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Im Silberlicht der Angst

Dass es nichts Gutes in sich verbarg, ahnte ich schon, als ich es gestern zum ersten Mal in meinen Händen hielt. Doch das wirkliche Ausmaß des Grauens, das der Inhalt in mir auslöste, übertraf mit Abstand alle Ahnungen und Befürchtungen, die mein angstbesetztes Hirn des Nachts fantasievoll kreierte.
Gänsehaut pur. Unter Dauerbeschuss stehen sie, die feinen Härchen auf meinem Unterarm, stechen wie stolze Soldaten aus den Poren, stramm und angespannt, bis in die Spitzen, mit eisernen Gesichtern und fest entschlossen, ihre Spannung nicht zu verlieren. Ihre Geradlinigkeit. Ihre Würde. Standhaft zu bleiben und aufs Schärfste bereit zum Kampf, dem Grauen Paroli zu bieten, auch wenn das Fundament zittert und bebt. Oder vielleicht gerade deshalb.

Meine Mundwinkel, noch immer starr und vereist, im Ausdruck tiefster Abneigung verharrend und angewidert gen Kinn gezogen, in steilen Gräben, die Abgründe offenbaren, so tief, halten mit unbändiger Kraft die Lippen in Schach, ziehen sie mit dicken Tauen mit sich in die Tiefe. Ungeachtet ihrer Wunden, die noch weiter aufreißen, weil sie dem Zug, der auf ihnen liegt, nicht mehr standhalten können, eh schon ausgedörrt waren. Von ihrem Ritt durch die endlose Wüste.
Mitleiderregend schrill schreien sie nach Wasser, so habe ich Erbarmen und befeuchte sie mit meiner Zunge, schmecke Salz und Blut, das aus ihnen tropft und bin wieder im Hier und Jetzt. Auf Dr. Walds Couch. In Sicherheit.

Innerlich vertrocknet bin ich, vollkommen leer, nachdem ich alles, was in mir war, aus mir herausgewürgt habe, just als ich den Inhalt des Päckchens sah, heute Morgen, vielleicht sogar meine Seele. Falls sie überhaupt noch in mir wohnte und nicht längst über alle Berge war. Fühle nichts mehr, nur noch Angst. Immer nur Angst. Wann hört das endlich wieder auf? Wer führt diesen entsetzlichen Krieg gegen mich? Warum? Was habe ich getan?
So kann es nicht weitergehen, sonst werde ich wahnsinnig. Oder bin ich das schon? Will er das erreichen? Dass ich komplett durchdrehe?
Schon wieder zieht sich alles in mir zusammen, mein Bauch wird bretthart, schiebt mir das Würgen in den Hals. Ein Speichelsee entspringt in meinem Mund, und mir ist speiübel. Schnell springe ich auf und renne zum Klo. Will sie einfach nur loswerden, diese lähmende Ohnmacht. Die Angst. Das Pochen. Das Flattern. Die ständige Gefahr. Charlotte. Die schrecklichen Bilder von ihr in meinem Kopf. Und diesen elenden Gestank nach Tod, nach Verwesung, der in meiner Nase sitzt und mich schonungslos antreibt, mit einem lauten Peitschenknall, und ich speie und speie.

„Mein Gott, Sie sehen schrecklich aus!“, stellt Dr. Wald besorgt fest, als ich erschöpft zurückkehre, „sind Sie sicher, dass Sie nicht lieber auf Ihr Zimmer möchten? Sie sollten sich dringend ein wenig ausruhen!“
Energisch schüttele ich den Kopf und schleppe mich schlurfenden Schrittes zur Couch, auf gar keinen Fall, denke ich aufgewühlt, bloß nicht auf mein Zimmer, ich will jetzt nicht allein sein, und lasse mich wortlos auf das weiche Polster fallen.
Mein Therapeut schmeißt die professionelle Distanz über Bord, zum ersten Mal, seitdem wir uns kennen, steht auf und deckt mich fürsorglich zu, streicht mir mitfühlend über die Wangen und bringt mir ein Glas Wasser.

