Kategorie-Archiv: Judith Wiesauer

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Vom Stinken und Stänkern

„Du stinkst ja erbärmlich! Hörst du, ich rede mit dir.“
Sie hatte ihr unbekannte Gegenden Wiens auf dem Stadtplan betrachtet, während sie auf die U-Bahn gewartet hatte. In der Station hatte es nach Abfall gerochen.
„Geh dich duschen! Du bist so grindig.“
Hatte der junge Bursche mit ihr gesprochen? Unsicher hatte sie den Kopf zur Seite gedreht und ihn angeschaut. Sein herausfordernder Blick hatte ihr bestätigt, dass er tatsächlich sie gemeint hatte. Die Mädchen neben ihm hatten gekichert.

Jetzt stand sie starr unter der heißen Dusche und imaginierte viele Male, was sie ihm hätte antworten können. Sie hatte versucht, ihn, seine lächerlichen Anschuldigungen und die gackernden Mädchen zu ignorieren. „Du bist gemein“, hatte die eine lachend gesagt.
Sie hatte so getan, als sei nichts gewesen, war stehengeblieben, wo sie war, und hatte ein paar elendlange Minuten auf die vermeintlich erlösende U-Bahn gewartet.
Er hatte noch nicht genug gehabt. „Gott sei Dank kommt die U-Bahn. Ich steige auf keinen Fall in ein Abteil mit der. Die verpestet alles.“ Bei der Vorstellung, sich absichtlich direkt neben ihn zu setzen, hatte sie lächeln müssen. Sie hatte sich nicht getraut.

„Also echt, das war doch arg, oder? Das war sicher sie. Gut, dass sie jetzt nicht mehr da ist.“ Er hatte sich in seiner Rolle als Alleinunterhalter der Mädchen gefallen. Was er dabei von sich gab, war vollkommen nebensächlich gewesen.
„Sie steht da hinten“, hatte eines der Mädchen gemeint. „Dort“, hatte ein anderes gekichert und auf sie gezeigt. „Wo?“, hatte er gefragt.
„Hier“, hatte sie so bestimmt, wie sie nur konnte, gesagt und ihn verächtlich angesehen. Mehr Protest war ihr nicht möglich gewesen. Vollkommen unvorbereitet hatten sie seine Beschimpfungen getroffen. Sie war entsetzt gewesen, wie ungeniert er sich so öffentlich über sie lustig gemacht hatte.
„Schleich dich, du grausige Sau!“, hatte er ihr entgegengerufen.

Sie hatte die Wut in sich hochsteigen gespürt. Wut in Form von ohnmächtigen Tränen. „Der kann dir doch egal sein!“, hatte sie sich einzureden versucht. Den Triumph, sie sichtlich verletzt zu haben, hatte sie ihm keinesfalls zugestehen wollen.
Bei der nächsten Station waren er und seine Begleiterinnen ausgestiegen, nicht ohne ihr noch einige derbe Beleidigungen an den Kopf zu schmeißen.
Der Gedanke, all den fremden Leuten in der U-Bahn zu zeigen, wie sehr sie der Vorfall aus der Fassung brachte, war ihr unerträglich gewesen. „Nur noch zwei Stationen“, hatte sie sich gesagt. Dann hatte sie nachgegeben. Heiße Tränen waren ihr über die Wangen geronnen.

Zu Hause hatte sie ihrem Freund den Vorfall geschildert. Wieder hatte sie es nicht geschafft, ihre Tränen zu unterdrücken. Sie schämte sich dafür, der Freund verstand es nicht. „Da musst du drüber stehen. Der ist doch beschränkt. Stell dir vor, was der erlebt haben muss, um so zu werden. Wenn er sich nur traut, Mädchen, die alleine sind, anzugreifen, ist er echt geistig beschränkt.“

Es lag nicht daran, was er zu ihr gesagt hatte. Seine Vorwürfe waren lächerlich und haltlos. All die Passanten hatten nicht ein einziges Wort gesagt, um ihn zum Schweigen zu bringen oder sie zu verteidigen. Warum auch? Nicht einmal sie selbst wusste sich zu wehren. Sie fühlte sich gedemütigt und entwürdigt. Das warme Wasser der Dusche tat sein Bestes, um diese Gefühle wegzuspülen.

