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- Das Museum der Brentanos: Abfahrt
- Ode an eine Ionische Insel
- Die Sonnenfinsternis vom Mittwoch, 11. August 1999, am Faaker See
- Via Amalfi
Kategorie-Archiv: Günther Androsch
Ode an eine Ionische Insel
Angesichts des attisch blauen Meers
Das Kefalonia
Die Krone der Ionischen Inseln
Umgibt
Meint man
Nach dem Genuss
Des süffigen Weins
Die antiken Götter
Verbergen sich
In den Zypressen- und Ölbaumhainen
Und haben uns
Im AugeUnd blickt nicht Odysseus selbst
Vom Enos
Auf das attische Blau
In dessen Dunst
Himmel und Meer verschmelzen?
Günther Androsch
www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 22092
Im Fischerdorf
Zu Füßen der Steilküste
Liegt Olhao
An den Ufern
Des AtlantiksUnd in der Nähe
Schmiegen sich römische Villen
An die Küste
Als stünde die Zeit
Seit mehr als zweitausend Jahren
Still.Unterm Augusthimmel
Peitscht die Brandung
Gegen die FelsenFür eine kurze Zeit
Trübt die Gischt
Die Sicht
Auf die Welt.
Günther Androsch
www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 22091
Gavdos
Ein südlicheres Eiland
Ein Eiland
Dem die Zeit entschwunden ist
Kennt Europa nichtGavdos weckt
So will ich sie nennen
Arkadische Gefühle
Wenn durch den brennend heißen Sand
Zum Strand ich stapfe
Agios Ioannis zuMystisch muten
Die Buchten an
Und wunderbar kitschig
Steigt Tag für Tag
Die Sonne über den Horizont
Und sinkt abends
Nicht minder kitschig
Hinter ihn
Günther Androsch
www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 22090
Folegandros
Eile?
Was ist das?
Fragst du
Die entrückt im Meer ruht
Als stiller FelsHellgrün hellblau
Leuchten die Sessel
Der Tavernen der Cafés der Bars
Hin und wieder
Räkelt eine Katze
Sich im SchattenHoch über Chora
Versinkt die Sonne
In der Ägäis
Wie für eine PostkarteHin und wieder trägt der Wind
Einen Hauch Musik her
Der zu lauschen
Sich selten lohnt
Günther Androsch
www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 22089
Algarve
Die Gischt
Schlägt
An deine Strände
Und stetig
Durchdringt der Fado
Alle Dinge
Selbst manches Tier
Die Menschen sowiesoAbends munden
Die Meerestiere
Zum schweren WeinUnd unter den Mandelblüten
Glaubt man sich
In einem irdischen Paradies
Günther Androsch
www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 22088
Alentejo
Hoffnung im Alentejo
Seinen großen Roman
Schrieb José Saramago dort
Wo die Fischer in ihren Booten
Auf einen Fang warten
Und dann und wann beißt ein Sargo
Ein BarschTróia Comperta Pinheirinho
Heißen die Strände des Alentejo
Unbarmherzig
Blenden sie das AugeNach Westen nichts als Wasser
Der Große Teich
Und dennoch gibt es
Einige Menschen
Die des Schwimmens
Unkundig sind
Mein Ozean hat Fliesen
Sagen sie
Günther Androsch
www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 22087
Immer zurück zum Pruth
Galizien und die Bukowina: Eine Reise in eine literarische Landschaft an Dnister, Pruth und Sereth
(Der Titel ist eine Verszeile aus Rose Ausländers Gedicht Pruth)
Am 25. Februar 2022 erhielt ich einen Anruf, bei dem das Display meines Handys den Namen Renate zeigte, der mir nicht gleich geläufig war. Als ich das Gespräch entgegennahm, erkannte ich auch die Stimme nicht sofort. Ein paar Augenblicke brauchte ich, dann war mir klar, mit wem ich sprach. Renate war im Sommer 2007 in derselben Reisegruppe wie ich gewesen, die die Westukraine, das frühere österreichische Kronland Galizien und die Bukowina, besuchte. Wir hatten nach der Reise regelmäßig Kontakt gehabt, uns dann aber aus den Augen verloren. Der Anlass ihres Anrufs sei ein trauriger, sagte sie, gestern habe die Invasion der Ukraine durch russische Truppen begonnen, da sei unser Besuch Galiziens wieder lebendig geworden, verbunden mit der Hoffnung, dass wenigstens der Westen der Ukraine vom Krieg verschont bleibe und der Krieg überhaupt ein absehbares Ende fände, wenn diese Hoffnung auch eine sehr schwache sei. Die Ereignisse, so Renate, hätten sie betroffen gemacht und sie nach Jahren des Schweigens zwischen uns zum Telefon greifen lassen.
Die Nachrichten vom Krieg hatten mich genauso ergriffen, vielleicht hatte mich anfangs die Illusion, der Krieg betreffe vor allem Osteuropa, getäuscht, aber Renates Anruf hatte die globale Gegenwart dieses Konflikts deutlich werden lassen und dass er jederzeit auf das Gebiet der EU und der NATO übergreifen könnte. Und selbst wenn „wir“ von direkten Kampfhandlungen verschont bleiben sollten, Millionen Flüchtlinge würden Europa mit den Folgen des Konflikts konfrontieren. Nicht nur die damalige Reise, vor allem die nach wie vor lebende kulturelle und literarische Verbindung mit dem ehemaligen Galizien und der Bukowina verstärkten unsere Betroffenheit, machten sie gegenüber den abstrakt wirkenden stündlichen Nachrichten in Radio und Fernsehen und den überquellenden kontroversiellen Äußerungen in den sozialen Medien konkret. Komm nach Wien, sagte Renate, die Geschehnisse verstören und deprimieren uns zwar, aber im Café Sperl finden wir sicher Zeit, auch über Erfreuliches zu reden. Und Reminiszenzen an die gemeinsame Reise dürfen wir uns erlauben, sagte sie, gerade dem Krieg zum Trotz. Das sehe ich auch so, sagte ich. Ich komme.
