Kategorie-Archiv: Samuel Deisenberger

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Wie im Film

Ich fühle mich auf meinem Balkon gerade wie in einer Theaterloge. Ich habe direkte Sicht auf das Geschehen, das in meiner Straße gleich stattfinden wird. Die beiden Menschenmassen sind nur mehr hundert Meter voneinander entfernt.
Zwei rauchende, brüllende Organismen, die sich die Häuserschlucht entlangwälzen, um wohl genau unter meinem Balkon aufeinanderzutreffen. Loyalisten auf Oppositionelle, Rechte auf Linke – eigentlich es ist mir egal, wie sich diese Leute nennen, ich will mit keinem von ihnen etwas zu tun haben.

Die spärliche Polizeitruppe, die die Leute auseinanderhalten sollte, hat sich in Sicherheit gebracht. Es sieht nicht so aus, als ob bald Verstärkung kommen würde, niemand hat diese Massen an Menschen erwartet. Die Schlachtrufe werden lauter und aggressiver. Die vordersten Reihen beider Seiten haben sich verhärtet, es gibt kein Zurück mehr.
Ich stehe da, jeder einzelne meiner Muskeln ist angespannt, die dritte Flasche Bier zittert halbvoll in meiner Hand. Um mich herum stehen die Leute ebenfalls auf ihren Balkonen und verfolgen gebannt das Geschehen auf der Straße. Manche haben ihr Handy auf das Spektakel gerichtet. Ich versuche mir auszumalen, was passieren wird, wenn die beiden Gruppen aufeinandertreffen. Baseballschläger, Stahlrohre und Schlagstöcke ragen auf beiden Seiten aus der Menge. Der Hass, der in der Luft liegt, scheint diese dickflüssig zu machen. Aber es liegt wohl eher an den Schwefeldämpfen der Signalfackeln, die auf beiden Seiten brennen. Ich frage mich, wie viele Tote es geben wird.

Da sehe ich die beiden auf der rechten Seite. Ein Vater mit seinem kleinen Sohn wird in der ersten Reihe zwischen Sturmhauben und Motorradhelmen vor den anderen hergeschoben. Verzweifelt versucht er, sich und das Kind weiter nach hinten zu bringen, doch die anderen sind zu dicht aneinandergedrängt.
Niemand scheint sie zu beachten. Ich werde wütend. Was will dieser Idiot mit seinem Kind hier? Jeder wusste, dass es so enden würde.
Fünfzig Meter. Die besonders Kräftigen können mit ihren Steinen schon fast die andere Fraktion erreichen.

Der Vater hat es geschafft, sich in die zweite Reihe zu drängen, wird einfach mitgerissen. Man sieht, dass er in dem Gedränge Angst um seinen Sohn bekommt und sich wieder nach vorne kämpft. Das Kind taucht zwischen gepolsterten Knien und Cargohosen wieder an der Hand seines Vaters auf.
Der Junge wird zerfetzt, wenn er zwischen die Fronten gerät. Noch immer scheint niemand die beiden zu bemerken. Vielleicht ist es auch einfach allen egal. Es gibt keine Seitenstraßen mehr, keine frei zugänglichen Innenhöfe, in die die beiden flüchten könnten, nur noch Fassaden auf beiden Seiten mit versperrten Türen. Die zwei sind verloren.
Bier spritzt aus der Flasche, als ich sie auf den Boden wuchte, sie wankt, als ich durch die Balkontür in meine Wohnung springe. Ich reiße meine Wohnungstür auf und renne die Stiege vom zweiten Stock hinunter, nehme drei, vier Stufen auf einmal.

Die rechte Fraktion ist noch zehn Meter von meiner Haustür entfernt, als diese auffliegt. Ich winke dem Vater zu, brülle nach seiner Aufmerksamkeit, bin selbst erstaunt über die Lautstärke, die ich zustande bringe. Unsere Blicke treffen sich. Ich deute ihm, zu mir zu kommen. Er hat Glück, schon so weit auf meine Seite gedrängt worden zu sein. Er läuft auf mich zu, sein Sohn stolpert an seiner Hand hinterher.
Nicht einmal jetzt werden sie bemerkt. Sie fallen in die Haustür und ich schlage diese zu, als ein Pflasterstein daneben an der Hauswand abprallt.
Keuchend steht der Mann im dunklen Hausflur, er hat die Hand seines Kindes nicht losgelassen.
Dankbarkeit ist in seinem Gesicht zu lesen, und ich hoffe, dass die Entrüstung darüber, ein Kind dieser Gefahr auszusetzen, in meinem Gesicht zu lesen ist.
Schweigend stehen wir uns gegenüber. Der Lärm von draußen dringt durch die Haustür, wir sehen durch das Milchglas Schatten und Lichter herumspringen. Die beiden Gruppen haben sich erreicht, wir können es hören. Diese Geräuschkulisse kenne ich aus Filmen, jetzt in der Realität wirkt sie fast unreal.

