1480 – 1990
Ein Verbrechen zwischen Neuzeit und Jahrtausendwende
Es fing recht banal an: Giorgione Faltrelli di Montemarche erwachte ungewohnt schweißgebadet und setzte sich mit einem Ruck auf, so dass der Baldachin über seinem Kopf erzitterte und das Holzgestell seiner Schlafstätte unversehens ächzte. Der Weg vom Liegen zum Sitzen war nicht weit gewesen, die damals üblichen Polsterberge hatten ihn ohnedies in Steillage schlafen lassen. Ihm hatte von grauen, moosüberwachsenen Ruinen geträumt, die sich im zähem, mahlendem Zeitstrom den schroffen Felsformationen der Gebirgszüge des Monte Falterona angeglichen hatten. Dieses Gebirgsmassiv bot seiner Stammburg Rückendeckung, welche sich zwischen dem Berg und dem Casentiner Tal befand und von durchaus dichten Kastanienwäldern umringt war. Bestürzt erkannte er in den Ruinen die Überreste seines ehemals praktisch unzerstörbaren Heims, welches schon gut seit Generationen Angriffen, Erdbeben und Unwettern getrotzt hatte. Auf einer Felserhebung, an die sich vereinzelt ein paar zähe Büsche klammerten, hatte sich bis zu jenem fatalen Traum sein Bergfried schier unverwüstlich aufgetürmt!
Giorgione, Sohn des ehrenwerten Conte Nicolo Faltrelli, war eben der Jugend entwachsen (die in seiner Epoche bloß eineinhalb Jahrzehnte währte), ein hübscher kräftiger junger Mann mit rötlich braunen, sauber geschnittenen Haaren. Der heftige Traum jedoch hatte zur Folge gehabt, dass sein Haupthaar mehr einem von Hagel verwüstetem Feld als dem akkuraten Pagenkopf eines toskanischen Edelmannes seiner Zeit, des ausgehenden Quattrocento, glich.
Jenseits des Rundbogenfensters seines Schlafgemaches dämmerte es und die Vögel zwitscherten um die Wette den Frühlingshimmel an. Als es an der kräftig gemaserten Nussholztür klopfte, strich er sein wadenlanges weißes Leinenhemd vorsorglich glatt. Als angehender Ritter, allerdings einer der letzten seiner Art, befolgte er die ihm gebotenen Anstandsregeln, sich keine Blößen zu geben.
Seine in die Jahre gekommene Amme, deren Rundungen die beinahe verflossenen drei Lebensjahrzehnte besonders aus ihrem Mondgesicht plätteten, betrat schlurfend, in einem sauberen, steifen, selbstzufrieden knisternden braunen Kittel mit einer Kanne und einem Becher in der Hand das Schlafgemach des jungen Adeligen.
„Guten Morgen mein Herr“, schnarrte sie, „Eure kuhwarme Milch. Vergesst mir nicht, wie Euer Herr Vater aufgetragen, euch ansehnlich herzurichten.“ Dann kicherte sie verschämt. „Seine Durchlaucht Ivo di Selvascuro ist mit seinem Töchterchen eingetroffen. Ein properes Ding. Hihi!“ Sie zog ihre rundlichen Schultern hoch und erglühte unter ihrer Dienstbotenhaube.
Giorgione räusperte sich, was wie eine ungeschmierte Wagendeichsel klang, und winkte schlaff ab. „Schon gut, schon gut.“
Die Amme verstand und machte sich im Rückwärtsgang fort.
„Cara Mamma Cibo, es langweilt mich“, murmelte er der Verschwundenen nach. Was er wohl mit der dreizehnjährigen kleinen Selvascuro anfangen solle? Wahrscheinlich könne sie leidlich sticken, etwas lesen und schreiben, aber: Mit dieser unbekannten Lebensform zu kommunizieren, und dass er so ein fragiles Wesen auf seine geliebten Jagden mitnehmen könne, konnte er sich nicht vorstellen.
Natürlich war der Besuch aus dem Piemont mehr als ein Anstandsbesuch. Er war zum Zwecke der Begutachtung, nein, der Bekanntmachung der Tochter des Hauses als Heiratskandidatin. Da beide Familien befreundet waren und man sonst keine Grafschaft mit Eheschließungsbedarf berücksichtigen musste, war wohl die kleine Bellarosa fix für Giorgione vorgesehen.
