Kategorie-Archiv: Helmut Loinger

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Rosaphob

Hinweis der Redaktion:
Dieser Text thematisiert Gewalt und enthält Verstörendes,
unabdingbar aus der Sicht des betroffenen Protagonisten.

Ich war sieben, als es begann.

‚He, Alois!‘, sagte Mutter zu mir.

Ich lag auf dem Boden in der Stube, mitten in den Staubfuseln, die schon an Altersschwäche zu sterben drohten. Ob die älter waren als ich?

‚Komm schon her, wenn ich es dir sage!‘

Das Superman-Comicheftchen legte ich beiseite und folgte dem wie immer forschen Befehl meiner Mutter.

‚Vater ist wieder besoffen und zu nichts mehr im Stande. Spiel ein wenig mit mir. Du darfst nebenbei ein bisschen fernsehen.‘

Dabei lag sie auf der zerschlissenen Couch, hatte ihre Beine angewinkelt und weit auseinandergespreizt. Ihre Oberschenkel erinnerten mich an das Werbemännchen einer französischen Reifenmarke. Kein Höschen. Nur ein hautenges T-Shirt, das ihre dicken Titten viel zu stark zur Geltung brachte und ein viel zu kurzer Rock, den sie viel zu weit nach oben schob.

‚Fass mich an, genau hier!‘

Ich starrte in ihr glänzendes Rosa, dann in ihr rundes Gesicht, mit den rosa bemalten Lippen und den vor Vorfreude leuchtenden rosa Backen.

‚Ich mag das.‘

‚Aber, ich …‘

‚Los Alois, mach schon, deine Hand, steck sie rein!‘

Widerspruchslos und schmatzend verschwand meine kindliche Hand in ihrer überdimensionalen Vagina, während Vater in der Küche am Tisch seinen Rausch auspennte. Mutter stöhnte. Im Fernsehen lief der rosarote Panther und versuchte, mich von meiner Handarbeit abzulenken.

‚Tiefer rein!‘

Paulchen, Paulchen mach doch weiter.

‚Wieder raus!‘

Heut ist nicht alle Tage.

‚Schneller!‘

Ich komm wieder, keine Frage.

Paulchen Panther kam wieder. Jeden Freitagnachmittag. Und ich versenkte meine kleine Faust in Mutters haariger, rosa Muschi. Jeden verfickten Freitagnachmittag. Seit dieser Zeit bin ich hochgradig rosaphob. Erdbeerjoghurt aß ich nur mehr auf strikten Befehl meines Vaters.

‚Jedes Kind mag Erdbeeren. Also iss das Scheißjoghurt, Alois!‘

Ich kotzte es postwendend auf die Resopalplatte unseres Küchentisches. Vater drückte mein Gesicht in das Erbrochene, damit ich mir merkte, dass sich das nicht gehörte und ich erfahren durfte, wie gut Erdbeerjoghurt eigentlich schmeckte. Eine Kombination aus Schweißausbrüchen, Herzrasen und trockenem Mund überfiel mich jedes Mal, wenn ich in der Schule nur in die Nähe der vielen in rosa getünchten Mädchen kam.

‚Alois, was glotzt du so, du Trottel?‘

Die Gören glaubten, mein eindringliches Stieren wäre ein plumper Annäherungsversuch. Dabei waren es panische Abwehrversuche, Fluchtinstinkt. Auch die Lehrerin stand irgendwie auf Rosa. Lippen. Fingernägel. Alles in verdammtem Pink.

‚Stotter nicht so rum, Alois, ich hab dich was gefragt!‘

Keine Ahnung, was sie wissen wollte. Ich war außerstande, mich auch nur auf irgendwas zu konzentrieren, außer die mir gefährlich näherkommenden rosa Fingernägel. Mir war, als witterte ich sogar Frau Lehrerins rosafarbenes Geschlechtsorgan durch ihren knöchellangen Baumwollrock hindurch. Fürs unerlaubte plötzliche Verlassen des Klassenzimmers musste ich Nachsitzen. Fürs Nachsitzen belohnte mich Mutter mit einer zusätzlichen Massage ihres Genitalbereiches. Dieses Mal leider ohne den rosa Panther zur Ablenkung, weil es war ja erst Donnerstag.

