Archiv der Kategorie: Claudia Dvoracek-Iby

Bilder

Du stehst vor dem Spiegel, zupfst dir ein paar Haarsträhnen zurecht, vermeidest dabei, auf deine Spiegel-Hände zu sehen. Nicht schon wieder kontrollieren, ob sie zittern! Du zwingst dich, stattdessen in deine Spiegel-Augen zu schauen, was es nicht besser macht, dir sieht pure Angst und Aufregung entgegen, du zwinkerst, massierst dir kurz die Schläfen, bemühst dich, dir einen unaufgeregteren Ausdruck zuzulegen.

„Reiß dich gefälligst zusammen“, flüsterst du deinem Spiegelbild zu, „du triffst dich mit Freunden. Das ist etwas Schönes, etwas Schönes! Nichts, wovor du Angst zu haben brauchst“, kommst dir lächerlich vor, wendest dich abrupt von dir selbst ab, gehst aus dem Badezimmer.
‚Was hast du denn erwartet?‘, rügst du dich innerlich streng. ‚Dass du zu einem neuen Menschen mutiert bist? Zu einem mit einem anderen Wesenskern, frei von Angst und Selbstzweifel? Dummkopf! Du musst deine Emotionen aushalten, sie annehmen, gutheißen. Wie oft hast du dies in den Therapien gehört und besprochen? Und doch hoffentlich auch verstanden?! Heute – jetzt! – geht es darum, bereit zu sein, wieder bei null zu beginnen.‘

Aber: Heute –  jetzt! – fühlst du dich genauso unsicher wie seit frühester Kindheit, wie deine ganze Jugendzeit hindurch. Einzige Ausnahme: rund fünf Jahre, in denen du völlig anders gewesen bist. Und die vor vier Monaten mit einem Zusammenbruch geendet haben.

Für den Einstieg in diese fünf Ausnahmejahre hat es keinen bestimmten Auslöser gegeben. Du wolltest und konntest diese diffuse Angst einfach nicht mehr ertragen, die sich in all deinem Tun, bei sämtlichen Anlässen alles übertünchend in den Vordergrund gedrängt hat. Hast begonnen, Tranquilizer zu nehmen. Ab Mittag mit Alkohol gemischt. Was für eine Befreiung: du – entspannt, angstfrei! Mit der richtigen Dosis, der richtigen Mischung:
Endlich dem Ich-Bild entsprechen, welches du von dir selbst hast!
Endlich dieses Ich leben können, weil die verdammte Gehemmtheit, unter der es vergraben war, nun verdrängt ist!
Endlich das Gefühl haben, ‚normal‘ und unbeschwert zu sein!
Endlich wie all die anderen – die Selbstbewussten, die Lebensfrohen – leben!
Endlich sein, wie andere dich haben wollen!

Und ja, wie witzig und schlagfertig, wie beliebt du nun warst! Im Handumdrehen hast du dir den Ruf einer Lustigen, Verrückten, Überdrehten erworben, auch den einer Unberechenbaren, die sich zeitweise rar – und damit interessant – macht, eine, die man oft tage-, wochenlang nicht erreicht, und die dann plötzlich wieder auftaucht. Was du in den Tagen, an denen du verschollen warst, durchgemacht hast, hat niemand erfahren.
Denn natürlich konnte es auf Dauer nicht gutgehen. Der Klassiker: Wie unzählige andere Süchtige brauchtest du mehr und mehr, hast die Dosis gesteigert, hast versucht, dir deine Sucht zurechtzubiegen, sie vor den anderen verborgen.

Keiner deiner Freunde wusste von deiner Medikamentenabhängigkeit, niemand von deiner Verzweiflung, deinem Suizidversuch. Nur deinen übermäßigen Alkoholkonsum haben sie alle miterlebt. Deine Exzesse waren legendär. Außer David hat dich jedoch niemand darauf angesprochen. David, der Freund seit Kindertagen, hat oft versucht, dir ins Gewissen zu reden, woraufhin du ihn gemieden hast. Du hast nicht mehr mit ihm telefoniert, ihm nicht mehr geschrieben, ihn nicht mehr zu zweit, sondern nur mehr inmitten der Gruppe getroffen.

Und jetzt eben. Alles auf Anfang. Anne weiß als Einzige davon. Gestern hast du es ihr erklärt, nur kurz am Telefon, als du das erste Mal seit Monaten wieder einen Anruf von einem der Freundesgruppe angenommen hast. Es war zufällig ihrer.

„Ich bin mir nicht sicher“, hast du gemeint, als Anne dich drängte, du müsstest unbedingt endlich wieder mit ihnen ausgehen, alle würden dich vermissen, sich Sorgen um dich machen, Jonas, Max, Ines, Mira, Jan, vor allem David.
„Aber das ist es ja“, hast du leise gesagt. „Sie werden wissen wollen, wo ich gewesen bin, warum ich anders bin, warum ich keinen Alkohol mehr trinke. Ich weiß nicht, ob mir das nicht zu viel werden wird.“
„Aber du musst dich doch niemandem erklären“, hat Anne entgegnet. „Alle werden sich freuen, dich wieder zu sehen. Wir sind deine Freunde, Malin, und nicht deine Richter.“
Schließlich hast du halbherzig gesagt: „Okay, vielleicht schau ich morgen bei euch vorbei.“
Doch Anne hat gelacht: „Nicht vielleicht! Ich hole dich morgen um 20 Uhr ab, wir gehen gemeinsam. Und wenn du nur für ein Stündchen mitkommst.“

Nun ist es 20 Uhr. Nun läutet es an der Tür. Nun rast dein Herz. Du läufst in den Vorraum, räusperst dich, drückst auf den Knopf der Gegensprechanlage, sagst:
„Hi, Anne, ich komme runter!“
Hörst Anne sagen: „Malin, lass mich kurz rauf bitte, es ist dringend …“
So war es zwar nicht ausgemacht, aber du öffnest Anne die Haustür, siehst dich im Wohnzimmer um. Ein paar Zeichnungen von dir liegen ausgebreitet auf dem Tisch. Zu spät, sie wegzuräumen, du hörst Anne die Stufen rauflaufen, schon steht sie vor dir, gerade rechtzeitig setzt du ein Begrüßungslächeln auf.

„Hey, Malin“, umarmt sie dich kurz, eilt, während du nach Worten suchst, schon an dir vorbei in deine Wohnung, Richtung Klo. Wenig später hörst du sie im Badezimmer laut singen.
Lächelnd, ihr Makeup aufgefrischt, kommt sie retour, lässt sich entspannt und theatralisch seufzend auf deine Couch fallen. „Du, Malin, ich weiß eh, dass du nicht mehr trinkst, aber ich brauche jetzt voll dringend einen Schnaps! Jonas will nämlich eine Aussprache – ach, weißt du überhaupt, dass wir seit Tagen Stress miteinander haben?!“
Du schüttelst den Kopf, sagst leise: „Ich habe keinen Alkohol zuhause.“
„Och, shit, ja, klar – kein Drama – obwohl“, sie kichert, „das ist sowas von ungewohnt, Malin, du und kein Alkohol. Dir ist wohl tatsächlich ernst damit?“, ruft, bevor du antworten kannst: „Hey, hast die du gezeichnet?“, nimmt kurz eine deiner Zeichnungen in die Hand, sagt: „Echt cool.“

Du holst Luft, um Anne zu erzählen, wie froh du darüber bist, nach vielen Jahren wieder zu dieser Kraftquelle gefunden zu haben, dass du beim Zeichnen und Malen entspannen kannst, du dabei vergisst, zu beobachten, ob deine Hände zittern …
Doch Anne ist inzwischen aufgesprungen, geht schnellen Schrittes in den Vorraum. „Dann wollen wir jetzt los, nicht, Malin? Das mit Jonas und mir erzähle ich dir unterwegs.“
War sie schon immer so? Dass sie keine Antworten abwartet? Dich kaum ansieht, dich nicht wirklich wahrnimmt? Du wunderst dich.

Und während du Anne zuhörst, die dir auf dem Weg zum Lokal ausführlich das Problem – unbegründete Eifersucht – zwischen ihr und Jonas erläutert, konzentrierst du dich zugleich darauf, deine Angst unter Kontrolle zu haben, registrierst unerwartet einen Funken Gelassenheit in dir, freust dich darüber.

Doch der Funken verfliegt sofort, als ihr ‚euer‘ Lokal betretet. Zu viele bekannte Gesichter, zu laut, zu grell, zu viel. In Sekundenschnelle verschwindet Anne, stürzt sich auf Jonas und in seine Umarmung, ist nicht mehr vorhanden für dich, ist nun die Hälfte eines ausschließlich auf sich selbst konzentrierten Paares. Du zwingst dich, in die Runde zu lächeln, antwortest angestrengt auf Begrüßungen und Fragen:
„Jep, bin wieder da.“
„Ja, gut geht’s.“
Setzt dich zwischen Mira und Jan, die dich zu ihnen winken, dir Platz machen. Fängst einen warmen Blick von David auf, der vis-a-vis von dir sitzt, erwiderst unsicher sein Lächeln.

