Archiv der Kategorie: Verena Tretter

Der blinde Fleck, Metaphern und Glühwürmchen

Über das Unsichtbare und die Macht des Lichts

Tief vergraben in den unbewussten Sphären unserer Wahrnehmung liegt er – jener Fleck, den keiner sehen kann. Ein unsichtbarer Akteur, der im Verborgenen wirkt, wie ein Gangsterboss, der seine Identität zu schützen weiß. Jeder trägt ihn in sich: diesen inneren Widersacher, der still unsere Sicht verzerrt – und uns schon oft zum Feind geworden ist.

Doch einmal ins Bewusstsein gerückt, steht er plötzlich ganz oben auf der Liste persönlicher Prioritäten. Reflektierte Menschen machen ihn sich zunutze: als Katalysator für Wachstum, als Anlass zur Veränderung von Verhalten oder Perspektiven – ja, manchmal ganzer Weltbilder. Wer ihn erkennt, dem öffnen sich mitunter Türen zu neuen inneren Welten.

Andere hingegen ziehen es vor, blind zu bleiben. Denn ist es nicht verlockend, sich selbst Ego-gekrönt im Zentrum aller Geschehnisse zu wähnen? Zu glauben, dass die ersehnte Aufmerksamkeit der anderen aus der eigenen Größe erwachsen ist? Doch der Fall ist tief, wenn die Bühne – gezimmert aus Brettern der Ignoranz und Fehleinschätzung – in sich zusammenstürzt. Dann endet die Inszenierung abrupt, nicht selten befeuert von einem müden, desillusionierten Publikum. Der Vorhang fällt – und mit ihm der vermeintliche Held.

So menschlich dieser blinde Fleck auch ist, so dämonisch wirkt er in den Händen jener, die ihn bewusst einsetzen. Manipulation, Machtgewinn – oft auf Kosten derer, die nicht sehen wollen. Doch leider, so scheint es, ist die Anzahl der Blinden größer als jene der Sehenden. Und damit ist nicht das tatsächliche Sehvermögen gemeint, sondern die klare Sicht nach innen.

Es fehlt an Lichtquellen, die diesen Blick ermöglichen, die das Versteck des Flecks aufdecken. Doch nicht immer braucht es große Leuchttürme. Oft genügt schon das kleine Licht eines Glühwürmchens – wenn es zur rechten Zeit den Weg weist.

Diese Glühwürmchen sind Momente der Selbsterkenntnis. Sie erscheinen blitzartig, verweilen kaum länger als eine Millisekunde – und reichen doch, um ein inneres Leuchtfeuer zu entzünden. Ein Gedanke entsteht, der Zeit hat zu wachsen. Und mit ihm wächst die Fähigkeit, sich selbst im Spiegel der Erkenntnis zu betrachten.

Ein Bild formt sich – aus Puzzleteilen, Erinnerungen, Einsichten. Am Ende steht kein lautes Erwachen. Nur ein stilles Verstehen – und das Verschwinden eines Schattens, der zu lange die Optik verzerrt hat. Zurück bleibt Klarheit. Und vielleicht ein kleines Glühwürmchen, das glücklich lächelt.

Verena Tretter

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 25113

Christas Comeback

Redaktioneller Hinweis an alle, die (chronologische) Ordnung lieben:
Dieses Comeback hat eine Vorgeschichte.

 

Einleitung

Guten Abend und willkommen. Oder besser gesagt: willkommen zurück.

Wir erinnern uns an Weihnachten vor drei Jahren … Damals waren wir Teil einer ganz besonderen Selbsthilfegruppe  – für benachteiligte Weihnachtsdekorationen. Vielleicht haben Sie noch Christas Stimme im Ohr: drall, prall und mit einer erstaunlichen Portion Selbstironie. Eine Weihnachtskugel im Dauereinsatz fürs Füllmaterial, stets übersehen, aber nie zu überhören, wenn sie einmal zu sprechen begann.

Christa, die Christbaumkugel: Sie war nicht irgendein Dekoteil aus Plastik, sondern ein Wesen mit Haltung, Humor und einem erstaunlich klaren Blick auf das stille Elend des benachteiligten weihnachtlichen Behangs. Ihre Worte klangen wie ein Manifest für all jene, die zwar glänzen, aber nie gesehen werden. Christas letztes Spotlight war ein letzter Abschied unserer Protagonistin, bevor sie sich – hängend am Weihnachtsbaum – entschlossen der nächstgelegenen Kerze zuwandte.

Heute nun, meine Damen und Herren, kehrt Christa zurück.
Nicht zum ersten Mal, wohlgemerkt. Denn Christa ist eine Wiedergeborene im besten Sinne: ursprünglich ein Plastiksackerl mit tragender Funktion, dann eine Kugel mit Glanzanspruch – nun eine Form, die selbst sie noch nicht ganz versteht. Aber eines ist sicher: Das Universum hat sie nicht vergessen. Und es hat Humor.

Wiedergeboren in neuem Glanz, selbstverständlich plastikbasiert – denn wahre Unvergänglichkeit ist nun mal kein Nebenprodukt der Natur, sondern des Polyethylens. Wer braucht schon Zellulose, wenn man charismatische Chemie sein kann?
Nicht mehr an den Baum gehängt, sondern im Zentrum der Aufmerksamkeit – und das ganz ohne Bio-Siegel. Nicht mehr nur beobachtet, sondern bestaunt. Nicht mehr nur geschmückt – sondern gebraucht.

Lassen Sie uns gemeinsam hören, was aus ihr wurde. Und was aus uns werden könnte, wenn wir uns trauen, ein bisschen mehr zu leuchten, auch jenseits der Lichterkette.

 

Und nun: Christas Comeback

Kapitel 1: Wiedergeburt

Als ich zu Bewusstsein kam, war alles dunkel. Dann: ein Rascheln, gedämpfte Stimmen, ein Lichtschein, der sich vorsichtig durch eine Ritze tastete. Ich stand, geborgen in einer samtgefütterten Box und man präsentierte mich auf einem Podest, das sich langsam drehte. Ich war nicht mehr nur verpackt, ich war inszeniert. Das war neu …

Am unteren Rand meiner Verpackung stand in großen schwarzen Lettern

„The Boss“.

Ein Titel! Was für ein Upgrade!
Früher war ich bloß eine einfache Weihnachtskugel, dazu verdammt, Jahr für Jahr zwischen Lametta und Lichterketten zu baumeln – übersehen, unterschätzt und ignoriert.

Und jetzt? Jetzt hatte ich eine Identität, einen Rang und vielleicht sogar eine Mission!

Meine neue Form war … beeindruckend.
Kraftvoll, stramm und von kunstvollen Linien durchzogen, die sich wie Schicksalsfäden über meine dunkelbraune, nahezu ebenholzfarbene Oberfläche drapierten. Ich fühlte mich monumental und fast ein wenig majestätisch. Man gab mir zwei kugelrunde Pantoffeln mit flacher Unterseite und Saugnäpfen, die stets für einen sicheren Stand sorgen würden, doch das Beste war – mein Helm!

Ein junges Pärchen, das mich zuvor im Laden noch mit einer Mischung aus Erstaunen und Verlangen anstarrte, öffnete ehrfürchtig meine Verpackung. Ihre Augen glänzten. Ihre Finger strichen behutsam über meine Oberfläche, als hätten sie Angst, mich mit einer falschen Geste zu entweihen oder gar zu beleidigen.

Unmittelbar nach diesem ersten Akt der Bewunderung wurde ich gewaschen, eingeölt und immer wieder gepriesen.

Mein Leben hatte eine neue Richtung – und ich, Christa, war bereit, alles dafür zu tun, um meinen neuen Besitzern im Gegenzug für ihre Hingabe die größtmögliche Freude zu bereiten.

(Kurze, triumphierende Pause)

Kapitel 2: Die Spieleabende

Mein erster großer Auftritt kam schneller als erwartet: ein Spieleabend!

Zwar war dieser kein kirchlicher Feiertag – so wie ich es aus früheren Zeiten kannte –, jedoch gab es, was die Kirche betraf, sicherlich auch noch andere Feste, bei denen man so prachtvolle Gegenstände – wie mich – einzusetzen wusste.

Die Wohnung vibrierte von Stimmen, Lachen und dem sanften Klirren von Gläsern. Die Menschen schienen sich auf etwas zu freuen und die Stimmung war gelöst und heiter.

Und dann – die Präsentation:

Ich wurde hochgehoben und wie ein rituelles Werkzeug ins Licht gehalten, sodass alle Gäste meine volle Pracht bewundern konnten. Es folgte Staunen. Kichern. Bewunderung. Eine zierliche Frau gab sogar ein leises Seufzen von sich, was ich als zutiefst wertschätzende Geste verstand.

Als ich endlich zum Einsatz kam, wurde ich entschlossen gepackt, gedreht und in verschiedenste Positionen bewegt. Es glich einem Tanz und jede Bewegung schien bedeutungsvoll zu sein, denn die Reaktionen waren äußerst zufriedenstellend.

Als der Abend ein wenig fortgeschritten war, bekam ich sogar meinen eigenen Lederschmuck!

Man spannte mich in ein System aus Riemen und Schnallen, so kunstvoll, dass ich mich fühlte wie ein Rennpferd-Champion vor dem Start!

Manchmal hörte ich ein zartes Aufkeuchen, ein Lachen, ein genüssliches Seufzen. Es war, als würde ich eine tief verborgene Seite in den Menschen berühren. Ich war der Funke, der das Eis schmelzen ließ. Meine künstlerische Darbietung wurde mehrmals pro Woche aufgeführt, manchmal vor mehr, manchmal vor weniger Publikum, doch eines kann ich Ihnen sagen: Ich war verdammt gut darin!

Kapitel 3: Im Dienste der Freude

Was genau meine Aufgabe war?

Nun … manchmal fragte ich mich, ob es wirklich wichtig war, es zu verstehen.

Es gab keine Anleitung, keinen klaren Zweck, nur Wirkung. Und diese war unverkennbar.
Ich war nun kein bloßes Dekostück mehr. Kein benachteiligter Christbaumbehang ohne jegliche Bedeutung.
In diesem Leben war ich ein Katalysator. Ein Impuls. Ein Statussymbol.

Wo immer ich auftrat, veränderte sich die Stimmung:
Gesichter hellten sich auf, die Menschen öffneten sich und ließen ihre tief verwurzelten Barrikaden fallen. Zugegeben, manchmal auch mit etwas Nachdruck.

So manches Gespräch, das stockend begonnen hatte, geriet durch mich plötzlich in einen nonverbalen Fluss. Ich fühlte mich wie eine Diplomatin, die den Frieden ganzer Nationen garantierte.
Zwar fiel mir auf, dass mir Männer stets mit etwas mehr Ehrfurcht begegneten als Frauen, speziell wenn ich meinen Lederschmuck trug. Doch wie es mit neuen Bekanntschaften so ist, lösten sich die anfänglichen Zweifel meist durch ein vorsichtiges Herantasten in Luft auf. Ich wusste intuitiv, dass man mit Männern behutsamer umgehen musste, denn auch wenn sie nach außen hin hart erschienen, waren sie im Inneren weich und verletzlich.
Frauen hatten da weniger Berührungsängste, denn oft hatte ich das Gefühl, sie begrüßten mich wie einen langersehnten Freund, den sie schon eine Weile vermisst hatten.

Doch beim großen Finale konnte ich – ehrlich gesagt – keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern feststellen. Zudem wertete ich nicht, denn schließlich war ich für alle da.

Kapitel 4: Bittersüß

Trotz all meiner Erfolge und meiner umjubelten Auftritte blieb da etwas – eine leise, bittersüße Sehnsucht.

Ich fragte mich manchmal: Wer bin ich wirklich?
Bin ich ein Werkzeug, eine Erfüllungsgehilfin interaktiver Performance-Kunst oder war ich doch ein bisschen Zauber, geführt von zwei Händen?

Vielleicht war ja genau das mein Geheimnis:
Man musste mich nicht erklären. Die Menschen wussten instinktiv, womit sie es zu tun hatten, und man gab mir diese Form, um als sakrales Symbol zu fungieren. Ja, die Menschen waren gläubig und vielleicht war ich ihr Kultobjekt. Und wer weiß, vielleicht würde ich ja sogar irgendwann Kirchenwände zieren?

Auch wollte ich einen eigenen Slogan für mich erfinden. Leider waren „geschüttelt, nicht gerührt“ und „yes we can“ bereits vergeben, so habe ich mich letztendlich für „The Boss – Tiefe, die bleibt“ entschieden, denn für Oberflächlichkeiten hatte ich schließlich wenig übrig.

Aber nun Spaß beiseite – man wird ja wohl noch in aller Bescheidenheit träumen dürfen …

Doch neben all diesen Träumereien und Spekulationen weiß ich eines mit Sicherheit:
Wenn irgendwo das Licht gedimmt wird, langsame Musik erklingt und ein ehrfürchtiges Raunen durch den Raum huscht, dann ist es Zeit für mich, die Bühne zu betreten. Ich bin wieder da, mein Comeback ist gelungen.

 

Verena Tretter

www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 25111

Weihnachten – eine kritische Auseinandersetzung

Prolog

Weihnachten ist eine Zeit des Miteinanders, eine Zeit des Innehaltens und der reflexiven Auseinandersetzung mit dem vergangenen Jahr. Eine Zeit, in der wir uns vor Augen führen, dass Geschehnisse zu Jahresbeginn rückblickend vielleicht doch Sinn ergaben, und eine Zeit, in der Dankbarkeit und Freude – sowie ein gewisser Zauber – in und um uns herum spürbar werden.

Doch nicht jeder teilt diese Auffassung, denn für manche ist Weihnachten nichts weiter als Konsum, Kitsch und aufgesetzte Glückseligkeit. Und obwohl diese Weihnachtsgeschichte kein Mahnwerk gegen derlei Entwicklungen sein soll, so ist sie zumindest ein Fernrohr in eine alternative Perspektive.

Die Geschichte von Christian Kindel

Christian, bzw. Chris Kindel, war als einziges und sehnlichst erwartetes Kind von Sissi und Franz Kindel zur Welt gekommen, die zeit ihres Lebens ein Dasein in Abgeschiedenheit vorzogen. Während sie zu Beginn der 80er-Jahre zunächst mit Klein Christian in einer Kommune lebten, zogen sie noch vor seiner Einschulung auf den abgeschiedenen Bauernhof von Christians Großeltern, die ihren Ruhestand im weit entfernten Florida genossen.