Obwohl Paulchen Panther die abscheulichste Farbe in seinem Namen trug, war er mein bester Freund. Ohne ihn hätte ich sicher nicht überlebt. Damals hatten wir noch keinen Farbfernseher. Der Panther stolperte in freundlich-neutralem Mausgrau von einem Fettnäpfchen ins nächste. Paulchen war spitze. Paulchen war lustig. Paulchen lenkte mich ab, wenn meine Faust mal wieder in Mutters Möse steckte.

Beim Klassenausflug in den Münchner Zoo wurde mir meine Rosaphobie erneut zum Verhängnis. Dabei wollte ich lediglich den armen eingesperrten Affen helfen. Sie mussten sich den ganzen Tag lang unzählige Flamingos ansehen, die in nächster Nähe auf ihren Solettistelzen herumstolzierten. Wenn unter den vielen Affen nur einer war, der nur halb so rosaphob war wie ich, dann konnte er diesen Anblick sicherlich nicht ertragen. Also versuchte ich, die Flamingos mit aus der Distanz geworfenen, faustgroßen Steinen zu verjagen. Als einer umfiel, kam ein Zooheini, brüllte mich an und donnerte mir eine, dass ich – wie der Flamingo – flach dalag und mich im Off befand. Sterne umkreisten mich. Gottseidank nur grüne und blaue.

Das war das erste Mal, dass Vater mir auf die Schulter klopfte und sich dabei vor Lachen beinahe anpisste. Hatte ich doch tatsächlich dem schwulen Flamingo aus zehn Metern Entfernung den Garaus gemacht. Vielleicht wurde ja doch noch was aus mir?

Als ich zehn war, begann ich Paulchen Panther zu hassen. Das war an dem Tag, als wir unseren ersten Farbfernseher bekamen. Ich stellte fest, dass Mutters Fotzenrosa dem von Paulchen erschreckend ähnlich war. Noch bevor Mutter mich auffordern konnte, ihr meine Hand da unten reinzustecken, saß ich am Klo, kotzte und heulte, weil Paulchen, mein einziger Verbündeter, sich plötzlich mit Mutter gegen mich verschworen hatte. Mein Kotzen und Heulen ersparte mir jedoch nicht die anschließende obligatorische Handarbeit.

Dass ich mich selbst mit fünfzehn noch keinem Mädchen näher als nötig näherte, begründeten Vater und Mutter mit meiner Lahmarschigkeit, meiner Unfähigkeit Freunde zu finden, meinem ungepflegten Äußeren und meiner Fettleibigkeit im Allgemeinen. Meine Schüchternheit, meine Schweigsamkeit, mein übertriebener Drang zur Selbstbefriedigung, meine nicht vorhandenen Eier und meine grundsätzliche pubertäre Dummheit kamen – aus ihrer Sicht – erschwerend hinzu.

Dass ich schlicht und ergreifend Panik hatte, irgendwann mit einer rosa Vulva in Kontakt zu geraten, wenn ich mich mit Mädchen abgab, konnten sie nicht ahnen. Wem hätte ich denn sagen sollen, was Mutter und ihre Libido jeden Freitagnachmittag von mir verlangten, wenn der rosarote Panther im Fernsehen lief? Wem, außer meinem Vater?

Noch nie habe ich so ein irres, schallendes Gelächter von ihm gehört. Nicht einmal über den toten schwulen Flamingo und auch nicht über seine eigenen schlechten Witze hat er sich je so amüsiert. Sein fetter, gedrungener Körper bebte vor Lachen und schien mir kurz vor einer Explosion. Wie der kugelrunde Typ bei Monty Python’s ‚Der Sinn des Lebens‘. Leider hatte ich kein Minzblättchen bei der Hand. Kurz vor dem Platzen hielt er inne, schaute mich mit großen offenen Augen an und sorgte dafür, dass sich sein Handabdruck nachhaltig in meinem Gesicht verewigte und mir gleichzeitig sechzig Prozent meines Hörvermögens abhandenkamen.