Giorgiones Mutter mit dem schönen Namen Viola war geradezu aus dem Häuschen gewesen, dass ihr Sohn sich mit den durchaus vermögenden Selvascuros verbinden sollte. Immerhin war Bellarosas Mutter Sofia ihre Kusine, welche eigentlich aus bäuerlichen Verhältnissen aus dem Val Pellice stammte, allerdings war dort die Landbevölkerung seit Jahrhunderten sowohl mächtig als auch finanzkräftig gewesen und hatte es sogar zur Herrschaft über eine eigene Bauernrepublik gebracht.
Auf der Apenninenhalbinsel war es gerade en vogue, sich Güter und bestenfalls sogar Stadtherrschaften per Verschwägerung einzuverleiben.
Als sich der junge Ehekandidat im Rittersaal einfand, erwarteten ihn seine Eltern an der langen dunklen Eichentafel ungewöhnlich würdevoll, jedoch vom aufsteigenden Geruch aus den Rüstkammern, einer Mischung aus Ammoniak und Schweinefett, umweht. Wenigstens wussten sie die prächtigen Plattenpanzer berühmter toskanischer Machart zu Ehren von Bellarosas Papa, einem Condottiere, mit abgestandenem Urin und Sand geputzt und mit Fett eingelassen und aufpoliert. Geeichte Jungneuzeit-Nasen störte sowas wenig. Die Vögelchen aus Zypern, wie man das beliebteste Parfum der Städter nannte, hatten hier keine Einflugschneise genommen und wurden auch gar nicht vermisst. Sie wären ohnedies vom Rußgeruch, welcher zwei Eisenkandelaber und einen Kronleuchter umwehte, gefressen worden.
Giorgiones Vater war wie immer recht einfach und geradezu farblos gekleidet, allerdings mit einer schweren Silberkette behangen und an den Händen prächtigst beringt, seine Mutter hatte eine ausladende Tracht aus Samt und Seide angelegt, was er ziemlich übertrieben fand. Der Sohn hatte sich an seinen Vater gehalten und sich nach einer raschen Waschung in ein braunes Wams mit engen Beinkleidern geworfen.
Conte Nicolo mochte den Repräsentationsdrang seiner Frau Viola bei derlei Treffen gerne missen, aber die Sitten der Zeit verlangten, dass man sich als Familie offiziellen Besuchern entsprechend adjustiert präsentierte, selbst wenn sie zur Verwandtschaft zählten.
Die bereits von den Reisestrapazen erholten und entsprechend restaurierten Gäste konnten beim Eintreffen durchaus beeindrucken. An der anderen Seite der Tafel ließ sich der düster gewandete Ivo auf dem Ehrenplatz, einem dunklen, reichlich verzierten Eichenstuhl, mit seiner ganzen Gewichtigkeit nieder. Neben seinen ausladenden schwarzen Puffärmeln ging ein kleines, recht lebendiges Püppchen, seine Tochter mit rundlichem Gesichtchen, rosa Wangen und unter einer weißen Mädchenhaube herausquellenden kastanienfarbenen Haarzöpfen beinahe unter, obwohl ihre Zofe sie in ein leuchtend grünes Kleidchen aus Samt und Zendal aus Lucca gesteckt hatte. Die doch eher beschwerliche Reise, die auch durch dichte und nicht ungefährliche Wälder führte, hatte Mama Sofia di Selvascuro vermieden, zumal sie ihre Residenz, das Castel Solelonghi in der Nähe von Asti, persönlich in Schuss halten hatte wollen.
Man sah der Kleinen an, dass sie sich Besseres gewusst hätte, als eine lange beschwerliche Reise zu Pferd anzutreten, um als Verschwägerungspfand feil gehalten zu werden. Ihre braunen Knopfaugen blickten starr geradeaus. Ihren potenziellen Verlobten würdigte sie keines Blickes.