Annalena, die Kellnerin, kommt, fragt dich: „Wie immer?“
Du schüttelst den Kopf. „Ein Mineral, bitte.“
„Was ist denn mit dir los?“, fragt Jan sofort laut. „Alles okay mit dir, Süße?“
„Aber ja, natürlich.“ Du bemühst dich um eine klare Stimme.
„Du wirkst so anders. Du bist doch nicht etwa krank“, steigt Mira jetzt in Jans Tenor ein.
„Mann, checkt ihr es nicht“, ruft Max, der sichtlich betrunken ist. „Malin ist schwanger!“
„Ihr spinnt ja alle“, sagt Anne, sich kurz von Jonas’ Lippen lösend, „lasst Malin in Ruhe, sie ist weder schwanger noch krank.“
Du nickst verlegen, antwortest Mira, die dich etwas leiser, aber vorwurfsvoll fragt, warum du auf keine ihrer Nachrichten geantwortet hast, mit:
„Sorry, es tut mir leid.“ Mehr fällt dir nicht ein. Mira sieht dich stirnrunzelnd an, sagt dann: „Schon okay“, dreht sich von dir weg und Ines zu, flüstert ihr etwas ins Ohr, Ines lacht laut auf, die beiden prosten sich zu, trinken.

 Es wird nicht leichter für dich, du bleibst angespannt, hältst die Stimmen und Stimmungen der anderen nur schwer aus. Alle reden durcheinander, Anne und Jonas streiten nun lautstark und lustvoll, Wortfetzen dringen zu dir. Du bemühst dich, aber dir gelingt kein Einstieg in ein Gespräch, zu sprunghaft sind die Themenwechsel. Wohltuend sind einzig Davids Blicke, die dir jedes Mal, wenn du zu ihm siehst, signalisieren, dass er sich freut, dass du da bist – so, wie du bist.

Von den anderen aber fühlst du dich unangenehm beobachtet. Speziell von Jan und Mira. Beide starren auf deine rechte Hand, die stark zittert, als du dir Mineralwasser einschenkst. Du umklammerst das Glas mit beiden Händen, stellst es dann wieder hin, ohne davon getrunken zu haben, ziehst die Ärmel deines Pullovers über deine Hände.

Als Max Annalena zuruft: „Eine Runde Tequila für alle!“, stehst du auf, flüchtest aufs Klo, siehst mehr Erschöpfung als Angst in deinem Spiegel-Gesicht, überlegst, wie du am unauffälligsten gehen kannst. Dass du dich nicht wieder zu ihnen setzen wirst, ist dir klar. Keine Sekunde hältst du es mehr aus in dieser Runde.

Du bleibst hinter Mira stehen, sagst: „Ich muss jetzt gehen.“ Der Satz kommt einfacher als gedacht über deine Lippen.
„Kommt nicht in Frage“, sagt Mira, „du setzt dich sofort wieder hierher zu uns“, sagt es aber in einem spaßig-strengen Tonfall, dem du dich leicht widersetzen kannst.
„Warum schon jetzt, Malin?“, fragt Jan. „Ich will jetzt echt wissen, was mit dir ist. Du bist ja nicht wiederzuerkennen.“
„Malin ist dir keine Rechenschaft schuldig“, sagt David bestimmt, „und sie kann gehen, wann sie will.“ Du siehst ihn dankbar an, wirfst dann ein rasches Tschüss in die Runde, und gehst.

Zuhause nimmst du einen Stift und deinen Zeichenblock, skizzierst Anne, wie sie sich vor wenigen Stunden entspannt auf deiner Couch ausgestreckt hat, zeichnest dich selbst ihr gegenüber, deine hochgezogenen Schultern, deine verschränkten Arme.

Am nächsten Blatt entstehen Mira und Jan im Lokal, zwischen ihnen, wie eingeklemmt, du, dein Wasserglas mit beiden Händen umklammernd. Erst jetzt fällt dir auf, dass du keine Sekunde daran gedacht hast, Alkohol zu trinken. Unerwartet durchflutet dich Stolz und Freude. Als du Max biertrinkend zeichnest, ist für dich klar, dass du dich in dieser Gruppenkonstellation nie wieder treffen wirst. Das passt nicht mehr. Einzig zu David gibt es eine gute Verbindung. Dir wird innerlich warm, während du ihn zeichnest, seinen strahlenden Blick, sein Lächeln, denkst daran, wie oft er und du als Kinder gemeinsam gemalt habt, damals beide am liebsten Pferde, Katzen, Hunde. Ob David auch jetzt noch zeichnet? Du weißt es nicht. So lange Zeit bist du ihm ausgewichen, hast nicht mit ihm geredet. Viel zu lange.

Du nimmst dein Handy, fotografierst die Zeichnung, die du von ihm gemacht hast, schickst sie ihm nach kurzem Zögern, gehst dich dann duschen, schaust danach aufs Handy. Eine Nachricht von David. Du öffnest sie.
David hat dein Gesicht skizziert. Es wirkt sensibel, verletzlich. So, wie du bist. Deine Gesichtszüge auf seiner Zeichnung sind zart, der Ausdruck deiner Augen klar und – ja, schön. Im unteren linken Eck des Bildes steht das heutige Datum und zwei Worte: stay strong.

Dir kommen die Tränen. Du fühlst dich verstanden. Du fühlst dich erkannt. Überlegst nur ganz kurz, schreibst ihm: David, möchtest du telefonieren? Und spürst, wie dein Herz nicht angst-, sondern freudvoll etwas schneller schlägt, als gleich darauf dein Handy läutet.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen … | Inventarnummer: 25227

Schneefall

Um Punkt sechs Uhr morgens stehe ich auf. Auch diese Nacht habe ich allein auf der Couch im Wohnzimmer verbracht, und auch diese Nacht hat mich die Sorge um dich kaum schlafen lassen.

Bedrückt registriere ich das unter der geschlossenen Schlafzimmertür durchschimmernde Licht, als ich leise daran vorbei Richtung Küche gehe. Dass du neuerlich nachts das Licht eingeschaltet lässt, ist ein weiteres alarmierendes Zeichen für mich. Unweigerlich muss ich an meine Mutter denken, die ebenfalls eine Zeitlang nur bei Licht schlafen konnte. Auf mich, den damals Siebenjährigen, wirkte das irritierend, ja, bedrohlich: Erwachsene sollten keine Angst im Dunkeln haben.

Ich verzichte auf ein Frühstück, öffne die Balkontür, gehe hinaus, um draußen zu rauchen. Aufseufzend lasse ich mich in den Schaukelstuhl sinken, wickle eine Decke um mich, suche, während ich mir eine Zigarette anzünde, nach etwas Blau am Himmel, vergeblich; suche ebenso vergeblich nach etwas Leichtigkeit in mir selbst. Es gibt kein Entrinnen. Die Welt draußen spiegelt offensichtlich meine Innenwelt. Bedrückendes Grau beherrscht das Außen und lastet schwer in meinem Inneren. Dabei will ich doch vor allem jetzt, in deinem Zustand, heiter, voll Zuversicht, will der berühmte Fels in der Brandung sein.

Ich dämpfe die Zigarette aus, hole tief Atem – und atme plötzlich Schneeluft. Ja, es riecht eindeutig nach Schnee. Verwundert schüttle ich den Kopf. Ich muss mich täuschen, schließlich ist doch erst Ende September. Doch da – es beginnt tatsächlich leicht zu schneien. Aus dieser dunklen Wolkendecke so völlig überraschend zartes Weiß fallen zu sehen, wirkt sich seltsam tröstend auf mich aus. Zuversicht beginnt sich in mir auszubreiten, je länger ich die tanzenden Flocken betrachte.

Es scheint mir inzwischen unmöglich, den Blick von dem weißen Schauspiel vor mir zu wenden, unmöglich, aufzustehen, unmöglich, ins Büro zu fahren, so wie gestern mit dir vereinbart, eigentlich vehement von dir gefordert.

„Ich ertrage es nicht, dass du die ganze Zeit an mir klebst, Oskar“, hast du mich plötzlich, ohne ersichtlichen Grund, beim Abendessen angefahren. „Keine Sekunde lässt du mich allein, obwohl es dazu überhaupt keinen Grund gibt. Ich bin schwanger und nicht krank, also bitte, bitte, geh ab morgen wieder arbeiten!“

Deine Stimme ist immer schriller, immer unangenehmer, jedes deiner Worte zu schmerzhaften Stichen in meinem Gehörgang geworden, wimmernd habe ich mir schließlich die Ohren zuhalten müssen, habe dich angefleht: „Bitte, Anna, ich bitte dich, schrei doch nicht so.“

Doch du bist umso lauter geworden, hast gebrüllt, was das nun wieder solle, die Lautstärke deiner Stimme sei doch dieselbe wie immer, du hast dich hineingesteigert, wie so oft in letzter Zeit, hast das Besteck auf den Tisch geknallt, bist aufgesprungen, hast geschrien, dass das nicht mehr so weitergehe, du willst normal mit mir reden können und nicht flüstern müssen, dass die Kommunikation zwischen uns generell nicht mehr funktioniere, dass meine Harmoniesucht völlig überzeichnet und abnormal sei, ich sämtlichen, auch völlig harmlosen Auseinandersetzungen panisch ausweiche, vor jeder noch so kleinen Reibung flüchte, dass du – ja, dass du meine Art nicht mehr erträgst, meine übertriebene Fürsorge, meine unerträgliche Sanftheit, meine ständige stille Anwesenheit – und dann, als ich dich beruhigen wollte: „Anna, bitte, reg dich doch nicht so auf, denke an unser Baby“, hast du sogar vor Wut ein paar Bücher aus einem Regal gerissen und zu Boden geschleudert.