Chris’ frühe Kindheit war geprägt von Natur und kritischen Weltansichten, was zunächst durchaus förderlich für den Kleinen war – wäre da nicht die Einschulung gewesen, die sein Leben drastisch veränderte …

Kinder können grausam sein

Gestaltete sich der erste Schultag an der ländlichen Volksschule noch einigermaßen annehmbar, so änderte sich dies bereits in der ersten Woche, da Christian es nicht gewohnt war, mit anderen Kindern zu spielen. Lesen konnte Chris bereits mit vier und mit sechs diskutierte er mit seinen Eltern über das politische Weltgeschehen am Frühstückstisch. Mit seinen Themen fand er kaum Zuspruch unter seinen Altersgenossen, die es ihn auch durchaus spüren ließen.

Es gab täglich Hänseleien aufgrund seiner Kleidung, seiner Jause, bestehend aus Dinkel-Grünkern-Laibchen oder anderen weniger gewürzten Speisen und den Pausengesprächen über Superhelden-Figuren oder Zeichentrickserien konnte er nur schwer folgen, denn einen Fernseher hatten sie nicht.

Zu Weihnachten erreichten die Hänseleien jährlich ihren Höhepunkt, als Chris Kindel nun auch noch aufgrund seines Namens in Ungnade fiel. Seine Mitschüler legten ihm in der Vorweihnachtszeit täglich Stroh auf seinen Platz, sie zierten sein Fach mit weißen Federn und ließen ihm Zeichnungen zukommen, auf denen das Christkind, auf einen Christbaum aufgespießt, Bäche aus roter Farbe blutete.

Und obwohl solche kindlichen Erlebnisse auch die Biographien so mancher  erwachsener Serienmörder zierten, hielt Chris durch, denn die Liebe und Fürsorge seiner Eltern waren ihm gewiss.

In der Schule war Chris, so besang es auch bereits Sting, „a legal Alien“ in einer ihm unbekannten Welt und so zog er sich zurück, wurde still und ein kritischer Beobachter seiner Umwelt.

Jahre später

Die Jahre danach gestalteten sich durchaus erfolgreich. Er studierte Journalismus, wurde direkt nach dem Studium bei einer renommierten Zeitung angestellt und nach wenigen Jahren übernahm er bereits den Posten des Kritikers. Vielleicht war es eine späte Rache des kleinen Jungen an der Gesellschaft oder die Verbitterung eines früh Ausgestoßenen, aber zu Weihnachten ließ er kaum ein gutes Haar an den durch ihn bewerteten Veranstaltungen. Er liebte es, die weihnachtlichen Akteure durch ihren eigenen Kakao zu ziehen, und hätte er gekonnt, er hätte sie darin ertränkt. Nun ja, vielleicht war doch ein kleiner Schaden geblieben aus seiner Kindheit … Aber sei es drum.

Seine Kritiken waren bei den ansässigen Zuckerbäckern so gefürchtet, dass sich die Prämierungen der besten Kekskreationen sogar als nervenaufreibende Thriller-Szenarien darstellten. Während sich die Kontrahenten gegenseitig das Leben schwer machten, hatten sie Chris’ gefürchteten metaphorischen Rotstift im Kopf, paralysiert wie im Angesicht einer geladenen Halbautomatik.

Chris war gnadenlos. Während er bei den Zimtsternen eines Teilnehmers den allzu reichhaltigen Zuckerguss bemängelte und im selben Satz dessen Daseinsberechtigung infrage stellte, kritisierte er bei einer anderen Teilnehmerin die Ungleichmäßigkeit ihrer Vanillekipferl – nebst ihrer gänzlichen Nichteignung für diesen Beruf.

Chris’ Kritiken waren scharfzüngig, vernichtend und über die Maßen unfair und rücksichtslos. So war es kaum verwunderlich, dass viele der ortsansässigen Zuckerbäcker nach wenigen Jahren das Weite suchten, um außerhalb seines Einflussbereiches arbeiten zu können. Andere hatten hingegen mit Nervenzusammenbrüchen zu kämpfen, weshalb die Psychotherapeuten innerhalb seines Landkreises durchwegs große und schnelle Autos fuhren.

Von Keksen und Katastrophen

Chris Kindel saß in seinem Büro und las. Es war ein Kommentar zu seiner letzten Kolumne, in der er einen örtlichen Bäcker mit den Worten zerstört hatte: „Seine Lebkuchenhäuser sehen aus, als hätte ein betrunkener Weihnachtswichtel seine Notdurft darauf verrichtet, nachdem er eine Abrissbirne aus allzu harten Kokosbusserln geschwungen hatte.“ Die Leser waren empört, aber die Klickzahlen schossen durch die Decke, weshalb ihn sein Arbeitgeber auch weiterhin gewähren ließ. Innerlich grinste Chris hämisch, denn er wusste, er war der Dieter Bohlen der Weihnachtskritiker, einer, der immer sagte, was er dachte, und das mit Witz und – nun ja, zugegeben – einer gewissen destruktiven sadistischen Ader.

Doch genau in dem Moment, als er sich über seine eigene Brillanz amüsierte, kam eine unerwartete E-Mail herein. Die Absenderin: Luna, eine Bekannte aus der Kommune seiner frühesten Kindheit. Mit ihr hatte er im Sandkasten gespielt und sie hatten sich gemeinsam Geschichten ausgedacht, bevor Chris mit seinen Eltern wegzog. Luna hatte sich vor Jahren in die Kunstszene abgesetzt und mit esoterischen Malkursen für Furore gesorgt.

Der Betreff lautete: „Adventessen – komm, du brauchst das!“

Die Nachricht war kurz und dennoch typisch Luna: „Chris, ich weiß, du hältst Weihnachten für den schlimmsten Marketing-Trick der Menschheit. Aber bevor du wieder deine bissige Kolumne raushaust, komm doch vorbei. Keine Glitzerkatastrophen, keine gezwungene Fröhlichkeit – nur ein paar interessante Leute, gutes Essen und genug Wein, um die Weihnachtszeit halbwegs zu ertragen. Vielleicht überrascht dich der Abend. LG, Luna.“

Chris schnaubte laut. Ein Adventessen? Was kommt als Nächstes? Ein Singkreis mit Jingle Bells oder eine Runde Wichteln? Sein Finger schwebte schon über der Löschtaste, doch dann hielt er inne. Ein Abend, an dem Weihnachten nicht in Zuckerguss und Kitsch versank, sondern in Wein? Das klang fast … verlockend.

Außerdem war Luna nicht irgendwer. Ihre Fähigkeit, die abstrusesten Menschen zusammenzutrommeln, war legendär. Es reizte ihn, diese Gruppe einmal genauer unter die Lupe zu nehmen – nicht zuletzt, um sich später genüsslich daran zu erinnern, denn tief drinnen war er schon ein Freund des Genusses und der Geselligkeit, aber zugegeben hätte er es nie.

Ein Abend der besonderen Art

Luna lebte in einem aufgelassenen Fabriksgebäude, zusammen mit anderen Künstlern in einer Art WG. Da sie in einer Kommune groß geworden war, war sie die permanente Gesellschaft schließlich gewohnt.

Als Chris an diesem Abend bei ihr eintraf, hörte er bereits im Treppenhaus Stimmen, Gelächter und etwas, das wie ein Schlagzeugsolo klang. Als er eintrat, verschlug es ihm kurz die Sprache: Luna hatte ihre Wohnung in ein groteskes und anarchistisches Weihnachtswunderland verwandelt.

Überall hingen Girlanden, die offensichtlich aus recyceltem Zeitungspapier gebastelt waren. Ein „Weihnachtsbaum“ aus aufgetürmten leeren Weinflaschen thronte in einer Ecke, geschmückt mit LED-Lichtern. Auf dem Tisch stand eine Mischung aus selbstgemachten Gerichten und gekauften Snacks – darunter ein Käseigel mit Plastikschwertern im Leib.

Luna kam auf ihn zu, ein Glas Wein in der Hand, und grinste.

„Chris! Willkommen im Anti-Weihnachtswunderland. Wein? Oder etwas Stärkeres?“

Chris nickte zum Wein. „Ich nehme, was du hast. Hauptsache, es passt zu dieser …  äh … Kunstinstallation hier.“

Luna lachte. „Oh, du bist noch nicht mal ansatzweise auf das vorbereitet, was dich heute erwartet.“ Sie führte ihn zu einer illustren Runde, die bereits mit Essen beschäftigt war.


Die Gäste

Chris setzte sich neben einen Mann namens Thorsten, der sich als „professioneller Weihnachtskritiker“ vorstellte. „Ach, endlich ein Gleichgesinnter“, dachte Chris. Doch schon nach fünf Minuten stellte sich heraus, dass Thorsten Weihnachtsfilme bewertete – mit einem selbst entwickelten Punktesystem, das alles von „Rentier-Echtheit“ bis zur „Emotionalen Weihnachtsbotschaft“ umfasste. Neben ihm saß eine äußerst gutaussehende Frau. Sie war Thorstens Freundin, die er von früher kannte, als er noch Pornos gedreht hatte.

Ihm gegenüber saß Carla, die stolz verkündete, dass sie dieses Jahr ein Buch über nachhaltige Weihnachtsgeschenke veröffentlicht hatte. „Es heißt Frohe Öko-Weihnacht: Vom up-gecycelten Birkenstock bis zur selbstgebrauten Zahnpasta.“ Chris nickte höflich, während er insgeheim überlegte, ob Zahnpasta überhaupt gebraut werden konnte.

Zwischen ihnen saß ein schweigsamer Mann namens Björn, der sich als Holzschnitzer vorstellte. Seine einzige Bemerkung während des gesamten Abends war: „Der Wein schmeckt nach Kork. Aber irgendwie passt das.“

Nach dem Essen kündigte Luna an, dass es Zeit für das „Hauptprogramm“ sei. Chris stöhnte innerlich und vielleicht fürchtete er sich heimlich auch ein bisschen. „Wahrscheinlich eine feministisch-pantomimische Darstellung über Christi Geburt, mit getanzten kirgisischen Untertiteln“, dachte er bei sich.

Doch es kam anders. „Heute Abend werden wir ein modernes Krippenspiel aufführen!“, verkündete Luna stolz. „Jeder von euch hat eine Rolle.“

Chris überlegte, einfach aufzustehen und zu gehen, doch bevor er reagieren konnte, drückte Luna ihm ein Stück Papier in die Hand. Darauf stand: „Rolle: der zynische Hirte.“

Die Aufführung, ein unheiliger Mix aus Improvisationstheater und völliger Planlosigkeit, war eine Katastrophe – aber genau deshalb so witzig. Thorsten samt Freundin spielten Josef und Maria, die in zuckenden Bewegungen den Geburtsvorgang darstellten, jedoch wusste niemand so genau, wieso Thorsten auch zuckte. Carla laberte als einer der Weisen etwas von Gold und Quecksilberbelastung, und Luna glänzte als Weihnachtsstern, indem sie die Szenerie mit ihrer Taschenlampe erhellte.

Als Chris an der Reihe war, stolperte er mit einem theatralischen Schrei über seinen eigenen Stock: „Die Schafe laufen weg! Das war’s mit dem Heiligen Abend!“ Doch da war auch noch Björn das Schaf, der trocken entgegnete: „Das Problem bist du, Hirte. Nicht wir.“

Die Runde brach in schallendes Gelächter aus. Björn stand gemächlich auf, klopfte sich den Staub von den Knien und fügte hinzu: „Manchmal muss eben auch ein Schaf seine Wahrheit sagen.“

Der Abend war ein Highlight in Chris’ Leben. Er fühlte sich wohl unter den schrägen Vögeln, und plötzlich wurde auch ihm bewusst, dass gut auch jenseits der Norm liegen kann.

In Absprache mit den anderen schrieb Chris in seiner Kolumne über den Abend. Doch diesmal war sie anders. Statt einer weiteren Abrechnung mit Weihnachten entschied er sich, das Chaos und die Absurdität zu feiern. Er beschrieb das Krippenspiel mit einer Mischung aus Humor und Zuneigung:

„Manchmal braucht es keinen perfekten Baum, keine glänzenden Kugeln und keine wohltönenden Chöre. Manchmal reichen ein improvisiertes Krippenspiel mit schrägen Typen, ein Käseigel und ein bisschen zu viel Wein, um Weihnachten zu retten.“

Die Kolumne schlug ein wie eine Bombe. Leser schickten ihm ihre eigenen Geschichten von chaotischen Weihnachtsfesten, Chris’ E-Mail-Postfach war so voll wie nie zuvor.

Chris entschied sich, diese Geschichten aufzugreifen und in seiner Kolumne zu veröffentlichen. In seiner kritischen Betrachtung von Weihnachten waren nun auch positive Töne wahrnehmbar, nämlich jene, die die Andersartigkeit feierten.

Vielleicht versöhnte sich hier auch der kleine, gemobbte Chris mit der Welt, die ihn damals nicht akzeptieren konnte? Zumindest die Psychotherapeuten der näheren Umgebung hätten mit diesem Fall ihre helle Freude gehabt.

Ein paar Tage später klingelte es an Chris’ Tür. Vor ihm stand Luna, ein breites Grinsen im Gesicht und eine Tüte in der Hand. „Ich dachte, du könntest ein bisschen Weihnachtsdeko gebrauchen“, sagte sie und drückte ihm die Tüte in die Hand.

Drinnen fand er einen winzigen Weihnachtsbaum – offensichtlich von Björn aus Holzresten geschnitzt – und eine Packung Lametta. Zusammen mit Luna stellte er den Baum auf seinen Couchtisch – zwar ein bisschen widerstrebend, aber doch mit einem Lächeln. Zum ersten Mal seit Jahren wich die Nüchternheit seines Zuhauses etwas Glänzendem – wenn auch nur ein bisschen.

Luna und Chris trafen sich fortan regelmäßiger und, wie könnte es in einer Weihnachtsgeschichte auch anders sein, verliebten sich ineinander. Chris feierte fortan kein einziges Weihnachtsfest mehr allein, denn er hatte eine neue Familie aus schrägen, liebenswerten Vögeln gefunden.

Ein neues Talent

Nach dem triumphalen Erfolg seiner Kolumne und dem Happy-End-Abend bei Luna war Chris Kindel nicht mehr der Gleiche. Er hatte plötzlich eine völlig neue Perspektive auf die Dinge – und vor allem: eine neue Muse.

Gehypt durch das positive Feedback seiner Leserschaft, entschied sich Chris, nun auch ein Buch zu schreiben. Ein lustiges Buch, das ein wenig seine eigene Geschichte erzählte, in der es um ein Happy End ging. Natürlich genau dann, als der verbitterte Protagonist schlussendlich seine Heimat und neue Perspektiven fand.

Das Buch, Arbeitstitel „Von Zimtsternen und Zynikern“, wurde ein Überraschungserfolg. Leser lachten, weinten und schickten ihm ihre eigenen verrückten Erlebnisse. Chris entdeckte etwas, das er nie für möglich gehalten hatte: Es machte ihm Freude, Menschen zum Lachen zu bringen.

