Kategorie-Archiv: Manuela Murauer

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Zeitreise

Langsam biegt sie in die Einbahnstraße ab, der Verkehr ist enorm und sie hat etwas Mühe, dem Navigationssystem zu folgen. Sie ist froh, dass die Tschechen so geduldige und unaufdringliche Autofahrer sind.

Endlich erreicht sie ihr Hotel im Zentrum von Prag und checkt ein. Die Agentur hat ihr eine nette Unterkunft reserviert, von wo aus sie zu Fuß alle wichtigen Sehenswürdigkeiten erreichen und das Auto in der Tiefgarage parken kann für die nächsten Tage. Sie hat noch genügend Zeit bis zu ihrem Termin nach dem Besuch im Museum Franz Kafka.

Mit einem kleinen Rucksack, vollgepackt mit Notizbüchern, Stiften, der Eintrittskarte fürs Museum und dem vorgefassten Interviewprotokoll verlässt Doris ihr Zimmer. Es weht eine sanfte, warme Brise durch die Straßen und Gassen, sie ist verwundert, dass Anfang Mai so angenehme Temperaturen in der Stadt herrschen. An diesem sonnigen Freitag sind viele Einheimische und Touristen auf den Straßen unterwegs, die Tische der Cafés und Gasthäuser auf den Bürgersteigen sind ausgesprochen dicht besetzt. Die geöffnete Gastronomie ist ein Segen für die Menschen nach den harten Jahren der Pandemie.

Doris holt sich ein Haarband aus der Jackentasche und knotet geschickt ihre brünetten, etwas widerspenstigen Locken zu einem Dutt. Einzelne wirbelnde Strähnen umrahmen ihren ebenmäßigen Teint und umspielen ihre grünblauen Augen. Die freudige Laune der Menschen um sie herum überträgt sich auf Doris und mit einem zarten Lächeln im Gesicht biegt sie einige Male links, dann wieder rechts durch Gassen und Einkaufsstraßen ab. Sie betrachtet die Fassaden der in gotischem oder barockem Baustil erbauten Häuser und die Blumendekorationen vor den Eingängen und Fenstern. Ihre Schritte hallen gedämpft vom abgenutzten Kopfsteinpflaster wider, in manchen farbenprächtigen Gotikfenstern spiegelt sich die Sonne und wirft bunte Farbkleckse an die gegenüberliegenden Hausreihen. Alles scheint ihr sehr vertraut, als wäre sie eine Bürgerin von Prag. Wie kann das sein? Ich bin das erste Mal hier? Kopfschüttelnd geht sie weiter und taucht in das geschäftige Treiben um sie herum ein.

Plötzlich nimmt sie eigentümliche Gerüche wahr – es riecht nach Pferdemist und Pferdeschweiß. Sie sieht sich um, bemerkt aber keine Kutschen in der Nähe, auch eine Pferdestallung kann sie nicht ausmachen in der unmittelbaren Umgebung. Ein leichtes Gefühl von Verwirrung macht sich in ihr breit. Nicht ein einziges Mal muss sie Google Maps auf ihrem Handy bemühen, sie kennt jede Gasse, jeden Platz, die Brunnen, Pulvertürme, Kirchen und kleinen Parks. An der Ecke Zelezna zum historischen Rathaus bleibt sie jäh stehen. Ihr Atem stockt, ist schwer, sie fühlt sich eingeengt im Brust- und Taillenbereich, als wäre sie von einer Zange umklammert. Sie lehnt sich an die Hausmauer und schließt die Augen. Du musst etwas trinken, das ist nur der Kreislauf nach der langen Autofahrt!

