Wie im Film

Ich fühle mich auf meinem Balkon gerade wie in einer Theaterloge. Ich habe direkte Sicht auf das Geschehen, das in meiner Straße gleich stattfinden wird. Die beiden Menschenmassen sind nur mehr hundert Meter voneinander entfernt.
Zwei rauchende, brüllende Organismen, die sich die Häuserschlucht entlangwälzen, um wohl genau unter meinem Balkon aufeinanderzutreffen. Loyalisten auf Oppositionelle, Rechte auf Linke – eigentlich es ist mir egal, wie sich diese Leute nennen, ich will mit keinem von ihnen etwas zu tun haben.

Die spärliche Polizeitruppe, die die Leute auseinanderhalten sollte, hat sich in Sicherheit gebracht. Es sieht nicht so aus, als ob bald Verstärkung kommen würde, niemand hat diese Massen an Menschen erwartet. Die Schlachtrufe werden lauter und aggressiver. Die vordersten Reihen beider Seiten haben sich verhärtet, es gibt kein Zurück mehr.
Ich stehe da, jeder einzelne meiner Muskeln ist angespannt, die dritte Flasche Bier zittert halbvoll in meiner Hand. Um mich herum stehen die Leute ebenfalls auf ihren Balkonen und verfolgen gebannt das Geschehen auf der Straße. Manche haben ihr Handy auf das Spektakel gerichtet. Ich versuche mir auszumalen, was passieren wird, wenn die beiden Gruppen aufeinandertreffen. Baseballschläger, Stahlrohre und Schlagstöcke ragen auf beiden Seiten aus der Menge. Der Hass, der in der Luft liegt, scheint diese dickflüssig zu machen. Aber es liegt wohl eher an den Schwefeldämpfen der Signalfackeln, die auf beiden Seiten brennen. Ich frage mich, wie viele Tote es geben wird.

Da sehe ich die beiden auf der rechten Seite. Ein Vater mit seinem kleinen Sohn wird in der ersten Reihe zwischen Sturmhauben und Motorradhelmen vor den anderen hergeschoben. Verzweifelt versucht er, sich und das Kind weiter nach hinten zu bringen, doch die anderen sind zu dicht aneinandergedrängt.
Niemand scheint sie zu beachten. Ich werde wütend. Was will dieser Idiot mit seinem Kind hier? Jeder wusste, dass es so enden würde.
Fünfzig Meter. Die besonders Kräftigen können mit ihren Steinen schon fast die andere Fraktion erreichen.

Der Vater hat es geschafft, sich in die zweite Reihe zu drängen, wird einfach mitgerissen. Man sieht, dass er in dem Gedränge Angst um seinen Sohn bekommt und sich wieder nach vorne kämpft. Das Kind taucht zwischen gepolsterten Knien und Cargohosen wieder an der Hand seines Vaters auf.
Der Junge wird zerfetzt, wenn er zwischen die Fronten gerät. Noch immer scheint niemand die beiden zu bemerken. Vielleicht ist es auch einfach allen egal. Es gibt keine Seitenstraßen mehr, keine frei zugänglichen Innenhöfe, in die die beiden flüchten könnten, nur noch Fassaden auf beiden Seiten mit versperrten Türen. Die zwei sind verloren.
Bier spritzt aus der Flasche, als ich sie auf den Boden wuchte, sie wankt, als ich durch die Balkontür in meine Wohnung springe. Ich reiße meine Wohnungstür auf und renne die Stiege vom zweiten Stock hinunter, nehme drei, vier Stufen auf einmal.

Die rechte Fraktion ist noch zehn Meter von meiner Haustür entfernt, als diese auffliegt. Ich winke dem Vater zu, brülle nach seiner Aufmerksamkeit, bin selbst erstaunt über die Lautstärke, die ich zustande bringe. Unsere Blicke treffen sich. Ich deute ihm, zu mir zu kommen. Er hat Glück, schon so weit auf meine Seite gedrängt worden zu sein. Er läuft auf mich zu, sein Sohn stolpert an seiner Hand hinterher.
Nicht einmal jetzt werden sie bemerkt. Sie fallen in die Haustür und ich schlage diese zu, als ein Pflasterstein daneben an der Hauswand abprallt.
Keuchend steht der Mann im dunklen Hausflur, er hat die Hand seines Kindes nicht losgelassen.
Dankbarkeit ist in seinem Gesicht zu lesen, und ich hoffe, dass die Entrüstung darüber, ein Kind dieser Gefahr auszusetzen, in meinem Gesicht zu lesen ist.
Schweigend stehen wir uns gegenüber. Der Lärm von draußen dringt durch die Haustür, wir sehen durch das Milchglas Schatten und Lichter herumspringen. Die beiden Gruppen haben sich erreicht, wir können es hören. Diese Geräuschkulisse kenne ich aus Filmen, jetzt in der Realität wirkt sie fast unreal.

Krachend fliegt etwas durch das Glas der Haustür an meinem Knie vorbei. Wir haben genug Zeit unten im Flur verbracht. Ich deute den beiden, mir zu folgen, und gehe die Stiege hinauf.
Unsicher folgen mir die zwei, noch immer Hand in Hand.
Im ersten Stock höre ich den Mann das erste Mal sprechen.
„Danke“, kommt es atemlos von hinten. Ich gehe weiter, drehe mich nicht um.
„Schon okay.“
Meine Wut über seine Verantwortungslosigkeit ist schon wieder fast verflogen.
Als wir in meiner Wohnung ankommen, verriegle ich die Tür.
In dem Lärm, der von draußen durch die offene Balkontür dringt, höre ich den Mann zu seinem Sohn sprechen.
Ich verstehe nicht, was er sagt. Ist mir auch egal. Mir sind auch ihre Namen egal. Mir haben sie zu verdanken, dass sie jetzt nicht zertrampelt unten auf der Straße liegen, das muss reichen.

