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Vom Lesen und vom Sterben

„Ich kann das nicht lesen.“ Roberts kleiner Zeigefinger tippte vorwurfsvoll auf die handschriftliche Widmung auf der ersten Seite seiner wunderschön illustrierten Ausgabe von „Grimms Märchen“. Seit er zwei Jahre zuvor in die Grundschule gekommen war, ging er immer davon aus, dass er alles Geschriebene auch lesen konnte. Aber wer kann das schon?

„Du hast Recht“, sagte ich, „das ist auf eine alte, schwierig zu lesende Art geschrieben. Es lautet: Für Robertchen, mit Liebe – deine Oma Gertrude.“

„Ich kann mich nicht an sie erinnern! Wie sah sie aus?“

„Sie hatte ein sehr altes, gütiges Gesicht. Lange Haare, die hinten in einem Knoten zusammengehalten wurden – aber zwei oder drei kleine Strähnen wollten sich einfach nicht bändigen lassen und fielen ihr immer ins Gesicht.“

„Okay. Und wann hat sie mir dieses Buch geschenkt?“

„Ja, weißt du, das war eins meiner Lieblingsbücher, als ich so alt war wie du, und sie hat mir immer daraus vorgelesen. Sie war eine super Vorleserin!“

„Warum kann sie dann nicht kommen und mir etwas vorlesen? Du hast immer so wenig Zeit!“

„Schau mal, sie ist gestorben, als du erst zwei Jahre alt warst. Deshalb kannst du dich auch nicht mehr an sie erinnern. Aber sie hat dich sehr liebgehabt.“

„Was ist denn passiert? Wo war sie, als sie …?“

„Sie hat früher immer bei uns gewohnt, in dem großen Zimmer oben, das jetzt Mamas Arbeitszimmer ist. Aber als sie zu schwach geworden war, ging sie in ein Heim für alte Menschen. Da ist sie gestorben.“

Der kleine Robert fing an zu weinen. Ich weiß bis heute nicht, ob er vor der schwarzen Wand des Todes zurückgeschreckt war, die er niemals zuvor gesehen hatte, oder ob er schon dazu in der Lage war, eine Vorstellung von Altenheimen mit ihrer Einsamkeit zu entwickeln. Vielleicht hatte er von beidem eine ungefähre Ahnung bekommen. Oder kam in ihm eine nebulöse Erinnerung auf – vielleicht durch unvorsichtig gemachte Bemerkungen in der Vergangenheit – von dem Tag, an dem sie allein starb?

Wir waren bei ihr im Heim gewesen. Es war Karneval in Deutschland. Alle waren wir für den Rosenmontagszug verkleidet – Robertchen in seinem weißen Clownskostüm mit einem winzigen roten Punkt auf seiner Nase –, als sie uns anriefen. Meine Frau und ich fuhren schnell zum Heim, es war nicht weit. Wir luden Robertchen und seinen Buggy aus dem Auto und hasteten in das Zimmer, in dem sie seit dem Tod meines Großvaters allein wohnte. Sie hatte Fieber, war aber geistig ganz klar. Sobald Robertchen auf dem Arm meiner Frau in den Raum kam, fixierte sie ihn.

„Robertchen, Robertchen, komm her zu deiner Urgroßoma!“

Robert konnte mit seinen kleinen Armen nicht bis zu ihr hin reichen, deshalb musste ich ihm den Teddy in den Arm legen, den sie ihm unbedingt hatte geben wollen.

„Frau Schmitz macht diese schönen Teddys. Wisst ihr, die alte Dame, die dement ist und immer ihre Unterwäsche über ihren Kleidern anzieht. Sie ist eine gute, alte Seele. Ich hatte diesen hier schon vor Monaten bestellt, und jetzt ist er fertig!“

Der Teddy war groß und weich, und Robert fing sofort an, ihn ein bisschen auf und ab zu schütteln; dann untersuchte er sein Gesicht. Meine Oma schien erleichtert. Dann erzählte sie uns von der bösen Erkältung, die sie nicht loswerden konnte, und meinte, dieser Winter käme ihr endlos vor. Sie fragte auch nach unseren Aktivitäten zu Karneval, aber dann wurde sie wieder aufgeregt.

„Es ist schon spät, oder? Ist es nicht längst Zeit für Robertchens Mittagsschläfchen?“

Wir versuchten abzuwiegeln, sie zu beruhigen. Aber etwas in ihrer Stimme hatte Robert verunsichert, und er fing an zu greinen. Das passte gar nicht zu ihm, aber die ganze Atmosphäre in dem halbdunklen Zimmer mit dem Krankenhausgeruch und den gedämpften Stimmen kam ihm wohl nicht ganz geheuer vor.