Wieder fällt mir die Parallele zu meiner Mutter auf, denke an deren Gereiztheit und Unberechenbarkeit. Manchmal, wenn das Nachbarskind zu Besuch war und wir in meinem Zimmer spielten, hat sie uns lächelnd Saft und Kuchen gebracht, war herzlich und fröhlich, doch nur Minuten später hat sie die Tür aufgerissen und uns böse angebrüllt, dass wir gefälligst leiser sein sollen, sie halte diesen Lärm nicht aus. Und wie oft, wenn ich ihr irgendetwas erzählen wollte, hat sie mich hysterisch angeschrien: „Sprich mich jetzt ja nicht an, Oskar! Lass mich in Ruhe, geh weg von mir, ich will allein sein“, um sich dann kurz darauf weinend bei mir zu entschuldigen.

Mir ist kalt, ich wickle die Decke enger um mich, denke wieder an dich, an den schönen Beginn unserer Beziehung, und daran, dass du dich doch gerade wegen meiner ruhigen Art, die dir nun so missfällt, in mich verliebt hast. Endlich jemand, der nicht ständig diskutieren und recht haben muss, hast du damals gesagt, endlich jemand, der zuhören kann. Noch vor wenigen Monaten verliefen unsere Tage harmonisch – nie hast du Streit mit mir gesucht, im Gegensatz zu jetzt.  Wie sehr du dich doch verändert hast, speziell in den letzten Wochen. Wieder steigt heiß Sorge um dich in mir auf, und ich fasse den Entschluss, mich weiterhin im Büro krankzumelden, bei dir zuhause zu bleiben, auf dich achtzugeben, auch wenn du das nicht möchtest. Auf keinen Fall werde ich dich alleinlassen. Der Fehler von damals wird sich nicht wiederholen.

Damals – da hatten die Eltern alles für eine Woche Winterurlaub vorbereitet, das Hotel war reserviert, die Koffer gepackt, doch dann, kurz vor der Abfahrt, hat die Mutter zum Vater gesagt: „Sei mir nicht böse, aber ich möchte zuhause bleiben. Ich bin müde, schrecklich müde, ich brauche Ruhe – brauche dringend ein paar Tage nur für mich. Bitte fahrt ohne mich, lasst es euch gutgehen in den Bergen, du und Oskar.“

Als der Vater gezögert hat, ist sie wie so oft wütend geworden: „Jetzt lasst mich doch endlich mal allein! Du und Oskar, ihr klebt ja die ganze Zeit über förmlich an mir. Und immer deine unnötige Sorge um mich, das macht mich fertig! Kapier doch endlich: Ich bin schwanger und nicht krank!“

„Stopp. Aus. Stopp“, sage ich jetzt halblaut, und die inneren Bilder der Vergangenheit verblassen und verschwinden folgsam, ich schließe die Augen, ziehe die Decke bis übers Kinn, schrecke auf, als du plötzlich mit wirrem Haar im Morgenmantel vor mir stehst. Offensichtlich bin ich trotz der Kälte eingenickt.

„Was ist mit dir, warum bist du nicht im Büro?“ Du klingst müde, abgekämpft.

„Ach, Anna – also, ich bleibe doch noch zwei, drei Tage zuhause. Ich gebe im Büro Bescheid, das ist kein Problem“, stottere ich, sehe, wie du deine Lippen zusammenpresst, die Stirn in Falten legst.

„Aber was sagst du zu diesem Wunder: Schneefall im September.“ Ich werfe die Decke von mir, stehe auf, strecke meine Hand über die blühenden Balkonpflanzen, um ein paar Flocken aufzufangen, sehe hinunter in den glitzernden Innenhof. „Der Schnee bleibt sogar liegen, schau!“

Du schaust nicht. Du starrst mich an, lange und sonderbar fassungslos, dann fauchst du: „Jetzt spinnst du also komplett!“

Du wendest dich ab, gehst hinein. Ich folge dir, doch du durchquerst schnell die Küche, gehst, die Tür vor mir zuknallend, ins Wohnzimmer. Deprimiert höre ich dich schimpfen: „… vollkommen übergeschnappt … wird immer ärger, redet von Schnee bei diesem schönen Wetter …“

Dann ist kurze Zeit Stille, und nun vernehme ich gedämpft deine veränderte, ruhige Stimme: „Hi, ich bin’s, Anna …“

Mehr verstehe ich nicht, offensichtlich bist du telefonierend weiter ins Nebenzimmer gegangen. Kurz darauf kommst du zurück, würdigst mich keines Blickes, während du eine Tasse aus dem Küchenschrank nimmst, den Wasserkocher einschaltest, dann Tee aufgießt und sagst: „Oskar, ich habe vorhin Mark angerufen. Wir haben Glück, ein Patient hat abgesagt, um zehn Uhr können wir zu ihm in die Praxis.“

Das kommt völlig unerwartet. Ich muss mich bemühen, meine Erleichterung nicht allzu offen zu zeigen. Ich habe dich unterschätzt: Es ist dir also sehr wohl bewusst, wie gefährdet du bist. Sicher hat es dich enorme Überwindung gekostet, Mark anzurufen, deinen Cousin, der ein paar Straßen von uns entfernt seine psychiatrische Praxis hat.

„Ich finde das großartig von dir“, sage ich und bemühe mich, meine Stimme fest und nicht allzu bewegt klingen zu lassen. „Ich meine, eben auch im Hinblick auf unser Baby.“

Du meidest meinen Blick, nippst nervös an deinem Tee, gehst unruhig hin und her.

„Ich ziehe mich dann mal an, wir sollten bald losgehen“, sagst du, verschwindest im Badezimmer. Während ich mich anziehe, nehme ich mir fest vor, dir eine Stütze zu sein, vor allem nichts zu tun oder zu sagen, was dich reizen könnte.

Als du jedoch kurze Zeit später im dünnen Kleid und Sommerschuhen vor mir stehst, kann ich mich nicht zurückhalten und sage so sanft wie möglich: „Entschuldige, Anna, ich will dich sicher nicht bevormunden, aber du hast doch nicht ernsthaft vor, bei diesem Wetter so gekleidet rauszugehen?“

Ich deute zum Balkonfenster, hinter dem es unentwegt schneit. Ich selbst habe mir dem Wintereinbruch angemessen Daunenjacke und Stiefel angezogen.

Deine grüne Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen. „Es ist September, es ist warm draußen, blauer Himmel, herrlichster Sonnenschein. Zieh du an, was du willst, Oskar, aber bitte, bitte, sag ja nichts Verrücktes mehr von Schnee, sag am besten gar nichts mehr, bis wir bei Mark sind!“

Du schnappst deine Tasche, öffnest die Wohnungstür. Ich bin versucht, dir zu widersprechen, greife nach meinem Smartphone, um wetter.com einzugeben und dir die frühwinterlichen Tatsachen, die du einfach leugnest, die du ins Gegenteil verkehrst, in digitaler Form zu präsentieren, denke dann aber an deinen Zustand, an das Baby, und sage nichts, binde mir einen Schal um und folge dir die Treppe hinunter.

Unten im Eingangsbereich wartest du, legst mir kurz deine Hand auf die Schulter.

„Ach, Oskar“, sagst du nun leise. „Ich möchte nicht ständig mit dir streiten, mir ist – mir ist einfach alles zu viel. Wir werden mit Mark reden, er wird uns hoffentlich helfen können. Gehen wir jetzt.“

Ich nicke dir betont aufmunternd zu und öffne die Haustür, was mir Mühe bereitet, denn ein starker Schneesturm wirft sich dagegen, und weht mir eiskalt ins Gesicht, als ich nach draußen trete. Ich blinzle, kann kaum die Augen offenhalten, teils wegen dem Sturm, teils wegen dem strahlenden Weiß, das die ganze Umgebung bedeckt und mich blendet. Du gehst vollkommen unbeeindruckt von all dem an mir vorbei, obwohl du beinahe bis zu den Knöcheln im Schnee versinkst, hältst deinen Kopf aufrecht wie immer, als ob du den eisigen Wind nicht spüren würdest, nicht das Nass, das er dir ins Gesicht, auf dein Haar, in deinen Nacken weht.

„Was ist denn? Nun komm doch!“, drehst du dich zu mir.

Ich schlinge den Schal enger um meinen Hals, stemme mich gegen den Sturm und stapfe zu dir. Der Schnee knirscht laut unter meinen Schuhen.

„Wahnsinn, nicht? Plötzlich Winterwetter!“, entschlüpft es mir. „Frierst du nicht, Anna? Soll ich dir eine Jacke holen?“ Angst um dich steigt in mir auf. Ich kann dich kaum ansehen in deinem dünnen Kleid, das nass an deinen Beinen klebt.

„Oskar, ich warne dich: kein Wort mehr übers Wetter! Mir ist warm, ich brauche keine Jacke“, ist deine böse Antwort, du drehst sich weg, gehst weiter.