Doris überquert den überfüllten alten Rathausplatz und schlängelt sich geschickt durch die engen Gassen auf den Weg zur Karlsbrücke. Das heimelige Rauschen der Moldau unter ihr lässt Bilder in ihrem Kopf entstehen … – vor ihrem inneren Auge sieht sie eine junge Frau mit Sonnenschirm, breitkrempigem Hut und knöchellangem Rüschenkleid vergnügt die Brücke entlanglaufen Richtung Malá Strana …

Sie braucht dringend ein stilles Plätzchen. Sie weiß auch schon wo, nämlich in dem kleinen, abgeschiedenen Innenhof mit den von Efeu überwucherten Mauern und den schattenspendenden Lindenbäumen auf der Kleinseite von Prag, sie schreitet zügig weiter. Ein einziger Tisch ist noch frei vor der Bühne, wo gerade eine Jazzband, bestehend aus drei Mann mit Kontrabass, Saxophon und Gitarre, eine leise Melodie mit sanftem Blues-Einfluss zum Besten gibt.

Um ihren Kreislauf anzukurbeln, bestellt sie Espresso und Cola. Doris lauscht der wohltuenden Musik. Die Vögel zwitschern in den Bäumen, Insekten surren an den Linden- und Efeublüten, langsam beruhigt sie sich wieder. An den Nebentischen wird gegessen, getrunken, gelacht und diskutiert. Aber halt! Viele Gäste sprechen tschechisch! Und: Doris versteht jedes Wort dieser ihr bis zum heutigen Tag fremden Sprache. Jak je možné, že rozumím česky? Wie ist es möglich, dass ich Tschechisch verstehe?

Wieder überkommt sie dieses einengende Gefühl in der Brust, sie ruft den Kellner, bezahlt und verlässt das Gartenlokal. In einigen Minuten Fußmarsch erreicht sie auch das Museum Franz Kafka in der Cihelná 2. Ein kurzer Blick auf die Uhr verrät ihr, dass sie den Zeitplan perfekt einhalten kann und pünktlich zum Treffen mit anderen Journalisten im Garten des Wallensteinpalastes eintreffen wird.

Die Räume, Gänge und Treppen des Museums sind unglaublich dunkel gehalten, teilweise schwarz tapeziert, leise Musik aus dem Hintergrund verleiht dem Ambiente eine rätselhafte, leicht bedrohliche Stimmung. Den Museumsbetreibern ist es perfekt gelungen, das Kafkaeske dieser Ausstellung dem Besucher zu vermitteln. In einigen Nischen werden in Schwarz-Weiß gedrehte Filme an schwarze Leinwände projiziert, die einen Einblick in das Leben in Prag um die Jahrhundertwende gewähren. Die Präsentation beinhaltet auch Glasvitrinen mit Originalausschnitten von Kafkas Tagebüchern und Briefen. Doris liest aufmerksam die Zeilen und sie erschaudert, die seelische Zerrissenheit und tiefe Trauer von Franz Kafka gehen ihr nahe. Im Hintergrund hört sie leise Musik von Friedrich Smetana, die Museumsbesucher schlendern ruhig über die knarzenden Holzdielen, kaum jemand spricht oder unterhält sich, jeder scheint in Gedanken versunken zu sein, in eine Welt voll Tristesse, Melancholie.

Doris wendet sich der Stiege zu, die ins Erdgeschoß zum Ausgang führt, sie muss sich am Treppengeländer festhalten, die Beleuchtung ist dürftig. Kurz vor der letzten Stufe spürt sie einen dumpfen Schlag gegen ihre Stirn, sie hat sich an einem Balken den Kopf kräftig gestoßen. „Zatracený“, verdammt, entfleucht es ihrem Mund. Sie fasst an die schmerzende Stelle und fühlt auch schon ein warmes zartes Rinnsal über ihrem Nasenflügel.

Schnell packt sie Jacke und Rucksack aus der Garderobe und eilt in den sonnigen Hof vor dem Museumseingang. An einer schattigen Parkbank nimmt sie Platz und sucht nach Taschentüchern. Doris atmet tief durch, lehnt sich an die Hausmauer, drückt das Tuch an ihre Stirn und schließt die Augen.