Chris Kindel wurde ein Botschafter des unperfekten Weihnachtsfests. Seine Kolumnen wurden zur jährlichen Tradition, in denen er die absurden, chaotischen und manchmal rührenden Geschichten seiner Leser teilte. Und obwohl er immer noch den Biss eines Kritikers hatte, war es nun ein Biss, der zum Lachen anregte – und nicht mehr zum Zittern.

Eine süße Versöhnung

Auch mit den Zuckerbäckern fand Chris einen neuen Umgangston. Eines Tages überredete Luna ihn zu einem Backkurs bei einem seiner früheren „Opfer“ – einem Bäcker, dessen Windringe er einst mit einem besonders unschmeichelhaften Vergleich, die Analregion betreffend, bedacht hatte.

Als der arme Zuckerbäcker ihn in der Gruppe Lernfreudiger entdeckte, wurde er kurz etwas blass um die Nase, aber schlussendlich war der Kurs ein Erfolg, denn Chris wollte gemeinsam mit Luna lernen, wie man gute Kekse machte. Beide liebten den Süßkram, aber vor allem liebten sie es, gemeinsam zu backen.

Weihnachten würde bei Kindels künftig also auch backfreudig ablaufen, in illustrer Runde jedoch auf jeden Fall zum Abkeksen.

Verena Tretter

www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 25054

 

Bernhard und Bianca aka Bibi und Bernard

1990 – Wie alles begann

Bernhard und Bianca kannten sich bereits seit ihren ersten Lebenswochen. Ihre Familien waren Nachbarn gewesen, und wie es das Schicksal so wollte, wurden ihre Mütter zur selben Zeit schwanger. Im Grunde genommen waren sie wie Geschwister, denn ihre Geburtstage lagen nur knapp sieben Tage auseinander. Auch konnte man ihnen eine gewisse optische Ähnlichkeit nicht absprechen – die einem gemeinsamen Spieleabend der damals frisch eingezogenen Nachbarspaare geschuldet sein könnte. Man schenkte dieser Erkenntnis nur wenig Beachtung, war man doch im besten Einvernehmen – speziell was die regelmäßigen Spieleabende anging.

Die Kinder hatten eine wunderbare Kindheit, denn wie Zwillinge erlebten sie die schönsten Augenblicke ihres Weges gemeinsam. Sei es der erste Schultag, ihre kindliche Leidenschaft für zwei von Disney erfundenen Mäusepolizisten, die zufällig dieselben Namen trugen, oder ihr gemeinsamer Berufswunsch, Friseurin und Friseur zu werden, um später einen Beauty-Salon zu eröffnen. Die erste Liebe traf beide recht hart, denn sie waren Hals über Kopf in denselben Kerl verknallt.

Heute – wie es weitergeht

Es waren nun schon beinahe 15 Jahre vergangen, seit Bianca und Bernhard ihren Beauty-Salon „Chez Bibard“ eröffnet hatten. Sie waren hinlänglich als Bibi und Bernard bekannt, was die Namensgebung ihres Salons nicht unwesentlich beeinflusst hatte.

Es waren ihnen viele gute Jahre vergönnt gewesen, doch mit der Zeit stiegen auch die Mietpreise und Kosten ins Unermessliche. An die Liebe war – bis auf ein paar kürzere Affären hier und da – kaum zu denken, war doch stets ihr Salon der Mittelpunkt ihrer beider Aufmerksamkeit gewesen. Doch nun war es Zeit für einen Neuanfang. Mit Mitte dreißig würden sie nun aufs Land ziehen, die horrenden städtischen Mietpreise gegen mehr Lebensqualität eintauschen, und wer weiß, vielleicht hätte man sogar noch Zeit für die große Liebe.

Gesagt, getan, bezogen sie nach einem tränenreichen Abschied aus ihrem städtischen Umfeld ein kleines Häuschen im Dorfkern eines idyllischen Örtchens, das ihnen Möglichkeit bot, oben zu wohnen und unten ihren Salon zu betreiben.

Alles schien perfekt, und am Tag der feierlichen Eröffnung glänzten neben dem Salon auch sie selbst von Kopf bis Fuß. Bibi pflegte sich im Stil der 50er-Jahre zu kleiden, mit rückenfreien Petticoat-Kleidern, die ihren Tattoos die nötige Bühne boten. Auch Bernard war Tattoos nicht abgeneigt, doch sah er seinen Körper als lebende Leinwand, seinen Kopf zierten unzählige Piercings. Doch sein ganzer Stolz galt seinen Ohr-Tunneln, die nahezu faustgroß auf seinen Schultern ruhten.

Sie verstanden sich als Künstler, und obwohl ihnen die Wünsche Ihrer Kunden stets Befehl waren, durfte die eigene Note nach erfolgter Verschönerung des Individuums nicht fehlen.

In ihrem neuen Umfeld erschienen die beiden wie zwei Paradiesvögel, die das Idyll eines heimatlichen Schwarz-Weiß-Filmes schmückten. So war es gewiss nicht verwunderlich, dass am Tag der Eröffnung nur sehr wenige Besucher den Weg in den neuen Salon fanden.

Einige Wochen später fanden sich dennoch immer mehr Kunden bei ihnen ein, denn der nächste Friseursalon war sage und schreibe eineinhalb Stunden Autofahrt entfernt. Und im Vergleich zur langen Autofahrt schien das bunte Duo dann doch das geringere Übel zu sein.

Nun endlich angekommen und sogar teils ins Dorfleben integriert, hatten Bibi und Bernard ihr Ziel erreicht: günstigere Mieten, weniger Arbeitsstunden und mehr Freizeit. Doch waren sie es nicht gewohnt, damit umzugehen. Schnell wurde ihnen langweilig, denn Clubbings oder andere Events konnte man im Dorf nicht finden. So saßen sie abends bei einem Bierchen im Wohnzimmer und frönten ihrer Leidenschaft – Krimis. Zwar wurden die Mäuse-Helden ihrer Kindheit aus der gleichnamigen Disneyserie mittlerweile durch Agatha Christies Hercule Poirot abgelöst, denn dieser war stets stilecht und mit Bartwichse gezwirbeltem Schnurrbart ihr neuer Held ungelöster und kniffliger Kriminalfälle.

Als Bibi eines Tages die Pfarrersköchin mit Lockenwicklern versah, hörte sie, wie diese mit der Wirtin im Nebensessel den neuesten Tratsch teilte.

„Hast du schon gehört“, begann sie, „die Schwester vom Huber-Bauern ist aus dem Afrika-Urlaub nicht mehr zurückgekommen, anscheinend hat sie sich dort einen Einheimischen angelacht.“ Mit großen Augen entgegnete die Wirtin: „Ah da schau her, mit Anfang vierzig hätte sie hier wohl auch keinen mehr abbekommen.“ Gehässig grinsend erwiderte die Pfarrersköchin: „Na ja, wer’s braucht“ und ließ schulterzuckend von ihrem nicht anwesenden Opfer ab, um nun deren Bruder verbal in Angriff zu nehmen. „Am Huber-Bauer-Hof selbst ist es seit neuestem des Nachts übrigens immer hell beleuchtet. Im Stall brennt Licht, man hört laute Musik spielen und sieht Schatten, die sich auf- und ab bewegen. Vielleicht feiert er ja jetzt Orgien, wo sie nicht mehr da ist.“ „Welche Musik?“, fragte die Wirtin neugierig, doch die Pfarrersköchin entgegnete nur gleichgültig: „Das weiß ich doch nicht, aber der Jäger vom benachbarten Wald hat es beobachtet und im Tante-Emma-Laden erzählt.“

Nachmittags wiederholte sich das Szenario, jedoch nun in maskuliner Ausführung zwischen dem Mann der Wirtin und dem Gemeindearbeiter, die sich zur selben Zeit ihre Haare schneiden ließen. Es folgten Aussagen zu diversen Praktiken im Stall, gewissen Bedürfnissen alleinstehender vierzigjähriger Frauen – in Afrika, und weitere Aussagen in Bezug auf Größenunterschiede. Zwar hatte sich der Dialog zwischen den Männern nicht wirklich in politisch korrekter Sprache und ohne sexuelle Anspielungen zugetragen, doch das wahre Ausmaß des Gesagten würde die guten Sitten erheblich erschüttern.

Bibi dachte bei sich: Diese dummen Tratschmäuler, wenn die Schwester vom Bauern sich in Afrika bei oder auf jemandem niedergelassen hatte, wäre diese wenigstens zweimal erfüllter, als sie es sich von den einheimischen Männern in diesem Kaff hätte erwarten können.

Des Abends tranken Bibi und Bernard ein gepflegtes Feierabendbier auf ihrem Balkon. Als Bernard Bibis grübelndes Gesicht bemerkte, fragte er gerade aus: „Was los Bibi, bedrückt dich was?“ Diese erzählte ihm unmittelbar vom Tratsch des Tages, doch die Geschichte mit dem hell erleuchteten Stall, der Musik und den Schatten ließ sie nicht recht Ruhe finden. Auch Bernard war unmittelbar interessiert, da die Geschichte dem ländlichen Feierabend ein wenig mehr Würze verlieh. Voller Tatendrang meinte er zu Bibi: „Lass uns zum Hof fahren, vielleicht finden wir ja was heraus?“ Bibi musste nicht lange überredet werden, und gemeinsam fuhren sie mit ihren breiträdrigen E-Bikes – einem Überbleibsel ihres städtischen Lebens – zum Hof des besagten Huber-Bauern.

Dort angekommen dämmerte es bereits. Sie ließen sich im Wald nieder, und während sie den Hof beobachteten, fühlten sie sich wie zwei Hobby-Detektive, die an einem heißen Fall dran waren.

Gegen zehn Uhr begann das Spektakel: Im Stall wurde es taghell, Musik erklang aus dem mit Brettern verkleideten Gebäude, und wie es die Tratschweiber erwähnt hatten, begannen auch Schatten auf  und ab zu tanzen. Neugierig pirschten sie sich näher heran, und das Herz schlug ihnen bis zum Hals. Diesen Adrenalinkick hatten sie sich nach so vielen Monaten ländlicher Assimilation wahrlich verdient!

Aufgeregt und voller Vorfreude über das, was sie entdecken könnten, hofften sie fast darauf, dass sich die Orgien-These der Tratschweiber bewahrheiten würde. Vor dem Stall angekommen, versuchten sie, einen Blick durch die Bretter zu erhaschen, und was sie beobachteten, war wahrlich bemerkenswert:

An der nächstgelegenen Wand des Stalls war eine Leinwand befestigt, die einem alten Reflektor als Wiedergabefläche diente. Zu sehen war eine Szene aus dem Ballett Schwanensee und auch die Musik entstammte dem besagten Stück. Vor der Leinwand tanzte der Huber-Bauer, der in einem Tutu und Gummistiefeln die Bewegungen der verzauberten Schwanenprinzessin nachahmte.

Nach anfänglicher Verwunderung waren Bibi und Bernard regelrecht berührt von der Hingabe, die dieser stämmig gebaute und große Mann in seinen Bewegungen ausdrückte. Nach einigen Minuten fassten sie einen Entschluss: Sie wollten den Huber-Bauern davor bewahren, sein Gesicht vor den Dörflern zu verlieren, und mussten ihn mit dem Tratsch konfrontieren sowie mit der Tatsache, dass er Beobachter hatte.

Sie fassten sich ein Herz und klopften laut an die Stalltüre. Es wurde still im Stall, und nach einiger Zeit öffnete der Huber-Bauer einen Spalt breit die Türe. „Was wollt ihr hier?“, brummte er griesgrämig aus dem Stall, doch Bibi und Bernard nahmen ihm sogleich den Wind aus den Segeln.

„Wir haben dich beim Tanzen gesehen“, entgegnete Bernard, „und wir wollen dich vor den Dörflern warnen, die bereits jetzt eifrig über die die Beleuchtung und die Musik in deinem Stall tratschen.“

Beschämt und unsicher blickte der Huber-Bauer auf die beiden, doch er wusste, dass sein Treiben aufgeflogen war. „Bitte verratet mich nicht“, sagte er mit leiser Stimme. „Die Leute hier können gemein werden, wenn man nicht so tut, wie sie es von einem erwarten.“ Da lachten Bibi und Bernard und erwiderten: „Oh das wissen wir nur zu gut. Schau uns an, wir entsprechen ja wohl kaum dem Bild, das man hier gewohnt ist.“ Der Huber-Bauer musterte die beiden von Kopf bis Fuß und meinte lachend „Ja, da mögt ihr wohl recht haben.“ Als Zeichen seines Vertrauens ließ er sie herein und gemeinsam heckten sie einen Plan aus, der die Dorfbewohner täuschen sollte …

Schon am nächsten Tag hingen Plakate im Salon „Chez Bibard“, die verkündeten, dass sie gemeinsam mit dem Huber-Bauern ein Hofkino veranstalten würden, jeder war dazu eingeladen, und sollte es im Dorf Anklang finden, würde man es regelmäßig anbieten.

Als die Dörfler die Plakate lasen, stellte sich beim einen oder anderen durchaus ein gewisser „Aha-Moment“ ein, denn plötzlich ergaben die Beobachtungen des Jägers Sinn: Der gute Huber-Bauer hatte nur sein Equipment justiert, um einen willkommenen Beitrag gegenüber der Dorfgemeinde zu leisten. So ein toller Mann aber auch. Zwinker …

Vierzehn Tage später fand das erste Hofkino statt, und es sollten noch viele folgen. Die Frauen aus dem Ort kamen mit Köstlichkeiten, die sie für kleines Geld verkauften, und die Männer trugen Bier- und Limokisten auf den Hof. Man freute sich über das Zusammenkommen, und bei ein, zwei, drei Bier ließ es sich plötzlich auch ganz ungezwungen miteinander reden.

Bibi und Bernard waren nun gänzlich angekommen. Sie waren Teil der Gemeinschaft, und auch der Huber-Bauer, Martin war sein Name, war gerettet. Vielleicht mag es fast ein wenig kitschig erscheinen, doch mit Martin fand Bernard die Liebe, vielleicht sogar die große, aber das würden sich die beiden noch ein wenig genauer ansehen.

Doch auch Bibi hatte sich ein wenig verknallt. Denn gemeinsam mit dem Dorfpfarrer konnte sie endlich wieder ihre geliebten Spieleabende veranstalten.

Und die Moral von der Geschichte? Die Anstößigkeit liegt immer in der Imagination des Betrachters …

Verena Tretter

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 24165

Die Farben der Weihnachtszeit

In dieser Geschichte geht es, wie auch nicht anders zu erwarten, um Weihnachten. Jedoch geht es dabei mehr um ein Kaleidoskop an Emotionen, die diese wunderbar besinnliche Zeit mit sich bringt.