Anfang der 2000er Jahre las ich in der Wochenendausgabe einer Zeitung einen Essay über Karl Emil Franzos, den aus Galizien stammenden Schriftsteller und Journalisten. Er, 1848 geboren, ging wie viele seiner jüdischen Glaubensgenossen aus dem Schtetl des Ostens nach Wien, später nach Graz, schloss dort ein Studium der Rechte ab, sah sich aber eher als Schriftsteller denn als Jurist. Er war Redakteur bei der Neuen Freien Presse, gab Büchners Werke heraus, um sich schließlich mit seiner Frau in Berlin als Schriftsteller niederzulassen. Von dort setzte er sich für Juden in Russland ein, deren Lage im Zarenreich immer unsicherer wurde. Er war herzkrank und starb mit 56 Jahren in Berlin. Auf dem wunderschönen jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee hat man ihm ein Ehrengrab gewidmet. Die im Essay beschriebene geographisch nahe Landschaft, die historisch doch ferne Zeit, von der ein faszinierender Mythos ausgeht, der Sog, den Wien und das fernere Berlin auf Teile der jüdischen Bevölkerung ausübten, zogen mich in ihren Bann. Der Essay schilderte eindringlich und dicht die damalige Verbundenheit des östlichsten Kronlands der Habsburgermonarchie mit der deutschen und österreichischen Kultur und die Anziehungskraft der Hauptstadt Wien, in der viele der vor allem jüdischen Zuwanderer den sozialen Aufstieg erhofften.
Ich hatte vorher nichts von Franzos gewusst, vielleicht hatte ich einmal flüchtig über ihn gelesen, es aber vergessen. Ich spürte eine anwachsende, unruhige Neugier, die unbedingt gestillt werden wollte, und suchte nach Informationen und Büchern von Schriftstellern aus dieser literarischen Landschaft. Obwohl es die Sowjetunion seit einigen Jahren nicht mehr gab, stellte Galizien, das Teil der Ukrainischen SSR gewesen war und nun in der unabhängig gewordenen Ukraine lag, für mich immer noch ein exotisches, nicht nur durch die Sprache getrenntes Land dar, schwer erreichbar, mit einem Substrat versehen, das zur österreichischen Identität wesentlich beigetragen hatte. Die Vorstellung der Exotik wurzelte in der Unerreichbarkeit hinter dem Eisernen Vorhang während des Kalten Krieges, aber in den 1990er Jahren traf sie bald nicht mehr zu. Die imaginäre Reise mit dem Zug, auf die sich Martin Pollack Mitte der 1980er Jahre in seinem Buch Nach Galizien begeben hatte, konnte man nun völlig real antreten. Denn Lemberg, die Hauptstadt des früheren Kronlandes Galizien, nur etwa 80 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt, ist, was uns angesichts des Krieges im Jahr 2022 deutlich wird und Angst macht, Wien beinahe näher als Bregenz, vielleicht nicht nur geographisch, auch, was die Mentalität der Menschen betrifft.
Nach der Öffnung der ehemaligen Sowjetrepubliken entstand fast eine Reiselust, gepaart mit altösterreichischer Nostalgie. Sie erfasste in literarischer Hinsicht einige Jahre darauf auch mich. Ich hatte natürlich, bevor ich über und von Karl Emil Franzos las, fast alles von Joseph Roth gelesen, ich kannte Gedichte von Rose Ausländer und Paul Celan, und Galizien, allein schon der Wohlklang des Namens, hatte für mich eine geistige Aura, einen literarischen Nimbus als ein Quell der genuin österreichischen Literatur, die einen wesentlichen Beitrag zu unserer Identität darstellt. Joseph Roth ist der herausragende Name aus dieser Vielzahl an Persönlichkeiten, und die Auseinandersetzung mit ihnen würde den Umfang dieses Textes sprengen. Vergessen darf nicht werden, dass Roths Frau Friedl, als tragische Komponente von Roths gebrochen verlaufendem Leben, in Hartheim zu Tode kam, um es euphemistisch auszudrücken.
Die deutsche Sprache, das Jiddische, der Sog nach Westen brachten eine ganze Reihe Schriftsteller aus dieser Landschaft hervor, ebenso Schriftstellerinnen. Ich besuchte eines der selten gewordenen reichhaltigen Antiquariate, die es in Linz noch gibt, mit dessen Inhaber ich befreundet war, und fragte ihn, ob er Ausgaben von Karl Emil Franzos hatte. „Selbstverständlich“, sagte er und führte mich zu einem Regal, in dem nicht nur Werke Franzos’ standen, sondern zahlreiche literarische Namen Galiziens zu lesen waren. Ich konnte mich davon nicht mehr trennen und blieb eine lange Zeit in dem Antiquariat, las bekannte Namen, lernte für mich neue kennen. Plötzlich sah ich mich in Galizien, fühlte mich dort heimisch und den Literatinnen und Literaten nahe, ich spürte ihre Nähe, sie lebten trotz ihrer verblichenen Physis, und ich gehörte, da gab es keinen Zweifel, als ferner Verwandter zu deren Familie, wenigstens als Gast. Zwischendurch gab es Kaffee und ein paar Worte mit dem Antiquar.
Zuhause stieß ich einige Jahre später – ich glaube, in derselben Zeitung, in der ich über Franzos gelesen hatte – auf die Ankündigung einer Reise durch das ehemalige Galizien für den Sommer 2007. Ich bin mir sicher, mein Herz schlug schneller. Eine Art Fieber, dem Land nahezukommen, erfasste mich. So entschlussfreudig war ich gewiss noch nie gewesen. Ich meldete mich im Internet für die Reise an, zur Sicherheit griff ich zum Telefon, damit meine Anmeldung ja nicht im Cyberspace verschwand. „Wir müssen noch abwarten, ob für den gewählten Termin die erforderliche Mindestzahl an Teilnehmerinnen und Teilnehmern zustande kommt“, sagte die Bearbeiterin. „Ich nehme auch jeden anderen“, sagte ich. „Warten wir ab“, sagte die Dame, „ich melde mich ein paar Tage nach dem Anmeldeschluss.“ Eine Zeit unruhiger Erwartung stand vor mir. Aber nach einigen Wochen rief mich das Reisebüro an und bestätigte, dass die Reise zum von mir gewählten Termin zustande komme. Ich war erleichtert und gespannt.
Der Bus fuhr bald in der Früh von der damaligen Zentrale des Österreichischen Verkehrsbüros ab, die gegenüber der Secession lag und heute das Kleine Haus der Kunst beherbergt. Reiseleiter war ein schon lange in Wien lebender, an der hiesigen Universität lehrender deutscher Historiker, der sich während der Fahrt durch Wien vorstellte. Er habe sich, sagte er, nicht nur in eine österreichische Frau, mit der er mittlerweile lange verheiratet sei, verliebt, ebenso in die österreichische Literatur und Lebensart. Dieses Geständnis milderte unsere Zweifel, ob ein deutscher Reiseleiter durch einen Teil Altösterreichs der geeignete sei. Jede Teilnehmerin, jeder Teilnehmer stellte sich vor und skizzierte die Motivation für die Reise. Die Gruppe setzte sich aus historisch und literarisch Interessierten, Lehrerinnen und Lehrern, Pensionistinnen und Pensionisten zusammen. Die vor allem während der Monarchie in kultureller Hinsicht prosperierende Landschaft, die mit Österreich und der deutschen Sprache verwobene Geschichte, auch familiäre Wurzeln, was bei Renate zutraf, stellten die Gründe dar. Monarchisten oder Habsburg-Nostalgiker schien es nach meinen ersten Eindrücken nicht zu geben, zumindest betonte es niemand.