Ein leichter Wind zieht durch die Gassen in den Innenhof in der Malá Strana, ihre salopp nach hinten gekämmten nackenlangen Locken schlüpfen unter dem kleinen Glockenhut hervor. Ihr violetter Rock aus weitem Jersey schmiegt sich an ihre Knie, ein schmaler Gürtel betont ihre Taille. Die hochgeschlossene weiße Satinbluse schimmert im Sonnenlicht und ihre Finger der linken Hand spielen mit einer beigefarbenen langen Perlenkette. Ein schelmisches Lächeln umspielt ihre vollen, rot geschminkten Lippen. Das Paar sitzt auf der Parkbank und beobachtet das rege Treiben auf den Straßen, Hufgetrappel auf dem Kopfsteinpflaster ist zu hören und kündigt eine Pferdekutsche an, dicht dahinter klingelt die Straßenbahn.

 „Was für ein herrlicher Tag, meine Liebe!“, flüstert ihr František ins Ohr, sein rauer Atem kitzelt ihren Hals. Er drückt ihre rechte Hand, die auf seinem Schoß liegt. Der Wollstoff seiner anthrazit-grauen Hose mit goldbrauner Streifenoptik ist angenehm weich auf ihrer Haut. Aus der Tasche seiner hochgeschlossenen Weste baumelt eine goldene Uhrkette, das Einstecktuch und die Krawatte sind mit ihrem violetten Rock abgestimmt. Er rückt sich den grauen Fedora-Hut mit mittelbreiter Krempe und dunkelgrauem Hutband zurecht, beugt sich vor und küsst sie.

 „Aber František, doch nicht vor allen Leuten“, flüstert sie, wirft den Kopf in den Nacken und lacht.

„Hallo? Geht es Ihnen gut? Ist alles in Ordnung, gnädige Frau?“ Eine Hand liegt auf Doris’ Schulter und drückt sie sachte. Sie öffnet die Augen und sieht eine ältere Dame mit besorgter Miene vor ihr stehen.

„Ja, danke. Es ist alles in Ordnung. Ich habe mir nur den Kopf gestoßen. Das wird schon wieder.“ Doris betrachtet das Taschentuch, die Wunde hat aufgehört zu bluten.

„Komm, trinken Sie ein Gläschen Absinth, ich habe es gerade aus dem Haus geholt, als ich Sie hier sitzen sah.“ Das hellgrüne Wermutgetränk erfrischt ihren Gaumen und die Kehle abrupt, ein kleines Feuerwerk schießt indessen in ihren Kopf. Sie blickt auf ihre Uhr und erschrickt.

„Vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen, aber ich muss jetzt dringend zu meinem Termin!“

Die meisten Plätze sind schon besetzt, und am Podium haben sich die Diskussionsleiter bereits eingefunden. Kurzer Check der Mikrofone, Doris zückt ihren Block und ihre Interviewfragen, startet ihr Aufzeichnungsgerät und atmet tief durch. Einige wenige Journalisten sind ihr aus anderen Literaturdiskussionen bekannt, sie winkt ihnen höflich zu. An den Tischen auf der Seite sieht sie Bücher ausgestellt von Franz Kafka. Eigenartig – es sind zahlreiche Bände dabei mit farbenfrohen Bildern von Gustav Klimt auf dem Cover. Von einigen Titeln hat sie noch nie gehört. Ist sie denn auf dem richtigen Meeting?