Verzweifelt bemühe ich mich, mit dir Schritt zu halten. Ein Radfahrer fährt vorbei. Wie kann man nur zu diesen Bedingungen mit dem Rad unterwegs sein, in kurzen Hosen noch dazu?  Ich verstehe die Welt nicht mehr. Ich muss mich Schritt für Schritt vorwärtskämpfen, der Sturm lässt nicht nach, stellenweise ist es auch sehr rutschig. Unter der Schneedecke liegt anscheinend eine gefährlich glatte Eisschicht, sodass ich alle Mühe habe, das Gleichgewicht zu halten. Das Tröstliche, das der Schneefall am Morgen in mir ausgelöst hat, hat sich längst in Bedrohliches gewandelt. Wie gerne hätte ich dies einfach ausgesprochen. Früher hättest du mich verstanden, hättest meine Gedanken aufgegriffen und sie weitergesponnen, nun aber geht du ein paar Meter vor mir, gefühllos, eine Fremde, die weder Kälte und Nässe noch meine stetig wachsende Angst und Verzweiflung zu spüren scheint.

Als ich um die Ecke biege, passiert es. Ich rutsche aus, lande mit dem Gesicht voran unsanft im Schnee. Ich höre jemanden schreien, laut und anhaltend schreien. Ich halte mir die Ohren zu, presse mein Gesicht in den Schnee. Und jetzt steigt unaufhaltsam und eiskalt die Erinnerung in mir auf. Genauso wie ich jetzt daliege, der Länge nach, das Gesicht im Schnee, genauso ist meine Mutter gelegen, genauso haben mein Vater und ich damals die Mutter vorgefunden. Nach den Tagen in den Bergen das Heimkommen in ein verlassenes Haus, auf dem Küchentisch leere Tablettenschachteln, leere Schnapsflaschen. Hinterm Haus, im schneeweißen Garten, die Mutter – so ruhig, so still, so alleine – die Mutter, in einem viel zu dünnen Kleid regungslos auf einer Schneedecke liegend. Ich sehe vor mir, wie mein Vater sich über sie beugt, panisch immer wieder ihren Namen ruft, wie er hektisch ins Haus läuft, drinnen den Notruf wählt, sich gleich darauf wieder neben die Mutter in den Schnee kniet, laut schreit und weint, sehe mich starr und stumm daneben stehen und denken: ‚Nein, Papa, hör auf zu schreien, Mama möchte doch ihre Ruhe haben‘, sehe mich still auf meine Mutter schauen, auf den Schnee, der sanft zu fallen beginnt und mich seltsam tröstet, auch noch, als mich irgendjemand in die Arme nimmt und wegträgt …

Aber jetzt, jetzt –, registriere ich plötzlich, jetzt bin ich nicht still, jetzt schreie und weine ich, ähnlich wie damals Vater, verzweifelt und laut. Ja, derjenige, wegen dessen markerschütternden Schreien ich mir die Ohren zuhalten muss, bin ich selbst.

Von weit weg höre ich eine fremdklingende erschrockene Stimme: „Oskar! Oskar, sag mir, was ist mit dir? Komm, steh bitte auf, ich stütze dich. Hast du dir wehgetan?“

Du? Ja, du bist es. Anna. Ach, du weißt ja nicht, warum ich schreie und nicht damit aufhören kann, du kannst nicht wissen, dass mich durch meinen Sturz in den Schnee die Erinnerung soeben dermaßen überwältigt hat, dass ich schreien muss wie noch nie in meinem Leben, mich nicht unter Kontrolle habe. Nie habe dir davon erzählt, kein Wort von meiner toten Mutter im Schnee, nichts von ihren Depressionen, ihrer Schwangerschaft – nur dies: „Meine Mutter hatte einen Unfall als ich sieben Jahre alt war.“

Du hilfst mir auf, sagst nichts, als ich mir schließlich benommen den Schnee, den Schreck, die Erinnerung von der Kleidung klopfe, nimmst mich liebevoll stützend in den Arm, als wir langsam und schweigend weitergehen, jeder Schritt eine Qual für mich.

Zitternd nehme ich meinen nassen Schal ab, ziehe die schneeschwere Jacke aus, als wir endlich das Vorzimmer von Marks Praxis betreten. Du stehst neben mir, wischt dir mit einem Taschentuch die Nässe aus dem Gesicht, ich sehe dich an – aber nein, das ist kein Schnee, das sind Tränen, die du wegtupfst. Mark kommt uns entgegen. Hinter ihm dröhnen in unangenehmer Lautstärke Stimmen aus einem Radio, automatisch halte ich mir schützend die Ohren zu. Dennoch dringt eine fröhlich klingende Frauenstimme in meinen Gehörgang:

„Die Wetteraussichten: Es ist und bleibt ungewöhnlich mild heute, wolkenloser Himmel, Sonnenschein, bis zu 28 Grad.“

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 25218

 

 

Schatzkisten

An einem Sommertag, beim Durchqueren eines Parkes, überfällt sie mich wieder. Unerwartet wie immer. Heute wortwörtlich aus heiterem Himmel. Nach Luft ringend lasse ich mich auf die nächstbeste Bank sinken, nehme unscharf wahr, dass eine kleine, schmale Gestalt im linken Eck der Bank sitzt.

Ich atme so laut und regelmäßig wie mir möglich ein und aus, während ich panisch in meiner Handtasche meine Pillendose suche, als ich eine helle Kinderstimme links von mir fragen höre:

„Warum schnaufst du denn so komisch?“

Endlich finde ich die Dose, öffne sie mit zitternden Händen, entnehme zwei der Pillen und schlucke sie.

„Schenkst du mir auch so ein rosarotes Zuckerl?“ Schon wieder diese Kinderstimme.

Ich trinke meine kleine Wasserflasche in großen Schlucken leer, schaffe es dann, zu murmeln:

„Nein, das sind nämlich Medikamente – keine Zuckerl.“

„Bist du krank? Was hast du denn?“

„Möchtest du nicht spielen gehen?“, frage ich matt und deute mit meinem Kopf vage zu dem eingezäunten Kinderspielplatz gleich gegenüber der Bank, auf der das Kind und ich sitzen.

Es antwortet fröhlich: „Doch! Später dann.“

Ich ringe nach Luft. Wann wirken endlich die Tabletten?!

„Was hast du denn für eine Krankheit?“

„Angst“, höre ich mich nun tatsächlich ungewollt antworten, und denke, dass ‚Panikattacke‘ ein unmögliches, ein hässliches Wort ist, ein Wort, das ein Kind wohl nicht verstehen würde.

Schweigen nun im linken Bank-Eck. Dann rückt das Kind näher zu mir. Sehr nahe. Aus den Augenwinkeln sehe ich lange hellblonde Haarsträhnen, ein blaugeblümtes Kleid.

„Du hast bestimmt keine Schatzkiste bei dir, stimmt’s?“, flüstert es neben mir.

Warum quält mich ausgerechnet jetzt, in meinem miserablen Zustand, dieses nervige Kind mit lästigen Fragen?

„Hast du eine Schatzkiste in deiner Tasche?“, insistiert das Mädchen.

Erschöpft schüttle ich meinen Kopf.

„Siehst du!“, ruft es triumphierend. „Darum hast du Angst! Weil du keine Schatzkiste mithast!“

„Schau!“ Ich sehe, wie das Mädchen einen bunten Rucksack auf ihren Schoß nimmt, darin herumkramt und etwas herausnimmt. Dann hält sie mir direkt eine kleine Holzkiste vors Gesicht.

„Das ist meine Schatzkiste.“ Feierlich öffnet sie die Kiste. Ich sehe blaue Knöpfe darin. „Das sind Knöpfe von Mamis Kleid. Das Kleid hat meine Mami am allerliebsten angezogen, als ich noch in ihrem Bauch drinnen war. Meine Mami und ich haben alle Knöpfe runtergeschnitten und in die Schatzkiste gelegt. Es sind 15 Knöpfe. Mami hat gesagt, jeder von den Knöpfen ist ein Sim- Simbol dafür, wie lieb sie mich hat. Wenn ich traurig bin oder Angst habe, soll ich die Knöpfe anschauen und angreifen, dann werde ich keine Angst mehr haben und nicht mehr traurig sein. Das hat Mami gesagt.“

Zum Glück wirken die Tabletten endlich. Ich fühle mich etwas besser.

„Eine schöne Idee von deiner Mami“, sage ich.

„Ja! Und weißt du, ich habe noch andere Schatzkisten von meiner Mami zuhause. Eine mit Briefen von ihr. Die kann ich aber noch nicht lesen. Und eine mit Fotos. Und eine mit Muscheln vom Strand –“

„Deine Mami hat dich sehr lieb. Du hast großes Glück“, stoppe ich erschöpft ihren Redeschwall.

„Ja!“, lacht das Mädchen glücklich.

Dann schaut sie mich aus großen grünen Augen ernst an.

„Hat deine Mami dich denn nicht lieb? Hast du kein großes Glück? Hast du keine Schatzkisten von ihr bekommen?“

Ungewollt drängen sich in mir blitzartig hässliche Szenen von früher – Schläge, Streit, lieblose Blicke und Worte – auf. Ich schüttle den Kopf.

„Hast du überhaupt von irgendjemandem eine Schatzkiste bekommen?“, ruft das Mädchen nun entsetzt.