Durch Mähren erreichten wir die tschechisch-polnische Grenze bei Teschen, der Doppelstadt Cesky Tesin/Cieszyn, und betraten das polnische Westgalizien. Der Reiseleiter wusste eine Menge zu erläutern, es war anstrengend, ermüdend, ein paar Minuten Einhalt ließen mich aufatmen. In Krakau stieg er mit uns auf den Wawel, wo wir die Stadt wunderbar überblickten. Auf dem Hauptmarkt machte er uns auf die Tuchhallen aufmerksam. Kazimierz, das jüdische Viertel, hatte sich zu einer Touristenattraktion gewandelt, der Holocaust hatte das Viertel entvölkert, und der polnische Antisemitismus hatte sich nicht nur als stiller Beobachter beteiligt. Heute schleust man Reisegruppen durch den Stadtteil, nichtjüdische Musiker spielen Klezmer, nichtjüdische Köche bereiten koschere Mahlzeiten zu, und die Besucher sind von der gespielten Authentizität angetan.
Wir näherten uns der Ukraine, und als wir bei Przemysl die polnisch-ukrainische Grenze überschritten, betonte der Reiseleiter die Stellung der Stadt als Festung, die in mehreren Kriegen eine wichtige militärische Rolle gespielt hatte. Heute, im März 2022, flüchten wegen des Krieges in der Ukraine täglich zahlreiche Menschen über diesen Grenzbahnhof nach Polen, der an der Bahnlinie Krakau-Lemberg liegt. Die ukrainischen Grenzbeamten erledigten mit dem Reiseleiter die Formalitäten, sie betraten den Bus, nicht, um uns zu kontrollieren, sie begrüßten uns auf Deutsch und wünschten uns einen angenehmen Aufenthalt.
Wir betraten Ostgalizien, das ehemalige Kronland Galizien, das ich nur aus Beschreibungen und über die Biographien seiner Autorinnen und Autoren kannte. Die Landschaft, durch die wir in den nächsten Tagen reisen sollten, war ein nur kleines Gebiet der Ukraine, des zweitgrößten Landes Europas, das größte, wenn man es politisch sieht. Meine Neugier ließ mich den Hals recken, aus dem Fenster schauen, um jedes Haus, jeden Bach, jedes Merkmal, auf das der Reiseleiter aufmerksam machte, zu beachten und die Stimmung zunächst des Grenzlandes, dann des Landesinneren zu spüren, wenigstens zu erahnen. Atmete es noch einen Rest des alten Österreich, oder lebte dieses nur in Mythen und in den Werken seiner Dichterinnen und Dichter, in den Biographien seiner Intellektuellen weiter? Wir näherten uns den Orten, in denen jene Personen zur Welt kamen oder diese wesentlich formten, die wir für unsere Kultur, unsere Literatur beanspruchen. Ich war voller Erwartung, je näher Lemberg kam, Lviv heißt es auf Ukrainisch, Lwow auf Russisch. Es hatte – wie überhaupt Galizien – eine bewegte Geschichte mit wechselnder Zugehörigkeit zu Österreich-Ungarn, Polen, Russland, dann der UdSSR und Rumänien.
Unsere Köpfe wandten sich nach links, nach rechts, nach vorne, nach hinten, nichts wollten wir versäumen, alles im Auge haben. Wir folgten gebannt der Route des Busses und den Ausführungen des Reiseleiters, wir sahen typische Architektur der Habsburgermonarchie, die von den Zerstörungen der Kriege verschont geblieben war. Wir hatten gewissermaßen eine vertraute Stadt erreicht. Ganz in der Nähe liegt Grodek, das durch Trakls Gedicht in die Literaturgeschichte einging. Trakl lässt durch seine Sprache die Verzweiflung, die Zerstörung und die Brutalität des Krieges fühlen. Er war Sanitäter und in der Schlacht von Grodek im September 1914 mit den Verwundeten und Toten konfrontiert. Die furchtbare Realität des Krieges verkraftete er nicht und starb nach einer Überdosis Kokain. Ob er sie absichtlich genommen hatte oder es sich um ein Unglück handelte, ist nicht geklärt, aber der vermutete Selbstmord befördert den Mythos um Trakls Persönlichkeit. 1925 wurden seine sterblichen Überreste auf den Mühlauer Friedhof bei Innsbruck überführt.
An diesem herrlichen Sommertag hatte Lemberg eine mediterrane Aura, auf den Terrassen saßen die Menschen in der Sonne, ich dachte an eine Verwandtschaft mit Triest. Auch Klein-Wien traf die Ausstrahlung der Stadt. Die Leute promenierten auf den Boulevards, fast alle trugen Sonnenbrillen, nicht nur die Frauen waren elegant gekleidet. Wir stiegen im Hotel George ab, das 1901 nach Plänen des Wiener Architekturbüros Fellner & Helmer im Stil der Neorenaissance errichtet worden war und dessen riesige Halle den Eindruck weckte, wir hätten ein sakrales Gebäude betreten.
Mein Zimmer, eigentlich eine Suite, schien mir größer als meine Wohnung zu sein, jedenfalls riefen die Dimensionen, die hohen Räume, das erhöhte, barock wirkende Bett diesen Eindruck hervor. Die Möbel waren aus dunklem Holz, schwer und von imperialer Eleganz, sodass ich irgendwie die Gegenwart einer fiktiven Obrigkeit spürte, die aus kaiserlichen Zeiten zu kommen und mich als kleinen Untertanen zu betrachten schien.
Draußen in den Cafés saßen junge Leute, lachten, hatten Spaß. Wir nahmen in einem gegenüber der Oper, einer kleineren Ausgabe der Wiener Staatsoper, Platz. Die Stadt atmete Lebensfreude, jedenfalls im Zentrum. Solches im März 2022 angesichts des Krieges, der Lemberg näher rückt, zu schreiben, schmerzt nicht nur, es stellt sich die Frage, ob die Betonung der Fröhlichkeit, die damals an diesen Sommertagen dominierte, der heutigen Situation nicht unwürdig ist. Die Äußerung Adornos, die er später anders formulierte, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ gründet auf noch verheerenderen Vorgängen, dennoch kommt sie mir in den Sinn. Andererseits wird die Beschreibung der Lebensfreude, ja der Lebenslust, der Stadt gerecht, die, wie die westliche Ukraine überhaupt, in Sachen kultureller Orientierung, politischer Demokratie, sozialer Ausrichtung zur westlichen Lebensweise, zur Europäischen Union tendiert.