„Meine Damen und Herren, ich darf Sie herzlich begrüßen zur Literaturdiskussion über Franz Kafka …!“

„… er war ein lebensfroher Mensch mit herrlich humorvollen Romanen und zarten Liebesbriefen an seine geliebte Dora …!“

„… er war ein Ausnahmetalent, der erst in späten Jahren, von einer tiefen Melancholie kommend, jedoch über die Liebe zu Dora zu einem herausragenden Schriftsteller wurde …!“

„… Franz Kafka war hoch geschätzt und hat zu Lebzeiten zahlreiche Werke verkauft, er konnte bis ins hohe Alter mit seiner Frau ein gesundes, glückliches und wohlhabendes Leben hier in Prag führen …!“

Doris schüttelt den Kopf und hebt ihre Hand:

„Entschuldigen Sie bitte, aber von welchem Franz Kafka sprechen Sie? Er wurde nicht alt, er war schwer lungenkrank, vermutlich auch depressiv, … und vermögend war er schon gar nicht. Und von welcher Dora sprechen Sie?“

Die Gäste auf den Rängen vor ihr drehen sich um zu Doris, sie lächeln, scharren verlegen mit den Schuhsohlen auf dem Kieselboden und vereinzelt ist ein Räuspern zu hören.

„Aber nein! Nein! Wir sind doch heute hier, um über die wunderbare Literatur von Franz Kafka zu sprechen und über die großartige Wende in seiner zweiten Lebenshälfte, als er Dora Diamant kennenlernte! Wie ist denn Ihr Name, gute Frau, und für welchen Literaturbetrieb schreiben Sie?“ Der Diskussionsleiter ist nun von seinem Platz aufgestanden und betrachtet sie interessiert.

Alle Farbe weicht aus Doris’ Gesicht, eine Gänsehaut macht sich auf ihren Unterarmen breit, sie fühlt die Blicke in ihrem Rücken wie brennende Speere.

„Ich, … also ich, … mein Name ist Doris … Doris Diamant!“

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23143

Spruchkarten

Mein Mann hat einen Termin in Linz und ich werde ihn begleiten. Ein Paarkurzausflug sozusagen, in die Landeshauptstadt. Ich muss bedauerlicherweise zugeben, dass ich Linz nicht sehr gut kenne, deshalb planen wir unseren Ausflug so, dass mir mein Mann noch vor seinem Termin den Hauptplatz, die „Landstraße“ (Fußgängerzone) und Umgebung in groben Zügen zeigen kann, damit frau sich nicht verläuft. Nicht lachen! Das könnte bei mir durchaus möglich sein, ich bin eine geographische Wildsau. Mein Handy lade ich im Auto auch noch gleich voll auf, damit ich wenigstens jemanden anrufen kann, wenn ich mich verirrt habe. Oder Google Maps mir weiterhelfen kann. Als ich mit meinen Töchtern voriges Jahr in Prag war, hat sich unsere Jüngere meist um die Orientierung via App gekümmert und wir haben problemlos überall hingefunden – wenn ich an meine Jugend denke, saßen wir bei unseren Urlauben und Ausflügen immer mitten unter riesengroßen Stadtplänen und dicken Reiseführern. Ich hab immer ans Ziel gefunden und auch wieder heim. Muss auch mal gesagt werden.

Natürlich brauche ich all das in einer kleinen Stadt wie Linz nicht. Ganz sicher nicht, versichert mir mein Mann. Er muss es wissen, immerhin ist er in der Landeshauptstadt fünf Jahre in die HTL gegangen und sein Weg vom Internat in die Schule und zurück bzw. zum Bahnhof führte hauptsächlich über die Landstraße und deren Seitengassen.

So marschieren wir eingehakt los und schlendern über den Hauptplatz, vorbei an der Pestsäule und rein in die Landstraße. Der Wind weht uns um die Ohren, es ist März und die Sonne steht zwar am Himmel, aber hat noch zu wenig wärmende Kraft. Vor etlichen Kaffeehäusern sind schon die Schanigärten aufgebaut mit Decken auf den Stühlen, aufgespannten Sonnenschirmen und Eiskarten auf den Tischen. Die Menschen mit Daunenjacke, Haube und Schal und die sommerlich anmutenden Kaffeehäuser, ein eigenartiger Kontrast.