Krachend fliegt etwas durch das Glas der Haustür an meinem Knie vorbei. Wir haben genug Zeit unten im Flur verbracht. Ich deute den beiden, mir zu folgen, und gehe die Stiege hinauf.
Unsicher folgen mir die zwei, noch immer Hand in Hand.
Im ersten Stock höre ich den Mann das erste Mal sprechen.
„Danke“, kommt es atemlos von hinten. Ich gehe weiter, drehe mich nicht um.
„Schon okay.“
Meine Wut über seine Verantwortungslosigkeit ist schon wieder fast verflogen.
Als wir in meiner Wohnung ankommen, verriegle ich die Tür.
In dem Lärm, der von draußen durch die offene Balkontür dringt, höre ich den Mann zu seinem Sohn sprechen.
Ich verstehe nicht, was er sagt. Ist mir auch egal. Mir sind auch ihre Namen egal. Mir haben sie zu verdanken, dass sie jetzt nicht zertrampelt unten auf der Straße liegen, das muss reichen.

Ich will die Balkontür schließen, doch muss ich einen Blick nach unten riskieren. Dieser Anblick hat etwas Fesselndes.
Schon stehe ich wieder am Balkon und starre in die Gewalt, die sich unter mir ausbreitet.
Zu der Geräuschkulisse kommt nun der Anblick, den ich nur aus Filmen kenne. Jeden Moment wird jemand „Cut!“ schreien, denke ich, die Statisten würden aufhören zu kämpfen, sich gegenseitig den Dreck von der Kleidung klopfen, sich anlächeln und die leblosen Körper würden wieder zum Leben erwachen.
Aber es passiert nicht. Die Statisten verausgaben sich. Besser hätte ein Regisseur es sich nicht vorstellen können.
Meine Hände sind an die Balkonbrüstung geklammert, und ich kann meinen Blick einfach nicht abwenden.
Es sieht nicht so aus, als ob die Reihen an Kämpfern bald erschöpft wären. Passiert das gerade im ganzen Land? Ich muss an meine Eltern denken, hoffentlich sind sie in Sicherheit. Es gibt nichts, das ich jetzt für sie tun kann.

Ich bemerke den Vater, der hinter mir am Balkon aufgetaucht ist. Er nimmt ebenfalls einen Platz in der Loge ein. Schweigend stehen wir nebeneinander und betrachten das Geschehen. Er umklammert ebenfalls die Brüstung, und ich kann sein Zittern spüren. Ich drehe mich zu ihm. Tränen schießen ihm in die Augen, die Angst in seinem Gesicht ist verflogen und hat der Wut Platz gemacht. Sein Sohn ist drinnen und sitzt still auf meinem Sofa.
Er nimmt seine Hände von der Brüstung und dreht sich um, kann wohl den Anblick nicht ertragen. Ich will ihm gerade zurück in meine Wohnung folgen, da dreht er sich wieder um. Er hat eine meiner leeren Bierflaschen in der Hand und wirft sie mit einem Schrei nach unten. Meine Augen folgen der Flugbahn.
Ein Mann sinkt am Kopf getroffen zu Boden. Glückstreffer.

Ich starre ihn entgeistert an. So bedankt er sich also für seine Rettung. Er beachtet mich gar nicht und hebt eine zweite Flasche auf. Er setzt zum Wurf an, aber das kann ich nicht zulassen. Ich habe nicht vor, mich an diesem Krieg zu beteiligen. Und von meinem Balkon aus wird sich auch nicht daran beteiligt. Ich packe seinen Wurfarm, er dreht sich überrascht nach mir um. Die Entschlossenheit in seinen Augen macht mir Angst. Er versucht sich loszureißen, doch ich lasse mich nicht abschütteln.
Seinen Arm und seinen Rumpf umklammert, werde ich am Balkon herumgeworfen. Er schreit mich an, ich kann ihn nicht verstehen. Sein Sohn ruft ängstlich von drinnen nach seinem Vater. Ich schaffe es, seinen Arm nach unten zu beugen, greife nach der Flasche, Speichel spritzt durch meine Zähne auf seine Jacke. Da habe ich die Bierflasche in der Hand und stoße ihn von mir weg.
Zu fest. Er stolpert nach hinten, rudert mit den Armen und fällt über die Brüstung vom Balkon. Seine Füße sind das Letzte, was ich von ihm sehe. Schon als ich eingezogen bin, habe ich mir gedacht, dass die Brüstung gefährlich niedrig ist.