Als wir gegenüber der Oper saßen, das Hotel George, die Parkanlagen und zahlreiche repräsentative Gebäude im Blick, bedurfte es keines Alkoholgenusses, um der Gemütlichkeit zu frönen und sich zu fragen, ob wir Österreich überhaupt verlassen hätten. Dennoch stießen Renate und ich mit einem Glas Rotwein an. Nur die Sprache der Menschen um uns bestätigte, dass wir in einem fremden Land waren. Keine Spur von der Angst, die 15 Jahre später vor dem Heranrücken der russischen Armee um sich greifen sollte, keine Spur von einem von Flüchtlingen überfüllten Bahnhof. Gegensätzlicher zu damals, zum Sommer 2007, könnten die heutigen Bilder nicht sein.
Etwas abseits vom belebten Stadtzentrum liegt die armenische Kathedrale, in die uns der Reiseleiter gewissermaßen als Antagonismus zum pulsierenden Leben führte. Wir kamen vom hellen Sommerlicht in Dunkelheit, die zahlreiche Kerzen kaum brachen, eine mystische Düsternis empfing uns. Wandmalereien von Jan Henryk Rosen aus den 1920er Jahren beeindruckten mich. Und von einer CD erklang der Gesang Lusine Zakaryans, wunderschön, aber unendlich traurig, sodass ich zwar in dessen Bann geriet, aber bald nach draußen in den Sommertag fliehen musste, zurück ins Licht, ins Leben. Ich hielt diese Melancholie nicht länger aus. Später betrat ich die Kathedrale nochmals und kaufte mir eine der aufliegenden CDs mit Zakaryans sakralen Liedern, sollte ich einmal in der Stimmung danach sein und diese jenseitsnahen Melodien ertragen können.
„Jede Freundschaft mit mir ist verderblich“: So schreibt Joseph Roth an Stefan Zweig, der ihn mehrmals finanziell unterstützte, Roths Niedergang, an dem sein Alkoholismus den größten Anteil hatte, aber nur verzögern konnte. Beider Leben war von den Wirren des Zweiten Weltkriegs, vom Antisemitismus und der Emigration geprägt. Wir erreichten die kleine Stadt Brody, in der Roth 1894 geboren wurde. Die Stadt hätte ohne ihren literarischen Sohn kaum die heutige Bekanntheit. Roth stammte aus einer jüdischen Familie, Brody hatte zur Zeit seiner Geburt einen jüdischen Bevölkerungsanteil von etwa 72 Prozent.
Die Synagoge war 2007 eine Ruine, sie ist es laut Internet immer noch. Niemand kümmert sich darum, leben in der Stadt doch kaum noch Juden. Wir hielten vor dem Gymnasium, in dem Roth maturiert hatte. Ein Mann zeigte uns das Klassenzimmer, in dem er angeblich Schüler war. Für Interessierte hatte man es wie zu Roths Zeiten eingerichtet, selbst die Unterrichtsgegenstände wie Tafelzirkel, Geodreieck und Ähnliches stellte man zur Schau, um der Roth-Verehrung gerecht zu werden. In einem Wandregal standen seine Werke in ukrainischer Sprache, einige auf Deutsch. Roth hätte diese Aufmerksamkeit zeit seines Lebens gebraucht, über achtzig Jahre nach seinem Tod 1939 dient sie wirklich nur der Nostalgie.
Einige Kilometer außerhalb von Brody liegt der riesige jüdische Friedhof. Wir fuhren hin. Die Grabsteine – es sind tausende – waren im Lauf der Jahrzehnte, bald Jahrhunderte in die Erde gesunken, standen kreuz und quer, waren zum Teil umgefallen. Dazwischen stand das Gras mannshoch. Niemand mähte es, man überließ den Friedhof der Natur. 1939 gab es die letzten Bestattungen. Die Gräber dürfen nach jüdischem Ritus nicht aufgelassen werden, also verfallen sie bis auf wenige Ausnahmen. Joseph Roth ist nicht hier begraben, er starb in Paris, sein Grab ist auf dem Friedhof von Thiais bei Paris.
Der Reiseleiter erläuterte, dass der Friedhof bei Brody eine einsame Stätte sei, es gebe kaum Besucher. Wenn jemand kommt, dann sind es amerikanische Juden, die nach ihren Vorfahren suchen, die aus Galizien schließlich in die Vereinigten Staaten ausgewandert sind. An den Grabinschriften erkannte man bloß Bruchstücke von hebräischen, manchmal deutschsprachigen Namen und einzelne Buchstaben. So gab es eine Identifizierung eines Grabes nur, wenn eine jüdische Organisation die Koordinaten kannte. Vor Ort fanden die Nachkommen nur geborstene Grabsteine, die hilflos im Gras lagen, daneben den einen oder anderen Kerzenhalter, eine Vase ohne Blumen.
Am Westrand des Friedhofs befindet sich ein dreisprachiger Gedenkstein, der an die während der Aktion Reinhardt im angrenzenden Wald erschossenen Juden erinnert. Die heutige nichtjüdische Bevölkerung nahe dem Friedhof hatte, darauf wies uns der Reiseleiter hin, einen pragmatischen Zugang zum Ort: Größere Flächen am Rand nutzte sie als Garten und als Anbaufläche für Gemüse, Obst und Blumen, und niemand stieß sich daran.
Es gab noch eine Steigerung, was literarische Persönlichkeiten Galiziens betraf: Czernowitz, ukrainisch Czernivci, Hauptort der Bukowina, des Buchenlandes. Kleiner als Lemberg, doch diesem um nichts nachstehend, was die literarische Aura betraf, im Gegenteil. Mir fiel auch Joseph Schmidt ein, der Tenor, der vorwiegend Operettenmelodien und Schlager gesungen hatte, weil er für die Bühne zu klein war. Als ich noch ein Knirps war, hörte ich bei meiner Großmutter seine Stimme, etwa im Lied „Dein ist mein ganzes Herz“. Meine Großmutter hatte zwei Singles mit Schmidts Liedern. Viel später stellten sie für mich den reinsten Kitsch dar, da zählten der Rock und Woodstock, aber mit Renate habe ich Großmutters Singles wieder aufgelegt und Schmidts schöne Stimme gehört. Joseph Schmidt kam in der Nähe von Czernowitz, im Schtetl Dawideny, 1904 zur Welt. 1942 starb er in der Schweiz in einem Internierungslager nach der Flucht aus Deutschland, weil die medizinische Versorgung mangelhaft war.