Langsam schlendern wir entlang der Geschäfte über die Fußgängerzone, wie ein altes Ehepaar. In diesem Fall ist das keine Floskel, es ist Tatsache. Ich liebäugle mit einigen Schuh-, Kleider- und Schmuckgeschäften, denen ich insgeheim verspreche, ihnen einen Besuch abzustatten, sobald mein Mann in seinem Termin ist und ich in Ruhe shoppen gehen kann. Immerhin ist morgen „Weltfrauentag“ und wieso soll frau sich nicht selber was schenken? Vor einigen Gebäuden bleibt mein Mann stehen, hauptsächlich vor Gasthäusern, wie mir scheint.

„Hier haben wir nach der Matura noch ein paar Bier getrunken, bevor ich in den Zug gestiegen und heimgefahren bin.“ Nach einigen Metern weiter: „Und hier war unsere Maturafeier! Wahnsinn, das Lokal gibt es noch immer.“ Nach wieder einigen Metern, am Ende der Landstraße, bleibt er vor einem Eckhaus stehen, in dem ein türkischer Einkaufsladen eingemietet ist.
„Hier war früher das Goethekaffee, da waren sehr viele Schulschwänzer anzutreffen.“ „Und du warst dabei?“ „Nein, ich war da nie!“ „Woher weißt du es dann?“ „So was weiß man doch!“
Nicht, dass ich meinem Mann nicht glaube, aber ich weiß zum Beispiel auch, in welchem Kaffeehaus man früher in meiner Heimatstadt Schulschwänzer angetroffen hat, und warum weiß ich das? Eben!

Wir haben noch etwas Zeit und mein Mann möchte nun die Goethestraße runtermarschieren und schauen, ob „seine“ Schule da noch immer zu finden ist. Die war scheinbar früher schon uralt und er kann sich kaum vorstellen, dass da noch immer unterrichtet wird.
„Das ist die HTL für Hoch- und Tiefbau und das Gebäude ist baufällig?“, frage ich ihn. „Nein, baufällig nicht, aber es war vor fünfunddreißig Jahren schon altbacken.“
„Vor wie vielen Jahren?“ Mein Mann kann sehr gut Kopfrechnen, viel besser als ich, aber nun ist er stutzig geworden und bleibt stehen.
„Ohjeee, das war ja schon vor vierundvierzig Jahren!“ Mir scheint, es ist ein wenig Farbe aus seinem Gesicht gewichen. Ja, wir werden eben nicht jünger.

Mittlerweile ist mir angenehm warm von unserem Fußmarsch, meine Füße schmerzen und der Wind pfeift uns noch immer um die Ohren. Daheim liegen unsere Pulsmessuhren, verstaubt in einem Schrank und nicht aufgeladen, weil wir sie so selten tragen. Heute hätte mir meine Uhr sicher einen Pokal aufs Display gemalt, so viele Schritte sind wir schon gelaufen.
„Jetzt sind wir hier, schau mal, das gelbe große Gebäude da unten!“ Ich bin schwer beeindruckt, es ist immer noch da. Es ist nicht verloren gegangen und auch nicht abgehauen.
„Sieh mal, das war unser Haupteingang.“ Ehrfurchtsvoll bleibt mein Mann vor der großen Eingangstür stehen, die von zwei stattlichen alten Säulen umrahmt ist. Er blickt die Fensterfront empor und lehnt sich etwas zurück. Ich kann seine Gedanken förmlich lesen. Da hängen halt schon Erinnerungen dran, kann ich verstehen.
„Fünf lange Jahre, unglaublich viele Stunden am Büffeln und Lernen.“ Mein Mann schwelgt in Erinnerungen.