„Ja, du hast Recht. Weißt du, was wir machen? – Wir fahren schnell nach Hause und kommen wieder, sobald er seinen Mittagsschlaf gehalten hat.“

Aber Robert verhielt sich weiterhin unnormal. Erst aß er viel langsamer als sonst und spuckte die Hälfte des Essens sofort wieder aus. Dann wollte und wollte er nicht einschlafen. Ich erzählte ihm irgendeine blöde Geschichte oder sang ihm ein dummes Gute-Nacht-Lied vor; ich erinnere mich nicht mehr so genau. Endlich schlief er ein – und wachte lange Zeit nicht mehr auf.

Stunden später – Robert hatten wir inzwischen zur Nachbarin gebracht – gingen meine Frau und ich den gleichen düsteren Flur bis zu ihrer Tür. Sie stand offen. Die Nonnen knieten auf dem blankgescheuerten Linoleum, und Omas ehemalige Verkäuferin, die ich noch nie leiden gemocht hatte, sagte: „Sie ist tot.“

„Weißt du, wenn deine Urgroßoma mir etwas vorlas, war das immer wie Urlaub. Oder wie ein schöner Sommertag – angefüllt mit dem Geruch vom frischem Heu, dem Summen von Bienen, dem Geschmack von Erdbeeren. Ein endloser, wunderschöner Urlaubstag.“

Ich überflog das Inhaltsverzeichnis mit all seinen lustigen und grimmigen Geschichten.

„Und wenn sie zu Ende gelesen hatte, habe ich mich immer nur an den Anfang der Geschichte erinnert, niemals an das Ende.“

Robert war während meiner Reminiszenzen seltsam still geworden. Dann nahm er behutsam meine Hand von der Inschrift und deutete mit meinem Zeigefinger auf das kleine Bild zu „Schneewittchen“.

„Okay, Papa. Es ist okay. Wollen wir jetzt lesen?“

Frank Joussen
aus „Kleinkrieg und Frieden„, hrsg. von Frank Joußen/D.C. Hubbard

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 25109

 

muschelscherbensterben.

muscheln.
für einen alleinsammler.
frischgefunden.
strandleibentnommen.
leergeknackt.
fleischfrei.
mit altem möwenschrei.
auf den haufen gebracht.
in gesellschaft geschichtet.
mit kalkfingern.
tag um tag.
hosentaschenvoll.
mit blick nach zeit bestrichen.
strand leergesammelt.
haufen vollgefunden.
an reichtum reich.
das leben einsam im sand gelassen.

Tim Tensfeld
https://www.autorenwelt.de/person/tim-tensfeld
https://www.literaturport.de/lexikon/tim-tensfeld

Auszug aus dem Gedichtband „muschelscherbensterben.“, der 2025 mit der
ISBN 978-3-903134-03-4 in der edition tagediebin erscheinen wird.
Wir bedanken uns sehr herzlich für die Möglichkeit der Vorveröffentlichung
und wünschen dem Autor, dem Werk und dem Verlag viel Erfolg!

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 25065

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Tim Tensfeld
https://www.autorenwelt.de/person/tim-tensfeld
https://www.literaturport.de/lexikon/tim-tensfeld

Auszug aus dem Gedichtband „muschelscherbensterben.“, der 2025 mit der
ISBN 978-3-903134-03-4 in der edition tagediebin erscheinen wird.
Wir bedanken uns sehr herzlich für die Möglichkeit der Vorveröffentlichung
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www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 25064

wo das zebra liegt.

da. wo das zebra liegt [hufe weit von sich gestreckt].
beginnt das zukommen/weglaufen/anfangen/
aufhören/wechseln/übersetzen/tauschen.
zyklen des widerspruchs/gemeinsamen gebären
ihre kinder [von morgenstund geküsst].
aufs selbe fell.
schritte: in schwarz und weiß getaucht
[wechselnatürlich].
wege – ausgetragen auf dem rücken.

Tim Tensfeld
https://www.autorenwelt.de/person/tim-tensfeld
https://www.literaturport.de/lexikon/tim-tensfeld

Auszug aus dem Gedichtband „muschelscherbensterben.“, der 2025 mit der
ISBN 978-3-903134-03-4 in der edition tagediebin erscheinen wird.
Wir bedanken uns sehr herzlich für die Möglichkeit der Vorveröffentlichung
und wünschen dem Autor, dem Werk und dem Verlag viel Erfolg!

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 25063

fern. zwischen welten.

die straße verbiegt sich zwischen den welten
[häusern].
alte fotos halten momente.
katzen nah den brücken.
turmuhrbeten. tiktak tiktak.
heimat – viele: g_sichter hat sie g_tragen.
sprachen in den mündern tanzen lassen.
zu den wurzeln – nun spricht das zuhause.