Judith Wiesauer

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen …|Inventarnummer: 15128

Besuch beim Großvater

„Das nimmst du!“, sagte der Vater und drückte seinem Jüngsten Clemens ein Gesteck aus Tannenzweigen mit einer Kerze darauf in die Hand. Als nächstes holte er zwei Packungen Kekse aus dem Kofferraum und hielt sie seinem zweiten Sohn Thomas entgegen, der eine davon gleich an seine Freundin weitergab. Er selbst nahm einen großen Korb, in dem sich ein Berg frischer Wäsche befand. Schon von außen sahen sie durch das Fenster den Großvater in seinem Sessel sitzen.

„Hallo“, begrüßte Thomas seinen Opa, reichte ihm die Hand und stellte die Kekse wortlos auf den Tisch. Seine Freundin tat es ihm nach. Auch sie stellte die zweite Packung Kekse einfach auf den Tisch und hoffte, dass der Großvater wusste, dass sie für ihn bestimmt waren. Clemens gab das Gesteck verlegen an seinen Bruder weiter und setzte sich auf die Couch. „Begrüßt du mich denn gar nicht?“, fragte der Großvater mürrisch. Clemens lächelte, stand auf, reichte seinem Opa die Hand, murmelte dabei unverständliches Zeugs und setzte sich schließlich wieder.

Jetzt kam auch der Vater ins Zimmer und begann in den verschiedensten Kästen und Schubladen herumzukramen. Im Nebenzimmer wurde er fündig. Er brachte einen in einem Plastiksack verpackten Reindling mit in die Küche. Davon schnitt er mehrere Scheiben ab und legte sie auf einen Teller. Dann stellte er einen Topf Wasser auf den Herd und fragte in die Runde, wer Kaffee wolle. Thomas nickte, der Großvater verneinte.

„Heute hatte sie es besonders eilig“, beklagte sich der Großvater. „Wenn ich gewusst hätte, dass ich nichts mehr zum Essen zuhause habe, hätte ich sie einkaufen schicken können.“ Er ging davon aus, dass alle wussten, dass er von seiner Pflegerin sprach. „Du hast noch genug zu essen“, erwiderte der Vater. Er sprach so leise, dass der Großvater ihn nicht verstand. „Du hast noch genug“, musste er wiederholen. „Ach, was denn?“ „Brot, Krapfen, Kaffee, …“ „Was?“, unterbrach ihn der alte Mann. „Brot und Krapfen, das reicht fürs Frühstück.“ „Das mag ich nicht.“

Der Vater reichte jetzt die Kaffeetassen zum Tisch herüber. Eine davon bot er dem Großvater an. „Ich will keinen. Ich sagte, ich will keinen“, gab dieser von sich. „Außerdem, nimm etwas zum Unterstellen!“ Der Vater holte ein Tablett und stellte darauf die Tassen und den Reindling ab. Er öffnete eine Packung der mitgebrachten Kekse.

„Clemens“, sprach der Großvater und deutete mit seinem Kopf in Richtung der Wandschränke neben der Türe. „Soll ich die Tabletten holen?“, fragte dieser und suchte das Regal danach ab. „Nein, ach Gott.“ Der alte Mann wurde immer unzufriedener. Mühsam erhob er sich aus seinem Sessel. Aus einer Lade holte er ein Plastiktischtuch. „Ah, das wolltest du! Das haben wir vergessen unterzulegen“, lächelte Clemens verlegen.