Unfähig zu atmen stehe ich an die Wand gepresst am Balkon und starre das Kind an, das nach seinem Vater schreiend nach draußen gelaufen kommt und seine kleinen Hände durch das Gitter streckt.
„Fuck.“
Das ist das Einzige, was mir durch den Kopf geht.
Der Kleine schluchzt und springt hilflos auf und ab, seine Hände noch immer durch die Gitterstäbe gestreckt.
Der erste Schock klingt ab, ich kann mich wieder bewegen, springe nach vor und packe ihn, erhasche dabei einen kurzen Blick auf seinen Vater, der zehn Meter weiter unten auf dem Kopfsteinpflaster liegt.
Blut rinnt aus einer Öffnung in seinem Kopf und bildet eine Pfütze.

Ich hebe den strampelnden Jungen auf, mache drei große, hastige Schritte nach drinnen, setze ihn unsanft auf das Sofa, schließe die Balkontür und ziehe die roten Vorhänge zu. Der Junge ist schon wieder aufgestanden und trommelt an die Glastür, ich versuche ihn mit tiefer, ruhiger Stimme zu besänftigen.
Er schlägt nach mir, ich muss ihn umklammern und seine Arme unter Kontrolle bringen.
So liegen wir auf meinem Teppichboden, der Kleine schreit und windet sich in meinen Armen und ich habe keinen Schimmer, was ich tun soll. Dumpf dringt der Lärm von der Straße nach innen.
Die ersten Schüsse fallen, das Geschrei draußen wird lauter.
Ich frage mich, ob das die Polizei, das Militär oder bewaffnete Zivilisten sind. Doch dann fällt mir wieder ein, dass es mir eigentlich egal ist. Ich hoffe nur, dass von den Leuten da draußen keiner auf die Idee kommt, das Haus durch die kaputte Eingangstür zu betreten.

Samuel Deisenberger

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 17186

Unfair, fair

Vivien durfte sich von dem erbärmlichen Anblick, den Jeremiahs Eltern abgaben, nicht täuschen lassen. Der erste Schock würde bald überwunden sein und sie würden sich nicht einmal mehr daran erinnern, dass sie einen Sohn hatten. Seine Mutter hatte verheulte Augen und zitterte am ganzen Körper in den Armen ihres Mannes, der offensichtlich seit Tagen nicht geschlafen hatte. Er hob seinen Kopf und starrte Vivien mit leeren Augen an.
Er wusste es. Viviens Herz raste. Sein Blick schien durch sie hindurchzugehen. Er wandte sein Gesicht ab und vergrub es in den zerzausten Haaren seiner Frau. Nein, er konnte es nicht wissen. Dazu war er viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Im ganzen Turnsaal der Schule wuselten andere Eltern herum und versuchten, sich gegenseitig in ihrer Anteilnahme zu übertreffen, während sie heilfroh darüber waren, dass nicht das Foto ihres eigenen Kindes als Plakat an der Wand hing.
Seit fünf Tagen wurde Jerry vermisst, mittlerweile beteiligte sich fast die ganze Vorstadt an der Suche. Auch von außen wurde zusätzliche Hilfe angefordert, Helikopter kreisten über den Wäldern und Suchhunde schnüffelten sich durch die Gegend. Jeremiahs Eltern hatten wirklich Talent, Menschen für ihre Sache zu gewinnen, das musste man ihnen lassen.
Aber sie würden ihn nicht finden.