Als ich mich wieder hochrappelte und gerade vor ihm stand, stellte ich fest, dass Vater lediglich fetter war als ich. Ich war fünfzehn, stabil gebaut und vollgepumpt mit aufgestautem Hass. Er war also nicht größer, dafür war er langsamer als ich. Erheblich sogar. Denn bis er sich sammeln konnte, seine von meiner rechten Faust zertrümmerte Nase realisierte samt dem Blut, das in Bächen über seinen Schnauzer und sein Doppelkinn rann, war ich längst aus dem Haus getürmt. Mitgenommen hatte ich das Bewusstsein, nie wieder von Vater geschlagen oder von Mutter missbraucht zu werden.

Zwischenzeitlich ist Vater tot. Schon seit Jahren. Hat sich totgesoffen, totgeraucht und totgefressen. Da musste gar keiner nachhelfen. Was genau letztendlich in seinem Totenschein stand, weiß ich gar nicht. Und Mutter, kein Gramm leichter als mein toter Vater, verendete vor wenigen Stunden auf ihrer Couch, zufällig bei meinem ersten Besuch seit über zehn Jahren.

Offiziell verreckte sie an Herzversagen, wie mir der Arzt gerade mitgeteilt hat. Mit dieser Diagnose kann ich gut leben. Der Amtsarzt bemerkte die ziemlich frischen Kratzer, die mir Mutter mit ihren noch immer pink lackierten Fingernägeln verpasst hatte, als sie gegen das rosa Plüschkissen in ihrem Gesicht kämpfte.

Machst ja manchmal schlimme Sachen.

Am Ende meinte der Amtsarzt teilnahmslos ‚Warst lange weg, Alois. Beileid‘.

Über die wir trotzdem lachen.

Mir war, als schaute er mich etwas länger an als nötig, fragte sich vermutlich, ob ich …? Dann presste er seine Lippen zusammen, sagte leise ‚Pfüat Gott‘ und ging. Als dann alle weg waren, der Amtsarzt, der Pfarrer, die Leute vom Beerdigungsinstitut und meine fette tote Mutter endlich in einem passenden XXL-Kunststoffsarg aus der Wohnung gekarrt worden war, ging ich aufs Klo und erleichterte mich. Ich spritzte mir eiskaltes Wasser ins Gesicht und erfreute mich an meinem freundlich-befriedigten Grinsen im Spiegel.

In diesem Moment fasste ich den Entschluss, mich selbst zu therapieren. Ich musste mich lediglich einer Überdosis Rosa aussetzen. Vielleicht für ein paar Stunden, ein paar Tage oder länger. Egal. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass ich es schaffen konnte, schließlich hatte ich heute schon für Minuten ein rosa Kissen in der Hand und mich kratzende rosa Fingernägel im Gesicht. Und ich habe überlebt. Ich!

Ich malte mir aus, wie ich bei Aldi Erdbeerjoghurt kaufte und Donuts mit rosa Zuckerguss. Das wollte ich dann alles im Zoo bei den Flamingos genießen, bevor ich mir im Münchner Rotlichtviertel für eine Stunde eine dunkelhäutige Nutte kaufen wollte, bei der das vaginale Rosa noch stärker zum Ausdruck kommen müsste, als ich es mir in meinen schlimmsten Albträumen vorgestellt hatte. Vielleicht gelang es mir sogar, ihre Möse zu berühren? Vielleicht konnte ich sogar an ihr schnuppern, lecken? Mein Gott, alles war möglich. Euphorie überkam mich. Freudenschweißperlen sammelten sich auf meiner Stirn. Ich brauchte jetzt ein wenig Rosa. Jetzt! Sofort! Vorab, um mich einzustimmen, mich warm zu machen, so wie Fußballer es vor jedem Spiel tun. Mutters rosa Pillen, die ich im verschmierten Spiegelschrank fand, schienen perfekt. Ohne jeglichen Würgereflex warf ich die erste ein.

Wer hat an der Uhr gedreht?

Die zweite machte schon fast Spaß und bei der vierzehnten oder fünfzehnten fühlte ich mich wie ein geiler, schwuler, rosa Flamingo.

Ist es wirklich schon so spät?

Dann schaltete ich den Fernseher ein und zappte solange, bis Paulchen Panther über den Bildschirm spazierte.