„Wieso kommt ihr überhaupt so spät?“, fragte der Großvater wenig später. Der Vater war bereits in die Abrechnungen der Hilfskraft, die er zu dessen Betreuung eingestellt hatte, vertieft. „Ein Ziegel ist kaputt, es tropft direkt vor die Türe. Das hättet ihr reparieren können, wenn ihr früher da gewesen wärt. Jetzt ist es schon Abend, es wird schon dunkel. Ihr hättet am Nachmittag kommen sollen.“
„Es ist erst drei, Opa“, meinte Thomas. „Soll ich mir den Ziegel anschauen?“ „Nein, jetzt ist es zu spät, es ist schon Abend.“ Der Großvater wandte sich wieder seinem Sohn zu. „Sie hatte gar keine Zeit für mich heute. Dabei habe ich nichts zu essen zuhause. Sie hätte einkaufen sollen.“ „Aha“, meinte der Vater verärgert. „Aber wenn es ums Bezahlen geht, dann hat sie immer genügend Zeit.“ Er griff nach einem Stück Reindling. In großen Bissen aß er dieses und zwei weitere. Danach nahm er sich noch ein Keks.
„Wieso esst ihr überhaupt meine Kekse?“, wunderte sich der Großvater.

Der Vater erhob sich und ging hinaus. „Was macht er denn?“, fragte der Großvater jetzt seine Enkelsöhne. „Vielleicht schaut er nach, wo es tropft“, meinte Thomas.
„Das hättet ihr früher machen sollen. Aber ihr kommt mich ja nie besuchen und ruft nie an, um zu fragen, ob es etwas zu tun gibt.“
„Du kannst mich doch jederzeit anrufen, wenn du etwas brauchst“, meinte Thomas. „Hast du einen Zettel, dann schreib ich dir meine Handynummer auf?“ Sein Opa reagierte nicht.
Kurz darauf verschwanden auch Thomas und Clemens nach draußen, um nach dem kaputten Ziegel zu schauen.

„Oh mein Gott“, dachte die Freundin leise bei sich. „Ihr könnt mich doch nicht ganz alleine mit ihm lassen.“ Sie lächelte dem alten Mann zu.
„Meine Heizung funktioniert nicht richtig“, erzählte er ihr jetzt. „In der Nacht ist es immer so heiß, aber untertags eiskalt. Ist der Heizkörper jetzt warm?“
Die Freundin lehnte sich nach hinten und legte ihre Hand auf die Heizung. „Nein“, antwortete sie.
„Immer ist etwas zu tun in diesem Haus. Und wer muss das alles machen? Ich, obwohl ich den kranken Fuß habe. Im Sommer muss ich auch mähen und den Garten machen. Früher, da hatte ich noch die Großmutter. Aber die ist jetzt schon seit vier Jahren tot. – Weißt du vielleicht eine Frau für mich, so um die fünfzig, oder siebzig?“
„Nein, leider. Ich bin ja nicht von hier.“ Schon beim letzten Besuch hatte der Großvater die Freundin nach einer neuen Frau gefragt. Nach dem Tod der Großmutter stellte sich heraus, dass er mit dem Haushalt nicht wirklich zurechtkam.
„Von wo bist du?“, wollte er jetzt wissen.
„Ich komme aus Oberösterreich. Den Thomas habe ich in Wien kennengelernt. Beim Studieren.“ Der Großvater nickte. „Alle gehen nach Wien“, sagte er in einem vorwurfsvollen Ton. Wieder lächelte die Freundin ihn an.

Thomas und Clemens kamen in die Küche zurück. „Man sieht nichts. Im Moment tropft es nicht. Aber es ist auch nicht viel Schnee am Dach.“
„Man sieht nichts“, wiederholte der Großvater. Dann fragte er Clemens: „Wieso kommt sie eigentlich nie mit?“
„Wer denn, Opa?“
„Na sie. Seit dem Tod der Großmutter war sie kein einziges Mal mehr mit. Warum kommt sie nicht mit?“ Offensichtlich meinte der Großvater die zweite Ehefrau seines Sohnes, Clemens’ Mutter.
„Können wir sie fragen“, antwortete der Achtjährige. Der Vater kam zur Tür herein.
„Wieso kommt sie nie mit?“, fragte der Großvater jetzt ihn. Auch er wusste nicht sofort, wer gemeint war.
„Beim nächsten Mal werden wir sie mitnehmen“, versuchte Clemens seinen Opa zu besänftigen.