Vivien wusste, dass es falsch war, einen Lieblingsschüler zu haben, aber diesen aufgeweckten Sechsjährigen konnte man nur gern haben. Sie hatte immer versucht, ihn nicht den anderen Kindern vorzuziehen, was ihr manchmal mehr, manchmal weniger gelang. Im Laufe des letzten Jahres war Jerry immer stiller geworden und Vivien musste mit ansehen, wie sich eine gewisse Traurigkeit über seine kindliche Neugier legte und sie zu ersticken drohte.
Sie war in den ersten drei Tagen immer auf den Beinen, stapfte mit den Suchtrupps durch die Landschaft und heuchelte Jerrys Eltern ihre Anteilnahme vor. Mittlerweile musste sie fast nichts mehr vorheucheln, das Mitleid war echt geworden. Das hatte sie nicht erwartet. Eng umschlungen saßen sie in der Mitte des Turnsaales auf einer alten Turnbank, während um sie herum die Suchtrupps koordiniert wurden und Freiwillige deren Verpflegung herbeischafften. Die Turnbank stand tatsächlich fast genau auf der Mittellinie des im Saal aufgezeichneten Fußballfeldes, genau darüber hing eine Natriumdampflampe und leuchtete den Mittelkreis aus. Vivien hatte sich schon gefragt, ob das Zufall war oder wirklich einer absichtlichen Inszenierung zugrunde lag.
Ihr Herz raste noch immer. Sie riss ihren Blick von Jeremiahs Eltern, steuerte mit schnellen Schritten auf den Hinterausgang zu und stürzte atemlos in die kalte Herbstnacht. Sie wollte sich übergeben, aber der Brechreiz blieb aus. Sie musste jetzt stark bleiben, sie hatte das Richtige getan.
Vivien atmete ein paar Mal tief durch und zwang sich, wieder den Turnsaal zu betreten. Barbara, die Direktorin der Schule, legte im Vorbeigehen ihre Hand sanft auf Viviens Schulter und fragte, ob alles in Ordnung sei. Sie musste ziemlich mitgenommen aussehen. Das war ihr nur recht, als Jerrys Lehrerin musste sie natürlich besonders betroffen wirken. Das wäre sie auch wirklich gewesen, wüsste sie nicht, dass er jetzt an einem besseren Ort war.
Den Rest des Abends verbrachte Vivien damit, die sich abwechselnden Suchtrupps mit Essen und warmen Getränken zu versorgen. Sie versuchte dabei, Jeremiahs Eltern so fern wie möglich zu bleiben, weil sie deren Anblick nur schwer ertragen konnte.

Nach einer fast schlaflosen Nacht saß sie mit einer starken Tasse Kaffee an ihrem Küchentisch und dachte an Jeremiah. Ein herzensgutes Kind, von seinen ignoranten Eltern im Stich gelassen. Man weiß etwas erst zu schätzen, wenn man es verloren hat, dachte Vivien. Im Fall der zwei war dieses Etwas ihr Sohn.
Nun war es zu spät.
Viviens Mitleid für Jerrys Eltern schwand wieder, jetzt, wo sie ihnen nicht in die Augen sehen musste. Sie starrte in die dampfende Kaffeetasse. Warum hatte sie überhaupt Kaffee gemacht, sie war viel zu aufgekratzt, um an Schlaf auch nur zu denken.
Sie sprang auf und rannte ins Badezimmer. Als sie sich über die Kloschüssel beugte, blieb der Brechreiz wie am vorigen Abend wieder aus. Die Spannung zerriss sie innerlich, und es gab nur einen Weg, diese Qual etwas zu lindern.

Vivien musste wissen, wie die Dinge standen, auch wenn das bedeutete, die Vereinbarung zu brechen. Sie musste Lisa fragen. Hastig zog sie ihren braunen Parka an und setzte sich die Pelzkapuze und eine große Sonnenbrille auf. Von ihrer Wohnung bis zum Internetcafe waren es mit dem Auto fünfzehn Minuten. Erleichtert kam sie, ohne jemanden von der Polizei gesehen zu haben, dort an. Sie und ein junger Asiate, der sie nicht beachtete, waren die einzigen dort so früh am Morgen. Auch vom Besitzer war keine Spur zu sehen. Leise arabische Musik drang durch die Lautsprecher aus der Decke. Ohne die Kapuze oder ihre Sonnenbrille abzusetzen, ging sie auf den PC in der Ecke zu und bemühte sich, dabei so gelassen wie möglich auszusehen. Sie warf ein paar säuberlich abgewischte Münzen in den Zähler und loggte sich in das E-Mail Postfach ein, das sie für diesen Zweck angelegt hatte.
Eine neue Nachricht. Vivien starrte auf die Meldung.
Nur Lisa kannte diese Mailadresse. Das bedeutete, sie hatte sich auch nicht an die Abmachung gehalten. War etwas passiert?
„Was haben wir getan. Warum habe ich mich von dir dazu überreden lassen? Wir kommen niemals damit durch. Wir müssen es zugeben. Ich drehe hier noch durch ohne dich. - B“
Es wäre gelogen gewesen, wenn Vivien behauptet hätte, nicht dasselbe gedacht zu haben. Sie überlegte kurz. Hoffentlich hatte Lisa noch nichts Unüberlegtes getan.
„Für Reue ist es zu spät. Es ist auch für mich sehr schwer, aber wir müssen stark bleiben. Erinnere dich daran, warum wir es getan haben. Es ist für alle das Beste, das weißt du. Er wird es auch bald verstehen. Bleib stark, es wird alles gut. - A
P.S.: Ich weiß, dass es ihm bei dir gut geht, du musst auch für ihn die Nerven bewahren. Ich werde bei dir sein, sobald es möglich ist.“