„Nein“, sage ich. Und bevor ich erklären kann, dass das kein Problem für mich ist, kommt eine junge, blonde Frau schimpfend auf die Kleine neben mir zu: „Ronja, was fällt dir ein! Mache das nie wieder! Ich habe dich auf dem Spielplatz gesucht! Du kannst doch nicht einfach weglaufen!“

„Aber ich bin doch nicht weggelaufen! Ich bin hier gesessen“, verteidigt sich das Mädchen.

Die blonde Frau seufzt, sagt dann: „Ach, komm – wir gehen jetzt einkaufen und besprechen das unterwegs.“

„Ja, aber warte – gleich – ich muss noch ganz schnell etwas machen!“, springt das Kind auf und läuft auf den Spielplatz.

„Beeile dich, Ronja!“, ruft ihr die Frau nach.

„Jaa -a!“

Nochmals seufzend setzt sich die junge Frau auf die Bank neben mich, schweigt. Endlich spüre ich die volle Wirkung der Tabletten, ich fühle mich ruhiger innerlich. Es ist nur mehr der übliche diffuse Angstrest, der nie verschwindet, der immer da ist, in mir.

Ich bin imstande, zu sagen: „Ihre Tochter hat so liebevoll von Ihnen gesprochen, mir eine Schatzkiste gezeigt – “

„Ronja ist nicht meine Tochter“, unterbricht mich die Frau.

„Ach –“, sage ich verwirrt.

„Meine Schwester ist vor knapp einem halben Jahr gestorben. An Darmkrebs. Seitdem lebt ihre Kleine bei mir. Ronjas Vater hat sich vertschüsst, als sie noch nicht mal geboren war.“

Ich kann nichts sagen, muss das eben Gehörte erst verarbeiten.

Und da läuft Ronja mit roten Wangen auf uns zu, ihr bunter Rucksack hüpft auf ihrem Rücken auf und ab, in ihrer rechten Hand hält sie eine grüne Jausenbox.

„Okay, Ronja, dann gehen wir jetzt endlich“, sagt die junge Frau, steht auf, nickt mir zu und geht den Kiesweg voraus.

Ronja stellt sich dicht vor mich und legt mir die grüne Box auf den Schoß.

„Für dich!“, sagt sie feierlich. „Das ist deine Schatzkiste. Damit du keine Angst mehr hast. Ich habe echt schöne Sachen auf dem Spielplatz gefunden. Obwohl ich nur so wenig Zeit zum Suchen hatte.“

Sie winkt mir vergnügt zu und läuft ihrer Tante nach.

„Danke, Ronja!“, rufe ich ihr nach, gerührt und perplex. „Ich freue mich! Sehr!“

Sie dreht sich noch einmal zu mir um, strahlt übers ganze Gesicht. Dann greift sie nach der Hand ihrer Tante, und ich sehe ihnen nach, bis sie aus meinem Sichtfeld verschwunden sind, die beiden, Hand in Hand, die Kleine hüpfend und plappernd, immer wieder zu ihrer Tante aufsehend. Meine Hände liegen auf meiner grünen Schatzkiste. Keine Spur von Angst ist mehr in mir.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen … | Inventarnummer: 25191

FRIENDS NOT FOOD

Du siehst ihn an, nur kurz, wie er, verschwitzt zwischen der Mischmaschine und dem Thomas stehend, in die Leberkässemmel beißt, wie er schnell kaut, wie er mit Bier hinunterspült, siehst sekundenlang auf sein Uralt-T-Shirt mit der Aufschrift FRIENDS NOT FOOD, schwarz auf weiß steht es da geschrieben, siehst schnell wieder weg, weißt aber, die paar Momente haben gereicht, dies wird zu einem jener Bilder, die immer wieder auftauchen, unvermutet, es wird auftauchen, während du euer Baby stillst, oder während du mit der Anna joggst und so tust, als ob du ihr zuhörst, wenn sie sich wieder beklagt über den Thomas, ihren Mann, über jenen Thomas, der grad ebenfalls eine Leberkässemmel verschlingt und Bier trinkt, der Thomas, von dem er jetzt immer wieder anerkennend sagt, auf den Thomas ist Verlass, der kennt sich aus beim Hausbau, der Thomas, über den ihr gelästert habt, noch vor kurzem, über ihn und über seine Anna, kleinkariert seien die beiden, wart ihr euch einig, nicht fähig, über den Tellerrand zu schauen – und jetzt fachsimpelt er mit dem Thomas neben der Mischmaschine, und du bemerkst, dass quer über dem END auf dem FRIENDS NOT FOOD-Schriftzug ein Riss ist, und denkst, damals ist es neu und sauber gewesen, das Shirt, auf der Demo, die quasi der Beginn war von euch beiden, FRIENDS NOT FOOD auf Transparenten, Flyer und Shirts, FRIENDS NOT FOOD habt ihr geschrien und, ja, auch gelebt, und was einst ein Statement war, trägt er jetzt nicht mal als Scherz, sondern aus dem simplen Grund, weil es noch zwei-dreimal zum Arbeiten taugt, bevor es entsorgt werden wird, das T-Shirt, und jetzt sagt er, so, wir müssen weitermachen mit dem Betonieren, das muss schnell gehen in der Hitze, und du nickst verständnisvoll, und innerlich steigt Wut in dir auf beim Weggehen, denn würde er das FRIENDS NOT FOOD T-Shirt nicht tragen, hättest du diese piekenden Gedanken jetzt nicht, und du würdest auch bestimmt nicht etwas golden glänzen sehen in dieser zähen, schweren Zement-Sand-Wasser-Masse da drinnen in der Mischmaschine, und würdest nicht derart Unsinniges denken wie: Da erstickt grad einiges da drinnen, da erstickt grad unser goldener Wohnwagen-Traum, wir wollten doch reisen, wir zwei, und dort bleiben, wo es uns gefällt, und würdest nicht denken müssen, dass diese erstickten, einbetonierten Träume das Fundament eures Hauses bilden werden, auf dem zuerst der Keller entsteht, in dem ihr, davon gehst du aus, die sogenannten Leichen verstecken werdet, und du hoffst inständig, dass du und er gemeinsam eure gemeinsamen Leichen versteckt, und nicht jeder für sich allein seine eigenen Leichen vor dem anderen versteckt, so wie es der Thomas und die Anna tun, und du setzt dich in dein Auto, schnell, denn die Anna wartet schon im Fitnessstudio auf dich, die Anna, die zwar nicht verstehen wird, aber immerhin so tun wird, als ob sie dir zuhört, wenn du ihr erzählst, wie sehr du dich ärgerst über ihn, denn es ist ja auch zu blöd, hätte er das FRIENDS NOT FOOD T-Shirt heute nicht angezogen, dann würde dir jetzt sicher nicht auffallen, dass du heute das rosa SUPERGIRL Top anhast und dass du derartiges nie getragen hättest in Demo-Zeiten, und du startest, und wirfst noch einen bösen Blick zu ihm auf die Baustelle, und siehst, wie er sich den Schweiß abwischt, sich das FRIENDS NOT FOOD T-Shirt auszieht, es achtlos unter die Mischmaschine wirft und nun wie der Thomas mit nacktem Oberkörper schaufelt, und du atmest tief ein und aus, und hupst langgezogen, als du staubaufwirbelnd wendest, Gas gibst und wegfährst.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 25189

Der Wirrer

„Alles vergebens!“, brüllt der Wirrer in die Stille der Nacht. „Es hat keinen Sinn mehr! Ich bin eine Null, ein Nichts, ein Niemand! Ich mache Schluss! Jetzt! Sofort! Ende! Finito!“

Anne und Jan, beide soeben im Begriff einzuschlafen, schrecken hoch und lauschen dem verzweifelten Monolog ihres Wohnungsnachbarn. Anne knipst das Licht an und flüstert: „Sollen wir die Rettung rufen? Nicht, dass der Ernst macht mit einem Suizi – …“

„Ich kann nicht mehr! Ich will nicht mehr!“, schreit der Wirrer nebenan.

Jan steht auf und schlüpft in seine Hose. „Ich klopfe mal bei ihm an.“

„Aber es ist doch schon nach Mitternacht“, sagt Anne, doch Jan geht kommentarlos aus der Wohnung.

„Und? Was war? Hat er dir geöffnet?“, fragt sie gespannt, als er sich kurze Zeit später wieder ins Bett legt und das Licht ausschaltet.