An der Hausmauer hinter einem Strauch steht ein älterer Herr und tippt in sein Handy. Aus dieser kurzen Distanz kann er unserer Unterhaltung sicher folgen. Nach fünf Minuten kommt er an uns vorbei und fragt:
„Kann ich irgendwie behilflich sein?“ Das ist sicher ein Professor oder Ingenieur, bestimmt kein Schüler, für einen Schüler ist er definitiv zu alt.
„Nein, danke, ich bin nur hier vor … vor vierundvierzig Jahren in die Schule gegangen“, entgegnet mein Mann. Erst jetzt bemerke ich den Bart und die Frisur unseres Gegenübers, ein grauer Fünf-Tage-Bart und grau melierte Haare, ähnlich wie bei George Clooney – entfernt ähnlich! Und ähnlich wie bei meinem Mann. Tragen alle älteren Bauingenieure graue George-Clooney-Bärte? Ich muss schmunzeln.

Nachdem wir dann noch den Weg über den Mariendom – mein Mann hat ja nicht nur berufsbedingt ein Faible für Architektur – und in die Seitengasse, wo früher „sein“ Internat untergebracht war, zurückgelegt haben, biegen wir in die Herrenstraße ein. Mir kommt diese Gasse so bekannt vor. Ich grüble und überlege und sehe nebenbei in die Schaufenster der Antiquitätengeschäfte, Kunstgalerien und der noblen Kleidergeschäfte. Vor einem herrlich bunten Sommerkleid, dekoriert mit Hut, bleibe ich stehen und betrachte das Preisschild. Wie Schuppen fällt es mir von den Augen – ja klar, die Herrenstraße ist auch auf dem Spielbrett von Monopoly drauf und jetzt weiß ich auch, wieso. Wenn man sich dort ein Haus oder ein Hotel kauft – bei Monopoly – braucht man schon wirklich dick Scheine.

Nach einem sehr guten österreichischen Mittagessen in der Rathausgasse muss mein Mann zu seinem Termin. Die Frau wird sich selber überlassen, weil sein Termin in der anderen Richtung ist. Aber Hauptplatz, Landstraße, Graben und Herrenstraße (gut, da werde ich wahrscheinlich eher nicht einkaufen gehen), sind jetzt mein Reich! Ganz alleine shoppen gehen hatte ich schon ewig nicht mehr. Das erste Schuhgeschäft erscheint in meinem Blickwinkel. Wenn ich an meine schmerzenden Füße denke, und daran, dass sie sicher angeschwollen sind in meinen Turnschuhen nach dem langen Fußmarsch, verzichte ich auf eine Schuhanprobe. Vermutlich gibt es eh keine italienischen Schönheiten in meiner Größe zu kaufen. Ich habe zwar die Hoffnung noch nicht gänzlich aufgegeben, nachdem ich seit über neunundzwanzig Jahren keine High Heels mehr (ver)trage, dass ich doch noch einmal an ansehnliche Schuhe komme, aber heute muss es nicht unbedingt sein.

Das Kleidergeschäft betrete ich zwar, aber nach anstrengenden, heißen, stickigen zehn Minuten flüchte ich. Eine plötzliche Hitzewallung hatte meinen Körper erfasst und die Verkäuferin hat mit mitleidigen Blicken von mir Maß, ähm, mich unter die Lupe genommen. Wahrscheinlich stand ich auch noch aus Versehen am Kleiderregal mit den kleinen Größen.

Nun ja. Ich schlendere weiter an der frischen Luft und biege in ein Seitengässchen ein. Dekowaren aus dem Orient und schöne Spruchkarten. Der nette Verkäufer lässt mich in Ruhe schmökern und ich sehe wunderschöne filigrane Armbänder. Bei der Anprobe dieser scheitere ich exorbitant. Für welche Frauenarme sind die wohl gemacht? Für Kinder? Um nicht unhöflich zu sein, kaufe ich dem Herrn an der Theke etwas ab. Spruchkarten. Große Liebe: Spruchkarten.