Vivien loggte sich aus, wischte mit ihrem Ärmel die Tastatur ab und verließ das Cafe. Der andere Gast hatte nicht ein einziges Mal den Blick von seinem Bildschirm abgewandt.
Auf dem Weg zur Schule fuhr sie an einer Hundestaffel und einer Gruppe Freiwilliger vorbei. Sie blieb am Straßenrand stehen und versuchte durchzuatmen.
Vivien umklammerte fest das Lenkrad und musste an ihr letztes Gespräch mit Jerrys Eltern denken, drei Monate bevor er verschwunden war.
Zu mehreren Anlässen schon hatte sie Jeremiahs Eltern darauf aufmerksam gemacht, dass ein so aufgewecktes und neugieriges Kind besondere Aufmerksamkeit und Zuwendung brauchte und dass sie als seine Lehrerin nur als Unterstützerin in seiner kindlichen Entwicklung dienen könnte. Für seine Erziehung und Förderung waren sie selbst zuständig. Und jedes Mal kam Vivien vor, als würde sie an den beiden vorbeireden. Ihnen war die Entwicklung ihres Sohnes scheißegal.
Sie beteuerten anfangs noch, Jeremiah in Zukunft mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, aber je öfter Vivien mit ihnen redete, desto weniger strengten sie sich an, dieser lästigen Lehrerin auch nur vorzumachen, um die Entwicklung ihres Sohnes besorgt zu sein. Jeremiahs Vater war mittlerweile sichtlich genervt von den Belehrungsversuchen. Er machte keinen Hehl daraus, dass er mit der Frechheit, die Vivien sich herausnahm, ihm vorzuschreiben, wie er seinen Sohn zu erziehen hatte, nicht wirklich einverstanden war. Er blieb zwar immer höflich, ließ aber keinen Zweifel daran, dass er dieses Gespräch vergessen haben würde, sobald er den Raum verlassen hatte.
Das selbstgefällige Grinsen war im Turnsaal von seinem Gesicht verschwunden. Jeremiahs  Mutter gab sich zwar immer besorgt, war schlussendlich aber die gleiche Ignorantin wie ihr Mann. Was sollte man auch von Eltern, die beide in der Werbung unverschämt viel Geld verdienten, erwarten.

Vivien konnte sich nicht erklären, warum ihr gerade Jerry so am Herzen lag, es gab in ihrer Klasse auch ein paar andere Kinder, denen etwas mehr Aufmerksamkeit guttäte. Er hatte einfach etwas an sich, dem Vivien nicht widerstehen konnte. Warum seine Eltern das nicht so sahen, war ihr rätselhaft. Seine Eltern schlugen ihn nicht, sie ließen ihn nicht ohne Aufsicht allein, sie taten nichts, was eine Intervention von außen rechtfertigte. Sie taten einfach gar nichts.
Wenn er nicht in der Schule war, verbrachte Jerry die meiste Zeit mit den ständig wechselnden Kindermädchen, die sein Vater an- und vermutlich auch abschleppte. Das letzte Gespräch hatte wieder denselben Ausgang genommen. Jerry Eltern versprachen, sich mehr um ihn zu kümmern und schwebten mit ihrem typisch herablassenden Grinsen aus dem Klassenraum. Jerry wäre an der Gleichgültigkeit seiner Eltern noch zugrunde gegangen.

Als sie nach dem Elternabend zuhause ankam, musste sie ihren Frust loswerden. Robert war noch im Büro, also musste sie ihre beste Freundin anrufen.
„Jerry mal wieder, hm?“, wurde sie von Lisa begrüßt.
„Woher wusstest du das?“
„Es ist jetzt kurz nach sechs und wenn ich mich recht erinnere, hattest du heute Elternsprechtag.“
„Es ist einfach nicht fair, die können das arme Kind doch nicht ungestraft so vermurksen.“

Samuel Deisenberger

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 15064

Yuna

Ich muss mich gerade daran erinnern, als ich sie das erste Mal sah. Damals stand sie in Form einer Tomatenstaude in meinem Garten. Ich wunderte mich, denn ich hatte in meinem Garten eigentlich keine Tomatenstauden gepflanzt. Als ich trotzdem eine Tomate pflücken wollte, schrie sie mich an, es sei nicht gerade freundlich, ohne zu fragen, Tomaten von ihr zu pflücken. Vor Schreck war ich zurückgewichen. Ich war es nicht gewohnt, von Tomatenstauden angeschrien zu werden. Die Tomatenstaude sagte mir, sie sei gerade nicht in der Stimmung für Gesellschaft und bat mich, aus meinem eigenen Garten zu verschwinden. Ich gehorchte ihr.