Die galizischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller sind, obwohl sie längst nicht mehr leben, im literarischen Sinn lebendig, vielleicht ideell unsterblich. Es gibt, sofern sie von Krieg und Zerstörung verschont geblieben sind, deren Geburts- und Wohnhäuser, und deren Ansicht stärkt das Gefühl einer Verbundenheit. Dieses Gefühl wuchs in Czernowitz beträchtlich, als wir vor dem Geburtshaus Paul Celans standen und der Reiseleiter über ihn sprach, dessen Lyrik, ausgehend vom jüdischen Czernowitz, die moderne deutschsprachige Lyrik wesentlich beeinflusste, und das über die Todesfuge weit hinaus. Der Österreichbezug Celans ist auch in seiner fragilen Beziehung mit Ingeborg Bachmann begründet, von der der Briefwechsel zeugt. Paul Celan – Celan ist ein Anagramm von Ancel, seinem rumänisierten Geburtsnamen Antschel – steht in der Lyrik für die Moderne, für den Terror des Nationalsozialismus und die Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs.
Doch gibt es andere Namen, die keinesfalls in Celans Schatten stehen: Rose Ausländer und Gregor von Rezzori etwa oder Selma Meerbaum-Eisinger. Auch der Biochemiker Erwin Chargaff stammt aus Czernowitz, er kam dort 1905 zur Welt. Sie alle zog es nach Westen, nach Wien, nach Berlin, in die Vereinigten Staaten. Nach dem Ersten Weltkrieg minderte sich die Dominanz der deutschen Kultur, der Zweite hatte die Vernichtung der Juden und den Ostblock zur Folge und die Dominanz des Russischen. Die Sowjetunion hatte kein Interesse an einer Pflege der Habsburgernostalgie, geschweige an einem Kulturtourismus, der, so die Befürchtung, Hand in Hand mit der Einsickerung revisionistischer Ideen hätte gehen können. Aber Anfang der 1990er Jahre, nachdem die Ukraine ein selbständiger Staat geworden war, konnte man der Habsburgernostalgie frönen, andererseits einem literarischen und kulturellen Interesse, dem viele Reisebüros nachkamen und es, wenn der Krieg hoffentlich beendet ist, wieder tun werden.
Czernowitz liegt ein paar Kilometer nördlich der rumänischen Grenze, es gehörte mehrmals zu Rumänien, es gab immer Beziehungen dorthin. Deshalb studierte Celan unter anderem auch in Bukarest. Und heute während des Krieges? Menschen aus dem Osten der Ukraine wählen auch den Weg über Czernowitz nach Rumänien in der Hoffnung, dass ihr Aufenthalt im Nachbarland nur ein vorübergehender sei und sie in ihre ukrainischen Städte und Dörfer zurückkehren können.
Die Rückfahrt führte uns in die Karpaten, wir hielten auf einem Bergplateau, wo uns ein folkloristischer Markt erwartete. Obwohl es selbst in den Bergen warm war, deckten sich einige Leute der Reisegruppe vorausschauend mit Winterkleidung ein, die die Händler anboten. Im slowakischen Kosice, auf Deutsch Kaschau, habe ich eine übermannshohe Mauer in Erinnerung, zu der uns der Reiseleiter eigens führte, die die dahinter lebenden Sinti und Roma von der restlichen Bevölkerung der Stadt trennte.
Als erste Reaktion war ich erbost, wenigstens verwundert über diese Ghettoisierung einer ethnischen Gruppe. Der Reiseleiter erläuterte, dass man den Stadtteil zunächst ohne Mauer für die Sinti und Roma errichtet hatte, Häuser, Spielplätze, Grünanlagen. Nach und nach fielen mutwillige Zerstörungen auf, Rohre, Leitungen, Kabel wurden aus Verankerungen und Verschraubungen gerissen und mit dem Müll, obwohl für diesen Tonnen bereitstanden, aus den Fenstern und in angrenzende Wohnviertel geworfen. So relativierte sich meine Empörung, und der Vorwurf der Apartheid oder der rassistischen Segregation kämpfte mit dem Verständnis für die Maßnahmen gegen mutwillige Zerstörung. Aber es blieb ein mulmiges Gefühl, glaubt man doch die Ghettobildung mitten in Europa angesichts der jüngeren Geschichte überwunden.
Die Reise hatte mich erschöpft, die Fülle an Eindrücken und Emotionen beinahe überfordert. Um diesen gewachsen zu sein, war Abstand geboten und ein Setzenlassen. Renate und ich vereinbarten ein Treffen in einigen Wochen, gefolgt von regelmäßigen Kontakten, um die Erinnerungen nicht verblassen zu lassen. Irgendwann war es dann doch so weit, wir verloren uns aus den Augen. Der Krieg, den Russland am 24. Februar 2022 begann, ließ als grausamer Katalysator unseren Kontakt wiederaufleben.
Günther Androsch
www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 22049
Das Museum der Brentanos: Abfahrt
Um sieben läutete der Wecker. Ich zog immer noch meinen alten analogen Wecker, den ich manuell einstellen musste, meinem Handy vor, obwohl er einen unerträglichen Ton von sich gab, der rasendes Herzklopfen verursachte. Die Körperreinigung erledigte ich auf sparsame Weise, notgedrungen. Solange es noch kühl war, wollte ich zum Hilton Molino Stucky Venice gehen. Ich ging nicht entlang der Fondamenta, sondern südlich davon, an der Rückseite des Fortuny-Gebäudes. An der östlichen Außenwand des Hilton näherte ich mich dem Haupteingang, vor dem die Boote an der Vaporetto-Station anlegten und die Gäste auf die Abfahrt warteten und die neuen anlegten. Dann wandte ich mich dem Campo Junghans zu, der wegen der früher dort angesiedelten Fabrik Arturo Junghans so heißt. Es handelte sich tatsächlich um die berühmte Uhrenfabrik.
In der Bar nahm ich wie gestern einen Espresso und zwei Brioche, setzte mich nach draußen, verfolgte das morgendliche Geschehen. Die engen Gässchen, in denen am Morgen die Müllsäcke abgeholt wurden – die Müllentsorgung schien auf Giudecca zu funktionieren, ganz anders hingegen in Rom, wo die Müllberge wuchsen –, ein Winkelwerk, brachten mich zur Vaporetto-Station Palanca, es ging hinüber nach Zattere. Eine Tafel machte auf den russischen Lyriker Joseph Brodsky aufmerksam, der in der Villa hinter der Mauer gelebt hatte. Achtzehn Jahre hatte er in Venedig verbracht. Wer blieb vor dieser Tafel stehen? Wem fiel sie auf? Brodsky starb zwar in New York, dennoch liegt sein Grab auf der Friedhofsinsel San Michele. Mir fiel ein, dass Franz Kafka in Venedig an Felice Bauer schrieb. Wo stand das Haus, in dem er abgestiegen war?