Wieder auf dem Bürgersteig zieht es mich in die Herrenstraße. Kein Mensch weiß, warum, aber ich hab da irgendwas in einem Schaufenster entdeckt, das mich sehr angesprochen hat. Nein, keine Spruchkarten – aber Sprüche! Sprüche in der Schaufensterdeko. Ich habe vergessen, sie zu fotografieren. Und mein Mann ist ja noch in seinem Termin.
Ein wenig stolz bin ich schon auf mich, ich habe auf Anhieb diese Herrenstraße gefunden. Frau hat gut aufgepasst bei der Stadtführung.
Nachdem ich mit meinem Handy die Sprüche im Schaufenster festgehalten habe (ohne die Preise zu beachten), ruft mein Mann an. Wir vereinbaren ein Treffen in einem Kaffeehaus am Hauptplatz. Ich weiß auch gleich, wie ich da jetzt wieder hinkomme und marschiere los. Kurz bevor ich dieses Café erreiche, erspähe ich einen kleinen feinen Buchladen. Gibt es was Schöneres als einen Buchladen? Ich meine nicht die großen Buchläden von großen Handelsketten, nein, ich meine kleine Buchläden, wo der Buchhändler die Leute mit Namen anspricht und ein Schwätzchen mit den Kunden hält.

Schon beim Betreten des Geschäftes überkommt mich ein angenehm wohliges Gefühl. Das ist fast wie Heimkommen, nur anders. Der Duft in solchen Läden ist unbeschreiblich. Ich kann es mir auch nicht verkneifen, über die Buchrücken zu streichen, als würde ich so die Seele des Buches ertasten können. Gelingt natürlich nicht, aber das ist ein wenig zwanghaft bei mir.
Um den netten Buchhändler, der sich gerade an der Theke mit zwei Kundinnen unterhält, nicht zu enttäuschen, kaufe ich was ein.
Spruchkarten. Er verabschiedet sich äußerst freundlich von mir, als hätte ich ein zehnbändiges Lexikon eingekauft, und wenn ich aus Linz wäre, würde er sicher meinen Namen kennen. Denn ich wäre garantiert Stammkunde.

Mit einer kleinen Einkaufstasche voller Spruchkarten laufe ich meinem Mann über den Weg. Glücklich über meine Shoppingtour, die ich alleine bewältigt habe, ohne mich zu verirren, bestellen wir Eiskaffee. Wir sitzen im Wind am Linzer Hauptplatz und ich freue mich, dass ich mich zum Weltfrauentag selbst beschenkt habe.

Wer braucht schon Schuhe?

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 23083

 

Lasst uns …

wieder Schmetterlinge im Bauch spüren,
galoppierende Pferde in der Brust hören.
Lasst uns wieder Gänsehaut über den Körper laufen,
den Ruf von Bussard und Falke im Ohr haben.
Ich will wieder Hummeln sausen sehen,
das Schweifschmeicheln des Hundes auf dem Bein fühlen.
Wir sollten wieder wie junge Geparde über Steppen flitzen,
uns im hohen Gras verstecken, wie kleine Rehkitze.
Lasst uns wieder Kunstwerke kreieren, wie die Spinnen,
oder, wenn notwendig, uns im Laub einigeln.
Gerne wieder ein fröhliches Lied trällern, wie ein Zaunkönig,
gurrend wie die Taube über den Frieden erzählen.
Heimlich, wie ein Steinmarder, durch Nächte ziehen,
und die Lauscher in den Wind recken, wie der Feldhase.
Ich würde gerne klug und scheu sein wie eine Füchsin,
und manchmal lautlos wie die Schleiereule die Umgebung erkunden.
Hie und da wär ich gerne frech, wie ein Eichhörnchen,
um mich wieder zu spüren.
Könnten wir nicht wieder ein Lächeln in das Gesicht der
Mitmenschen zaubern, wie es der Marienkäfer kann?
Wir lächeln zu wenig, grübeln zu viel, sind unsere Herzen
kalt und träge geworden, Gefühle tabu?
Wer liebt, ist verletzlich!
Aber, verdammt – das ist es mir wert.