„Ja, einen Türspalt. Als ich ihm erklärte, dass wir uns Sorgen um ihn machen, hat er irgendetwas von einer höchst komplizierten Arbeit gestottert, die ihm seit Monaten den Schlaf raubt und über die er sich vorhin leider lautstark geärgert hat. Er lässt sich bei dir entschuldigen, hat nicht geahnt, dass die Mauern im Haus so dünnwandig sind.“

„Der Wirrer und Arbeit?!“, schüttelt Anne, hellwach und aufrecht im Dunkeln in ihrem Bett sitzend, den Kopf. „Nie im Leben – der arbeitet doch nichts! Ich frage mich echt, wie er sich die teure Miete leisten kann. – Oder hast du ihn jemals in den drei Monaten, seit er hier wohnt, untertags außer Haus gehen sehen? Aber stell dir vor, was mir die Fuchs vom dritten Stock erzählt hat. Als sie gestern gegen vier Uhr früh mit ihrem inkontinenten Hund rausmusste, ist draußen der Wirrer an ihr vorbeigehastet und hat laut Schimpfwörter und Zahlen vor sich hingebrabbelt. Die Fuchs hat er nicht mal registriert. Also mit dem stimmt etwas ganz und gar nicht.“

Jan gähnt. „Er ist halt ein Eigenbrötler. Einer von vielen. Nicht unser Problem, Anne.“

„Aber er könnte ein Problem für uns werden, Jan!“, gerät Anne in Fahrt. „Hör zu: Die alte Kozmann vom ersten Stock hat mitgekriegt, dass er sich täglich Essen liefern lässt. Das ist doch nicht normal! Der Wirrer ist sicher noch keine fünfzig und nicht bettlägerig. Auch der Pecker vom Erdgeschoß findet ihn äußerst dubios. Er hat ihn einige Male gesehen, als er unten seine Post aus dem Briefkasten holte. Immer machte der Wirrer einen sehr ungepflegten und äußerst nervösen Eindruck, hat er gesagt. Weißt du, was die Kozmann, der Pecker und ich vermuten? – Dass der Wirrer direkt von der Psychiatrie ausgerechnet in unser Haus eingezogen ist. Wir sollten etwas unternehmen, bevor etwas Schlimmes passiert. Was meinst du, Jan?“

Jan schnarcht leise.

Drei Tage später, als Anne mit Einkäufen bepackt das Haus betritt, kommt ihr der Wirrer entgegen, und Anne fällt vor Überraschung eine Tasche aus der Hand. Der Wirrer trägt nämlich einen eleganten hellen Anzug und eine Krawatte. Er ist rasiert, und sogar sein strubbliges Haar wirkt geordneter als sonst.

„Guten Tag“, nickt er freundlich, als er, lässig an ihr vorbeigehend, das Haus verlässt, und diesmal ist Anne diejenige, die nicht grüßt, so perplex ist sie von der Wirrer-Verwandlung.

Die Hausmeisterin, Frau Sauer, wäscht gerade schnaufend die Stufen des Stiegenhauses.

„Frau Sauer, sagen Sie, haben Sie soeben den Herrn Wirrer gesehen?“, fragt Anne.

Die Hausmeisterin wischt sich den Schweiß von der Stirn und verdreht vielsagend die Augen.

„Und ob! Er war ja auch nicht zu übersehen, unser feiner Herr Wirrer!“ Und Anne und die Hausmeisterin schütteln zuerst synchron ihre Köpfe, bevor sie sie aufgeregt flüsternd zueinander neigen.

„Die Sauer und ich vermuten eine massive Persönlichkeitsstörung“, überfällt Anne Jan, als sie ihm abends die Wohnungstür öffnet.

„Wer ist die Sauer? Und wer die massive Persönlichkeitsstörung?“, seufzt Jan müde. „Lass mich doch bitte erst mal reinkommen.“

Und während Anne die verblüffende Metamorphose ihres Nachbarn schildert, lässt sich Jan aufs Sofa fallen, schenkt sich ein großzügiges Glas Wein ein und schaltet den Fernseher ein.

„Die Sauer, du und ich – wir drei werden morgen den Wirrer aufsuchen und ein ernstes Wort mit ihm reden. Weißt du, ich fühle mich nicht mehr sicher, seit er neben uns – “

„Das gibt’s doch nicht! Schau, Anne, das ist doch –“

Jan zeigt auf den Bildschirm. Anne schaut hin und traut ihren Augen nicht. Da sitzt doch tatsächlich der Wirrer vis-à-vis von Max Redeweis, einem der bekanntesten Moderatoren des Landes. Mittendrin in einem Live-Interview. Max Redeweis gratuliert soeben ehrfürchtig Herrn Dr. Dr. Georg Wirrer dazu, den Code eines mathematischen Rätsels, an welchem renommierte Experten jahrelang gescheitert sind, geknackt zu haben. Auf die Bitte des Moderators hin erläutert der Wirrer seinen Code-Knack-Prozess, wobei Anne und Jan schon zu Beginn geistig aussteigen müssen. Als Max Redeweis danach den Wirrer diskret über sein Privatleben befragt, erzählt der Wirrer, dass er geschieden und vor wenigen Monaten umgezogen sei. Und dann schaut und spricht er plötzlich Anne und Jan direkt aus dem Fernseher an:

„Falls meine Nachbarn mich jetzt zufällig sehen, möchte ich mich in aller Form für mein unmögliches Verhalten entschuldigen. Wenn ich einem mathematischen Problem auf der Spur bin, befinde ich mich wie im Rausch, bin kaum ansprechbar. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich in dieser Zeit richtiggehend verwahrlose, die Nacht zum Tag mache, laute Selbstgespräche führe, und tja, im Eifer des Gefechts auch schimpfe und fluche. Darum kann ich mir lebhaft vorstellen, was völlig zu Recht über mich getratscht worden ist.“

Annes Handy läutet. Hektisch schaltet sie auf Lautsprecher. Die aufgeregte, sich überschlagende Stimme der Frau Sauer erschallt:

„Haben S’ auch den Wirrer im Fernsehen gesehen? Ich sage Ihnen, kein Wort glaube ich dem! Ein Dr. Dr. soll der sein?! Ha! Auf seinem Türschild steht nur G. Wirrer. Ein Hochstapler ist der! Ich fühle mich verpflichtet, das sofort dem ORF zu melden. Was meinen Sie?!“

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 25114

fallen lassen

I.
wir lassen sie fallen
unsere verbrauchten Namen
unsere abgenutzten Gesichter
wir lassen sie fallen
in fremde rote Erde
vergraben sie tief und
lassen Gras darüber wachsen

II.
wir lassen uns fallen
so leer wie wir sind
so nackt wie wir sind
wir lassen uns fallen
in sattes grünes Gras
und graben rote Namen tief
in unsere fremden Gesichter

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 25082

Sister

Lens Parka von oben bis unten zuknöpfen. Die Kapuze über deinen Kopf und tief in die Stirn ziehen. Seinen langen Schal ein paar Mal über den Hals und deine untere Gesichtshälfte schlingen. Dankbar sein, dass es eisig kalt draußen ist, und du dich dementsprechend vermummen kannst.
„Ich gehe jetzt, bis später“, rufst du, durch den Schal gedämpft, Richtung Wohnzimmer. Keine Antwort. Du seufzt, zögerst, gehst dann ins Zimmer. Stellst dich neben deinen Vater, der sich, tief im Ohrensessel versunken, wieder mal irgendeine Doku im Fernsehen ansieht – oder vorgibt, es zu tun.
„Papa, ich gehe jetzt“, sagst du.
Er schreckt auf, räuspert sich. „Ja. Wohin denn, Kind?“
„Ach, unwichtig“, murmelst du in den Schal.
„Weißt du, Lea, wir sind so froh, dass du – trotz allem – “ Er beendet den Satz nicht.
Ein unangenehmer Lachreiz steigt in dir hoch. Wegen dem absurden ‚so froh‘. Dem ‚wir‘.
‚Wen meinst du denn mit ‚wir‘, Papa? Den Fernseher und dich?‘, würdest du gerne fragen.
„Ich meine, deine Mama und ich sind – “ Wieder stockt er mitten im Satz.
‚Deine Mama und ich‘, echot es in dir ‚ – miese Wortwahl.‘
Genauso mies, wie alles seit drei Wochen und zwei Tagen ist. Seitdem du ein Einzelkind bist. Seitdem es anstatt Mama nur mehr eine Art Schattenmama gibt. Die beinahe den ganzen Tag in ihrem verdunkelten Zimmer auf dem Sofa liegt, schläft – oder vorgibt, es zu tun. Die Pillen, die sie nimmt, machen sie lethargisch und dauermüde.
„Schon gut, Papa, ich weiß“, sagst du, legst ihm kurz die Hand auf die Schulter, und gehst.
Ja, du weißt. Dass deine Eltern erleichtert sind, dass du so tapfer, so stark bist – oder vorgibst, es zu sein. Dass du jeden Wochentag zur Schule gehst – oder vorgibst, es zu tun. Dass du dich mit Freund:innen triffst – oder vorgibst, es zu tun. Du weißt, dass sie beide nicht die Kraft haben, genauer nachzufragen, nicht die Kraft, sich um dich zu kümmern. Zu schwer, zu erdrückend ist die Trauer, an der sie, jeder für sich, tragen. Papa vor dem Fernseher. Mama im dunklen Zimmer.