Ich kam am nächsten Tag zurück und fragte sie, wieso sie in meinem Garten ihre Wurzeln in die Erde geschlagen hatte.
Wieso nicht, hatte sie geantwortet. Das leuchtete mir ein. Ich fragte sie, wie lange sie vorhabe, hier zu bleiben. Das entscheide sie spontan, hatte sie gesagt. Ob ich denn ein Problem damit habe, dass sie hier sei? Nein, überhaupt nicht.
Ich fragte sie vorsichtig, ob es ihr etwas ausmache, wenn ich etwas Gemüse um sie herum ernten würde. Sie erkannte mein Dilemma und sagte, dass es ihr überhaupt nichts ausmache, dieses Gemüse habe ja kein Bewusstsein.

Mit zwei Zucchini in der Hand fragte ich sie, warum gerade sie ein Bewusstsein hatte. Sie antwortete mir, dass sie nicht immer eine Tomatenstaude gewesen sei. Sie hatte sich nur vor kurzem wie eine Tomatenstaude gefühlt und da sei sie eine geworden. Sehr seltsam, dachte ich mir. Aber ich musste sie weiter mit Fragen löchern, verständlicherweise war ich sprechende Tomatenstauden nicht gewöhnt.
Ich fragte, wie sie es geschafft hatte, eine Tomatenstaude zu werden. Sie antwortete, dass sie diese Frage schon beantwortet habe. Sie hatte sich einfach danach gefühlt.
Meine nächste Frage war, wie sie es schaffte, zur Tomatenstaude zu werden, wenn sie sich danach fühlte.
Es erfordere ein wenig Übung und Geduld, erzählte sie mir, aber wenn ich wollte, könne sie mir gerne zeigen, wie das geht. Allerdings etwas später, sie werde bald abreisen.
Aber sie werde in unbestimmter Zeit wieder zu mir kommen und mir beibringen, wie ich zur Tomatenstaude werden könne.
Ich musste sie noch fragen, ob diese Verwandlungen nur auf Tomatenstauden begrenzt seien. Nein, ich sei ein Dummkopf, das sei natürlich auf jede beliebige Form erweiterbar.
Woher sollte ich denn das wissen? Ich würde gerne einmal ein Koala sein. Das sei natürlich auch möglich, sagte sie mir lachend. Aber erst, wenn sie wieder zurück von ihrer Reise war. Sie antwortete mir nicht auf die Frage, wohin ihre Reise ging. Das sei völlig unwichtig, erklärte sie mir.

Fünf Monate dauerte es, bis Yuna wieder bei mir aufkreuzte. Dieses Mal hatte sie ihre menschliche Gestalt angenommen.
Nach fünf Monaten der Ungewissheit, in denen ich fast jeden Tag Ausschau nach einer Tomatenstaude in meinem Garten hielt, stand sie also plötzlich vor meiner Tür und sagte, sie sei Yuna. Anfangs war ich etwas verwirrt und wusste nicht, was die fremde Frau von mir wollte, denn die Tomatenstaude hatte mir bei unserer letzten Begegnung ihren Namen gar nicht verraten. Sie sagte, es sei so leichter, mir die Kunst der Verinnerlichung, wie sie es nannte, beizubringen. Ich musste ihr zustimmen. Yuna hatte rote, lockige Haare und stets ein Lächeln im Gesicht. Sie trug ein schwarzes Kleid, das aussah, als hätte sie es geradewegs aus der Renaissance mitgebracht. Mein Name sei übrigens Tiam, sagte ich ihr. Ein schöner Name, befand sie. Tiam und Yuna.

Nun standen wir also in meiner Wohnung und Yuna begann, mich in die Kunst der Verinnerlichung einzuführen.
„Also, wie funktioniert das? Wie soll ich mir das vorstellen?“
„Stell dir vor, was du willst. Es gibt keine Grenzen. Aber beginne mit etwas Einfachem.“
„Und womit ist es einfach zu beginnen?“
„Hm. Stell dir vor, du bist dieser Tisch da drüben. Versuche, dich zu fühlen wie dieser Tisch.“
„Und wie fühlt sich ein Tisch?“
„Das musst du herausfinden. Stell dir vor, wie es sich anfühlen würde, auf vier harten, unbeweglichen Beinen zu stehen. Stell dir vor, wie es sich anfühlen würde, einfach nur aus Holz zu bestehen. Du musst dich in den Tisch hineinversetzen.“
Ich strengte mich zehn Minuten an, während Yuna mich gespannt beobachtete. Zu einem Tisch wurde ich trotz meines roten Kopfes nicht.
„Habe ich mich irgendwie verändert?“
„Nein. Aber das ist ganz normal für den Anfang. Es wird eine Weile dauern, bis du es schaffst, dich wie ein Tisch zu fühlen. Und vergiss nicht, du musst auch wirklich wollen, zu einem Tisch zu werden! Und lass dich nicht entmutigen.“

Yuna rieb sich die Augen und gähnte.
„Ich bin sehr müde. Wo kann ich mich denn schlafen legen?“
Ich war überrascht über das abrupte Ende meiner ersten Lehrstunde. Ich bot ihr an, auf meiner Couch oder in meinem Bett zu schlafen. Sie legte sich in mein Bett und schlief sofort ein, nachdem sie mir auftrug, es einfach weiter zu versuchen, bis sie wieder aufwachte.