Denn nicht immer ist es einem vergönnt, sich in flauschige Decken gekuschelt und die Füße in Wollsocken gehüllt hinter einem spannenden Roman zu vergessen oder gedankenverloren die Lovestory im neuesten Netflix Weihnachtsfilm zu beseufzen.

Viel mehr ist diese Zeit – nicht nur, aber auch – durch äußere Einflüsse geprägt, die einem regelrecht die Sinne fluten. Sei es durch hektische Menschenmengen in Einkaufszentren, Mariah Carey oder Wham, die aus den Lautsprechern dröhnen, und nicht zuletzt durch organisatorische Belange, die für ein „besinnliches“ Weihnachtsfest geplant und umgesetzt werden wollen. Denn am Weihnachtsabend alle an einen Tisch zu bekommen, ist wahrlich ein frommer Wunsch, dem das eine oder andere graue Haar entschlossen zur Seite steht.

Emotionen sind bunt. So auch bei Helga, der Heldin unserer heutigen Geschichte. Und was wäre reizvoller, als diese Emotionen farblich zu untermauern – nicht zuletzt, um der allgemeinen Befindlichkeit unserer Protagonistin ein adäquates Bühnenbild zu gestalten und ihrem persönlichen Weihnachtsfilm das passende Drehbuch zu liefern.

Wir starten daher mit dem allseits bekannten Ampelsystem in den Farben Grün, Orange und Rot. Welche Farben danach noch hinzukommen, wird im Laufe der Geschichte vielleicht zu erahnen sein.

Helga

Helga war Mitte fünfzig und alleinerziehende Mutter zweier Teenager, da Karl – ihr Ex-Mann – im Rahmen seiner Midlife-Crisis vor zwei Jahren durchaus mehr mit seiner Pilates-Trainerin turnte, als seiner Ehe dienlich gewesen wäre. Doch als treibende Kraft eines gutbürgerlichen, familiären Konstrukts ließ sich Helga davon wenig beeindrucken, da Karls Qualitäten als Ehemann auch davor schon nicht von großer Ausdauer und Hingabe geprägt gewesen waren.

Helga war die zentrale Anlaufstelle der Familie. Die, die das Sonntagsessen mit einer extra Portion Liebe zubereitete, und die, die ihre Familie zusammenhielt, was auch immer geschehen mochte.

So ist es auch kaum verwunderlich, dass ihr gerade die kleinen Herausforderungen des Alltags, wie Feiertage und Familienfeiern, ein ganz besonderes Anliegen waren. Diese meisterte sie stets mit absoluter Präzision und subtilem Nachdruck, denn: Wenn man seine Lieben zusammenhalten wollte, war eine Prise latenten emotionalen Zwangs eine äußerst wirkungsvolle Maßnahme.

Doch eines sei an dieser Stelle festgehalten: Trotz ihrer Niederlagen und Schicksalsschläge, die sie im Laufe ihres Lebens erleiden musste, hatte sie ein Herz in der Größe eines Kontinents, das jedem Hilfe zukommen ließ, wenn es notwendig war, und das für die Sorgen der Liebsten immer da war.

Doch nun wollen wir Helga ein Stück ihres Weges begleiten und mit ihr gemeinsam in eine phantastische Vorweihnachtszeit eintauchen – lasset die Spiele beginnen …

Grün

Es war der erste Dezember und Helga, die bereits tags zuvor die Herbstdekoration in den entsprechenden Kisten verstaut hatte, freute sich bereits auf Weihnachten und darauf, das Haus weihnachtlich zu dekorieren.

Die ersten Kekse waren schon gebacken und auch das Haus duftete bereits nach Zucker, Zimt und Schokolade. Im Radio liefen die ersten Weihnachtslieder und Helga konnte es sich nicht verkneifen, ihre vollen Hüften im Takt der Musik zu bewegen.

„Endlich Weihnachten“, dachte sie sich und machte sich frisch ans Werk, um auch die restlichen Familienmitglieder sowie die Nachbarn mithilfe zahlreicher LEDs an ihrer Freude teilhaben zu lassen.

Es dauerte knapp zwei Tage, doch dann war es vollbracht. Am dritten Dezember erstrahlte das Haus von innen und von außen in warmweißem Licht, wodurch ihre weihnachtliche Vorfreude visuell zum Ausdruck gebracht werden konnte.

Helga tänzelte durchs Haus und streichelte in Gedanken die Blasengel, die auf der Anrichte im Wohnzimmer drapiert waren. Am Ende ihrer Inspektion angekommen, betrachtete sie zufrieden den Adventkranz, dessen erste Kerze morgen angezündet werden würde.

Dazu hatte sie auch ihre Kartenrunde eingeladen. Eine gesprächige Gruppe an Mittfünfzigerinnen, die es liebten, in ihrer Freizeit Karten zu spielen und den einen oder anderen Dorftratsch zu teilen.

Auch am nächsten Tag ergossen sich Weihnachtsklänge aus dem Radio und Helga hatte bereits am frühen Morgen die Keksplatte vorbereitet, die ihr vor ihren Freundinnen als Trophäe und Beweis ihrer perfekten Backkünste dienen sollte.

Und was am ersten Adventsonntag auf keinen Fall fehlen durfte, war der Eierlikör – selbstverständlich aus eigener Produktion und im Laufe der Zeit perfektioniert, war er ihr absolutes Geheimrezept.

Als die Kartenrunde vollzählig versammelt war, bestaunte man die imposante Dekoration sowie die perfekt geformten kleinen Kekse und ging dann über in den herkömmlichen Rhythmus.

„Hast du schon gehört“, begann Ilse, „die Frau von unserem Bürgermeister hat bei der Gemeindeweihnachtsfeier das Klo vollgekotzt.“

„Na ja, entweder ist sie wieder schwanger, oder sie hat ein Gläschen zu viel erwischt“, entgegnete Maria schulterzuckend.

„Na ja, als Bürgermeistergattin sollte man sich schon zu benehmen wissen“, warf nun Herta ein, woraufhin Sissi erwiderte:

„Aber, aber, wir sind hier ja nicht bei den Royals in Großbritannien, und so ansehnlich sind unsere Häuptlinge auch nicht.“

Daraufhin folgte einstimmiges Gelächter und die illustre Damenrunde war bereits bei der zweiten Runde Canasta angelangt. Man leerte ein ums andere Gläschen Eierlikör, als die sonst eher stille Josefine plötzlich das Wort ergriff:
„Helga, ich muss dir was erzählen.“ Alle Anwesenden hoben neugierig die Köpfe und Helga, die erst neugierig und dann etwas verlegen hinter ihren Karten hervorlinste, erwiderte:

„Spuck’s aus, es wissen ohnedies schon alle …“

„Was, dass dein Karl mit der Pilates-Tussi ein Kind bekommt?“, fragte Josefine unsicher, und Helga entgegnete nüchtern:
„Ja, genau das hab ich gemeint. Und er ist nicht mehr mein Karl, schon lange nicht mehr!“

Die Damen der Kartenrunde blickten teils verächtlich, teils mitfühlend zu Helga, deren Missstimmung nun kaum noch zu verbergen war.

„Was soll man sagen“, durchbrach sie die Stille des Augenblicks, „er war schon immer ein Lump und das wird er auch immer bleiben.“

Die vermeintlichen Freundinnen zuckten bloß die Schultern, doch diese Geste ließ Helga in ihrem emotionalen Elend alleine zurück. Zwar hatte sie im Laufe der Zeit mit der einen oder anderen auch tiefsinnigere und unterstützende Gespräch geführt, doch am Ende des Tages waren sie Hyänen, die sich insgeheim am Leid der jeweils anderen gierig labten.

Orange

Am Ende dieses Tages war Helga deprimiert. Zwar wusste sie bereits um die Schwangerschaft, doch bis heute hatte sie es gekonnt verdrängt.

„Zum Gespött macht er mich, der Saukerl, und ich bin die verlassene Ex-Ehefrau, die mit den zwei Teenagern, die keiner mehr will und die ausgetauscht wurde gegen ein jüngeres, knackigeres Exemplar“, dachte sie insgeheim, als sie die Überbleibsel der Kartenrunde in den Geschirrspüler räumte.

Hübsch war sie gewesen, die Neue, und durchtrainiert, da konnte sie selbst wohl kaum mithalten.

An diesem Abend tröstete sie sich mit ein paar Gläschen Rotwein sowie einem Weihnachtsfilm, in dem der reiche Erbe eines Imperiums durch die sozialen Fähigkeiten einer im Ort beliebten Anwältin nachhaltig den Wert der Nächstenliebe kennenlernte und auch gleich umzusetzen vermochte, und der sich natürlich auch in die hübsche, junge Anwältin verliebte. Friede, Freude Hochzeit – am Weihnachtabend – und die Welt war wieder wunderbar. Zumindest im Fernsehen.

Doch Helga war noch immer am Grübeln, denn ER war noch immer da, der gekränkte Stolz. Er, der ihr die ganze Weihnachtsstimmung vermieste und der an ihr nagte, wie ein Hamster an einer Handvoll Körner.

Am nächsten Tag versuchte sie, die Blicke der Hyänen zu vergessen und ihren Alltag wie gewohnt wieder aufzunehmen. Sie war schließlich ein eigenständiger Mensch und NIE UND NIMMER ließ sie sich ihre heilige Vorweihnachtszeit durch ihren Ex vermiesen.

Gesagt, getan, setzte sie sich in ihr Auto und fuhr ins nahegelegene Einkaufszentrum. Denn einer vorweihnachtlichen Depression musste man mit einer Überdosis Weihnachten begegnen.

Dort angekommen, warf sich Helga todesmutig ins Getümmel. Sie shoppte, was das Zeug hielt, und als die Einkaufstaschen drohten zu platzen, setzte sie noch einen drauf und machte noch einen Abstecher zu Ikea.

Nach all den Vorbereitungen und Einkäufen war sie abends zu Recht müde. Und auch ihr kleines Auto hätte wohl kaum mehr in sich aufnehmen können, ohne mit dem Heck am Boden zu schleifen. Helga fuhr gemächlich zurück nach Hause. Draußen schneite es dicke weiße Schneeflocken und im Autoradio besang – parapapapam – David Bowie seinen „Little Drummer Boy“.

  • Fast wäre Helga glücklich gewesen.
  • Fast hätte sie die Demütigungen des letzten Tages vergessen und
  • fast hätte sie den Weg nach Hause geschafft, wäre da nicht die Eisplatte gekommen, die unter dem Schnee in der nächsten Kurve schadenfroh auf sie wartete.

Helga gab alles. Sie riss das Lenkrad von links nach rechts, versuchte die Rutschpartie durch gekonntes Gegenlenken zu beenden – wie man es im Schleuderkurs gelernt hatte –, doch vergebens. Das Auto rutschte samt Helga und all ihren Einkäufen heckseitig in den Graben.

Rot

„Whoaaaa“, stöhnte Helga, was war das für ein Ritt. War noch alles dran an ihr? Und wie war es um ihr Auto bestellt? Mit zitternden Händen löste Helga den Sicherheitsgurt, öffnete die Autotür und stieg mit ebenso zitternden Knien aus dem Auto, das mit der Hinterseite ein wenig nach unten hing.

Helga stand schweigend da. Sie betrachtete fassungslos ihr Auto, das in ein Bachbett geschlittert war. Trotz ihres Schadens schickt sie ein rasches Stoßgebet nach oben, denn diese Misere hätte noch weitaus schlimmer ausgehen können. Als sie sich einigermaßen gefangen hatte, griff sie nach ihm Handy. Die Nummer des regionalen Abschleppdienstes war rasch gefunden, doch bevor sie die Nummer wählen konnte, hörte sie ein fernes Geräusch, das näher zu kommen schien – war das ein Traktor?

Geistesgegenwärtig startete Helga die Warnblinkanlage ihres Autos und hupte lange und entschlossen, um den Fremden auf sich aufmerksam zu machen. Und tatsächlich: Wenige Minuten später stand da ein Traktor und ein bärtiger Mann stieg aus der Fahrerkabine.
„Brauchen Sie Hilfe?“, fragte er Helga, die ihm nun heulend ob des nachlassenden Schocks „ja bitte“ entgegenhauchte.

Ein Abschleppseil war schnell zur Hand und eins, zwei, drei stand ihr Auto wieder auf der Straße.

„Was für ein Glück, dass Sie in der Nähe waren – vielen DANK für Ihre Hilfe“, bedankte sich Helga bei dem Fremden und musterte ihn nun von oben bis unten. Obwohl sie nicht zu sagen vermochte, woher sie ihn kennen könnte, fragte sie: „Kennen wir uns? Sie kommen mir so bekannt vor.“ Auch der Fremde musterte sie nun eindringlicher.

„Bist du die Helga?“, fragte er nach ein paar Sekunden, Helga Enzenbacher? „Fischer“, entgegnete sie nun ein wenig verwirrt. „Enzenbacher ist mein Mädchenname. Und wer bist du?“, fragte sie den Fremden. „Thomas Bauer, wir sind gemeinsam in die Volkschule gegangen, erinnerst du dich nicht mehr?“

Und plötzlich durchfuhr sie ein Geistesblitz, und Erinnerungen über eine längst vergessene Zeit machten sich in ihr breit.

Thomas war ein stiller, freundlicher Junge gewesen. Einer, der sich nicht an den Streichen der anderen beteiligte, und einmal ist er sogar dazwischengegangen, als die restlichen Jungs eine Gruppe von Mädchen, der sie auch angehörte, an den Zöpfen zogen.

„Bist du nicht nach Kanada ausgewandert?“, fragte Helga neugierig. „Du hast doch irgendwas Technisches studiert und dann dort Karriere gemacht. Zumindest erzählt man sich das so bei den Klassentreffen.“

„Ja, so ähnlich“, erwiderte Thomas. „Ich durfte in Kanada bei einigen Forschungsprojekten mitmachen, aber da meine Eltern jetzt zu alt sind, um sich um unseren Hof zu kümmern, bin ich vor drei Wochen zurückgekommen, um ihn zu übernehmen.“

„Na da schau her“, staunte Helga. „Der verlorene Sohn ist zurück aus Übersee, da werden sich deine Eltern sicher sehr freuen, und wie man sieht – sie deutete auf ihr Auto –, war das nicht die einzige gute Tat, seit du zurück bist.“

„Zur rechten Zeit am rechten Ort“, entgegnete er und lächelte ein wenig schelmisch.