Alle saßen etwas steif an der Tafel. Das schwache Licht, das durch die nicht verhangene obere Fensteröffnung fiel, trug nichts zur Aufheiterung dieser Szene bei. Der Austausch der Höflichkeiten begann entsprechend steif: „Welch eine Freude, Euch so wohlbehalten anzutreffen. Wir hätten es uns nicht verziehen, wenn wir nicht trotz des jugendlichen Alters unserer Kleinen den Weg gescheut hätten. Dass sich unsere Nachkommen recht bald kennenlernen, kann für später nicht schaden.“
„Dass Ihr solch eine zarte Knospe dieser Reise ausgesetzt habt, zeugt von Eurer Freundschaft zu uns“, antwortete der Gastgeber. Ganz geheuer war dem alten Faltrelli di Montemarche nicht dabei, denn derlei Stilblüten pflegte ihm seine Gattin einzuflüstern, die bei derartigen Anlässen das Reden dem Hausherrn zu überlassen hatte. Er drehte sich zu Giorgione. Der machte ein unbeteiligtes Gesicht.
Unter Cinquecento-Teenagern gab es keinen unbefangenen Umgang. Bis zur eigentlichen Hochzeit würde man zu beider Erleichterung noch zuwarten; verbindlich beschlossen war sie ja. Zu baldige Ehearrangements für Kindsvolk waren zwar im ausgehenden 15. Jahrhundert bereits verpönt, doch gewisse Ewiggestrige, und dazu zählten die Selvascuros, ignorierten, was gewinnbringenden Interessen im Weg stand.
Giorgione überließ gelangweilt seine Mimik der Schwerkraft und Bellarosa schien müde zu sein. Anders konnten ihre gesenkten Lider nicht gedeutet werden, war sie doch zu jung, um ihre Augen mit Arroganz zu beschatten.
Ein herrlicher, mit Kastanien garnierter Wildschweinbraten beendete den Austausch von Floskeln. Nicolo lauschte den nun wieder vernehmbaren Geräuschen von in der Festung ein und ausgehenden Menschen mit Genugtuung, klangen sie doch nach präsentabler Geschäftigkeit. Im Nu entspannten sich wirklich alle und langten heiter zu. Ivo mit ausladender Geste, Viola zwar mit spitzen, aber lustvoll bebenden Fingern, und Bellarosa schien Spaß zu haben, ihre Schwiegermutter in spe zu imitieren.
Der Gastgeber stellte einen Ausritt für den nächsten Tag in Aussicht, um seinen Besitz den Besuchern zu zeigen. Obstgärten und Felder sowie ein Forst wollten im Verlauf eines Halbtagesrittes präsentiert werden, Fasane oder gar ein Damwild waren fürs nächste Bankett mit eingeplant.
Der folgende Morgen hatte an diesem Maientag mit ungewöhnlich warmen Temperaturen aufgewartet. Der Hausherr stellte seinen Gästen die besten Reittiere zur Verfügung. Alle Vorzeichen schienen selbst für als abergläubisch geltende Toskaner hervorragend. Pflanzengrün und Blütenfarben leuchteten miteinander um die Wette. Amseln und Stare unterhielten sich angeregt und ließen sich auch nicht von der lebhaften Reitgesellschaft unterbrechen. Giorgione, Niccolo, Ivo und sogar Bellarosa ritten mit zwei Leuten Gefolge einen Pfad, der in den Felshang geschlagen worden war, hinab. In den Hufschlag der Reittiere mischte sich leises Rauschen vom nahen Bach und Klatschen von Holzpaddeln auf nasse Wäsche. Giorgione musste anerkennen, dass sich Bellarosa im Seitensitz prächtig auf ihrem Zelter hielt. Ein recht steiles Stück musste nun von den nickenden, tapsenden, aber selten stolpernden Rössern überwunden werden, doch bald verlief sich das Gestein in einer buckligen Grasfläche, die ihren Platz erfolgreich gegen Fels und Baum behauptet hatte.
Das Versprechen, einen beschaulichen Ritt genießen zu können, wurde jäh durchkreuzt, als ein unerwarteter Blitz zischend über den Himmel raste. Eben noch durch Baumkronen blitzendes Blau wich zusehends rasenden, finsteren Wolken. Die Reiter legten ihre Schenkel dichter an die Flanken ihrer Rösser und versicherten sich ihrer Zügel. Die Reittiere verdrehten Augen und Ohren, vergeblich nach der Gefahrenquelle und gleichzeitig nach einem Fluchtweg suchend. Die Luft roch fremd, süßlich und schwer, das Himmelsdunkel verdüsterte und erhellte sich zusehends im Stakkato.
