Kategorie-Archiv: Lena Vilsmeier

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Alles und nichts

Alles ist viel, nichts ist wenig. Nein, nichts ist nichts. Als ich mich entscheiden musste, ob alles oder nichts, da wusste ich noch nicht, wie wenig alles sein konnte.

Eine Flasche Whisky, den billigsten Fusel natürlich, zwei Flaschen Bier, Pils natürlich, und zwei Schachteln Zigaretten, West, die ganz starken natürlich, für die Nacht. Der Alkohol sollte reichen, um mich warmzuhalten, und die Kippen lassen die quälenden Stunden bis zum Morgen zwar objektiv nicht schneller vergehen, subjektiv aber schon, ich habe dadurch etwas zu tun, den Glimmstängel zwischen meinen gelbverfärbten Fingern halten und den Rauch einziehen, ausblasen. Beim Einatmen komme ich runter, die Welt dreht sich langsamer, ich habe das Gefühl, alles mir tagsüber Unergründliche zu verstehen. Sobald ich den teergetränkten Rauch ausatme, dreht sich die Welt so schnell wie immer, sodass ich das Gefühl habe, ich könnte herunterfallen. Hinabstürzen in ein endlich großes Nichts und irgendwann aufschlagen, dort liegen und mich nie wieder aus diesem Nichts wegbewegen können.

Ich bin sehr dankbar, dass der Kioskbesitzer an der Ecke heute nichts für die Zigaretten berechnet hat. Er weiß, dass ich meistens genug Geld habe, und wenn nicht, bringe ich es ihm am nächsten Tag zuverlässig. Manchmal schenkt er mir Zahnpasta, und ich kann in seiner Toilette meine langsam braun werdenden Zähne putzen. Danach fühle ich mich schön und lächle den ganzen Tag alle Menschen an, die ich sehe, egal ob sie hersehen oder nicht.
Heute hatte ich nicht genug Geld für Zigaretten, nur für den Alkohol. Heute hat es stark geregnet und es war herbstlich kalt, weswegen nicht viele Menschen in der Innenstadt waren, die mir ein paar Münzen hätten abgeben können.

Ich bin eigentlich nicht dumm, weswegen ich mich oft frage, wie ich hier gelandet bin. Auf Pappkartons und zwischen Mülltonnen, die mich vor kaltem Nordwind schützen. Als Kind fand ich Mülltonnen immer eklig, weil sie so gestunken haben, mittlerweile bin ich sehr froh um meine Mülltonnen.
Ich habe einen tollen Platz, in einer ruhigen Gasse, ein paar Straßen von der Westkirche entfernt. Ich mag es, wenn die Kirchenglocken zu läuten beginnen. Meine Großmutter hat früher, als ich noch ein kleines Mädchen war, immer zu mir gesagt, hörst du die Kirchenglocken? Die Engel feiern ein Fest und trinken auf uns Menschen, weil es uns so gut geht. Ich schraube den Whisky auf und trinke auf meine liebe Großmutter.

Ich bin sehr froh, dass der Regen aufgehört hat und schlendere durch den Park. Sehe Bob auf einer Bank liegen, sein linker Arm hängt hinunter, der rechte Arm liegt ruhig auf seiner Brust. Sein Hund scheint auch zu schlafen. Er heißt Marley. Bob ist beliebt bei Neuankömmlingen, er zeigt ihnen sichere Schlafplätze. Auch mir hat er geholfen, das ist nun schon Jahre her.

Diese Nacht ist ruhig, und ich genieße es sehr, ich muss mich nicht verstecken. In der Dunkelheit sieht niemand, wie schmutzig ich bin. Ich versuche mich einigermaßen sauber zu halten, im Gegensatz zu anderen Obdachlosen, die hier leben. Aber der Schmutz auf meiner Seele geht mit keiner Seife mehr weg.

Ich hatte bis zu dieser Nacht nie das Gefühl, dass ich nichts hätte. Ich fand, ich hätte zu wenig. Aber ich war gesund und trug Luft in meinen Lungen, ich versuchte zu überleben und das schon einige Zeit erfolgreich. Ich hatte also nicht nichts, aber wenig, von allem.