Bevor ich das Kunstmuseum Punta della Dogana besuchte, besichtigte ich die sich wie ein übergewichtiger Körper präsentierende Kathedrale Santa Maria della Salute, deren Inneres mich nicht sonderlich beeindruckte. Alles war übertrieben groß und nach meinem Geschmack überladen, ein Ausdruck barocker Gottesfurcht. Im Kunstmuseum, einer Dependance des Palazzo Grassi, stellte man unter dem Titel Accrochage Objekte, Plastiken, Collagen aus, darun-ter Objekte des österreichischen Künstlers Franz West. Ich durchschritt die großen Hallen, die das Gefühl der Verlorenheit und Unbedeutendheit angesichts der teilweise riesengroßen Aus-stellungsobjekte hervorrufen sollten, und empfand ein distanziertes Interesse an den Kunst-werken, nicht wirklich Begeisterung, geschweige Ergriffenheit oder gar Identifikation. Die Objekte schienen mir abstrakte, ohne Beteiligung von Emotionen entworfene Gebilde zu sein, Konstrukte, bei deren Entstehen CAD oder Maschinen oder Roboter im Spiel hätten sein können.
Ist der Mensch bereits abgelöst worden als alleiniger Schöpfer, als Hervorbringer künstlerischer, auch intellektueller Leistungen? Selbstverständlich, lange schon. Man denke nur an Schachcomputer. Die Besucher gingen still durch die Ausstellung, hin und wieder hörte man ein Räuspern, die geflüsterte Unterhaltung von Paaren zur gegenseitigen Erklärung des Gesehenen, die Schritte der Aufseher und der Besucher. Obwohl nicht religiös bedingt, ähnelte die Atmosphäre in der Tat jener in der nahen Santa Maria della Salute, abgesehen von der dortigen Dunkelheit und der geringeren Zahl an Besuchern hier. Stille, Schweigen, stumme Fragen. Informativ war der Besuch der Ausstellung allemal. Es zog mich – die Ausstellung hatte mich überfordert, vor allem hinsichtlich meiner Haltung zu gegenwärtigen künstlerischen Strömungen – nach Giudecca zurück.
Mein Bruder würde mich wohl einen hoffnungslos Konservativen nennen, wenn nicht einen Banausen, einen, der in seiner Kunstbetrachtung hilflos auf seinem Stand von vor dreißig, vierzig, ja fünfzig Jahren verharrt. Die Impressionisten, Gauguin und die klassische Moderne, das war’s, dann bist du stehen geblieben, würde er sagen. Ich stieg ins nächste Vaporetto nach Palanca, und da es erst später Vormittag war, fand ich sogar Platz in einem der Restaurants an den Fondamenta, aß eine Portion Spaghetti Carbonara und schämte mich nicht mehr. Ein Mittagsschläfchen im alten Bett der Brentanos mit dem hohen Kopfteil aus dunklem Holz, mit dem ebensolchen Fußteil, im kühlen, verdunkelten Zimmer. Vorher gegen Insekten eincremen. Einige Gedichte Rilkes schob ich ein, bevor ich nachmittags wieder losziehen wollte.
Ein Steg verbindet Giudecca südwestlich des Hilton mit der kleinen Insel Sacca Fisola. Man hatte dort uniforme Sozialwohnungen gebaut. Wohnblöcke in eher dunklen Farben, moosgrün, die zum Teil aussahen, als wären sie vom Schimmel oder von Flechten, von Algen und von Feuchtigkeit befallen. Ich sah kaum Menschen. Alleine ging ich zwischen den monotonen Quadern, und ich fühlte mich unwohl dabei, genierte mich, die vom lebendigen Giudecca getrennte Ghettosiedlung neugierig, mit dem Fotoapparat in der Hand, den ich fleißig benützte, zu durchwandern. Ich kam mir vor wie in einem postkommunistischen Land, inmitten einer rasch herausgestampften Siedlung aus Plattenbauten, die man wie Neuland, wie ein exotisches Territorium besichtigte, nachdem der Eiserne Vorhang gefallen war. Die Häuser hier ähnelten jenen in ihrem großenteils vernachlässigten Zustand sehr.
Nur selten begegnete ich einem Bewohner, der eine oder die andere Jugendliche streunte aus Langeweile herum, eine Zigarette in der einen, eine Dose Bier oder einen Energydrink in der anderen Hand, das Handy in der Gesäßtasche. Von der Vaporetto-Anlegestelle kam manchmal eine Person und strebte ihrer Wohnung zu. Ein Einkaufszentrum fiel mir nicht auf, dafür ein, zwei kleinere Geschäfte, eine Trafik. Vom Canale della Giudecca drangen Signale der Schiffe in allen möglichen Tonlagen und Lautstärken her, laut, wie es mir bisher noch gar nicht aufgefallen war. Möglicherweise trug der Wind zu einer akustischen Verstärkung bei. Die Siedlung deprimierte mich. So interessant sie in sozialer Hinsicht war, als deutlicher Gegenentwurf zum historischen, klerikalen, imperialen Venedig, stellte sie einen realistischen Ausschnitt eines Areals dar, das der offenbar ärmeren Bevölkerung zugedacht war. Sie war gewissermaßen ein Kontrapunkt zur prunkvollen Welt der Kunst, der Kirchen, zu historischen Orten, Museen, Palästen, überfüllten Lokalen, Restaurants und staunenden, oft wohlhabenden Besuchermassen.
Zurück auf den Fondamenta hoffte ich, dass eine Pizza, dass ein Glas Rotwein meine Melancholie vertreiben und nicht verstärken würden. Einen Versuch war es wert. Vor Il Redentore fand ich einen angenehmen Platz, etwas zurückgesetzt von den Fondamenta. Es gab dort gerade keine Pizzas, weil der Ofen defekt war. Ich nahm Frutti di Mare, köstlich. Keine Spaghetti diesmal, obwohl ich das Stadium des Schämens überwunden hatte. Es dauerte etwas, dann fühlte ich mich wohler, und der rote Wein schmeckte fruchtig und warm. Ich spürte die wunderbar befreiende Wirkung des Alkohols und Zuversicht in mir aufsteigen. Im Westen, wie ein Fanal, zogen dunkle Wolken auf. Zunächst beachteten wir alle sie kaum, aber dann ging es schnell: Eine schwarze Wolkenwand baute sich in rasendem Tempo auf, der Wind wurde innerhalb von Augenblicken stärker, schwoll ebenso rasch zum Sturm an, erste Regentropfen wandelten sich in Sekunden zum Regenguss, zum Wolkenbruch.