Du gehst jetzt Richtung U-Bahn und bist erleichtert, weil sich soeben eine erholsame Leere anstelle der furchtbaren, intensiven Gefühle, die dich seit Wochen beherrschen, in dir einstellt. Die Psychologin hat letztens gefragt, ob du über diese Gefühle reden möchtest. Du hast eisern geschwiegen. Es reicht dir doch so was von, sie aushalten zu müssen, wozu um Himmels willen auch noch über sie sprechen!?
Über den Schmerz: Weil Len tot ist.
Über die Distanziertheit: Zu Eltern, Verwandten, Freund:innen. Seit Len tot ist.
Über die Einsamkeit: Mitten unter Menschen, egal, ob Fremde oder Freunde. Seit Len tot ist.
Über die Wut, den Hass: Auf dich. Auf alle Menschen. Weil ihr lebt und Len tot ist.
Über die Wut, den Hass: Speziell auf Jonas. Mit dem du dich jetzt treffen wirst. Und schon steigen sie wieder in dir empor, diese beiden schrecklichen Gefühle, verbünden sich mit den Gedanken, die ständig in deinem Kopf kreisen:
Warum nur ist Jonas, der Führerscheinneuling, an diesem Freitag trotz des drohenden Unwetters mit Len ins Auto gestiegen? Du siehst den sich verdunkelnden, den beinahe schwarzen Himmel wieder vor dir. Siehst die Äste an den Bäumen, die sich unter dem aufkommenden gewaltigen Sturm biegen, brechen. Und dann – der plötzlich einsetzende Hagel! Ein Hagel, von dem noch heute entsetzt gesprochen wird. Mensch und Natur waren ihm hilflos ausgeliefert – so wie du seit diesem Tag deinen quälenden Emotionen. Nie zuvor in dieser gewaltigen Dimension erlebt. – Babyfaustgroße Eisklumpen. – Umgeknickte Sträucher und Bäume. – Unzählige Schäden an Fahrzeugen, Gebäuden, Hausdächern. – Unfälle. Viele Verletzte. Und ein Toter. Len.
Jonas hat die Kontrolle über sein Auto verloren. Es ist frontal gegen einen Baum geprallt. Warum hat Jonas überlebt und Len nicht? Warum hattest du ausgerechnet an diesem Tag Migräne? Sonst wärest du bestimmst mitgefahren, dann wärest vielleicht du tot und Len würde um dich weinen …

Obwohl: Weinen? Du kannst nicht weinen. Die Psychologin hat gemeint, das wäre der Schock. Tolle Erkenntnis. Sowieso wirst du nicht mehr zu ihr gehen, seit ihrer Aussage in der letzten Therapiestunde. Sie hat dich professionell – unterstellst du ihr – mitfühlend angeschaut, und, bemüht vorsichtig, gesagt: „Vielleicht ist es zu früh, das zu sagen, aber glaube mir, Lea, irgendwann wirst du dankbar sein für die sechzehn Jahre, in denen du mit deinem Zwillingsbruder so viel Schönes und Unvergessliches erlebt hast.“
In dir hat es geschrien: ‚Was redest du da für Scheiße! Sechzehn Jahre sind viel zu wenige! Ich will, dass er lebt! Ich will ihn wiederhaben! Jetzt, hier, neben mir! Sofort!‘

Bei diesen Gedanken platzt du fast vor Schmerz. Nie wirst du Jonas verzeihen können! Auch, wenn er im Mail, in dem er dich um das heutige Treffen gebeten hat, geschrieben hat, dass er jede Nacht Alpträume vom Unfall habe, von dem unfassbaren Hagelsturm, der sein Auto, der Len und ihn – im wahrsten Sinn des Wortes – aus der Bahn geworfen hat; dass er sich die ärgsten Vorwürfe mache; er traumatisiert, todtraurig sei, dass dein Bruder – sein bester Freund verunglückt ist.
‚Was erwartet er sich denn?‘, denkst du bitter. ‚Dass ich ihn tröste? Dass ich ihm verzeihe? Unmöglich. Er ist schuld daran, dass Len tot ist, und das werde ich ihm ins Gesicht sagen …
Aus jetzt! Stehen bleiben. An die Mauer lehnen. Die Augen schließen. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Jetzt einen Fuß vor den anderen setzen. Und langsam, Stufe für Stufe, hinunter zur U-Bahn-Unterführung.‘

Unten gehst du um die Ecke, und siehst John. Möchtest sofort umdrehen und flüchten. Verfluchst dich innerlich, weil du nicht daran gedacht hast, dass du ihm begegnen wirst. John ist immer um diese Zeit hier. Es ist zu spät, um wegzulaufen. Sein Gesicht strahlt auf, als sich eure Blicke treffen, nimmt dann aber sogleich einen besorgten Ausdruck an. Schnell willst du an ihm vorbeigehen.
„Hello Sister“, hörst du John wie immer zu dir sagen. Wenn er wüsste, was diese beiden Worte in dir auslösen. ‚Ich bin keine mehr! Bin keine Schwester mehr, keine Schwester mehr!‘, schreit es in dir. Der Schmerz ist unerträglich. Nie wieder wirst du ‚Hi, Schwesterherz‘ von Len auf dem Display lesen, nie mehr sein scherzhaftes ‚Na, kleine Schwester?‘ hören, wenn er betonen will, dass er ein paar Minuten vor dir auf die Welt gekommen ist …

Du schmeckst Salziges auf deinen Lippen. Registrierst, dass du direkt vor John stehst und weinst. Das erste Mal weinst, weinen kannst, seitdem das Unglück passiert ist. Im denkbar ungünstigsten Moment. In einer belebten U-Bahn-Station. Kannst es nicht verhindern. John legt seine Zeitungen zu Boden, öffnet seine Arme. Du schluchzt, heulst, rotzt in seinen rauen Jackenstoff. Er hält beschützend seine Arme um dich, sagt nichts, lässt dich weinen.

Bilder blitzen durch deinen Kopf: Len und du als Volksschulkinder, als ihr auf eurem Schulweg wochentags an John vorbei zur U-Bahn gegangen seid. Johns fröhlicher Gruß jeden Tag: ‚Hi, my little Friends! Hello Sister! Hello Brother!‘ Len, der mit John scherzt und lacht. Len als Elfjähriger, der vor eurer Klasse ein Referat hält. Thema: „Ein Mensch, den ich bewundere.“ Len erzählt von John, dem Straßenzeitungsverkäufer. Der immer freundlich und heiter ist, obwohl er unvorstellbar Grausames erleben musste. Der als Jugendlicher seine gesamte Familie im Krieg verloren, als Einziger überlebt hat, allein aus seiner Heimat flüchten musste. Du erinnerst dich, dass es mucksmäuschenstill im Klassenraum war, als Len sein Referat mit den Worten beendete: ‚Ich bewundere John, und ich mag ihn sehr.‘

Du löst dich nun aus Johns schützender Umarmung. Er fragt nicht, sieht dich nur still an. Du putzt dir die Nase, dann bricht es stotternd aus dir heraus: „Es war – es war ein Autounfall. – An dem Tag, als das Unwetter – als es so furchtbar gehagelt hat … – Len ist tot. Er ist tot.“
Nun weint ihr beide. Später dann, als du gehst, ruft John dir mit fester Stimme nach: „You are not alone, Sister. Don’t lose hope.“

In der U-Bahn schauen dich ein paar Leute verstohlen an. Weil du nach wie vor weinen musst. Du nimmst ein Taschentuch an, das dir jemand reicht. Schämst dich nicht deswegen. Denkst an John. Ob er von Lens Referat über ihn weiß? Du wirst es suchen, kopieren und ihm geben. Bestimmt wird ihn dies freuen. Wie ist es möglich, fragst du dich, dass er trotz seiner Schicksalsschläge ein so herzlicher, fröhlicher Mensch ist? Seine Positivität wirkt nicht aufgesetzt, sie ist echt. Wie hat er es geschafft, den Verlust seiner Geschwister und Eltern zu bewältigen?
‚Meine Eltern leben, ich lebe‘, denkst du, und dann an Johns Worte, die er dir nachgerufen hat. Unerwartet flammt tatsächlich ein kleiner Funke Hoffnung in dir auf, die leise Hoffnung, dass vielleicht doch langsam alles wieder etwas leichter, etwas lichter werden könnte. Für deine Eltern und dich, für alle, die um Len trauern.

Gleich wirst du bei der U-Bahn-Station ankommen, bei der du aussteigen musst. In Kürze also wirst du Jonas gegenüberstehen. Du trocknest noch einmal dein Gesicht, steckst das Taschentuch ein, atmest tief durch. Du wirst Jonas sagen, dass er und Len nicht wissen konnten, dass das Unwetter an diesem Freitag derart heftig werden würde, als sie sich ins Auto setzten. Dass weder deine Eltern noch du ihm Vorwürfe machen würden, und er sich ebenfalls keine machen solle. Das würde Len auf keinen Fall wollen.

Beim Aussteigen aus der U-Bahn rempelt dich versehentlich ein Junge an. Er hat lange, dunkle Dreadlocks. Solche, wie Len sie trug. „Ups, sorry“, lächelt dich der Junge entschuldigend an. Spontan lächelst du ebenfalls. Es ist ein echtes Lächeln.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 25067

 

Rückspiegel

Es dämmert, und der Regen wird stärker. Müde und gereizt halte ich unter dem schützenden Vordach des Firmengebäudes nach dem bestellten Taxi Ausschau. Der Arbeitstag mit den Berliner Kolleg:innen ist anstrengend verlaufen. Ich hadere innerlich mit mir selbst. Warum nur habe ich nicht für diese Nacht ein Hotelzimmer gebucht? Dann könnte ich mich jetzt erholen, könnte morgen ausschlafen, um dann ausgeruht nach Wien retour zu fliegen. Ich denke an Marie, an ihre leise Stimme vorhin am Telefon, denke an die Entfremdung zwischen uns – schon länger diese Entfremdung, die sicherlich zum Großteil aufgrund meiner vielen Geschäftsreisen, meiner tage- und nächtelangen Abwesenheiten entstanden ist.
Ach, als ob diese jetzige lächerlich vierzehn Stunden frühere Heimreise alles wieder gutmachen könnte!