Aber in dieser Nacht, da habe ich erfahren, wie es ist, alles zu haben. Ich habe eine Handtasche gefunden, im Geldbeutel über 200 Euro Bares, sowie Bankkarte, Führerschein, Personalausweis und was die wohl gutbetuchte Dame noch alles in ihrer Tasche mitgeführt hatte, wagte ich kaum zu glauben. Schokolade, Pfefferspray, eine wunderschöne blaue Baumwollweste, einen edlen Schal, einen Regenschirm, allmöglichen Kosmetikkram von Wimperntusche bis Lidschatten, Hustenbonbons und ganz am Ende meiner Durchsuchungsaktion fand ich einen Scheck über 10.000 Euro. Ich malte mir ein völlig neues Leben aus, mein neues Leben, in dem ich reich war und alles hatte, was ich in meinen mutigsten Träumen nicht besaß.

Ich konnte es kaum erwarten, bis die Banken am nächsten Tag öffneten, damit ich das Geld abholen konnte. Ich sah mein neues Leben wie durch einen Trichter, einen Tunnel, ich musste nur einfach schnell an das wunderbare, lichtdurchflutete Ende gelangen, an dem Wohlstand auf mich wartete. Kaum sah ich die Sonne aufgehen, rannte ich los. Bis zur Bank war es ein weiter Weg.

Kurz bevor ich ankam, ich rannte noch immer, konnte ich die goldenen Lettern der großen Stadtbank schon sehen und hatte nur noch ein paar Straßen zu überqueren. Ich hörte die Kirchenglocken läuten, blieb instinktiv stehen und dachte mit einem Lächeln an meine Großmutter. Ich dachte, ja Oma, bald feiere ich wie die Engel.

Kurz bevor ich starb, wurde mir klar, wie wenig „alles“ war. Der Lkw erwischte mich mit voller Kraft, meine Blindheit aus Hoffnung, nun reich zu sein, vermischt mit den Erinnerungen, die die Töne der Kirchenglocken in mir hervorgerufen hatten, hatten mich in der Mitte der Straße zum Stehen gebracht. Ich sah noch die Scheinwerfer aufleuchten, und mir schoss durch den Kopf, wie viel ich von meinem Leben noch gehabt hätte, wäre ich bei meinem Nichts geblieben.

Lena Vilsmeier

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? |Inventarnummer: 16082

Freibeuter

Ich wachte auf, weil mein Körper nach Nikotin schrie. Es passierte noch nicht lange, dass ich von dem Drang, eine Zigarette zu rauchen, aufwachte. War ich tatsächlich schon so süchtig? Wie traurig. Ich spähte auf den Wecker auf meinem Nachtkästchen und erstarrte kurz, als ich feststellen musste, gar nicht in meinem Bett zu sein. Es dauerte einen Augenblick, bis mir die Ereignisse der gestrigen Nacht wieder in den Sinn kamen.
Ich war in meiner Wohnung, auf meiner schwarzen Couch, die ich von Zuhause mitnehmen durfte, als ich vor ein paar Wochen auszog. Ich wollte mein Single-Dasein ausnutzen, mit jeder Faser meines Körpers, und da ich jetzt endlich eine eigene Wohnung in der Stadt hatte, war das auch möglich – ohne, dass der nächtliche Besuch zum gemeinsamen Frühstück mit meiner Familie bleiben musste.
Alles war, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Eine eigene Wohnung, ein Studiengang, der mir gefällt, keine Verpflichtungen, nach Hause kommen, wann ich möchte, bis spät nachts fernsehen, all diese Dinge waren für mich die Definition von Freiheit, und ich genoss jeden Augenblick.

Weiter konnte ich nicht denken, ich musste eine Zigarette rauchen. Ich wand mich so langsam und leise wie es irgend möglich war unter dem Arm meiner Diskobekanntschaft und schlüpfte in das Männer-T-Shirt. Eine weitere Vorstellung meiner Fantasie, am nächsten Morgen Kaffee und Rühreier im Hemd des Typen zuzubereiten. Leider trug Christian kein Hemd, nur ein schwarzes langes Shirt mit V-Ausschnitt.
Ohne Höschen schlüpfte ich hinaus auf den Balkon und zündete mir eine Zigarette an. Ich bemerkte, dass es noch relativ dämmrig war und spähte durch den Vorhang in die Wohnung, um einen Blick auf die Uhr zu erhaschen. Erst sechs. Wir waren vor drei Stunden nach Hause gewankt und ich rauchte schon wieder? Ich schüttelte den Kopf über meine Sucht und ärgerte mich, genoss aber auch den kalten Rauch, der meine Lungen füllte, bevor ich ihn ausblies.