Wir, die Gäste, das Personal und Leute von der Straße, stürzten ins Restaurant. Ich bezahlte, wartete lange Minuten, dann fasste ich mir ein Herz und rannte unter Blitz und Donner zum Museum der Brentanos. Nach mehreren zitternden Versuchen konnte ich endlich die Haustür aufsperren. Ich war völlig durchnässt. In der Wohnung brach mir der Schweiß aus, mein Herz schlug heftig, ich atmete stoßweise. Nachdem ich mich beruhigt hatte, nahm ich eine Rinnsaldusche, begleitet von heftigem Donnern und Blitzen draußen. Die Fensterläden schloss ich immer, bevor ich die Wohnung verließ, deshalb hatte der Wind, hatte der Wolkenbruch nichts anrichten können. In der Wohnung entstand ein Gefühl der Heimeligkeit und des Geschütztseins, und die schummrige Beleuchtung, die trotz des Unwetters durchhielt, verstärkte es sogar. Einige Rilke-Gedichte, dennoch schlechter Schlaf.
Ich schreckte auf. Der unsanfte Wecker! Der Tag des Abschieds war gekommen, ich musste nach Hause zurück. Nach einer Katzenwäsche verstaute ich die letzten Dinge im Trolley, ließ ihn in der Wohnung, um ein Abschiedsfrühstück am Campo Junghans einzunehmen. Der behinderte Mann hinter dem Tresen und einige Männer parlierten lautstark vor dem großformatigen Fernseher, in dem ein Fußballspiel lief, und das am frühen Morgen, offenbar eine Aufzeichnung. Zwischendurch sangen die Männer, wahrscheinlich so etwas wie Schlachtgesänge oder Vereinshymnen. Ich mochte diese morgendliche Ruhe am Campo Junghans, die von den Fans drinnen kaum gestört wurde, in die sich die paar leisen Jogger, die Leute mit Hunden harmonisch einfügten. Die Reflexionen des Wassers eines schmalen Kanals bildeten sich auf der Unterseite einer nahen Brücke ab, tanzende helle Flecken auf Stein. Ein Mann fegte die Brücke und die Stiegen sauber, ging dann in die umliegenden Gassen und fegte weiter. Draußen auf der Lagune hörte ich Motorengeräusche, von den ersten Fähren, von Fischerbooten auf morgendlichem Fang.
Die Beschaulichkeit des frühen Morgens wich mehr und mehr Geschäftigkeit, Leute gingen zur Arbeit, Touristen kamen und gingen mit rollenden Trolleys. Jogger mischten sich darunter, immer wieder Menschen mit ihren Hunden. Aus dem Lokal drangen nach wie vor der überlaute Kommentar des Reporters und die Stimmen jener Männer, die dem Fußballspiel folgten und diskutierten und sangen. Ich ging vor zum südlichen Rand der Insel und schaute auf die Lagune, vor mir eine im Dunst liegende kleinere Insel. „Wo liegt Punta Sabbioni?“, fragte ich mich und war mir der Richtung einigermaßen sicher. Von dort hatte mein erster Besuch Venedigs seinen Ausgang genommen, da mochte ich vielleicht zehn, elf Jahre alt gewesen sein. Wir standen damals auf der Fähre und sahen bald den Campanile als markantes Wahrzeichen, zunächst schemenhaft, dann größer und größer und klarer werdend.
Das damalige Bild hatte ich noch vor mir: Venedig, das ich bis dahin nur von Bildbänden, Fotos und Gemäldereproduktionen gekannt hatte, lag zunächst in der Ferne, der Campanile dann deutlich erkennbar, je mehr wir uns näherten, schließlich kamen der Dogenpalast, die Markuskirche, Santa Maria della Salute ins Blickfeld. Und dann war ich das erste Mal in Venedig, und alles an und in dieser Stadt war und ist immer wieder wunderbar und zum Staunen und überwältigend. Eine Stadt der Sehnsucht nach ihr.
Es wurde Zeit aufzubrechen. Ich ging zurück zu den Fondamenta, holte mein Gepäck aus dem Museum der Brentanos, gab die Schlüssel in der Bar zurück und fuhr mit dem Vaporetto zum Parkhaus. Ich wandte mich Giudecca zu und hatte das ganze Panorama vor mir. Es lag zum Abschied malerisch im hellen Sommerlicht. Keine Spur mehr vom gestrigen Unwetter.
Unversehrt stand mein Auto auf seinem Platz. Kein Kratzer, nichts, sogar die Tauben hatten sich zurückgehalten. Das Bezahlen am Automaten, das Verstauen des Gepäcks, das Einsteigen, das Starten und schließlich die Ausfahrt und das Entfernen von Venedig auf der Straße nach Mestre war stetig begleitet vom Bedauern, dieser so nahen und doch so exotischen, dieser vertrauten und doch fremden Stadt und dem Museum der Brentanos den Rücken kehren zu müssen.
Günther Androsch
Auszug aus der Erzählung: Das Museum der Brentanos, Verlag Bucher, Hohenems, 2020
www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 20105
Das Museum der Brentanos: Ankunft
Einer der beiden Schlüssel sperrte die Haustür, und ich betrat eine kleine Eingangshalle. Dunkelheit empfing mich. Eine Stufe führte nach links in ein enges finsteres Stiegenhaus. Ich fand endlich den Schalter für die Beleuchtung, die den Namen jedoch kaum verdiente. Ein trübes, schwaches Licht ging an. Das Haus schien mir in den Fünfzigerjahren adaptiert und renoviert worden zu sein. Die Eingangstüre, der Steinboden im Eingangsbereich, Holzkassetten an den Wänden. Es gab einen Lift, einen Mini-Lift, ich wählte aber die steile Wendeltreppe in den zweiten Stock, um mir vorzumachen, ich bewege mich ausreichend. Deshalb nahm ich zwei Stufen auf einmal. Ohne Atemnot erreichte ich den zweiten Stock. Brentano stand an der Wohnungstür.
Von Bekannten hatte ich erfahren: Professor Robert Brentano, ein Spezialist für mittelalterliches Englisch und italienische Geschichte und Professor an der University of California, Berkeley, hatte hier eine Zeit lang die Sommer verbracht. Eines seiner Bücher, Zwei Kirchen: England und Italien im dreizehnten Jahrhundert, gewann 1968 den „John Gilmary Shea“-Preis und die Haskins-Medaille. Er, 1926 geboren, hatte die Wohnung auf Giudecca erworben. Die brentanosche Wohnung war völlig unbewohnt – der Professor war schon lange tot, 2002 war er gestorben, und von seiner Familie und seinen Nachkommen schien niemand mehr Interesse an ihr zu haben –, durfte ich mich für ein paar Tage einmieten. Der zweite Schlüssel sperrte die Wohnungstür.