Ich kehrte zurück in mein Wohnzimmer und versuchte die nächsten drei Stunden, mich wie ein Tisch zu fühlen. Ich strengte mich an, strich zärtlich mit der Hand über das lackierte Holz und stellte mich auf alle Viere, um mich besser in meine Rolle als Tisch hineinversetzen zu können.
Ich machte eine kurze Pause, aß etwas Suppe in der Küche und begab mich gleich wieder zum Objekt meiner Begierde.
Langsam wurde ich ungeduldig und hoffte, das Yuna bald wieder aufwachen würde. Diese Hoffnung erfüllte sich allerdings bis zum nächsten Tag nicht. Währenddessen versuchte ich weiter, zum Tisch zu werden, schlief ein paar Stunden auf der Couch und frühstückte.
Yuna kam in einem Nachthemd, von dem ich keine Ahnung hatte, wo sie  es herhatte, da sie ohne Gepäck bei mir aufgekreuzt war, gähnend ins Wohnzimmer und traf mich auf allen Vieren stehend neben dem Tisch an. Ich hatte schon starke Schmerzen in den Knien.
„Ich schaffe es einfach nicht.“
„Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben. Du musst es immer weiter versuchen. Weißt du wie lange es bei mir gedauert hat, bis ich mich das erste Mal verwandelte? Drei Wochen.“
Entmutigt ließ ich den Kopf hängen. Das würden meine Knie nicht durchhalten.
„Kann ich nicht zwischendurch versuchen, etwas anderes zu sein?“
„Ja, das ist eigentlich keine schlechte Idee. Versuche einfach ein paar Sachen und bleib bei dem, wo du denkst, dass du dich am besten einfühlen kannst.
Ich sah mich im Raum um. Mein Blick blieb bei meiner Stehlampe hängen. Yuna bemerkte es.
„Ja, das ist auch gut, nicht zu kompliziert. Alles, was du dir vorstellen musst, ist, wie du bewegungslos dastehst und dein Kopf hell leuchtet. Mehr oder weniger.“ Sie lächelte mich mit ihrem großen Mund an.

Die nächsten zwei Wochen verbrachte also ich die meiste Zeit mit meiner Stehlampe. Ab und zu versuchte ich auch, mich in andere Gegenstände hineinzuversetzen, doch ich kehrte immer wieder zur Stehlampe zurück, da ich mich mit ihr am besten identifizieren konnte. Hin und wieder kam Yuna hereingetänzelt und gab mir Ratschläge, wie ich mich am besten in Gegenstände hineinversetzen konnte. Den Hauptteil der Arbeit, betonte sie, müsse aber ich machen und meinen Sinn zur Verinnerlichung trainieren. Ich hatte keine Ahnung, was Yuna den Rest der Zeit trieb. Auch auf meine Anfragen hin, mir die Verinnerlichung dieser Stehlampe vorzuzeigen, entgegnete sie, das wäre für meinen Lernprozess nicht förderlich.
Zwei Wochen vergingen, und ich machte noch immer keine Anstalten, die Form zu ändern. Yuna bemerkte meine sinkende Moral und ermutigte mich immer wieder. Ich solle nicht aufgeben, sie merke schon, wie gut ich darin war, mich in Gegenstände um mich herum hineinzuversetzen.

Nach drei Wochen, ich war gerade dabei, mit meiner Stehlampe zu sprechen, und ihr das Geheimnis ihres Befindens zu entlocken, geschah etwas Seltsames.
Meine Füße und Beine fühlten sich plötzlich sonderbar kalt und hart an. Ich sah nach unten und entdeckte einen Metallsockel mit zwei Metallstäben an der Stelle, an der eigentlich meine Füße sein sollten. Mein Herz begann zu rasen und ich begann zu zittern. Die ganze Aufregung lenkte mich aber davon ab, mich wie die Lampe zu fühlen. Kurz darauf blickte ich wieder auf meine normalen Füße hinunter und wackelte mit den Zehen. Doch das machte mir überhaupt nichts aus. Ich hatte es geschafft, meine Füße in die meiner Stehlampe zu verwandeln.