Mit dem Paul ist Schluss für heut'!

 

Helmut Loinger

Erstveröffentlichung in der Literaturzeitschrift "Spurwechsel", Nr. 4, 2017

www.verdichtet.at |Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 20038

Bikinimadl

Das Bikinimadl ist beinamputiert, aber das fällt nur denen auf, die noch nie hier waren. Es hängt da über der Tür zum Südbahnkeller und lockt mit ihren Neonkurven. Sie klatscht ihr frostiges Licht auf den verdreckten Gehsteig. Dabei ist verdreckt ja noch schön gesagt. Wegen dem Sauwetter spiegelt es sich kalt und wacklig in einer Regenlache wider. Stören tut das fehlende Bein niemanden. Die, die dort drinnen sitzen, kommen ohnehin, egal ob amputiert oder nicht.

Sperrstund ist schon lang vorüber. Manchmal wär gescheiter, die Rosi würd die paar B’soffenen gleich um zehn rausschmeißen, so wie heut. Der Schnaps schlägt Wellen im Stamperl, das in der Pratzn vom bladen Gustl beinah verschwindet. Die Wellen kommen von seinem Zittern. Sein „Geh Rosi, einen Doppelten noch“ unterstreicht er mit einem unterdrückten Rülpser, der seinem massigen Körper entweicht.

„Ganz schön durstig heut?“, meint die Rosi und wirft ihre wasserstoffblonde Mähne, die ihr in die Jahre gekommenes Gesicht viel zu wenig verdeckt, nach hinten. Weil die Falten in ihrem Gesicht kommen nicht vom vielen Lachen, wenn du mich fragst. Die Schnapsflasche ist nun schon halbleer, und das hat sie ganz allein dem Gustl seinem Durst zu verdanken. Dabei sitzt er noch gar nicht so lang hier, in seinem Stammbeisl. Der Durst und der Verdruss sind mein bestes G‘schäft, sagt die Rosi immer.

Hinten im Eck am Wurlitzer steht noch so ein Übriggebliebener. Einer, den keiner kennt. Einer, den gar keiner kennen will, wenn du weißt, was ich meine. Er schmeißt eine Münze in die Maschine, drückt und wartet, bis seine Musik durch die Boxen dröhnt. Der Kurt Ostbahn spielt seinen Tequila Sunrise. Sein Wienerisch arbeitet sich von der Musikbox durch die Rauchschwaden bis zum bladen Gustl und kriecht in seine Gehörgänge. Das ist dem Gustl sein Lieblingslied. Irgendeiner spielt das immer, wenn er da ist.

Aber irgendwie scheint er sein Lied gar nicht richtig zu hören. Der ist woanders. Mit den Gedanken, mein ich. Weil wenn du grad jemand‘ abg‘stochen hast, dann nützt dir der schönste Tequila Sunrise nichts. Nicht einmal der vom Kurt Ostbahn. Da brauchst erst mal ein ordentliches Schnapserl, oder zwei. Schließlich passiert einem das ja nicht jeden Tag. Dem Gustl schon gar nicht. So eine wilde Sau ist er nämlich nicht. Zugegeben, ein bisserl Robin Hood spielen tut er schon gerne. Aber jemanden abstechen ist dann schon was anderes. Das ist eine andere Liga, eher was für den Schurli, seinen älteren Bruder.

„Hab das Zeug jetzt eing’sperrt, in die Garage“, murmelt der, als er sich grade neben den Gustl an die Ausschank setzt und dessen Schnaps auf ex runterkippt. „Wenigstens hat sich das Theater aus’zahlt“, erklärt er ihm. „Hat verdammt viel sauteuren Krempel ang’sammelt, die Alte“, sagt er und strahlt fast dabei. Aber so richtig freuen wie der Schurli tut sich der Gustl nicht, das spürt man schon.