„Das Dach ist nicht kaputt. Das kommt nicht von oben. Das Wasser wird jemand mit den Schuhen hereintragen“, stellte der Vater fest.
„Die Heizung ist nicht richtig eingestellt. Es ist so kalt“, gab der alte Mann zurück.
„Das passt schon“, meinte der Vater und setzte sich zu seinem Sohn auf die Couch.
„Was?“, fragte der Großvater nach. „Die ist schon ganz richtig eingestellt.“ Der Vater griff nach hinten zum Heizkörper. „Ist er warm?“, wollte der Großvater jetzt von ihm wissen. „Ja“, antwortete dieser.
Der Großvater blickte die Freundin an. Diese wiederum schaute den Vater an. Sie wusste, dass das nicht stimmte. „Nein“, sagte der Vater jetzt. „Aber der Heizkörper ist ganz richtig eingestellt.“ Damit gab sich der Großvater zufrieden.

„Ich hätte sie einkaufen geschickt, aber sie hatte heute so wenig Zeit“, begann er wieder von vorne.
„Heute ist doch Sonntag, Opa. Heute hätte sie nichts kaufen können, da haben die Geschäfte ja zu“, erklärte ihm Thomas.
„Ach, aber ich habe nichts mehr zum Essen zuhause.“
„Morgen wird sie dir neues Essen kaufen.“
„Kommt die denn morgen?“
„Ich glaube schon. Schau, im Kalender steht, dass sie morgen gegen vierzehn Uhr kommt.“ Thomas reichte seinem Opa den Stehkalender.
„Ah, morgen kommt sie“, sagte dieser nun mehr zu sich als zu seinen Gästen.

Der Vater war inzwischen auf der Couch eingeschlafen. Er atmete tief dabei. Clemens machte sich einen großen Spaß daraus, ihn zu sekkieren. Immer wieder erwachte der Vater kurz aus seinem Schlaf und ermahnte seinen Sohn. Clemens fand die Situation nur allzu komisch und begann heftig zu kichern. Es schien, als könne er sich gar nicht mehr einkriegen. Er lachte und lachte, bis der Vater schließlich davon munter wurde.

Aus einer großen Tasche holte dieser jetzt seine Videokamera heraus und begann zu filmen. Er packte sie allerdings nach ein paar Minuten wieder weg und fragte stattdessen den Großvater, wo er die mitgebrachte Wäsche hinräumen solle. Anstatt zu antworten, meinte dieser: „Hast du gesehen, wie viel Wäsche noch zu machen ist?“
„Diese hier ist frisch.“ Der Vater deutete auf den Wäschekorb. „Die dreckige nehme ich dann das nächste Mal mit.“
„Alles muss gewaschen werden“, wiederholte der Großvater.
„Die Wäsche im Korb ist sauber.“
„Ach so, dann stell sie einfach hinüber ins andere Zimmer.“ An seine Enkelsöhne richtete er: „Ihr sitzt da nur herum, ihr könntet abwaschen.“
Die Freundin musste schmunzeln. Thomas übernahm den Abwasch, Clemens trocknete das nasse Geschirr ab. Der Vater packte den Reindling wieder in den Plastiksack.
„Nehmt ihn euch mit“, sagte der Großvater.
„Nein, behalte ihn dir doch. Morgen kannst du ihn zum Frühstück essen“, antwortete sein Sohn.
„Ich mag keinen Reindling. Der Thomas soll ihn mitnehmen. Der freut sich. – Thomas, nimm den Reindling mit.“
„Willst du ihn nicht?“, fragte Thomas.
„Nein, ich habe noch genügend zu essen.“

Schließlich verabschiedete sich einer nach dem anderen beim Großvater. Thomas tat es leid, ihn alleine zurückzulassen. „Ich rufe dich in den nächsten Tagen an“, versicherte er ihm.
„Willst du nicht bei mir übernachten?“, wandte sich der alte Mann an Clemens. Dieser schüttelte wortlos den Kopf.
Der Großvater erhob sich langsam aus seinem Sessel und begleitete seine Gäste nach draußen. Als das Auto losfuhr, winkte er ihnen nach.

Judith Wiesauer

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 15125