Meine Wohnung lag im obersten Stock, was mir den Blick auf die Donau ermöglichte und auch sonst den Überblick über die Straße und die anderen Wohnungen. Ich überlegte, wo mein Exfreund gerade war, dessen Wohnung schräg gegenüber meiner eigenen lag. Und insgeheim wünschte ich, Christian würde herauskommen, mit nacktem Oberkörper, den Arm um mich legen, mein Ex würde heraustreten und zu meinem Balkon hinaufsehen und natürlich mich, mit diesem Bild von einem Mann, da stehen sehen.
Woher es rührte, dass ich unbedingt wollte, dass er sah, dass ich ihn nicht brauchte, wusste ich nicht. Aber ich wünschte es mir.
Ich hatte schon wieder so lange nachgedacht, dass ich den Filter mitrauchte, was furchtbar schmeckte, und ich drückte ärgerlich den winzigen Stummel in den lila Blumentopf, der auf dem Rand des Geländers stand. Wenn meine Mutter zu Besuch war, was zum Glück selten der Fall war, weil sie meine „Höhle“ als „Rattenloch“ bezeichnete, meinte sie jedes Mal mit erhobenem Finger, ich sollte diesen Blumentopf von dem wackligen Geländer stellen, irgendwann fiele er noch herunter und einem Radfahrer auf den Kopf.
Aus Protest ließ ich den Blumentopf dort stehen.

Ich überlegte kurz, ob ich Kaffee machen sollte, aber dann fiel mir die Uhrzeit ein und ich beschloss, mir noch die Zähne zu putzen und mich dann wieder neben Christian zu legen.
Als ich wieder neben ihm lag und vorsichtig versuchte, seinen Arm wieder um mich zu legen, weil das ja eigentlich doch ganz schön gewesen war, kam mir mein Glück unglaublich vor. Mein Leben war perfekt und er, dieser wunderschöne, große, starke, 30-jährige Mann, ich hatte ihn verführt, obwohl er mir, als ich sechzehn war, schon zu verstehen gegeben hatte, dass ich uninteressant war.
Aber jetzt war ich zwanzig, ich hatte einen Po und Brüste bekommen, war von dem burschikosen Jungenhaarschnitt abgekommen und warf nun meine langen Locken lässig über die Schulter. Das musste Eindruck gemacht haben. Oder er war nur zu betrunken, um zu kapieren, dass er mit mir mitzog. Ich schob diesen schmerzlichen Gedanken gleich beiseite, denn ich hatte eines gelernt, seit ich von Zuhause weg war: Ich durfte mich nicht selbst immer so herabsetzen. Also beschloss ich, die ganze Geschichte, wie Christian und ich uns kennengelernt hatten, noch einmal in meinem Kopf Revue passieren zu lassen. Dabei sah ich ihm beim Schlafen zu und er wirkte friedlich, war wunderschön und sah jung aus. Schließlich schlief auch ich noch einmal ein.

 

Der Geruch von frischem Kaffee weckte mich und ich blinzelte. Ich sah sie an der Küchenzeile stehen, sie hantierte mit Geschirr, es war so hell, dass ich wie ein Welpe die Augen nur einen kleinen Spalt öffnete. Sie trug mein T-Shirt und das sah heiß aus. Verdammt, wie jung war dieses Mädchen? Ich drehte mich zur Seite, um sie besser beobachten zu können. Sobald sie sich zur Couch wandte, machte ich die Augen zu. Ich brauchte einfach ein paar Minuten, um mir alles wieder ins Gedächtnis zu rufen. Aber das hatte noch kurz Zeit, denn sie streckte sich, um eine Tasse aus dem Regal zu holen, was mir freien Blick auf ihren unbekleideten Hintern gab.
Verdammt bist du gut, dreißig am Arsch, man ist so alt, wie man sich fühlt. Ich musste trotzdem noch herausfinden, wie alt sie wirklich war.
Die Tatsache, dass sie mein Shirt trug, ihre Klamotten hier im Zimmer verstreut lagen und ich meine gar nicht erst fand, sprach Bände. Die Kleine war schon süß, aber ich hatte keine Ahnung mehr, woher ich sie kannte. Ja, aus der Disko von gestern Nacht, aber sie kam mir unglaublich bekannt vor. Ich beobachtete sie noch eine Weile, wie sie den Tisch deckte und dann hinaus auf den Balkon zum Rauchen ging.

