Kategorie-Archiv: Ernest Perfahl

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Ein steriler Mensch

Entweder er stellt seine gefüllten Kisten auf den Dachboden oder aber er geht in den Garten, errichtet eine kleine Feuerstelle und verbrennt sie. Er entschied sich für Letzteres. Denn selbst wenn er, nachdem er den Dachboden verlassen hätte, den Schlüssel aus dem Schloss gezogen hätte, um ihn anschließend wegzuwerfen und nicht wie üblich einmal umzudrehen, um ihn dann in die Schublade neben der Eingangstür zu legen, wären immer noch ein Dutzend Szenarien möglich, in denen der Inhalt der Kisten den Weg zurück in seine oder gar in die Hände eines anderen gefunden hätte. Er wollte kein Risiko eingehen.

Von den Tausenden und Abertausenden Seiten, die sich in den letzten Jahren in den Kisten angehäuft hatten, war er nun befreit und er hatte endlich wieder Platz. Das ist ein Fortschritt, sagte er sich. Alle Altlasten waren entsorgt, und er konnte wieder unbekümmert sein.

*

Während die Mutter hinter ihm saubermachte, beschloss er, im nahegelegenen Park spazieren zu gehen, wie er es mehrmals die Woche tat. An einer geeigneten Stelle setzte er sich auf eine Bank und fing an, sich Notizen zu machen.
Die Seiten füllten sich, doch schon bald hielt er inne, überflog Zeile für Zeile und musste mit Bedauern feststellen, dass es wieder nur Beweismaterial war, wieder nur Zeugnisse seiner selbst, derer er sich schämte.

Manchmal, da faltete er nach Ausführung und Beendigung seiner Gedanken das Papier zusammen. Ein anderes Mal, so wie es heute der Fall war, stand er auf, ging zum nächsten Mülleimer und entsorgte das Geschriebene. Dies kam jedoch eher selten vor. Meist nahm er das Geschriebene mit nach Hause, um es dort zu archivieren. Auf halber Strecke kehrte er heute aber noch einmal um und suchte erneut den Mülleimer auf, griff mit der Rechten hinein und wühlte, bis er die Blätter zwischen seinen Fingern spürte. Er zog sie heraus und zerriss sie zuerst der Länge nach, legte dann die zwei entstandenen Stapel aufeinander und teilte diese abermals. Den Vorgang wiederholte er, bis nur mehr winzig kleine quadratische Stückchen übrig geblieben waren. Er blickte sich um. Der Park war wie ausgestorben.

*

Seine Kleidung war weiß und unbefleckt. Die Mutter wusch sie am sonntäglichen Waschtag. Selbst die übelsten Flecken konnte sie, in dem Fall, dass er sich beflecken würde, was so gut wie nie vorkam, weil er peinlichst darauf bedacht war, seine Kleidung sauber zu halten, reinigen. Ein weißes Gilet, ein weißes Hemd, eine weiße kurze Hose, weiße Socken, blassbraune Sandalen. Er zeigte ungern Haut, doch die Hitze des Sommers verlangte es so. Früher war er es gewohnt, sich auch bei Höchsttemperaturen in schwarze Kleidung zu hüllen, doch das hatte er aufgeben.

So wie viele seiner Eigenheiten nur von kurzer Lebensdauer waren und schon bald nach ihrem Aufkommen verschwanden. Andere wiederum hatten scheinbar kein Ablaufdatum. Sie drangen tief in sein Fleisch ein, sodass sie auch, nachdem sie schlichtweg ihre Notwendigkeit verloren hatten, nutzlos sein Wesen zierten. Es waren kleine Souvenirs vergangener Zeiten, die er nur zu gerne vergessen würde. Manchmal kam einer und versuchte sie aufzudecken. Manchmal gelang es. Manchmal nicht. Wenn es gelang, war er beschämt.

Er erinnerte sich an einen Spaziergang im Park, bei dem er einem entfernten Bekannten begegnet war. Dieser war ein besonders interessierter Mensch, einer, der sich zu gerne in das Leben anderer einmischte, so dachte er, einer, der die Kunst des Fragens beherrschte und der es so vermochte, dem Gesprächspartner mehr zu entlocken, als ihm eigentlich recht war.

Sie hatten sich gegenübergestanden. Der Bekannte war deutlich näher gerückt als es hierzulande die Konvention war. Die Unterhaltung hatte sich zugespitzt und einen unvorhergesehenen Verlauf genommen. Er war in eine Sackgasse gedrängt worden, die ihm jeglichen Handlungsspielraum nahm. Er hatte die Haltung verloren. Seine Augen waren glasig geworden, und eine erste Träne bildete sich. Er wünschte, er könnte sie so wie den Schleim in der Nase hochziehen und hinunterschlucken. Aber das war ihm nicht möglich. Genauso wenig wie es ihm möglich war, den Kloß in seinem Hals durch den Speichel in seinem Mund aufzulösen.

Er hatte sich bei dem Herrn entschuldigt und war davongeeilt auf der Suche nach einem sicheren Ort, der ihn für wenige Momente vor den Augen der Welt verbergen würde. Der Vorfall würde sich schnell herumsprechen. Sie hatten gemeinsame Bekannte. Wahrscheinlich hatte er umgehend nach seinem Mobiltelefon gegriffen und begonnen, das sich eben Zugetragene zu verbreiten.