Gastgeber Niccolo offerierte eine Jagdhütte in der Nähe. „Da finden wir Zuflucht.“ Ivo verriet mit keiner Miene, dass er trotz seiner Militärkarriere abergläubischer war als der furchtsamste Toskaner, atmete aber sichtbar auf. Giorgione blieb jugendlich lässig, während Bellarosas Köpfchen aufflammte. Ihre Miene zeigte nicht, ob sie sich erschreckt hatte. Schon zausten Windböen die Pferdemähnen und fuhren in die stoffreichen Wämser mit den gestopften Ärmeln. Haare standen ob der geladenen Luft zu Berge und das Reitkleid der Kleinen blähte sich so mächtig auf, dass ihr Vater sich sorgte, sie würde demnächst vom Pferd segeln. Dann donnerte es und darauf folgte der erste heftige Regenguss.
Der sonst so sanfte und etwas träge Zelter Bellarosas scheute, gegen sein phlegmatisches Naturell, äußerst heftig und ging durch. Giorgione riss seinen Rappen unverzüglich herum, dass Wasser aus Mähne und Schweif spritzte und folgte ihr Richtung Wald. Er galoppierte mit aller Kraft; einer der Männer vom Gefolge, der sich ihm an die Fersen geheftet hatte, um ihm beizustehen, kam nicht mehr nach und konnte nurmehr das Verhallen der feucht schmatzenden Galoppschläge auf dem Waldboden hören.
Giorgione, ein kühner, manchmal auch etwas übermütiger Reiter, holte die Fliehenden alsbald ein, bekam das schweißgebadete Pferd an den Zügeln zu fassen, die die Kleine schleifen hatte lassen, um sich an der Mähne festzuhalten.
Als sie sich umsahen, wussten beide nicht mehr, wo sie sich befanden. Sie mussten wohl im Kreis geritten sein, da das Gelände felsig anstieg, vermutete Giorgione. Immerhin fanden die Durchnässten unter einem Steinvorsprung Zuflucht.
Der Cavalliere wollte die Kleine zu sich ziehen, als sie sich dem Griff seiner Hand scheu entwand.
„Fräulein, habt Vertrauen.“
Das Mädchen riss die Augen auf und schüttelte den Kopf: „Die Masca stellt mir nach“, flüsterte sie. Giorgione überhörte zunächst den Namen, den er nicht kannte, war die Masca doch ein piemontesisches Zauberweib, das sich in allerlei Tiere verwandeln konnte. „Ich tu euch gewiss nichts anhaben. Eure Ehre ist die meine.“
„Hier können wir nicht bleiben“, drängte sie und schrie plötzlich laut auf: „Masca, Masca!“ Vor Giorgiones Nase schoss eine schwarze Krähe vorbei und verschwand im Gebüsch.
„Meint ihr etwa den Badalisco?“, fragte er nach. Der toskanische Basilisk trieb sich unten im Casentiner Tal herum, hier herauf würde er doch nicht finden. Immerhin, dieses Mischwesen aus Hahn und Schlange konnte mit seinen Blicken tödlich lähmen.
„Sagt Ihr so hier?“, murmelte sie, ihre schweren, nassen Kleider glattstreichend, während sie sich ruckartig umblickte.
„Ihr braucht schon einen triftigen Grund, warum wir uns dem Unbill des Wetters aussetzen sollen. Mir scheint, Ihr seid ein wenig eigensinnig.“
Bellarosa schwieg, während sich Starkregen über die Landschaft ergoss, unzählige Rinnsale von den Haarspitzen über Kleidung und Pferdeleiber dem Boden zustrebten und die Feuchtigkeit nun sogar begann, alles in Nebelschwaden einzuhüllen.
„Ich muss Euch wohl nötigen. Es ist zu eurem Besten.“
Er versuchte die Zügel, die er Bellarosa gelassen hatte, erneut zu ergreifen, sie aber machte mit dem massiven Ross einen Satz zur Seite und war im nächsten Moment von Gelände und Dunst verschlungen. Er jagte ihr sofort sein Pferd, das beinahe am glitschigen Stein ausglitt, nach. Doch nicht einmal das dampfende Fell ihres Reittieres war noch zu riechen.
Antonia H.
Auszug aus dem Roman „Das Verschwinden der schönen Rose. 1480–1990.
Ein Verbrechen zwischen Neuzeit und Jahrtausendwende“, der hoffentlich bald erscheinen wird.
Wir danken der Autorin für die Möglichkeit der Vorveröffentlichung
und reichen die Bestelldaten nach, wenn das Werk erschienen ist.
www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 25195