Dass dem bladen Gustl seine Hose noch voller Blut ist, merkt irgendwie auch keiner. Aber was fällt hier drin schon noch auf? Man sieht ja kaum bis ins Eck rüber, wo sich der Ferry grad über ein frisches Madl hermacht. Wo der immer das Geld für sowas herkriegt, weiß keiner. Auch seine zweite Frau nicht und seine drei Kinder schon gleich gar nicht. Die klobigen Finger seiner rechten Hand krallen sich in ihren Busen. Für einen ersten Zwanziger zeigt sie ihm dafür ihre weißen Zähne, die aus ihrem farbigen Gesicht durch den ganzen Südbahnkeller strahlen, hell und kalt wie das Bikinimadl draußen über der Tür. Der Ferry glaubt, sie mag das, wie er sie abschleckt und ausgreift. Ob sie das Geld zu ihren Eltern runter nach Afrika schickt oder sich nur ein wenig Stoff dafür kauft, ist ihm heut egal. Und vermutlich morgen auch.

Ganz schön aufdreht ist der Schurli und schwitzen tut er auch. Ob das von der Hitz hier drin kommt oder von der Arbeit, die er grad erledigt hat? Oder ist vielleicht sogar bei ihm, dem eiskalten Hund, ein bisserl ein ungutes Gefühl da, das ihn nicht mehr loslässt? Dieses Gefühl, als ob du gleich kotzen musst, obwohl dir gar nicht richtig schlecht ist. Der Gustl merkt schon, dass der Schurli auch ein bisserl unlocker ist wegen der ganzen G’schicht.

„Die Alte hat noch kein Bankerl g’rissen. Die hat noch g’röchelt, als ich den Fernseher mitg’nommen hab“, stammelt der Gustl halblaut vor sich hin.

„Halt die Goschn, Trottel!“, fährt der Schurli gleich dazwischen.

„Aber glaubst nicht, dass da ein Doktor noch was machen könnt?“

„Sei ned so deppert, die Alte hat die Patschen längst auf’dreht. Die spürt scho nix mehr und die hätt so auch nimmer lang g’lebt“, resümiert er trocken.

So kann das gehen, wenn einer nicht genau aufpasst. Da ist dann plötzlich die Alte im Zimmer gestanden und das Geschrei ist losgegangen. Dass die Furie glatt eine Sportpistole in der Kommode liegen hat, damit haben die beiden nicht gerechnet. Nur gut, dass sie das Ding nicht richtig unter Kontrolle gekriegt hat. So hat die Kugel dem bladen Gustl seinen Fuß nur gestreift. Da ist dann sogar der Gustl schlagartig richtig sauer geworden. Gleich darauf war sie dann still. Ist am Boden gelegen, mit dem Brotmesser im Bauch, das da auf dem Tisch herumgelegen ist. „Scheißdreck verreckter!“, hat der Schurli gemeint, und der Gustl hat schon fast geweint. Hat sich die Hand vor den Mund gehalten, die Augen weit aufg‘rissen, wie wenn er den Leibhaftigen vor sich hätt‘. War halt immer schon ein bisserl zu nah am Wasser gebaut, der Gustl.

„Es lebe der Zentralfriedhof, und alle seine Toten“, schreit der Woiferl Ambros aus der Musikbox, an der jetzt grad der Ferry steht, weil sein eingekauftes Madl am Klo ist und sich was einwirft. Damit sie ihr Hirn ein bisserl abschalten kann. Damit sie noch alles machen kann, was der Ferry heut noch von ihr so verlangt. „Leiwand, der Ambros“, denkt sich der Gustl. Und der Ferry denkt sich das auch, nur das farbige Madl versteht nichts von dem, was der Ambros da von sich gibt.

„Ich will nimmer in den Häfen, Schurli. Da geh ich bestimmt nimmer hin“, jammert der Gustl wieder. Dabei kann man das schon verstehen, weil Karlau kennt er besser, als ihm lieb ist. Das ist kein Ort für einen wie den Gustl.

„Wir müssen nur die Goschn halt‘n, so wie immer.“

Brüderlich drückt der Schurli den Gustl an sich. Wie früher, wenn die beiden was ang‘stellt haben und den Gustl das schlechte Gewissen geplagt hat. Meistens war es ja der Schurli, der was ausg‘fressen hat. Aber auf seinen Bruder hat er sich immer verlassen können. Der hat’s Maul nicht aufgemacht, nicht ein einziges Mal. Und so hat der Gustl den Scheiß ganz allein ausgebadet, in Karlau.