Helga war nun gänzlich durchgefroren und auch Thomas spürte die Kälte dieses Winterabends, die ihnen beiden zunehmend unter die Kleidung kroch. Beide waren sich einig, dass sie sich bald auf einen Kaffee im Warmen treffen wollten, um die Erinnerungen der Kindheit nochmals aufleben zu lassen. Zudem wollte Helga ihren Retter auch auf ein Stück Kuchen einladen, denn für seine rasche Hilfe war sie ihm mehr als dankbar.

Zu Hause angekommen bemerkte Helga ihre schweren Glieder. Die Muskeln taten ihr am ganzen Körper weh und sie fühlte sich, als hätte sie ein ganzer Konvoi an weihnachtlichen Coca-Cola-Trucks überfahren. Das musste der Schock gewesen sein, der nun ausließ, und auch die Schlitterpartie ins Bachbett hatte sie ordentlich durchgebeutelt.

Als sie endlich die letzten Einkäufe verstaut hatte, ließ sie sich auf die Couch fallen und ein paar Tränen kullerten ihr über ihr müdes Gesicht: Die Bilanz der bisherigen Weihnachtszeit ließ zu wünschen übrig:

  • Ihr Ex, der sie betrogen und für eine Jüngere verlassen hatte, wurde nochmal Vater.
  • Die Kartenrunde, oder besser gesagt, die Dorfweiber wetzten das Maul hinter ihrem Rücken und geiferten nach Dramen, um nicht vor ihren eigenen Türen kehren zu müssen,
  • und vor wenigen Stunden hatte sie auch noch einen Autounfall. Das war zu viel in zu kurzer Zeit, und weinen half – zumindest für den Moment.

Auch die Tage darauf waren nicht von Glücksgefühlen gekrönt. Sie spürte ihren geschundenen Körper noch immer und auch die depressive Verstimmung wurde nur langsam besser.

Doch nun freute sie sich doch ein wenig, denn am Abend würden ihre Söhne wieder nach Hause kommen. Sie waren in der vergangenen Woche mit ihrem Vater – dem Lump – Schifahren gewesen und obwohl ihr eine kleine Pause vom pubertären Alltag durchaus guttat, hatte sie die beiden ganz schön vermisst.

Beim gemeinsamen Abendessen freute sich Helga schon auf die Geschichten, die die beiden von ihrem Ausflug erzählen würden.

Um die beiden gebührend zu begrüßen, hatte sie Spaghetti Bolognese gekocht und für die selbstgemachten Nudeln war sie fast drei Stunden in der Küche gestanden.

Beim Essen waren ihre Jungs eher wortkarg gewesen. Keine Geschichten über wilde Abfahrten, Après-Ski oder neue Bekanntschaften. Der eine beschwerte sich darüber, dass ihm in der Sauce zu viel Fleisch sei, denn er wollte sich künftig vegan ernähren, wie die Freundin des Vaters, und auch beim Weihnachtsessen könne Helga künftig doch bitte mehr auf Nachhaltigkeit achten.

Der andere war mit seinem Handy beschäftigt, um die coolsten Schnappschüsse aus dem Schiurlaub auf Instagram zu posten. Und als Helga und Sohn 1 bereits fertig gegessen hatte, saß Sohn 2 noch immer vor einem vollen Teller. Nur um sich dann bei Helga zu beschweren, dass das Essen kalt war.

Obwohl Helga ihre Sprösslinge abgöttisch liebte, stieg ihr der Zorn immer weiter hoch. Verwöhnt hatte sie diese Fratzen. Einer undankbarer als der andere, keiner half im Haushalt und ihr Held war ausschließlich ihr Vater. Sie, die Mutter, war schon seit einigen Jahren abgeschrieben.

Als die Jungs wieder mal aufstehen wollten, ohne ihre Teller in den Geschirrspüler zu räumen, platzte ihr der Kragen.

„Bin ich eure Dienstmagd?“, feuerte sie in ihre Richtung. „Räumt eure Teller ab und in Zukunft spielen wir hier andere Töne, habt ihr mich verstanden? Ihr werdet künftig beide im Haushalt helfen, sonst ist euer Taschengeld gestrichen.“

Unbeeindruckt über Mutters kleinen Wutanfall stellten die Jungs ihre Teller in die Spüle und gingen mit verächtlichen Blicken in ihre Zimmer. Aus dem Flur entnahm Helga dann noch einzelne Worte wie „uncool“, „hysterisch“ und „alt“, bevor sich die Zimmertüren für den Rest des Abends schlossen.

Das Letzte, was Helga an diesem Abend durch den Kopf ging,  bevor sie – innerlich ein wenig leer – einschlief, waren die Worte „uncool“ und „hysterisch“ und „alt“, die sich wie ein negatives Mantra in ihren Träumen manifestierten.

Schwarz

Die nächsten Tage und Wochen vergingen wie im Flug und plötzlich war bereits das dritte Adventwochenende erreicht. Eine Woche noch und Weihnachten stand vor der Tür. Sie freute sich auf den Weihnachtsabend, an dem sie mit ihren Söhnen, ihrer Mutter sowie mit ihrer Schwester und deren Familie das Weihnachtsessen genießen würde. Das Haus würde voll sein, der Tisch würde sich biegen und ihre kleinen Nichten würden große Augen machen, wenn das Christkind im Nebenraum klingelte.

Helga hatte bereits alle Weihnachtsgeschenke beisammen. Die Lebensmittel für das Weihnachtsessen waren weitestgehend besorgt und auch das Haus hatte sie schon vor Wochen blitzblank geputzt.

Am heutigen Adventsamstag würde sie ein letztes Mal ins Einkaufszentrum fahren, um die letzten Besorgungen zu machen.

Dort angekommen staunte sie nicht schlecht, als sie mit Müh und Not noch einen Parkplatz finden konnte. Auch die Fahrt selbst war etwas holprig gewesen, da ihr der junge Fahrer einen Golf GTI frech den Mittelfinger gezeigt hatte, bevor er mit voll Speed an ihr vorbeischoss, und sie konnte gerade noch ausweichen, als ihr ein älterer Herr mit Hut und Brille die Vorfahrt nahm.

Im Geschäft ihres Vertrauens musste sie sich mit einer Altersgenossin verbal um das letzte Stück Butter prügeln, doch dieses würde sie nun als stolze Beute beharrlicher Zickerei im letzten Keksteig verarbeiten.

An der Kasse angekommen, spürte sie mehrmals den Einkaufswagen des Hintermannes in ihrem Rücken, der offenbar versuchte, sie damit zu penetrieren. Helga drehte sich um und blickte ihm geradewegs in sein ignorantes Gesicht.

Der innere Monolog beider Parteien gestaltete sich in absoluter Stille, doch auch Gedanken sind dann und wann telepathisch hörbar:

Helga: „Wenn du mir deinen verdammten Einkaufswagen noch mal in die Flanken schiebst, verprügle ich dich mit deinem Baguette und reibe dir das Gesicht mit deinem beschissenen Vanilleeis ein.“

Hintermann: „Wenn du blöde Zicke mich noch länger anstarrst, anstatt deine scheiß Sachen aufs Förderband zu legen, falte ich dich in deinen Einkaufswagen und schieb dich mitsamt deinen Einkäufen in den nächsten Gully.“

Helga: „Bevor du mich in den Gully schiebst, tunke ich dich mit dem Gesicht voraus ins nächste Kaufhausklo.“

Obwohl die Stille des Augenblicks nie durchbrochen wurde, einigten sie sich dann nonverbal darauf, den Bezahlvorgang so rasch wie möglich abzuschließen.

Auch die letzten Meter zum Auto gestalteten sich abenteuerlich, als ein sensorisch überfordertes Kind Helga brüllend gegen das Schienbein trat, ihr im Wutanfall seinen Kakao vor die Füße kotzte und die Eltern des Kindes sie vorwurfsvoll ansahen, weil sie ihnen nicht half, die Sauerei wegzuputzen.

Zu Hause angekommen wollte sich Helga regelrecht verbarrikadieren. „Nur noch Verrückte da draußen“, dachte sie mit pochendem Herzen, „eine Zombieapokalypse ist ein Dreck dagegen.“

Die folgenden Tage waren eher ereignislos. Zu Weihnachten selbst stand sie bereits um 6:00 morgens auf, um rechtzeitig mit allem fertig zu werden. Sie hackte, kochte, rührte und buk, als würde ihr Leben davon abhängen, und als die letzte Serviette feinsäuberlich gefaltet auf dem Teller drapiert war, kamen auch schon die Gäste.

Beim Essen lästerte Sohn Nr. 1 über die Fleischvielfalt am Tisch, die Nichten bewarfen sich gegenseitig mit Rotkraut und die Schwester schickte Helga drei Mal in die Küche, um das Fresschen von Daisy, ihrem geliebten Chihuahua, auf Temperatur zu bringen. Obwohl Helga all das schon lange gewohnt war, war es diesmal anders. Sie spürte, wie ihr linkes Augenlid zuckte, doch sie wollte sich vor den anderen nichts anmerken lassen.

Als Helgas Mutter das Thema Karl – der Lump – zur Sprache brachte, kochte die Situation jedoch über. Neben Bemerkungen wie „hättest du dich mehr gekümmert“ und „er war ja immer ein guter Ehemann“, war ihr wieder einmal die Schuld in die Schuhe geschoben worden, dass ER fremdgegangen war.

Helga sah rot, dann schwarz und plötzlich hörte sie sich selbst schreien, wie aus weiter Ferne, doch unfähig die Szene harmonisierend zu beeinflussen:

„…Und hättest du, liebe Mutter, dich nicht permanent eingemischt und mir gesagt, was für eine miese Mutter und Hausfrau ICH bin, wäre ich der Situation vielleicht gewachsen gewesen.“

Sie sah zur Schwester, die ihr gerade erneut Daisys Napf in die Hand drücken wollte, und fuhr fort: „Und du meine Liebe bewegst jetzt deinen Hintern in die Küche und wärmst dein Hundsfutter gefälligst selber auf.“

Auch die Jungs bekamen ihr Fett ab, als Helga ihnen die Handys aus der Hand riss, um sie mit einer gekonnten Handbewegung direkt aus dem Fenster zu werfen.

Am Ende war es nun doch eskaliert. Sowohl die Gäste als auch Helga sahen sich schweigend an. Auch den Rest des Abends verbrachte man eher still, und als die Geschenke verteilt waren, verabschiedeten sich alle in Windeseile, auch die Jungs, die hysterisch nach ihren Handys suchten.

Weiß

Helga war müde. Nach den Anstrengungen der vergangenen Wochen, des heutigen Tages selbst, an dem sie den ganzen Tag in der Küche gestanden hatte und nicht zu vergessen, der Wutanfall, setzte sie sich auf die Couch, legte die Füße auf den Tisch – was sie sonst eigentlich nicht tat – und schloss für einen Moment die Augen. Die Jungs waren mit den Fahrrädern zu ihrem Vater gefahren und Helga genoss die Stille. Als ihr Handy vibrierte, sah sie eine Nachricht von Thomas, der ihr – und sicher auch vielen anderen – „Merry Christmas“ wünschte.

Sie antwortete ihm prompt, doch damit, dass er sie anrufen würde, hatte sie nicht gerechnet. Es war erst 21:30 gewesen und er fragte sie, ob sie auch ins nahegelegene Pub mitkommen möchte. Der Wirt öffnete das Pub am Weihnachtsabend ab 22:00 Uhr und jene, die ein wenig ausgelassener feiern wollten, trafen sich dort noch auf einen nach-weihnachtlichen Umtrunk.

Helga willigte sofort ein. Denn weshalb sollte sie alleine zu Hause bleiben, wenn woanders die Post abging. Lang genug war sie die brave Hausfrau gewesen, doch jetzt wollte sie einfach einmal Gas geben.

Gesagt, getan, trafen sie sich im Pub und ein paar Bier später wusste Thomas, dass Helgas Ex fremdgegangen war, dass Karl ein Lump war, sie zwei undankbare Teenager großzog. Thomas hörte zu, und als sie ihm redlich angeschickert ihr Leid klagte, sich wertlos und alt zu fühlen, ergriff er die Gunst der Stunde, um sie auf den Mund zu küssen.

Helga war verblüfft, doch dem ersten Kuss folgten an diesem Abend noch weitere. Am übernächsten Tag verabredeten sie sich bei Thomas zu Hause. Denn er wollte ihr seinen Hof zeigen und vielleicht noch ein bisschen mehr.

Als Helga den Traktor sah, der sie aus ihrer Misere gerettet hatte, fragte sie schüchtern, ob sie nicht eine kleine Runde drehen könnten. Helga wollte schon immer mal auf einem Traktor mitfahren, doch es hatte sich bis heute nicht ergeben.

Thomas freute sich über Helgas Interesse, und als die Fahrt losging, strahlten beide übers ganze Gesicht. Helga gefror jedoch ihr Lächeln, als sie bemerkte, dass die Fahrt etwas holpriger sein würde als zunächst gedacht. Sie blickte an sich hinab und sah ihren Busen, der sich im Takt des Motors bewegte.

„Herrje“, dachte sie, „ich hätte meinen Sport-BH anziehen sollen.“ Sie ließ sich jedoch nichts anmerken und lächelte ihm immer noch zu.

Auch Thomas waren die aktuellen Geschehnisse nicht entgangen.

„Bewegte Aussicht“, dachte er und gab ein bisschen mehr Gas, um die Dynamik des Augenblicks proaktiv zu unterstützen.“

Helga, die sich noch immer nichts anmerken ließ, hüpfte in der Kabine auf und ab. Thomas genoss den Anblick, doch Helga wurde langsam etwas mulmig:

„Ich muss gleich kotzen“, dachte sie und legte ihm intuitiv die Hand auf die Schulter. Thomas verstand die Geste und blieb stehen. Er zog Helga auf seinen Schoß und die Küsse des Weihnachtsabends fanden ihre Fortsetzung.

Weiß beschreibt den Neuanfang in unserem Bühnenbild. Wie Buchstaben, die sich auf weißem Papier zu neuen Sätzen formen. Auch für Helga ist in neues Kapitel angebrochen, und was bleibt uns anderes, als ihr Glück zu wünschen, und dass sie den nächsten Weihnachtsbaum gemeinsam mit ihrem Thomas schmücken wird.

Verena Tretter

www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 23180

 

Christas letztes Spotlight: Aus dem Leben einer depressiven Christbaumkugel

Gruppenleitung:
„Schönen guten Abend und herzlich willkommen in unserer Selbsthilfegruppe für benachteiligte Weihnachtsdekorationen. Bitte hören Sie aufmerksam zu und wichtig: Bitte werten Sie nicht. Auch das geringste Anliegen hat ein Recht darauf, gehört zu werden …“

Christa:
„Hallo, mein Name ist Christa und als Christbaumkugel fühle ich mich massiv benachteiligt. Jahr für Jahr erlebe ich dasselbe Drama: Von Jänner bis November kümmert sich keiner um dich und plötzlich wirst du aus deinem gewohnten Umfeld gerissen, man steckt dir einen Haken durch die Öse und du wirst wahllos an einen Baum gehängt – glänzend, prall und nackt!