Tim Tensfeld
https://www.autorenwelt.de/person/tim-tensfeld
https://www.literaturport.de/lexikon/tim-tensfeld

Auszug aus dem Gedichtband „muschelscherbensterben.“, der 2025 mit der
ISBN 978-3-903134-03-4 in der edition tagediebin erscheinen wird.
Wir bedanken uns sehr herzlich für die Möglichkeit der Vorveröffentlichung
und wünschen dem Autor, dem Werk und dem Verlag viel Erfolg!

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 25062

Geschenk

Du bist da,
wenn ich nichts will als bei mir sein.
Lässt meine Hand auf deiner warmen Haut verweilen,
wenn ich nichts will als in ihr sein
genau auf deines Körpers Oberfläche.
Bist still und da,
während die Schönheit dieses Augenblicks
die größten Wellen in mir macht.

Du bist da,
wenn meine Hand noch länger bleibt,
weil ich mich ihrer Weisheit hingegeben hab.
Spürst du, was sie alles spürt?
Dass sie frei ist zuzuhören,
zu pfeifen auf das Tun aus Kalkül,
zu überraschen.
Schöpferin zu sein.

Du bist da,
bis deine nackte Haut mein Herz berührt.
Bleib,
dann wird auf dich mein Innerstes sich legen,
von meiner Hand getragen in die Welt.

Sonja Steingreß
aus dem Gedichtband „Ich will bloß sein“, ISBN 978-3-200-09899-2
Erhältlich per E-Mail-Bestellung bei der Autorin unter so@steingress.net
und bei „Bücher & mehr“ in Linz (Klosterstraße 12)

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 24183

Heilig

Hinter seinem Rücken
fügen meine Füße sich zusammen.
Sohle an Sohle, wie zum Gebet.
Meine Beine ziehen uns
in die Tiefe der Umarmung.
Wo Worte und Bewegungen enden.

Ich darf ihn halten und mich halten,
seinen Schultern dankend.
Darf mich hineinlegen in das Bett,
zu dem sie sich mit seinem Hals vereinen.
Aus … ein …
In meinen Atem.
In die Stille.

Darin geht mein Lächeln auf.
In die unendliche Weite öffnet sich mein Herz.
Ich erstrahle.
Alles ist synchron.
Jede Sekunde fühl ich mich neu
und bin mir doch vertrauter als je zuvor.

Sonja Steingreß
aus dem Gedichtband „Ich will bloß sein“, ISBN 978-3-200-09899-2
Erhältlich per E-Mail-Bestellung bei der Autorin unter so@steingress.net
und bei „Bücher & mehr“ in Linz (Klosterstraße 12)

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 24182

Für mein Kind: Zurück zu den Wurzeln gemeinsam mit dir

Zeit fliegt vorbei.
Manchmal brems ich sie ein,
sehe dich an
und erschreck,
weil ich mich bis ins Detail
an dir spiegeln kann.
Ich entdeck
Spuren meiner Vergangenheit
in deinem Gesicht,
rück in dein Licht,
und wir gehen ein Stück
auf der Zeitschnur zurück.
Dann färbt dein Lachen
vergilbte Bilder in Schwarz-Weiß
leuchtend bunt,
und wir staunen leis.
Lassen darauf Glücksraketen
starten, halten die Hand
und warten gebannt
im Moment der Magie,
wenn sie den Himmel
in ein Farbenmeer tunken
und Endorphinfunken
in unsere Zukunft sprühen.
Sehen sie verglühen und fächern uns,
zufrieden lächelnd, Luft zu,
liebesgefüllt.
Nichts fehlt.
Lassen dann beseelt
die Zeit weiterziehen.

Claudia Lüer
aus dem Gedichtband „Barfuß durch  dein Herz“

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 24177

Das Unglück

Ein Unglück fühlt sich allein
Es ging der andren verlustig
Sonst war es zumindest zu zwein
Nur so ist das Unglück lustig
Denn Unglücke ziehen nur selten
Im Singular durch die Welt
Sie leben in tiefschwarzen Zelten
Die man für Glücksfälle hält
Unglücke leben im Rudel
Wie schon das Sprichwort sagt
Sie teilen die letzte Nudel
Und schlafen im Zelt bis es tagt
Unglücke leisten kommunisch
Ihr gottgefälliges Tun
Ein Unglück alleine wirkt kumisch
Wer hilft unsr’em Unglück nun?
Werft euer Unglück gemeinsam
In diesen schäbigen Topf
Dann ist es nicht mehr einsam
Und ihr seid freier im Kopf!

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

Auszug aus „Der neue Palmström. Zweites Buch„, Potato Publishing, Linz, 2023

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 13101