Ihre Handtasche lag nur eine Armlänge entfernt und mein Gott, ich wusste nicht wieviel Zeug Frauen in ihrer Handtasche herumtrugen. Nachdem ich den Personalausweis gefunden, das Alter überprüft und mir das Bild genau angesehen hatte, fiel es mir wieder ein. Als sie bei mir gearbeitet hatte, waren ihre Haare sehr kurz gewesen. Damals war sie so jung gewesen, und als ich sie außerhalb des Kindergartens traf, in dem ich arbeitete und sie Praktikantin war, abends in der Disko, in der ich Bar-Chef war, sagte ich ihr, ich würde ihr, wenn sie achtzehn wäre, einen Schnaps ausgeben.
Und mit diesem Spruch hatte sie mich gestern angesprochen. Sie erinnerte mich an mein Versprechen mit einem schiefen Grinsen im Gesicht und meinte, ich müsste ihr mehr Schnäpse ausgeben, für jedes verpasste Jahr einen. Die Nacht zuvor war mir ihr Alter sowas von egal gewesen, aber jetzt war es anders. Dreißig und zwanzig, das war schon ein großer Unterschied. Aber andererseits, wirkte sie auch nicht wie erst 20. Zumindest nicht gestern Nacht. Vielleicht am nächsten Morgen, wenn sie mein T-Shirt trug und ich wieder nüchtern war…

Sie hatte fertig geraucht und ich schloss blitzschnell die Augen. Doch als ich hörte, dass sie anfing zu kochen und mir kurz darauf der Duft von Rühreiern in die Nase stieg, gab ich mich zu erkennen, indem ich die Arme nach oben streckte und gähnte. Sie sah zu mir herüber, flüsterte „Guten Morgen“ und ich lächelte sie an. Sie schien unkompliziert zu sein, und das war es, was mir bisher fehlte. Ungezwungene Nächte, die unkompliziert enden. Wir frühstückten zusammen und danach zog sie mich raus auf den Balkon, sie zündete sich eine Zigarette an und ich legte den Arm um sie. Es war vielleicht gerade mal 10 Uhr und die ersten warmen Sonnenstrahlen des Tages kitzelten mich auf der Brust, mein T-Shirt trug immer noch sie. Wir beobachteten einen jungen Mann, der aus der Wohnung schräg gegenüber kam und zu unserem Balkon hinaufblickte. Ich küsste sie, sie lächelte.

Ich wusste nicht, ob es Regeln gab, dass man nach einer unverbindlichen Nacht nicht mehr zum Frühstück blieb oder küsste. Ich hatte ja nur schwierige Frauen erlebt, die mich gleich heiraten wollten, deswegen war mein Vorsatz eigentlich, nie wieder mit einer nach dem Feiern mitzugehen. Sie hatte es irgendwie geschafft, und die Tatsache, dass wir uns vorher schon kannten und zusammen gearbeitet hatten, machte das Ganze aufregend.
Wir gingen wieder in die Wohnung und ich bekam Panik, wie ich ihr am besten sagen sollte, dass ich abhauen wollte. Doch sie machte den Anfang. Sie zog mein Shirt aus und stand nackt vor mir. Mit den Worten “Ich hab heute noch viel zu tun“ reichte sie mir mein Oberteil und suchte ihre eigenen Sachen zusammen.
Ich war erstaunt und plötzlich suchte ich Gründe, noch zu bleiben. Ich fragte nach noch einer Tasse Kaffee, die sie mir lächelnd gewährte, jedoch mit dem Satz „Danach solltest du aber wirklich los“, eindeutig zu verstehen gab, dass ich gehen sollte.

 

Nach seiner dritten Tasse Kaffee brachte ich ihn endlich zur Tür. Ich brauchte dringend Ruhe und ja, die Nacht war sehr toll, aber es war Morgen, und am Morgen sollten die Männer wieder gehen.
Eine schnelle Umarmung und ein „Also-bis-dann“ ließen mich hoffen.
Ich schloss die Tür und kaum hatte ich sie zugeschlagen, klingelte es. „Ich hab was vergessen, krieg ich deine Nummer?“ Ach verdammt. Ich bat ihn, mir seine zu geben, da ich meine nicht auswendig wusste. Das war gelogen. Ich schloss die Tür und wieder klingelte es gleich darauf. „Ich hab noch was vergessen“, sagte er, gab mir einen Kuss und meinte, er warte auf meinen Anruf.

Lena Vilsmeier

www.verdichtet.at | Kategorie: Vorhang auf für den Nachwuchs| Inventarnummer: 16065