Und dann hängst du da und alle gaffen … besonders der wollene Wichtel hinten links, der, der immer in seinen Bart murmelt und seine Zipfelmütze nicht im Griff hat. Alle Versuche, mich dem zu entziehen, mündeten bisher im Nichts und meine Beschwerde an die Obrigkeit wurde maximal strahlend belächelt. Es würde mich sogar wundern, wenn der Blasengel an der Baumspitze mein Ansinnen überhaupt registriert hätte. Und hier steckt das Problem, meine Lieben – tief in den unausgesprochenen Hierarchien weihnachtlichen Baumgehänges! Und nur, dass wir uns richtig verstehen: Der Baum fängt immer an der Spitze an zu stinken:

Keiner schert sich um die Standard-Deko! Wie sehr man sich auch bemüht, drall und prall aus dem Deko-Körbchen hervorzustechen – prominent platziert und entsprechend gewürdigt werden immer nur die anderen. Unsereins darf sich lediglich als Lückenfüller verstehen, um die Deko-Löcher am Baum zu stopfen. Auch die althergebrachte Diskussion über Glas, Plastik, Keramik und Holz schwingt hier latent Hintergrund. Die traumatisierenden Auswirkungen dieses selektiven Verhaltens will ich gar nicht näher erwähnen, das würde hier definitiv den Rahmen sprengen.

Wie man sich sicher vorstellen kann, mache ich mir als überzeugte Plastik-Anhängerin nicht allzu viel aus diesen natürlichen Materialien – sollen sie doch gehen in ihren Birkenstocks, Tannennadeln rauchen und über die Gleichstellung aller Dekoartikel philosophieren, am Ende des Tages glaubt es ihnen eh keiner und sobald die Kerzen am Baum brennen, ducken sie sich und die Forderung nach freier Platzwahl am Weihnachtsbaum weicht dem sicheren Hafen, glücklicherweise weit genug vom Feuer entfernt zu hängen – Feiglinge sind das, allesamt!

Ich steh da mehr auf handfeste Künstlichkeit, das hält für die Ewigkeit und auch die Enkel Ihrer Enkel werden sich definitiv noch daran erfreuen!

Grundsätzlich halte ich ja viel von Nachhaltigkeit – auch ich bin schon zum zweiten Mal inkarniert! Das heißt, bevor ich als Christbaumkugel wiedergeboren wurde, war ich ein waschechtes Plastiksackerl. Ich hing in einem Shop, draußen leuchtete eine Reklametafel in fluoreszierenden Rot-Tönen und wenn die Menschen gingen, hatten sie meist einen recht freudvollen Gesichtsausdruck. Als ich auserwählt wurde, füllte man mich mit konischen Formen, Batterien und anderen undefinierbaren Gegenständen und vollbepackt mit guten Sachen, die das Leben schöner machen, ging es dann nach Hause, in meine neue Welt. Man packte mich von unten und ich entleerte meinen Inhalt dienstbeflissen auf den Küchentisch – danach fehlt mir jede Erinnerung.

Am Ende dieses Lebens wurde ich als Müllsack weiterverwendet und artgerecht recycelt. Das ist wahre Wertschätzung, meine Lieben, man will gebraucht werden, denn im Lebenszyklus eines Kunststoffgegenstands bleibt einem sonst nur die Flucht ins Meer.

Als Christbaumkugel ist das eher dürftig. Mittlerweile bin ich so deprimiert, dass ich schon überlege, mich an Heiligabend mit der Hinterseite heimlich etwas nach rechts zu biegen, um mich in der Hitze des Gefechts von der Kerze neben mir bewusst ansengen zu lassen. Meinen Wert werden sie nach diesem Akt der Selbstaufgabe zwar trotzdem nicht erkennen, aber vielleicht werde ich ja als eines jener Produkte wiedergeboren, die man jeden Tag braucht, weil sie so gut in der Hand liegen – als Plastik-Kochlöffel beispielsweise.

Aber mein letztes Weihnachtsfest will ich mit Würde und absoluter Hingabe begehen: Ich will den zarten Tönen der Blockflöte zu „Alle Jahre wieder“ lauschen, mich darüber amüsieren, wie Onkel Hans zu späterer Stunde die Feinmotorik und dann auch das Sprechen verlernt, wie die Kinder nach der Bescherung heulen, weil eines mehr bekommen hat als das andere und wie sich Tante Sabine mit der Oma zofft, weil sie eigentlich auf Frauen steht. Sie hat ja schon was, diese besinnliche Zeit – nicht wahr?

Doch lauschen Sie, mein Einsatz naht … In diesem Sinne – frohes Fest, the show must go on!

Und das wird sie auch:
Lesen Sie hier, wie es mit Christa weitergeht.

Verena Tretter

www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 23161

Tante Emma gibt alles

 Wie das Leben so spielt

Tante Emma war bereits Anfang siebzig, doch von alt und gebrechlich war sie weit entfernt. Sie war im ganzen Dorf bekannt und jeder mochte sie, denn sie war die gute Seele, die mit ihrem Laden jenen sozialen Raum bot, den es für die Dorfbewohner sonst nicht gegeben hätte. Obwohl sie nach einem arbeitsreichen Leben bereits eine kleine Rente bezog, liebte sie es, im Laden zu stehen, denn eine jener Rentnerinnen, die tagein, tagaus die selben Serien guckten und die das Leben in den eigenen vier Wänden verpassten, wollte sie nicht sein.

Nein! Tante Emma wollte ihr Leben in vollen Zügen genießen, jeden Tag mit all seinen Besonderheiten erleben, und nicht zuletzt war sie auch dem täglichen Dorftratsch in ihrem Stübchen nicht ganz abgeneigt – da brauchte sie auch keine Telenovelas mit erfundenen Dramen, immerhin spielte das Theater direkt vor ihrer Nase.

Der Laden war ihr ganzer Stolz! Nicht zuletzt deswegen, weil er ihr ab ihrem 25. Lebensjahr das Nötige lieferte, um sich und ihren Ehemann zu ernähren. Nicht dass sie schlecht über ihn hätte reden wollen, ihren seligen Heinz, doch sein Einkommen, das er zu Lebzeiten im Zuge seiner Arbeit als Postbote bezog, landete jeden Monat allzu schnell am Stammtisch des benachbarten Dorfgasthauses. Und so wusste sie schon früh, dass sie als Hausfrau nicht viel hätte auf den Tisch bringen können – vom Begleichen der monatlichen Zahlungen gar nicht erst zu sprechen.

Auch war der Heinz sehr eifrig gewesen, wenn es darum ging, die postalische Zustellung an die Hausfrauen einiger handverlesener Haushalte mit einer besonders persönlichen Note zu untermauern.

Ihre Ehe blieb zwar kinderlos, doch die Ähnlichkeit einiger Dorfkinder mit dem seligen Heinz war schwerlich zu leugnen. Wie zu jener Zeit vor allem am Land üblich, machte man kein großes Aufsehen um diese Geschichte, immerhin waren sie brave Kirchgeher und Emma stand mit ihrem Lädchen für sämtliche Fußballspiele, Dorffeste und Kirchtage zur Verfügung – da war das Ansehen ihres nunmehr seligen Gatten ganz rasch wiederhergestellt.

Sein Ableben war trotz seines durch Alkoholexzesse bereits eher dürftigen Gesundheitszustandes recht überraschend gewesen. So geschehen, als er eines Nachts vom benachbarten Dorfgasthaus mit seinem Puch Maxi nach Hause wollte und die Begleitstraße mit der Bundesstraße verwechselte. Wahrscheinlich war seine Sicht zu jenem Zeitpunkt nicht mehr die beste und auch wenn er entschlossen stets alles aus seiner Lady – so nannte er sein geliebtes Maxi – herausholte, konnte er dem entgegenkommenden Lastwagen leider nicht auf Augenhöhe begegnen.

Obwohl Tante Emma ihren Verlust mit Fassung trug, hatte sie seit damals genug von Männern und wollte sich mit Liebesthemen auch nicht mehr weiter belasten. Das Lädchen bot ihr nunmehr ein weit höheres Auskommen und sie konnte sich sogar einen ansehnlichen Notgroschen ersparen, der ihr sonst womöglich verwehrt geblieben wäre.

So vergingen die Jahre, Tante Emma fehlte es an nichts und sie blieb im sicheren Hafen ihres erprobten Alltages. Mittlerweile hatte sie zwar zwei Mal wöchentlich eine Hilfe im Laden, da sie die Hebearbeiten bei neuen Lieferungen sowie die Reparaturen des in die Jahre gekommenen Mobiliars nicht mehr zur Gänze selbst erledigen wollte – dennoch hatte sie zu jenem Zeitpunkt noch lange nicht daran gedacht aufzuhören.

Von Zeit zu Zeit – genauer gesagt jeden Dienstag um 20:15 Uhr – plagte Tante Emma jedoch das Fernweh. Denn da lief Universum im Fernsehen und sie genoss es, sich in ihren gemütlichen braun-gelb karierten Fernsehsessel zu kuscheln und mit einem Glas Brandy in der Hand die Welt im eigenen Wohnzimmer zu betrachten. Als würde man durch ein Kaleidoskop aus Siebzigerjahretapeten und -mustern in eine ferne Welt schauen.

Von der Welt hatte sie ja bisher noch nicht viel gesehen und, um ehrlich zu sein, ist sie auch aus dem eigenen Bundesland nie wirklich herausgekommen. Dennoch wusste sie, dass da noch viel mehr existierte, dass es exotische Orte mit anderen Kulturen gab, die nach anderen Regeln spielten, und dass die Bananen aus ihrem Laden weiter gereist waren, als sie es sich jemals hätte vorstellen können.

„Irgendwann“, dachte sie sich dann jedes Mal, bevor sie friedlich in ihrem Sessel einschlief. „Irgendwann werde ich doch noch einmal das Meer sehen.“

Ein Tag wie jeder andere

Es war ein ruhiger Vormittag in Tante Emmas Laden. Die Kinder stürmten die Süßigkeitentheke bereits vor der Schule, die Arbeiter hatten ihre Jause schon abgeholt und die Hausfrauen waren zeitig zugegen gewesen, um das Mittagessen für ihre Männer pünktlich auf den Tisch zaubern zu können.

Es war ein Tag, an dem sie keine Lieferungen erwartete, an dem nichts einzuräumen war und an dem auch der Stehtisch im hinteren Ladenbereich noch nicht besucht war. Da es gerade nichts zu tun gab, widmete sie sich dem Kreuzworträtsel der aktuellen Tageszeitung und wartete bis die nächste Kundenschar zu Mittag wieder bei ihr einkehren würde.

Als sie gerade stolz ein neues Wort in die Kästchen des Rätsels eintragen wollte, bimmelte jedoch die Ladenglocke über der Eingangstüre. Tante Emma strich rasch die Falten ihrer Mantelschürze glatt, setzte ihr bestes Lächeln auf, für das sie im ganzen Ort bekannt war, und als sie nach oben blickte, konnte sie ihr Erstaunen kaum verbergen:

Ein Fremder hatte ihren Laden betreten, das kam zwar öfter vor, aber dieser Fremde war speziell. Er war von großer Gestalt, sicher zwei Köpfe größer als sie selbst, trug einen weißen Vollbart, der ihm bis auf den gut genährten Bauch reichte, und hatte das lange weiße Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. In den Händen hielt er einen schwarzen Motorradhelm, der zu Ledergilet und -hose passte, und die nackten Oberarme waren noch die eines Holzfällers, oder sagen wir jene eines pensionierten Holzfällers.

Tante Emma war sichtlich beeindruckt von diesem Anblick, und als sie ihre Fassung endlich wiedergefunden hatte, fragte sie, was sie für ihn tun könne. Der Dialog zwischen ihnen trug sich wie folgt zu …

„Fremder“: Guten Tag meine Liebe, hätten Sie bitte ein paar Wurstsemmeln für mich und meine Freunde?

Die Freunde warteten draußen auf ihren Motorrädern und auch sie hatten die fünfzig bereits weit überschritten.

„Gerne doch“ – hauchte Tante Emma dem Fremden zu und schwebte zur Wursttheke, um das Gewünschte zuzubereiten.

„Wie hätten Sie es denn gerne?“, fragte sie und blinzelte dabei kokett.
„Bitte Wurst, Käse und Essiggurken, Sie wissen sicher am besten, was gut schmeckt.“

Da kicherte Tante Emma, machte eine wegwerfende Handbewegung und meinte verlegen: „Ach Sie Charmeur, Sie … Ich mach Ihnen die Semmeln gleich fertig.“

Sobald sich der Fremde nach ein paar Getränken umsah, schnitt sie die Semmeln auf, belegte sie zärtlich mit Wurst, die sie dann sogleich mit je einem Blatt Käse streichelte und fügte die Essiggurken hinzu, die sie hübsch zwischen Wurst und Käse drapierte.

Es sollten verdammt nochmal die besten Wurstsemmeln werden, die dieser stattliche Fremde je gegessen hatte, und dafür legte sie sich richtig ins Zeug! Sie packte alles in eine Papiertüte, fügte heimlich ein paar Schoko-Küsschen hinzu und strahlte über das ganze Gesicht – direkt in seines –, als sie den Gesamtbetrag abrechnete.

„Auf Wiedersehen und kommen Sie bald wieder“, rief sie ihm noch nach, als er zur Tür hinausging. Er drehte sich um und winkte ihr lächelnd zu – vielleicht einen Wimpernschlag zu lange.

Sobald ihr Kollege wieder zurückkam, wurden die schweren Maschinen gestartet und die Gang zog laut, aber geruhsam von dannen. Tante Emma stand inzwischen an der Tür, winkte ihnen fröhlich nach und war über das, was eben geschehen war, völlig perplex.

Genau denselben Verkaufsdialog hatte sie bereits hundert-, ach was red ich, sicher schon tausendmal geführt, aber dieses Mal war es anders. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und sie spürte Schmetterlinge im Bauch. Das war nicht nur ein Verkaufsgespräch mit einem Wurstsemmelkunden, das war verdammt nochmal echte Erotik!

Als sie am Abend desselben Tages nach Hause kam, gingen Tante Emma tausend Gedanken durch ihren Kopf. Würde sie ihn wiedersehen, war das Karomuster des Fernsehsessels plötzlich bunter und schmeckte der Brandy heute besser als sonst? „Ach du dumme alte Nudel“ schalt sie sich selbst und versuchte sich ihre jugendliche Verliebtheit auszureden.