Ich will die Balkontür schließen, doch muss ich einen Blick nach unten riskieren. Dieser Anblick hat etwas Fesselndes.
Schon stehe ich wieder am Balkon und starre in die Gewalt, die sich unter mir ausbreitet.
Zu der Geräuschkulisse kommt nun der Anblick, den ich nur aus Filmen kenne. Jeden Moment wird jemand „Cut!“ schreien, denke ich, die Statisten würden aufhören zu kämpfen, sich gegenseitig den Dreck von der Kleidung klopfen, sich anlächeln und die leblosen Körper würden wieder zum Leben erwachen.
Aber es passiert nicht. Die Statisten verausgaben sich. Besser hätte ein Regisseur es sich nicht vorstellen können.
Meine Hände sind an die Balkonbrüstung geklammert, und ich kann meinen Blick einfach nicht abwenden.
Es sieht nicht so aus, als ob die Reihen an Kämpfern bald erschöpft wären. Passiert das gerade im ganzen Land? Ich muss an meine Eltern denken, hoffentlich sind sie in Sicherheit. Es gibt nichts, das ich jetzt für sie tun kann.

Ich bemerke den Vater, der hinter mir am Balkon aufgetaucht ist. Er nimmt ebenfalls einen Platz in der Loge ein. Schweigend stehen wir nebeneinander und betrachten das Geschehen. Er umklammert ebenfalls die Brüstung, und ich kann sein Zittern spüren. Ich drehe mich zu ihm. Tränen schießen ihm in die Augen, die Angst in seinem Gesicht ist verflogen und hat der Wut Platz gemacht. Sein Sohn ist drinnen und sitzt still auf meinem Sofa.
Er nimmt seine Hände von der Brüstung und dreht sich um, kann wohl den Anblick nicht ertragen. Ich will ihm gerade zurück in meine Wohnung folgen, da dreht er sich wieder um. Er hat eine meiner leeren Bierflaschen in der Hand und wirft sie mit einem Schrei nach unten. Meine Augen folgen der Flugbahn.
Ein Mann sinkt am Kopf getroffen zu Boden. Glückstreffer.

Ich starre ihn entgeistert an. So bedankt er sich also für seine Rettung. Er beachtet mich gar nicht und hebt eine zweite Flasche auf. Er setzt zum Wurf an, aber das kann ich nicht zulassen. Ich habe nicht vor, mich an diesem Krieg zu beteiligen. Und von meinem Balkon aus wird sich auch nicht daran beteiligt. Ich packe seinen Wurfarm, er dreht sich überrascht nach mir um. Die Entschlossenheit in seinen Augen macht mir Angst. Er versucht sich loszureißen, doch ich lasse mich nicht abschütteln.
Seinen Arm und seinen Rumpf umklammert, werde ich am Balkon herumgeworfen. Er schreit mich an, ich kann ihn nicht verstehen. Sein Sohn ruft ängstlich von drinnen nach seinem Vater. Ich schaffe es, seinen Arm nach unten zu beugen, greife nach der Flasche, Speichel spritzt durch meine Zähne auf seine Jacke. Da habe ich die Bierflasche in der Hand und stoße ihn von mir weg.
Zu fest. Er stolpert nach hinten, rudert mit den Armen und fällt über die Brüstung vom Balkon. Seine Füße sind das Letzte, was ich von ihm sehe. Schon als ich eingezogen bin, habe ich mir gedacht, dass die Brüstung gefährlich niedrig ist.

Unfähig zu atmen stehe ich an die Wand gepresst am Balkon und starre das Kind an, das nach seinem Vater schreiend nach draußen gelaufen kommt und seine kleinen Hände durch das Gitter streckt.
„Fuck.“
Das ist das Einzige, was mir durch den Kopf geht.
Der Kleine schluchzt und springt hilflos auf und ab, seine Hände noch immer durch die Gitterstäbe gestreckt.
Der erste Schock klingt ab, ich kann mich wieder bewegen, springe nach vor und packe ihn, erhasche dabei einen kurzen Blick auf seinen Vater, der zehn Meter weiter unten auf dem Kopfsteinpflaster liegt.
Blut rinnt aus einer Öffnung in seinem Kopf und bildet eine Pfütze.

Ich hebe den strampelnden Jungen auf, mache drei große, hastige Schritte nach drinnen, setze ihn unsanft auf das Sofa, schließe die Balkontür und ziehe die roten Vorhänge zu. Der Junge ist schon wieder aufgestanden und trommelt an die Glastür, ich versuche ihn mit tiefer, ruhiger Stimme zu besänftigen.
Er schlägt nach mir, ich muss ihn umklammern und seine Arme unter Kontrolle bringen.
So liegen wir auf meinem Teppichboden, der Kleine schreit und windet sich in meinen Armen und ich habe keinen Schimmer, was ich tun soll. Dumpf dringt der Lärm von der Straße nach innen.
Die ersten Schüsse fallen, das Geschrei draußen wird lauter.
Ich frage mich, ob das die Polizei, das Militär oder bewaffnete Zivilisten sind. Doch dann fällt mir wieder ein, dass es mir eigentlich egal ist. Ich hoffe nur, dass von den Leuten da draußen keiner auf die Idee kommt, das Haus durch die kaputte Eingangstür zu betreten.

Samuel Deisenberger

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 17186

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