aus: 10 cl Trauer, 5 cl Empörung, 4 cl Ärger über meine eigene Dummheit, einem Dash Machtlosigkeit, einer gehörigen Portion Wut als Filler und einer hübschen Garnitur aus zerbrochenen Herzstückchen – feinsäuberlich aufgespießt und drapiert, versteht sich. Ob ich wollte oder nicht, ich trank das giftige Gebräu auf ex und was dann folgte, war ein Gefühls-Kater, der sich über Wochen hinweg bemerkbar machte. Ich konnte der armen Betty dann noch entlocken, dass die Geschichte zwischen ihr und Tim wohl schon während unserer Beziehung begonnen hatte, was mir dann emotional tatsächlich noch den Rest gab. Der Abend mit Betty war natürlich nach weiteren fünfzehn Minuten vorbei und ich schnappte mir das nächste Taxi nach Hause, wo ich sämtliche Hemmungen fallen ließ und ein Heulkonzert der Sonderklasse anstimmte.
Nach einigen Tagen des Grübelns war für mich klar: Der Abschied von meinem Exfreund war nicht der einzige in dieser Phase meines Lebens. Auch meine beste und langjährige Freundin hatte sich mit ihrem Handeln aus meiner Welt und meinem Herzen nicht nur verabschiedet, sondern geradewegs hinauskatapultiert. Nun war mir auch klar, weshalb sie sich immer weiter zurückgezogen hatte und zum Ende hin auch kaum mehr erreichbar war. Nun wurde ich also doppelt sitzengelassen, dachte ich – „großartig, einfach nur großartig.“
Nach etwa sechs Wochen, in denen ich, von innerlichen Höhen und Tiefen gebeutelt, meinen Alltag bestritt, konnte ich meine sogenannte Freundin, die von meinem Wissen über ihren Verrat noch nicht informiert war, zu einem Treffen überreden. Mir war in erster Linie wichtig, ihr meine Meinung ins Gesicht zu sagen, um meinen Gefühlen damit ein Ventil zu verschaffen. Als ich sie an diesem Abend traf, machte ich keinen Hehl aus meiner Enttäuschung und konfrontierte sie umgehend mit den Infos, die Betty mir mit alkoholgelockerter Zunge verraten hatte – allerdings ließ ich Betty wie versprochen außen vor. Christina versuchte im ersten Moment, die Flucht nach vorne anzutreten und war empört darüber, „dass ich sie so in die Falle gelockt hatte“, da ich diesen Abend im Vorfeld jedoch tatsächlich akribisch – fast schon wie besessen – geplant hatte, fiel es mir relativ leicht, im entscheidenden Moment die Ruhe zu bewahren.
Irgendwann begann Christina zu weinen, da Tim sie offenbar eiskalt hatte stehen lassen. Doch um ehrlich zu sein, interessierte mich das nicht im Geringsten. Ich rief den Kellner, bezahlte meine Rechnung und ließ meine beste Ex-Freundin alleine im Lokal zurück. Sobald ich die Türe des Lokals geschlossen hatte, atmete ich tief ein, brachte meine hängenden „Trauerschultern“ der letzten Wochen wieder in Position und ging erhobenen Hauptes zurück in mein neues Leben.
Verena Tretter
www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 16061
Zehn Minuten
In zehn Minuten kann vieles geschehen.
Ich kann ein Stück Land bebauen und mit Leben versehen.
Ich kann mit dir sprechen, dir zuhören und dir Mut machen.
Ich kann ein Gedicht schreiben, dabei weinen oder lachen.
Ich kann auf meine große Liebe warten und mich auf sie freuen,
kann dabei schlechte Gedanken und Zweifel zerstreuen.In zehn Minuten kann vieles geschehen.
Du kannst deinen letzten Weg ohne Abschied begehen.
Du kannst in deine Ewigkeit schreiten, doch ich hätt´ gern die Ehre gehabt,
dich dabei zu begleiten.In zehn Minuten kann vieles geschehen.
Ich kam zu spät, um dich gehen zu sehen,
um deine Hand zu berühren und unser letztes "Lebwohl" mit dir – mein Herz - zu vollführen.
Verena Tretter
www.verdichtet.at | Kategorie: Kleinode – nicht nur an die Freude | Inventarnummer: 16045