Da schau, jetzt kriegt der Südbahnkeller noch frischen Besuch. Die beiden gehören alles andere als hierher. Jeans, lässige Leiberl, schwarze Lederjacken, moderne Schuh‘, zweimal Dreitagesbart, der eine keine dreißig, der andere Mitte vierzig, beide mit gut trainiertem Oberkörper. „Fesche Buben“, denkt sich die Rosi und stellt sich vor, was sie mit ihnen anstellen würd, wenn sie dreißig Jahr jünger wär. Aber klar ist, dass die beiden gleich ihre Uniform anlassen hätten können. Oder sie hätten sich „Kieberer“ auf die Stirn tätowieren können. Zivile Kieberer um diese Uhrzeit? Rosis „Wollt ihr was trinken oder eh nur herumschnüffeln?“, kommt bei den beiden genauso ungastlich an, wie sie es meint.

Der Schurli ist fest davon überzeugt, dass die beiden wen suchen. Er spürt nur zu gut, dass es jetzt eng wird. Da gibt er dem Gustl einen Rempler und befiehlt: „Oida, geh scheiß‘n!“ Dass er sich jetzt über die Häuser hauen soll, hat der Gustl sogar in seinem Verdruss-Rausch auf Anhieb verstanden. Man möcht gar nicht meinen, wie der seinen übergewichtigen Kadaver geschmeidig entfernen kann.

Dass in dem Kastl, das da hinten an der Wand hängt, eine Puff‘n versteckt ist, hat ihm die Rosi einmal erzählt. Hätt sie besser nicht g’macht, weil die greift sich der Gustl noch schnell beim Rausschleichen. Hat keiner gesehen. Draußen im Gang stolpert er fast über das farbige Madl, das vor dem grunzenden Ferry kniet und sich einen weiteren Fuffziger verdient. Die scheint das wirklich gut zu machen. „Gut investiert, dieser Fuffziger“, denkt sich der Ferry.

Als die Rosi den beiden Gfrastern die Safterln auf die Ausschank stellt, fangen sie endlich an zu fragen. Ob denn hier Leut‘ arbeiten, die gar nicht arbeiten dürften. Ob die Rosi denn ihr Beisl wirklich sauber hält von dem ganzen G‘sindel, das sich in diesem Grätzl immer rumtreibt. Ob denn hier Huren rumhängen, die gar nicht rumhängen dürften. Konkret nach dem Madl, das immer noch am Gang dem Ferry einen lutscht, und das sie - aus welchem Grund auch immer - suchen, fragen sie erst zum Schluss.

Der Schurli kriegt das Ganze natürlich mit und beruhigt mit einem weiteren Schnapserl auf ex seinen in Wallung geratenen Adrenalinspiegel. Aufatmen, aber nicht zu laut, ist angesagt. Grad als die Rosi mit: „Leckt’s mich doch, ihr …“, beginnt, kann sie plötzlich nicht mehr weiterreden, weil es knallt. Wirklich laut knallt. Aber nur einmal. Die zwei Kieberer greifen reflexartig nach ihren Waffen. Schreien gleich rum, dass jeder seinen Arsch da behalten soll, wo er ihn gerade hat. Die scheinen sich glatt zu freuen, dass da bei der Rosi was los ist. Passiert denen schließlich nicht jeden Tag, dass wo geschossen wird.

Der Übriggebliebene sitzt an seinem klebrigen Holztisch. Der Wurlitzer hat aufgehört zu spielen. Kein Ambros mehr, kein Ostbahn. Die Rosi schenkt sich selbst einen Doppelten ein. „Ich hätt ihn heut nicht mitnehmen sollen“, denkt sich der Schurli und seine Augen sind auf einmal ganz glasig. Die beiden Kieberer bewegen sich langsam in Richtung Gang. Das farbige Madl wischt sich den Mund ab. Der Ferry packt sich ein und zieht sich sein Hosentürl zu. Die Neonröhre im Gang zuckt. Unter der Klotür kommt das Blut daher.

Erstveröffentlichung: Schreiblust, Jänner 2014

Helmut Loinger

www.verdichtet.at |Kategorie: drah di ned um | Inventarnummer: 17182