Was sollte so ein rüstiger Biker schon von ihr wollen. Ihre Mantelschürze konnte seinem Leder-Outfit nicht das Wasser reichen und auch sonst hatte sie sich in den letzten Jahren etwas gehen lassen, was die Optimierung ihrer Optik betraf. Etwas grummelig ob dieser Erkenntnis versank sie ein bisschen tiefer in ihrem Sessel, doch sie war niemand, der jammerte, nein, wenn sie etwas störte, musste es geändert werden. Und egal ob er wiederkam oder nicht, sie hatte genug Zeit damit verbracht, Dinge nicht zu tun und von den schönen Dingen lediglich zu träumen. Nun war es an der Zeit zu handeln, denn wenn sie das Meer sehen wollte, musste sie verdammt nochmal auch hinfahren.

So tat sie, was sie noch nie getan hatte … Sie griff nach dem Telefon, wählte die Nummer von Gerti, ihrer Ladenhilfe, und fragte, ob sie morgen einen Extra-Tag übernehmen wollte. Gerti war äußerst besorgt über diese Frage, schließlich war Emma in 45 Jahren nicht einen Tag krank gewesen und ihr Laden lief wie ein Schweizer Uhrwerk: exakt und nach klaren Abläufen. Doch Emma antwortete nüchtern:

„Alles ist gut, meine Liebe, ich muss mich nur mal einen Tag lang anderen Dingen widmen.“ Gerti war sofort einverstanden, denn die wenigen Stunden, die sie im Laden arbeitete, waren ein karges Zubrot zu den Kosten, die sie und ihre Großfamilie zu tragen hatten. Früher oder später musste sie sich einen anderen Job suchen, der ihr mehr Stunden und Geld einbrachte.

Eine Frage des Gefühls

Am nächsten Morgen erwachte Tante Emma pünktlich um 5, da die innere Uhr, die sie sich in 45 Jahren im selben Alltag antrainiert hatte, keinen Wecker mehr forderte. Sie zog sich an, nahm ihren Geldbeutel und wartete auf den Bus um 7 Uhr 15, der sie in die nächste Stadt bringen sollte.

Als Erstes würde sie sich eine neue Frisur machen lassen. Sie wollte optisch keine „ältere Dame“ mehr sein, SIE wollte nun alles aus sich rausholen – schließlich lebte sie gesund und die 70 sah man ihr, außer von der äußerlichen Aufmachung, kaum an. Die weiße Dauerwelle war obsolet geworden, sie wollte so aussehen, wie sie sich fühlte, und mit der jetzigen Frisur fühlte sie sich wie ein in die Jahre gekommenes Schaf.

Gesagt, getan, betrat knappe sechzig Minuten später eine andere Frau den Gehsteig vor dem Friseurladen. Die weiße Dauerwelle war geschoren und eine kesse Kurzhaarfrisur krönte nun Tante Emmas Haupt. Sie war mit dem Ergebnis sehr zufrieden, doch nun wollte sie auch ihrer Mantelschürze den Krieg erklären, was sie drei Häuser weiter prompt erledigte.

Am späteren Nachmittag dieses Tages stieg eine neue Tante Emma aus dem Bus in ihrer Heimatgemeinde und, um ihrem neuen Ich die nötige Bühne zu geben, führte sie ihr erster Weg direkt in ihren Laden.

Man kann sich die VERwunderung der Leute vorstellen, die rasch in BEwunderung umschwenkte. Emma genoss es, sich in den Komplimenten ihrer langjährigen Weggefährten zu sonnen, und betrat ihre kleine Wohnung an diesem Tag zufrieden und voller neuer Ideen.

Die nächsten Wochen verbrachte Emma wieder wie gewohnt. Sie verkaufte Süßigkeiten, Jause und Dosenbier, doch es war etwas mit ihr geschehen, das sie nur schwer benennen konnte. Obwohl alles in geordneten Bahnen lief und auch sonst keine besonderen Vorkommnisse ihren Weg kreuzten, konnte sie sich nicht recht freuen. Es war, als würde ihr das eigene Leben zu eng werden und, obwohl die Frühlingsgefühle zu ihrem rüstigen Biker langsam abebbten, war etwas in ihr gekeimt. Wie ein Pflänzchen, das nun mehr Raum forderte und einen größeren Topf brauchte.

Eines Tages, als sie mittlerweile von Langeweile geplagt, ihrem täglichen Geschäft nachging, hörte sie Motorräder, die vor ihrem Laden parkten. Sie warf einen Blick hinaus und tatsächlich, es waren dieselben Männer. Ihr stattlicher Angebeteter betrat wieder den Laden und als er sie sah, strahlte er über das ganze Gesicht.

„Wir sind wieder da, danke für die Schoko-Küsse und die besten Wurstsemmeln meines Lebens“, sagte er und erklärte, dass sie eine längere Tour gemacht hätten und sich nun auf dem Rückweg befänden. Emma wollte ihr Glück nicht noch einmal verpassen und flirtete, als ob es kein Morgen gäbe. Der „Fremde“, der wie sie nun wusste, Hans hieß, stieg umgehend darauf ein und sie verabredeten sich für das kommende Wochenende, um gemeinsam einen Eiskaffee in der Stadt zu trinken. Und er würde sie abholen kommen.

Hans und seine Gang wohnten nur vierzig Autominuten von dem kleinen Örtchen weg, in dem Tante Emma ihr gesamtes Leben verbracht hatte, und so stand dem Wiedersehen nichts im Wege.

Tante Emma hatte also ein Date. Sie konnte es kaum glauben! Sie fühlte sich wie ein junges Mädchen, als sie ihren Kleiderkasten durchstöberte, um das richtige Ensemble für diesen Tag zu finden. Sie war bereits drei Stunden früher fertig als abgemacht, und als ihr Galan vor der Tür stand und ihr artig einen Strauß Blumen überreichte, war es gänzlich um sie geschehen.

Dieses Mal war er mit dem Auto gekommen und der gemeinsame Tag in der Stadt war regelrecht berauschend.

Die nächsten Monate vergingen wie Tage und die beiden verstanden sich auf Anhieb. Durch Hans’ Weltoffenheit weitete sich auch Emmas Horizont um ein Vielfaches. Die Welt erschien nun nicht mehr durch ein Kaleidoskop aus alten Gewohnheiten, denn das Leben war endlich real und mit ihm auch die Veränderung, die sie so dringend brauchte.

Geben und nehmen

Tante Emma war nun in festen Händen. Hans war bereits seit einigen Jahren in Rente und auch sie wollte nicht länger ihre Tage in ihrem Laden verbringen. Sie wollte ihren sicheren Hafen eintauschen und JA, sie wollte mit Hans ans Meer.

Doch Tante Emma wusste, dass sie in dem kleinen Ort auch eine Verpflichtung hatte. Denn der Laden war der soziale Treffpunkt aller. Da sie wusste, wie gerne Gerti bei ihr aushalf, entschloss sie sich, ihr den Laden zu überschreiben, was für diese ein wahrer Segen sein würde.

Emma hatte nun alles gegeben, was sie sich ihr ganzes Leben lang aufgebaut hatte, doch was sie in ihrem neuen Leben stattdessen empfangen würde, war für sie von größerem Wert als alle Sicherheit.

Die Dorfgemeinde verabschiedete sie mit Pauken und Trompeten. Sie wussten um Tante Emmas Engagement und ihre Fürsorge für die Gemeinde, doch nun war es an der Zeit, neue Wege zu beschreiten. Alle kamen, um Lebwohl zu sagen, und auch wenn ihr der eine oder andere Dorfbewohner dabei neidische Blicke zuwarf, war das bei weitem nicht ihr Problem.

In einem letzten Akt des Abschieds färbte Tante Emma all ihre Mantelschürzen schwarz. Sie kürzte sie auf Knielänge und fertig war ihr selbstkreiertes Biker-Outfit. Sie machte den Führerschein nach – A und B wohlgemerkt – und als sie erstmals in ihrem Biker-Outfit auf ihrer eigenen Maschine saß und mit Hans ausfuhr, spürten beide das Verlangen nach mehr. Sie wollten leben, lieben, lachen und all das erleben, was miteinander so viel schöner war. Das taten sie und dabei ließen sie sich von nichts abhalten. Wenn sie nicht gerade mit dem Motorrad unterwegs waren, redeten sie bei einem Bierchen über Gott und die Welt oder sie machten es sich nach einem ereignisreichen Tag vor seinem Kamin gemütlich.

Als Emma zum ersten Mal in ihrem Leben das Meer sah, kullerten ihr Freudentränen über das Gesicht. Hans stand neben ihr und auch er konnte sich ein feuchtes Blinzeln über diese Freude nicht verkneifen. Er nahm sie in den Arm, sie umfasste sein Gesicht und sagte:

„Lass uns gemeinsam die Welt rocken, Baby.“

 

Epilog

Emma und Hans planten ihre Weltreise akribisch, und als es endlich losging, waren sie wie kleine, neugierige Kinder: aufgeregt, übermütig und ein wenig rebellisch. So blieb es nicht aus, dass das illustre Paar auch ein paar Schlagzeilen füllte …

Unter anderem:

Seniorenpärchen stürmt Bühne bei Rock-Festival – keine Verletzten
Nachdem das Pärchen die Bühne stürmte, durfte es mit der Band gemeinsam performen.
Kommentar des Paares: Das war der geilste Trip ever!

Rüstiges Biker-Paar beim Nacktbaden in Stadtbrunnen erwischt
Von Konsequenzen wird abgesehen, da die Frau den Beamten eine köstliche Jause servierte.

Älteres Paar überführt Bankräuber, der Kind bei Bankraub verletzte – Teil der Beute wird vermisst
Das ältere Paar verfolgte den Bankräuber auf ihren Motorrädern und konnte ihn nach zehn Kilometern stellen. Die Polizei musste den Bankräuber beruhigen, da dieser nach eigenen Aussagen um sein Leben bangen musste. Paar bestreitet alle Vorwürfe.
Großzügige Geldspende in bar vor Kinderheim abgegeben – die Polizei dankt für Hinweise!

Trickbetrüger von älterem Paar ausgetrickst
Älteres Paar gab sich als weit entfernte Angehörige aus und versprach Erbe bei Zahlung eines Betrages!

Und da sie in sämtlichen Schlagzeilen nur als „Paar“ erschienen, entschlossen sie sich zu heiraten. Künftig wollten sie als Ehepaar bezeichnet werden und wo konnte man besser heiraten als in LAS VEGAS, denn: What happens in Vegas, stays in Vegas! Psst

Verena Tretter

www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow | Inventarnummer: 23162

Stillstand

„Ich muss mal kurz telefonieren“, hast du gesagt, und wie spät ist es jetzt? Eine Dreiviertelstunde hab ich auf dich gewartet, was du unter „kurz“ verstehst, möchte ich mal wissen. – Das und zwei, drei andere Wut-Sätze hat mir mein Freund an unserem Jahrestag an den Kopf geworfen, als ich ihn 45 Minuten lang, im absolut angesagtesten und romantischsten Restaurant der Stadt, warten ließ. Der Grund unserer Auseinandersetzung war meine Mutter – wobei nicht wirklich sie als Person, sondern eher das „Problem“ meiner Mutter: Seit ihre Kinder, drei am Stück, nacheinander von zu Hause ausgezogen waren, um ihr Glück in diversen Städten rund um den Globus zu suchen, war bei ihr leider eine Art „Glucken-Sicherung“ geflogen, die wir nun in tränenreichen Telefonaten ausbaden mussten.

Irgendwie verstand ich meine Mutter ja auch ein bisschen: Da ziehst du die letzten 26 Jahre drei Kinder groß, widmest ihnen all deine Aufmerksamkeit und Liebe, und plötzlich, innerhalb von vier Jahren sind alle weg – dein Lebensinhalt verteilt sich sozusagen in alle Windrichtungen. Wir waren zwar nicht aus der Welt, aber alle Versuche, diese wunderbare Frau auf neue Hobbies aufmerksam zu machen, ihr einen interessanteren Arbeitsplatz – der ihren Talenten entsprach – einzureden, oder sie gar nochmals an die Uni zu schicken, um ihr Kunststudium abzuschließen, das sie für uns abgebrochen hatte, waren vergebens. Sie war und blieb eben eine „Vollblut-Mutter“ und nichts und niemand stellte sich zwischen sie und ihre Kids – nicht mal horrende Telefonrechnungen und Reisekosten.

Ich als Jüngste im Bunde war die Letzte, die das mütterliche Nest verließ, was ihr, in Anbetracht der Tatsachen und unter Berücksichtigung ihres ohnehin schon leicht angeschlagenen Mutterherzens, dann noch den Rest gab. Natürlich war das nicht meine Absicht gewesen, aber wie meine beiden älteren Geschwister musste auch ich meinen Platz in der Welt erst finden, und das war weit weg von der Provinz, wo die Jobaussichten im eigenen Metier besser oder sogar realistisch waren. Ich bekam nach Abschluss meines Studiums, das ich in Mindestzeit absolviert hatte, einen tollen Job als Marketingassistentin. Mein Leben verlief zu dieser Zeit in einer Art „High-Speed-Modus“, und ich hatte permanent das Gefühl, statt 100% für eine Sache, nur jeweils 25% für die vier absolut wichtigen Faktoren in meinem Leben geben zu können. Egal was ich auch tat, ich hatte immer das Gefühl, es würde nicht genug sein – ein metaphorisches Jahres-Abo, voll des schlechten Gewissens, war da vorprogrammiert. Diese vier wichtigen Faktoren waren mein Job, mein Freund, meine Mutter und mein kleiner Hund Billy, den ich aus einem rumänischen Tierheim „gerettet“ – das redete ich mir zumindest ein – hatte.

Meine Mutter hatte jedenfalls ein Gespür dafür, im unpassendsten Moment anzurufen: Wenn ich mich auf dem Klo befand, ein wichtiges Meeting hatte, mit Ben „beschäftigt…“ war oder grade mit vollen Händen an der Kasse stand. So geschah es auch am Abend unseres Jahrestages, an dem sie „nur kurz durchrufen wollte, um nachzusehen, ob es mir auch gut ging“. Als es dann wieder Zeit gewesen wäre, das Telefonat liebevoll, aber bestimmt zu beenden, begann wieder das große Wein-Konzert, was in letzter Zeit leider immer häufiger der Fall war. Sie war einsam und ehrlich gesagt brach mir das auch ein bisschen das Herz.

Meinem Jahrestag hingegen, kam das „Problem“ ordentlich in die Quere, und ich musste nun zusehen, wie ein romantischer und bis ins Detail perfekt geplanter Abend den Bach runter ging. Zu allem Überfluss musste ich mein kaltes Essen alleine aufessen, nachdem mein Freund bezahlt und wutentbrannt das Lokal verlassen hatte – tja, zumindest ging’s meiner Mutter nun besser.