Als das Taxi endlich vor mir hält, eile ich im Laufschritt durch den strömenden Regen zur Hintertür, öffne sie und setze mich aufatmend, den Aktenkoffer neben mich schiebend, auf den Rücksitz. Kaum habe ich die Tür geschlossen, gesellt sich zu meiner schlechten Laune zusätzlich ein ungutes Gefühl. Ein Gemisch aus Traurigkeit, Wut und Unsicherheit steigt in mir hoch. Noch bevor ich seine Stimme höre, und erkenne, dass diese diffusen Emotionen ihren Ausgangspunkt in ihm, dem Taxifahrer, haben – noch bevor sich unsere Blicke im Rückspiegel treffen, weiß ich, wer er ist.
Faris. Eindeutig Faris. Ich erkenne ihn an seiner Augenpartie, den dichten Augenbrauen, an seinem Blick, der mich im Spiegel mit demselben spöttischen Ausdruck trifft wie damals.
„Zum Flughafen also“, sagt er gelangweilt, und ich räuspere mich zustimmend.
Er fährt langsam los. Seine hellen Augen lassen nun von mir ab, doch seine obere Gesichtshälfte ist nach wie vor in meinem Blickfeld. Ich, eingeklemmt zwischen meinem Aktenkoffer und meinen Emotionen, bewege mich nicht. Zum Glück scheint Faris mich nicht erkannt zu haben.
‚Durchhalten“, spreche ich mir innerlich gut zu, „du musst nur knappe zehn Minuten bis zum Flughafen durchhalten …“

Faris richtet den Rückspiegel, und wieder durchbohrt mich sein Blick. Ich sehe, wie er eine Augenbraue hochzieht, halte die Luft an, doch er sagt kein Wort. Wir fahren durch eine Unterführung. Im Schutz der Dunkelheit rutsche ich unauffällig zur Seite, hinter seinen Vordersitz ans Fenster, schließe erschöpft die Augen. Ungewollt taucht die Szenerie, die sich vor knapp zwanzig Jahren abgespielt hat, in mir auf.
Paradoxerweise trafen sich auch damals unsere Blicke in einem Spiegel. Ich saß, eine Flasche Bier in der Hand, gegenüber einer verspiegelten Zimmerwand, auf dem Parkettboden in Lukes Zimmer. Luke war Balletttänzer, darum die Spiegelwand.
Keine Ahnung mehr, warum ich so saß, mir selbst gegenüber – offenbar wollte ich meinem Elend ins Gesicht blicken. Es war nämlich Maries Abschiedsfeier. Noch immer konnte ich es nicht fassen. Marie zog tatsächlich aus. Zu ihm! Zu diesem Faris nach Berlin. Von einem Tag zum andern! Völlig überhastet hatte sie dies entschieden.

Über ein Jahr lang hatten Luke, Marie und ich uns die Wohnung geteilt. Ebenso lang war ich in Marie verliebt. Seit der Sekunde, als sie aufgrund Lukes und meiner Zeitungsannonce: „Mitbewohner/in für 3er-WG gesucht“, hereingeschneit und noch am selben Tag bei uns eingezogen ist, war ich von ihrem Wesen wie magisch angezogen: diese Mischung aus resolut und warmherzig, sensibel und stark, geheimnisvoll und redselig. Ihr Lachen. Und wie schön sie war! Ich war sehr unsicher damals, wagte nicht, ihr zu sagen, wie sehr sie mir gefiel. Doch der richtige Zeitpunkt würde kommen, davon war ich überzeugt. Und immerhin: Innerhalb kürzester Zeit war ich Maries Vertrauter, ihr bester Freund geworden, wie sie mir immer wieder beteuerte.
Damit war Schluss, als sie Faris kennenlernte. Sie sprach nur mehr von ihm.
„Noch nie ist mir ein Mensch wie er begegnet“, schwärmte sie. „Er ist einfach unglaublich, Daniel! Faris ist ein echter Künstler, ein Original, ein Freigeist.“
Marie war nicht mehr greifbar für mich. Schlagartig hatte ich verloren, was ich nie besessen hatte.

Es war schon nach Mitternacht auf der Abschiedsfeier, als dieser Faris sich plötzlich neben mich vor die Spiegelwand setzte. Bisher hatte ich nur wenige Worte mit ihm gewechselt. Schweigend sahen wir uns im Spiegel in die Augen. Unvermutet lachte er laut auf, pfiff durch die Zähne, sagte: „So ist das also. Alles klar“, und dann eindringlich, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Hör gut zu. Du bist selbst schuld, wenn du es ihr nie gesagt hast, Feigling. Jetzt ist es zu spät. Sie ist mir verfallen, deine Marie. Aber ich …“
Ich stand auf, unfähig, ihm etwas zu entgegnen, wankte aus dem Zimmer, bebend vor Wut.
„He, bleib doch, Mann, ich bin noch nicht fertig – …“ Sein Lachen dröhnte mir nach.
Ein, zwei Stunden später, vis-à-vis  von mir auf der Couch, Marie in seinen Arm geschmiegt, sagte er, laut genug, dass ich es hören konnte:
„Süße, ich habe deine Freunde durchgecheckt. Einer hat nicht bestanden.“
Wie sie sofort mich ansah. Wie ich dachte, das war es jetzt. Endgültig. Keine Marie mehr.

„Und, wohin geht’s?“ Faris’ Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Ich blicke aus dem Fenster, erkenne an einem Schild, dass wir zum Glück in wenigen Minuten beim Flughafen sind.
„Nach Wien“, antworte ich widerwillig.
Wieder richtet er den Rückspiegel auf mich. Seine Augen fixieren mich.
„Wien!“ Er lacht sein höhnisches Lachen. „Aus Wien habe ich vor etwa zwei Jahrzehnten ein bildhübsches Anhängsel mitgenommen. Aber nur für ein paar Monate. Weißte, ich war damals nicht der Typ für feste Beziehungen. Ich brauchte Abenteuer. Sie wollte nicht weg von mir, klammerte, weinte. Aber ich habe sie mit einem One-Way-Wien-Flugticket in ein Taxi gesteckt. Tja, und nun fahr ich selbst Taxi. Als Ausgleich zum Malen.“
Er bremst. Rasch reiche ich ihm einen Geldschein nach vor, öffne die Tür – nur raus hier …
„Grüß sie von mir, Feigling! Gib ihr einen Kuss von mir, okay?“, höre ich ihn noch lachend rufen, bevor ich die Tür zuknalle.

Tags darauf, am späten Nachmittag, als Marie und ich bei einem Glas Rotwein zusammensitzen, spreche ich es an: „Sag mir, Marie, wie war das damals mit Faris? Warum bist du wieder zurück nach Wien? Und warum zu mir?“
Sie sieht mich erstaunt an: „Aber Daniel, diese Zeit liegt doch ewig zurück. Seltsam, dass du jetzt danach fragst. – Also gut, auch wenn du es ohnehin weißt: Ich bin damals zurückgekommen, weil ich dich furchtbar vermisst habe. Und zwar anders, als man einen guten Freund vermisst. Zwischen Faris und mir hat es nicht mehr gepasst. Er wollte, dass ich bei ihm blieb, klammerte, weinte. Eines Nachts jedoch, als er schlief, habe ich ein Taxi gerufen – bin zum Flughafen – bin zu dir …“
Wir greifen beide gleichzeitig zu unseren Weingläsern, trinken.

„Er lässt dich grüßen“, sage ich dann. „Und ich soll dir einen Kuss von ihm geben.“
Marie wird blass, sie beißt sich auf die Unterlippe.
„Er hat dich also angerufen“, sagt sie. Ihre Stimme klingt belegt. „Was hat er dir erzählt?“
Ich nehme zwei, drei große Schluck Wein, schenke mir nach, frage mich irritiert, warum sie sogleich annimmt, dass er mich angerufen, mir etwas erzählt hätte.
„Daniel, ich habe endgültig Schluss mit ihm gemacht“, sagt Marie leise.
Ich trinke mein Weinglas auf ex. „Wann?“, frage ich.
„Vor zwei Wochen, als – als du übers Wochenende in München warst.“ Sie sieht angestrengt auf ihre Hände.
„Er war hier?! In unserem Haus?“
Marie schweigt.
„Ich habe ihm gesagt, dass ich dieses Doppelleben nicht mehr ertrage“, sagt sie dann.
„Und du warst auch öfter bei ihm in Berlin?“
Sie senkt ihren Kopf, nickt kaum merklich.
„Er hat dich bestimmt angerufen, um dich wissen zu lassen“, sie schlägt ihre Hände vors Gesicht, „dass – dass er will, dass ich wieder zu ihm ziehe.“
Ich atme tief durch.
„Und du? Marie! Was willst du?!“
Sie dreht sich von mir weg, das Gesicht unter ihren Händen versteckt.
„Antworte mir, Marie, rede mit mir. Bitte! Sieh mich bitte an!“
Marie schüttelt den Kopf. Weint. Sagt nichts.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 25047