Er verfluchte den Mann. Am liebsten hätte er kehrtgemacht, um ihm sein Telefon um die Ohren zu hauen. Er fragte sich, wie es so weit kommen hatte können. Wie er die Selbstbeherrschung verlieren und so viel Schwäche zeigen konnte.

Man musste dem Mann jedoch zugestehen, dass auch er ihm gegenüber erschreckend ehrlich gewesen war, dass er allzu Intimes preisgegeben hatte. Allmählich begriff er, dass sie während des Gesprächs eine Art unausgesprochene Vereinbarung getroffen hatten. Er selber war auch offen gewesen, hatte nichts verborgen, hatte sich selbst von seiner menschlichsten Seite gezeigt. Er hatte ihm zu verstehen gegeben, dass er es nachvollziehen könne, dass er Ähnliches erlebt hätte und ihn auf gar keinen Fall für seine Fehlbarkeit verurteilen würde.

Dennoch hatte er damals beschlossen, in Zukunft vorsichtiger zu sein. Es mussten zusätzliche Maßnahmen getroffen werden. Vor jenem Vorfall war es seine Art gewesen, gewissen Fragen einfach auszuweichen, beziehungsweise wenn nötig, um den heißen Brei herumzureden. Mit diesem Tag aber hatte er es sich angewöhnt, im Gespräch mit anderen immer weiter von der Wahrheit abzuweichen. Anfangs hatte er Details bewusst weggelassen oder leicht variiert. Schließlich erfand er komplette Geschichten frei. In erster Linie galt dies seinem Schutz, zum anderen jedoch mochte er die Fiktion und wollte ihr nicht nur in seiner dichterischen Arbeit, sondern auch in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen Platz einräumen. Es galt, das Fiktionsbedürfnis seiner selbst und das der Menschen zu stillen. Hinzu kam, dass sein Leben schlichtweg nicht darauf ausgerichtet war, erzählt zu werden.

Wenn er einen Bekannten traf, würden im Durchschnitt 2,173 Monate vergehen, ehe er ihn erneut traf. Dieser Umstand ließ ihm beim Erzählen freie Hand, würden sich die Menschen doch nach Verstreichen einer solchen Zeitspanne, wenn überhaupt, dann nur grob an das erinnern, was er erzählt hatte. Dennoch notierte er sich nach jedem Treffen in kurzen Stichworten, was er demjenigen aufgetischt hatte, und überlegte sich sogleich, wie er die Geschichte das nächste Mal fortführen könnte.

Er wurde immer geschickter darin, sein Leben zu verschleiern, seine Gesichtsmuskulatur so zu kontrollieren, dass kein ungewollter Eindruck entstand, innere Regungen zu vertuschen, sie nicht an die Oberfläche gelangen zu lassen, eine Rede zu halten, die es nicht erlaubte, in den Köpfen der anderen ein Eigenleben zu entwickeln. Seine Gesprächsbeiträge waren möglichst der Art, dass schon bei der Verabschiedung der andere das Gesagte sofort vergessen würde.

*

Als er nach Hause kam, war die Mutter bereits mit dem täglichen Hausputz fertig und hatte sich hinaus in den Garten begeben, wo sie unbewegt, den Blick auf einen kleinen Baum gerichtet, auf der Wiese saß. Irgendwann hatten sie aufgehört, miteinander zu reden. Von ihm erfuhr sie nichts. Nur von den hinterlassenen Gegenständen konnte sie Rückschlüsse auf seine Gewohnheiten, auf seinen Alltag, auf seine körperliche und geistige Verfassung ziehen. Er wusste nicht, ob er die täglich anstehenden Arbeiten ohne sie bewältigen könnte. Sie war für ihn von unschätzbarem Wert, wenn es darum ging, die täglichen Aufräumarbeiten zu verrichten. Auf der anderen Seite jedoch war sie seine Schwachstelle. Über sie war er angreifbar. Sie war die letzte Zeugin, die Letzte, die Bescheid wusste und Auskunft über ihn und seine Vergangenheit geben konnte.

Nur sie würde übrig bleiben. Doch während ihr Körper jung geblieben war, war ihr Hirn matschig und weichgespült. Ihr Erinnerungsvermögen ließ stark nach, sie brachte Sachen durcheinander und der Verfallsprozess ihres Geistes hatte bereits erschreckende Ausmaße angenommen. Es war fraglich, ob ihr überhaupt jemand Gehör schenken würde, und wenn, ob ihr überhaupt jemand folgen könnte.

Würde er unerwartet sterben, dachte er sich wiederholt, sie würden nichts finden. Sie wären vollkommen ahnungslos. Der Pfarrer würde bei der Begräbnisrede stumm bleiben und die Handvoll Menschen, die sich in der Kirche versammeln würde, sie würde herumstottern, versuchen, im Gespräch mit anderen Worte zu finden, die seiner Person auch nur im Ansatz gerecht werden könnten. Sie würde kläglich scheitern, dafür hatte er Sorge getragen.

Ernest Perfahl
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www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 16130