Ben, mein Freund, nahm diese Anrufe eigentlich gelassen hin, aber heute war das eben nicht so gewesen. Als ich das Restaurant nach weiteren fünfzehn Minuten – etwas peinlich berührt – verließ und mit schlechtem Gewissen und hängenden Schultern die Straße hinuntertrotte, klingelte mein Handy erneut – Ben war am anderen Ende: „Sorry Süße, ich wollte dich nicht so anblaffen. Ich war eben enttäuscht, da es eigentlich UNSER Abend werden sollte, und da ruft deine Mutter schon wieder an. Grade heute musste das ja wohl nicht sein oder?“ Ich war über Bens Anruf sehr froh und schluchzte drauflos: „Du hast recht! Es tut mir so leid, dass ich dich da alleine warten ließ, aber du weißt ja, dass ich meine Mama nicht heulend ertrage. Sie macht sich eben solche Sorgen um mich, und in Wirklichkeit glaube ich ja, dass sie einfach nur einsam ist, jetzt, wo sie die Abende ganz alleine in dem großen Haus zubringen muss.“ Ben seufzte geräuschvoll ins Telefon, und ich bemerkte, wie ein kleiner Verständnis-Ballon bei ihm zu wachsen begann. Er bat mich, zu ihm zu kommen, um mit mir gemeinsam eine Lösung zu finden, und ich marschierte einigermaßen gelöst in Richtung der U-Bahn-Station.

Die nächste Bahn fuhr zur meiner Erleichterung direkt mit meinem Eintreffen am Bahnsteig ein, und ich setzte mich zufrieden auf einen freien Platz. Nach der vierten Station – es waren gesamt sechs bis zu Bens Wohnung – blieben wir jedoch abrupt stehen. Ich hoffte inständig, dass wir gleich weiterfahren würden, denn ehrlich gesagt fand ich die Idee, unter Tage gefangen zu sein, schon immer etwas gruselig. Mit mir warteten etwa zehn Personen im U-BahnWagon, doch als sich nach zehn Minuten immer noch nichts bewegte, wurden sämtliche Insassen unruhig. Einer der Fahrgäste – ein rundlicher Glatzkopf um die sechzig – betätigte das Nottelefon, um herauszufinden, „was da um Himmelswillen denn los sei!“, doch die Leitung war gänzlich tot. Auch unsere Mobiltelefone waren unter der Erde ohne Empfang, was die Situation nicht wirklich entschärfte. Ich versuchte möglichst „cool“ zu bleiben, um meine „Oh-mein-Gott-wir-werden-alle-sterben“-Gedanken zu zerstreuen und wippte nervös mit meinem Bein auf und ab.

Eigentlich hatte der ganze Tag schon besch…eiden angefangen: Am Morgen konnte ich meine Brieftasche nicht finden, was wiederum dazu führte, dass mir beide Busse, die ich für den Weg zur Arbeit benötigte, vor der Nase wegfuhren – ich kam zu spät. Tagsüber kleckerte ich mir während der Mittagspause ordentlich Ketchup auf die neue, weiße! Hose, und bis ich für unser romantisches Abendessen meine unfassbar störrischen Haare in eine auch nur einigermaßen ansehnliche Form gebracht hatte, vergingen fast eineinhalb Stunden, was mich – um noch rechtzeitig ins Restaurant zu kommen – auch noch ein Taxi gekostet hatte. Von dem „Jahrestags-Restaurant-Drama“ mal ganz abgesehen.

Nach fünf weiteren, bangen Minuten in dieser stickigen U-Bahn-Hölle begann sich meine anfängliche Angst in Wut umzuwandeln: Was, wenn Ben nun sauer auf mich werden würde, weil ich zu spät kam? Was, wenn meine Mutter neuerlich versuchte, mich zu erreichen und ich nicht wie gewohnt nach spätestens zehn Minuten zurückrief? Was, wenn ich den heutigen Abend und meine Erwartungen, die ich in ihn gesteckt hatte, nicht retten konnte? Fragen über Fragen gingen mir durch den Kopf und mein eigener Verständnis-Ballon wuchs stetig weiter: Verständnis für meine Mutter, Verständnis für Ben, Verständnis für diese besch…eidenen öffentlichen U-Bahnlinien, Verständnis für alles und jeden – ABER wer hatte verdammt nochmal Verständnis für mich? Nach etwa fünfunddreißig Minuten im absoluten Stillstand kochte ich vor Entrüstung nahezu über, und mir fiel es plötzlich wie Schuppen von den Augen, dass ich eigentlich permanent versucht hatte, es allen um mich herum recht zu machen, und mich dafür dann auch noch unterwürfig entschuldigte! Als ich mich gerade richtig in Rage gedacht hatte, machte es plötzlich einen Ruck und die U-Bahn setzte sich wieder in Bewegung. Über die Lautsprecherdurchsage plärrte eine kaum zu verstehende Stimme, dass man sich für das technische Gebrechen entschuldige und man sich als Entschädigung für die lange Wartezeit am nächsten Ticketschalter einen Gutschein für ein Tagesticket holen dürfe – „naja, besser als nichts“, dachte ich. Ich hüpfte bei Station 6 – Bens Station – aus dem Wagon und war heilfroh, mich endlich auf die öffentliche Toilette begeben zu können. Trotz meiner Verspätung schlug ich ein eher langsames Tempo ein, ich wollte mich an diesem Tag einfach nicht mehr stressen oder aufregen müssen.

Auf halber Strecke zu Bens Wohnung beschloss ich, kehrtzumachen und in meine eigene Wohnung zurückzufahren. Ich hatte genug: genug zugehört, genug entschuldigt, genug gehofft und gehetzt. Mir reichte es!

Zu Hause angekommen wartete Ben bereits besorgt vor meiner Tür, da sich mein verdammtes Telefon auch nach meiner unterirdischen Wiederauferstehung nicht wieder in mein Netz eingewählt hatte. Ich war offenbar für eine ganze Stunde nicht erreichbar gewesen. Als er meinen Gesichtsausdruck und die Tränen in meinen Augen – die mir während des Heimwegs gekommen waren, weil ich mir selbst unheimlich leid tat – sah, nahm er mich einfach in den Arm, und wir gingen schweigend in meine Wohnung. Wir setzten uns auf die Couch und sahen uns lange an: er, weil er herausfinden wollte, was passiert war, und ich, weil ich einfach keine Lust mehr hatte, mich zu erklären. Als Ben nach einigen Minuten aus der Küche mit zwei Gläsern Wein zurückkehrte – Wein hatte ich zu dieser Zeit meines Lebens immer zu Hause – fasste ich mir ein Herz und redete mir alles von der Seele:

„Ich habe es so satt, immer die gehetzte, liebenswürdige, alles verstehende Tochter oder Freundin zu sein. Ich fühle mich mit meinen Bedürfnissen nicht mehr ernst genommen, aber dafür gebe ich weder dir noch meiner Mutter die Schuld, ich habe mich selber total vergessen.“

Als mir die ersten Tränen die Wangen hinunterkullerten, sprang Billy auf meinen Schoß und begann, meine Hand abzulecken. Ich streichelte ihm kurz über sein lockiges Pudel-Mischlings-Fell und setzte fort: „Die Rolle, in die ich das letzte Jahr über geschlüpft bin, zehrt mich aus. Einerseits möchte ich es dir recht machen, meine Mutter nicht vernachlässigen, meinen Job zu 100% erledigen und vielleicht sogar Karriere dabei machen, aber alles, was übrig bleibt ist, dass ich mich permanent schlecht fühle und glaube, es wiedermal irgendwem nicht recht zu machen. Ich habe immerzu geglaubt, alle anderen müssten aufgrund meiner Unzulänglichkeiten mehr und mehr Verständnis für mich aufbringen. Meine Wahrheit ist aber, dass ich nicht bemerkt habe, wie mein eigener Verständnis-Ballon – zuständig für alle Sorgen und Probleme um mich herum – mich völlig eingenommen hat, über mich hinausgewachsen und über die Grenzen meiner eigenen Persönlichkeit mutiert ist. Ich fühle mich von meinem Umfeld nicht mehr verstanden oder unterstützt. Diese vierzig Minuten in einer stehenden U-Bahn – im Stillstand – haben mich seit Monaten erstmals dazu gezwungen, tatsächlich stillzustehen und meine Gedanken zu ordnen – ich hatte das Gefühl, nach einer Ohnmacht zu mir zu kommen.“

Je mehr ich über meine Gefühle sprach und diesen den Raum gab, sich zu entfalten, desto kleiner wurde mein – anfangs prallgefüllter – Verständnis-Ballon. Ich redete fast zwei Stunden ohne Unterlass und Ben hörte mir zu – ohne mich zu unterbrechen oder sich abzuwenden.

Als ich mit meinen Ausführungen fertig war, sprachen wir noch bis in die frühen Morgenstunden über uns, meine Mutter, unsere Jobs – einfach alles, was ihn und mich beschäftigte. So hatte ich ihn auch kennen- und liebengelernt, bis ich mich – verblendet durch meinen eigenen Perfektionismus – immer weiter in die Rolle dieses ferngesteuerten und abgehetzten „Persönchens“ gepresst hatte.

Rückblickend bin ich sehr froh, dass die Geschehnisse dieses Tages mein Ventil geöffnet hatten und den Verständnis-Ballon wieder schrumpfen ließen. Wenn ich seither morgens in den Spiegel schaue, erkenne ich mich jeden Tag wieder ein bisschen besser.

Verena Tretter

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 16086

Lügen

„Schade, jetzt ist es weg“, sage ich zu meiner kleinen Tochter, als sie freudestrahlend ins Zimmer läuft, um das Christkind zu sehen. Solche und mehr Lügen über Osterhase, Nikolaus, Krampus und Co. hab ich ihr seit frühester Kindheit aufgetischt, und ich hoffe inständig, dass mir das nicht irgendwann zum Verhängnis wird.
Aber ehrlich gesagt bin ich sogar noch schlimmer: Eines Tages, als wir im Wald spazieren gingen, funkelte etwas zwischen den Bäumen, und als sie mich fragte, was das sei, erwiderte ich verträumt: „Vielleicht sind das kleine Elfen, die gerade im Sonnenschein tanzen.“ Sie freute sich wahnsinnig über das, was ihre kleine Fantasie – angefixt durch Mamas Lüge – ihr da zu sehen ermöglichte.

Ich freute mich auch, nämlich über die Grenzenlosigkeit, die meine süße Kleine noch erlebt. Über das Glück in ihren Augen, während sie in dieser „alles ist möglich“-Welt lebt, die neben Hexen und Zauberschülern auch das Christkind und den Osterhasen beherbergt. Ich frage mich manchmal, ob ich traurig war, als ich erfahren habe, dass diese Wesen nicht existieren. Leider habe ich keine Erinnerung mehr an diesen Tag, aber mir ist heute noch sehr bewusst, dass der Zauber von damals weg ist – gefressen von bösen Monstern, wie „Geldsorgen“ oder einer allzu nüchternen „Realität“. Vielleicht sind diese Lügen, die wir Kindern auftischen, in Wirklichkeit kleine Zugeständnisse. Wir gestehen ihnen damit eine Art Galgenfrist zu, bevor für sie der Ernst des Lebens beginnt und aus fantasievollen kleinen Leuten, die weltverbessernde Ideen entwickeln, funktionierende Retorten-Bürger werden.

Ich finde es schade, dass die Grenzenlosigkeit dieser kindlichen Zauberwelt weichen muss, wenn man als mündiger Mensch in die Strukturen dieser Gesellschaft gepresst wird. Es darf nicht sein, dass man über den Tellerrand hinaus an etwas glaubt, das vielleicht sehnsüchtig in einem schlummert und das einem vielleicht sogar das Gefühl gibt, ein Stück weit frei zu sein.

Obwohl wir den Kindern, wenn sie größer sind, nach und nach ihre Kindlichkeit aberziehen und die anfänglichen Lügen dann wieder zurücknehmen, gibt es doch noch Institutionen, die sich das Recht vorbehalten, ihre sogenannten Wahrheiten in die Welt hinaus zu blasen.
Da wird dann von fünf Pflichten, einem dreifaltigen Gott, dem Messias, einer ewigen Ordnung oder von vier Ausfahrten gesprochen – schlicht, die fünf Weltreligionen. Der Glaube an diese Religionen ist laut unseren gesellschaftlichen Normen anerkannt.

Nun frage ich mich aber doch, warum der kindliche Glaube an Elfen, Zauberer und Co. als falsch betrachtet wird, während der Glaube an die fünf Weltreligionen anerkannt ist. Ich denke, dass jeder Mensch auf dieser Welt das glauben sollte, was tief in ihm schlummert. Es sollte keine Prediger geben, die den Menschen ihre Ansichten einimpfen und ihnen überlieferte Lügen ohne jegliche Beweiskraft auftischen.
Ebenso sollten jene Menschen, die auf diese Lügen angesprungen sind, sich fragen, weshalb sie sich auf der Suche nach Spiritualität nicht einfach auf ihre Kindheit besinnen, um den Zauber dieser Tage wieder entstehen zu lassen. Lügen sind also relativ, obwohl das Wort für sich einen äußerst kraftvollen und im negativen Sinne dominanten Charakter aufweist.

Leider muss ich meine Kleine nach den derzeitigen gesellschaftlichen Moralvorstellungen anlügen, wenn ich ihr den Glauben an ihre Zauberwelt nicht nehmen will. Schade, dass es sowas wie eine globale Fairness nicht gibt – eine Ethik der Superlative – wo alles wahr sein darf, was in unschuldiger Verträumtheit wahr sein will, und nichts als Lüge beschimpft wird, was in edler Gesinnung mündet.

Ich wünsche mir, dass meine Kleine auch mit dreißig oder gar hundert Jahren noch verträumt durch den Wald spaziert und sich bei einem Funkeln insgeheim denkt, sie hätte dort oben wieder eine Elfe im Augenwinkel gesehen. Ich wünsche mir eine Welt, die sie in diesem Glauben belässt, ohne ein selbsternanntes Recht auf Zuerkennung und Benennung von Wahrheit oder Lüge. Ich wünsche mir eine Welt, die erkennt, dass auch das Verschweigen von Wahrheit eine Lüge ist, wenn dadurch – und wenn auch nur in kollateraler Form – jemand geschädigt wird. Schlussendlich wünsche ich mir noch eine Welt, die Kinder nicht anlügt, sondern ihnen statt Lügen die Möglichkeit gibt, ihre Fantasie durch Vermutungen wachsen zu lassen. Ich vermute also, dass Elfen existieren – bitte verzeihen Sie mir diese Lüge.

Verena Tretter

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 16067