Ich rief laut nach Yuna, doch sie kam nicht. Sie war wohl wieder auf einem ihrer mysteriösen Ausflüge, die mehrere Tage dauern konnten.
Ich konnte vor Freude kaum stillstehen. Kurz zuvor hatte ich schon fast die Hoffnung aufgegeben und wollte Yuna eine Schwindlerin schimpfen, wenn sie dagewesen wäre. Nun war ich froh, dass sie es nicht war. Ich musste mich wieder beruhigen und mich konzentrieren. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, was genau ich vorhin gefühlt hatte. Ich strengte mich an, doch ich blieb in meiner menschlichen Gestalt. Da fiel es mir ein, ich hatte es durch die Aufregung ganz vergessen. Ich hatte mir vorgestellt, was Lampen zueinander sagen würden, wenn sie sprechen könnten. Ich hatte einen ganzen Dialog gesponnen.

Ich versuchte, mich daran zu erinnern. Lampenstimmen erklangen in meinem Kopf. Meine Füße begannen wieder kalt zu werden und sich anzufühlen, als seien sie aus Metall. Das lag daran, dass sie mittlerweile wirklich aus Metall waren. Mein Herz begann wieder zu rasen, aber diesmal ließ ich mich davon nicht ablenken und schloss die Augen. Das kalte, metallische Gefühl begann, an meinen Beinen hochzukriechen, erreichte meine Leistengegend, kroch weiter und hatte schließlich meinen ganzen Körper eingenommen.
Ich versuchte die Augen zu öffnen, doch ich hatte keine Augen mehr. Ich war zur Lampe geworden. Ich konnte es nicht fassen. Ich wollte nach Yuna rufen, doch ich konnte nicht schreien. Stattdessen spürte ich, wie die Glühbirne in meinem Kopf begann, hell und wieder dunkler zu werden. Da spürte ich Erschütterungen im Parkettboden, auf dem ich stand.

Yuna war zur Tür hereingekommen. Sie lief auf die Stehlampe zu, die mitten im Raum stand und umarmte sie. Zumindest fühlte es sich so an. Ich war überglücklich und blieb noch etwa fünf Minuten in Lampengestalt. Dann verwandelte ich mich zurück. Yuna stand vor mir und strahlte mich an. Ich umarmte sie und bedankte mich etwa zwanzig Mal bei ihr.
„Keine Ursache. Es macht mit immer eine Riesenfreude, diese Kunst zu lehren. Aber dein Lernprozess ist nicht vorbei. Du hast noch viel zu lernen! Zum Beispiel, wie man spricht, wenn man keinen Mund hat, wie man sieht, wenn man keine Augen hat.“
Ich bedankte mich erneut und ließ sie los.
Yuna sagte, ich brauchte sie jetzt nicht mehr und verabschiedete sich am nächsten Tag, nachdem sie noch einmal in meinem Bett geschlafen hatte. Ich hatte mich mittlerweile an die Couch gewöhnt.

Jedes Mal, wenn wir uns in den nächsten Jahren begegneten, war ich besser geworden und ich konnte immer schneller immer mehr Sachen verinnerlichen. Hortensien, Autoreifen oder Laserdrucker waren kein Problem mehr. Ich übte jeden Tag fleißig. Mittlerweile traue ich mich zu behaupten, ein Meister in der Kunst der Verinnerlichung zu sein. Ich habe Yuna schon seit ein paar Jahren nicht mehr gesehen, aber ich bin mir sicher, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis wir uns wieder über den Weg laufen. Wahrscheinlich sind wir es auch schon und haben und nur nicht erkannt. Ich bin ihr unendlich dankbar und hoffe, sie hat ihr Wissen auch an andere weitergegeben. Bis jetzt habe ich aber noch keine anderen Verinnerlicher kennenlernen dürfen.

So habe ich also gelernt, mich in beliebige Gegenstände zu verwandeln. Ich bin in der Welt herumgekommen und habe schon die Gestalt unendlich vieler Gegenstände angenommen. Und natürlich war ich auch schon ein Koala und habe mir Eukalyptusblätter in den Rachen gestopft. Vielleicht bin ich ja gerade das Blatt Papier in deiner Hand, der Stift auf deinem Tisch oder die Tür dort drüben.
Fang einfach damit an, Gegenstände um dich herum anzusprechen, vielleicht bekommst du bald eine Antwort von einem von ihnen und wenn du nett bist, bringt er dir vielleicht auch bei, wie du dir etwas verinnerlichen kannst.

Samuel Deisenberger

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 15050