Als ich eintrat, empfingen mich ein abgestandener Geruch und Dunkelheit, aber nicht der Eindruck der Leere, vielmehr der Eindruck einer vollständig eingerichteten Wohnung, deren Bewohner überstürzt aufgebrochen waren und alles, so wie es war, zurückgelassen hatten. Oder vielleicht waren sie nur kurz weg, gingen Besorgungen nach und würden gleich zurückkommen und vor mir, dem Eindringling, über den man sie nicht verständigt hatte, erschrecken und mich brüsk hinauskomplimentieren. Verlassenheit empfing mich und eine Kulisse außerhalb der Zeit, die in mir, dem fremden Besucher, eine historisierende Faszination hervorrief.
In jedem Zimmer schaltete ich die Beleuchtung ein, weil die Fensterläden geschlossen waren. Die meisten kleinen Zimmerfenster gingen in dunkle Schächte hinaus, die kaum Tageslicht hereinließen, nur die Wohnzimmerfenster, ebenso klein und erhöht, schauten zum Canale della Giudecca hinaus. Ich öffnete die Fensterläden. Zerbröckelnde Insektenschutzgitter konnten ihrer Aufgabe kaum gerecht werden. Gegenüber, jenseits des Canale della Giudecca, fiel mir die Kirche Santa Maria della Visitazione auf, deren graue Fassade an einen griechischen Tempel erinnerte. Im Nordosten ragte die Kuppel von Santa Maria della Salute über die Dächer, und dahinter der Campanile auf der Piazza San Marco.
Die Wohnung, das bemerkte ich nach dem Blick in mehrere Zimmer, war vollständig möbliert, die Regale voll mit Büchern, Kleidungsstücke hingen über Sessel, lagen über Lehnen, hingen in den Kästen. Über der Lehne des Schreibtischsessels hing eine Weste, auf die der Professor bei kühlerer Temperatur zurückgegriffen hatte. Hätten mir die Kleidungsstücke gepasst und hätte ich nicht auf den Zeitgeschmack und den Geruch der Vergangenheit geachtet, sie wären mir zur Verfügung gestanden. Gerahmte Fotos standen auf Tischen, Kästen und Schränken.
Der Schreibtisch in dem Zimmer, wo das Bett für mich stand, machte den Eindruck – wieder kam diese Vorstellung in mir hoch –, als wäre Professor Brentano – der dieses Bett wohl benutzt hatte – nur kurz hinausgegangen, um in einer Bar einzukehren, einzukaufen oder sich Zigaretten zu holen. Würde er mich der Wohnung verweisen, wenn er mich in seinem Arbeitszimmer antraf, oder würde er meiner Erklärung Glauben schenken, man hatte mir diese Übernachtungsmöglichkeit nach bestem Wissen und Gewissen ausnahmsweise angeboten? Ich konnte es ihm erklären, wie es dazu gekommen war.
Kugelschreiber, für die nächsten Aufzeichnungen bereit, in Wirklichkeit trocken und deshalb unbrauchbar, lagen auf der Schreibfläche, Notizzettel, einige beschrieben, einige blank. Bücher standen in einem Wandregal gleich über dem Schreibtisch: eine Geschichte Venedigs, ein Kunstführer, englisch-italienische Wörterbücher, lateinische Texte, zahlreiche weitere Bücher, die ich mit Ehrfurcht und Achtung betrachtete. Das eine oder andere nahm ich behutsam zur Hand, Staub löste sich. Ich blätterte darin, roch daran. Wie fast immer ließ der Geruch von Büchern in mir ein Glücksgefühl, ein Gefühl der Zufriedenheit entstehen.
Ich hatte beinahe das Gefühl, ich tat etwas Verbotenes, so als schnüffelte ich in fremden Dingen, als störte ich eine fremde Intimität, indem ich die Abwesenheit des Inhabers ausnützte. Der Staub auf den Büchern verflüchtigte sich durch die Entnahme aus dem Regal und durch vorsichtiges Wegblasen. Die Erscheinungsjahre zeugten von einer vergangenen Zeit, einer Zeit, in der ich selber noch jung war: die späten Siebziger-, frühen Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts.
Da entdeckte ich auf dem Schreibtisch, etwas nach hinten geschoben, ein Kaleidoskop. Staub bedeckte das Rohr, das mit bunten Mustern verziert war. Ich blies ihn vorsichtig weg, um nicht in eine Staubwolke eingehüllt zu werden. Es war halb so wild, ich bekam keinen Nies- oder Erstickungsanfall. Mit einem Papiertaschentuch brachte ich das Kaleidoskop zum Glänzen. Ich blickte durch das Kaleidoskop in Richtung Fenster, dessen Läden ich geöffnet hatte, und war plötzlich wieder ein Kind, vielleicht zehn Jahre, vielleicht etwas älter, und ich fragte mich, ob ich überhaupt erwachsen war.
Ich drehte am beweglichen Teil, und vor mir erstanden verschiedenste symmetrische Muster, Sterne in allen möglichen Farben – rote, grüne, blaue, gelbe, lila Glassteinchen –, ebenso Kreise, Rosetten, Ringe, sphärische Gebilde, Fraktalen ähnlich. Die Spiegelungen zauberten Muster in nahezu vollkommener Symmetrie vor meine Augen. Ich war fasziniert. Und diese Muster lebten, änderten sich mit jeder Drehung, bildeten Mischfarben, schienen selber Freude an ihren Metamorphosen zu haben, die jeder statischen Langweiligkeit entgegenstanden.
Professor Brentano schien wie ich von Zeit zu Zeit mit kindlichem Gemüt gesegnet gewesen zu sein, jedenfalls was Kaleidoskope betraf. Das bestätigte sich, indem ich auf dem Schreibtisch einen Bausatz für ein Kaleidoskop entdeckte. Die Verpackung war aufgebrochen, und ich leerte sie auf dem Schreibtisch aus. Offenbar war das funktionierende Kaleidoskop, durch das ich geschaut hatte, ein gekauftes Fabrikat. Das andere hätte der Professor wohl gerne zusammengebaut.
Am liebsten hätte ich mich hingesetzt und das Kaleidoskop nach der Bauanleitung gebastelt. Die Anleitung war zwar italienisch, doch gestand ich mir in einem Zustand der Selbstüberschätzung so viel Geschicklichkeit zu, den Zusammenbau zu schaffen, und ein paar Brocken Italienisch konnte ich auch. Außerdem zeigten Zeichnungen, wie man vorzugehen hatte. Die Gegenstände, die ich auf dem Schreibtisch sah, verführten mich, mich hinzusetzen, mitten am helllichten Sommertag, und zu beginnen: ein Bogen fester Karton im DIN-A4-Format, ein Bogen Pergamentpapier, eine Klarsichtfolie, eine selbstklebende Spiegelfolie, bunte Perlen oder Schmucksteinchen, Lineal und Bleistift, Cutter und Schneideunterlage, Papierschere und Nagelschere, Klebefilm.
Günther Androsch
Auszug aus der Erzählung: Das Museum der Brentanos, Verlag Bucher, Hohenems, 2020
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