Mit geschlossenen Augen sauge ich seinen Duft ein, der angenehm durch meine Nase mäandert, sich dort mutig niederlässt, um den elenden Gestank nach totem Tier endlich zu vertreiben. Mit Erfolg, denn sofort werden Empfindungen in mir wach, die Lebensgeister räkeln sich, gähnen herzhaft, bereit zu neuen Abenteuern.
Verstohlen blicke ich ihn an, registriere sein attraktives Äußeres, die väterliche Ausstrahlung, die mich reizt, suhle mich in dem wohligen Gefühl, das sein Duft in mir auslöst, werde aber schon beim nächsten Prickeln zur Raison gebracht, schwungvoll eingebremst. Was soll das, Anne, mahnen die Abers und Achs, die in engen Kreisen um meinen Hals schwirren, geschickt Lassos auswerfen, um ihn zuzuziehen, bist du übergeschnappt? Du hast andere Sorgen!

Schon gut, schon gut, denke ich und vertreibe sie angewidert, Spaßverderber. Was kann ich dafür, dass sein Duft mich anspricht, inspiriert, befreit, und spüre den Luftzug, der entsteht, weil er sich umdreht und geht, und der auf angenehme Weise meine Wangen kühlt.
„Wann haben Sie das Paket geöffnet?“, fragt er mich, nachdem er hinter meinem Kopf Platz genommen hat. Seine sonst so ruhige und sichere Stimme klingt besorgt, überschlägt sich, als eilten die Worte, längst überfällig, aus ihm heraus, lösten Gedränge aus am Tor, wohlwissend, dass die Zeit knapp wird. Weil die Aufklärung drängt.
Nervös tippt er mit seinen Fingerkuppen auf die breite Armlehne seines Ledersessels und lässt ein unruhiges Schnaufen verlauten. „Die Sache läuft ein wenig aus dem Ruder“, merkt er mit ernster Miene an, „das gefällt mir nicht. Ganz und gar nicht.“
„Heute Morgen, gleich nachdem ich das Dilemma von gestern mit dem Hausmeister geklärt hatte“, beantworte ich seine Frage.
„Was meinen Sie?“, fragt Dr. Wald interessiert nach.

Kurze Stille, in der ich mich unentschlossen hin und her winde, weil ich mir nicht sicher bin, ob ich ihm wirklich davon erzählen soll. Denn ich schäme mich dafür. Ich schäme mich in Grund und Boden, weil ich meine Emotionen derartig hochkochen ließ, dass die Vernunft keine Chance mehr bekam. Auf der anderen Seite muss ich davon berichten, schließlich vermute ich, nein, ich bin mir sicher, dass das alles kein Zufall war.
Er steckt dahinter, keine Frage. Er ist hier, er ist hinter mir her, will mich kleinkriegen. Ausdrücken wie eine zu Ende gerauchte Zigarette, auch mein letztes Aufglimmen erlöschen.
Ein Räuspern im Hintergrund, unruhiges Fußgetrappel als Ausdruck seiner Ungeduld, dann seine entschlossene, angenehm tiefe, vibrierende Stimme: „Frau Heldt“, konstatiert er förmlich, „Sie werden sicherlich bemerkt haben, dass wir die Ebene eines psychoanalytischen Gespräches längst verlassen haben. Im Moment haben die aktuellen Geschehnisse absolute Priorität. Es drängt nach Handlung. Zügig!“

Ist ja gut, denke ich ein wenig gereizt, ich tue doch schon alles, was in meiner Macht steht, um die Sache aufzuklären, habe das Gefühl, an beiden Seiten zu brennen, und fühle mich genötigt zu beichten, auch wenn er gerade wie ein Lehrmeister klingt, ein wenig zu altklug für meinen Geschmack, und all sein Charme von ihm abbröselt wie der Putz von der Wand.

Anna Helene Claus
www.schreibenmitherz.de

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www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens und auszugsweise | Inventarnummer: 25226