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com/

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23072

Herbstabend

Komm, so setz dich doch her! Ich hole kühles Bier für uns.
Lass uns reden! Ich habe so viele Fragen. Lange warst du nicht mehr hier! Wo bist du denn immer?

So nimm doch Platz. Ich hole uns eine Decke und rücke nahe an dich heran. Es ist ein goldener Herbstabend hier draußen, wir müssen uns ein bisschen gegenseitig wärmen.
Weißt du noch? Als wir uns zuletzt gesehen haben? Ich habe deine Hand lange gestreichelt, dir war so kalt an diesem Abend und du hattest doch nie kalte Hände, so lange ich dich kannte.

Und weißt du noch? Unser Urlaub am Meer, da haben wir unser letztes Karlovacko Bier mitsammen getrunken. Dabei hattest du gar kein Verlangen danach. Ganz erstaunt war ich und ungläubig habe ich dir zugesehen, wie du beim Sonnenuntergang an der kroatischen Küste vor einem Teller mit gegrillten Fischen gesessen bist, appetitlos und hoffnungslos. Warum hab ich die Zeichen nicht erkannt?

Ich hätte ein paar Fragen. Wie würdest du mit der Coronakrise und deren Folgen, die gerade auf uns zurollen, umgehen? Hättest du einen Rat?

Weißt du noch? Lange ist’s her, wie du dich in wirtschaftlich schlechten Zeiten kämpferisch gezeigt hast und mit Ehrgeiz und Euphorie die Ärmel hochgekrempelt hast. Das waren deine besten Jahre. Wie zum Trotz hast du dich nie unterkriegen lassen und bist deines Weges gegangen – mit viel Mut und einer kräftigen Portion Optimismus hast du deine Ziele erreicht.

Du warst so lange weg, machst dich so rar. Komm doch öfter mal vorbei. Du weißt, ich habe immer Bier eingekühlt. Ich besorge uns Brot und Speck und Kren, den du so gerne magst, und viele Sorten Käse.

Und dann lass uns herzhaft lachen über die vergangenen Jahre und all deine Sprüche, die du immer auf Lager hattest für uns Kinder und die Enkelkinder.

Papa? Hörst du mich?

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com/

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23071

 

Beltane und ihre Pferde

Beltane holte Pfeil und Bogen aus dem Schuppen, band geschickt mit einem grünen Samtband ihre wilden roten Locken im Nacken zusammen und ging zu den Stallungen. Die Holztür knarzte und die Pferde im Stall richteten aufmerksam ihre Blicke auf die Frau. Elwood wieherte leise und scharrte mit einem Vorderhuf.

„Elwood, wir haben einen Auftrag! Du weißt es schon, oder?“ Beltane lächelte und klopfte dem prachtvollen Tier sanft den Hals. Der Hengst schüttelte sachte den Kopf auf und ab, seine Muskeln spannten unter dem glänzenden Fell und seine Nüstern waren geweitet.

Beltane öffnete nun alle Tore und die Pferde folgten ihr langsam ins Freie. Die Frau war in ein langes pinkfarbenes Kleid gehüllt und an einer Kordel um die Taille hing ein großer Leinenbeutel. Sie richtete den Blick Richtung Dach des Stallgebäudes und pfiff mit zwei Fingern.

„Falco, du kommst auch mit!“ Mit einem rauen Rufen landete der Wanderfalke auf Beltanes Schulter.

Athletisch schwang sich die Frau auf Elwoods Rücken, hielt sich mit einer Hand an der Mähne des Pferdes, drückte sachte ihre nackten Fersen an seinen Bauch und so setzten sich alle langsam in Bewegung.

„Du weißt, was zu tun ist? Gib mir immer ein Zeichen, mein Guter.“

Beltane richtete sich den Bogen, der mit dem Pfeilköcher über ihren Rücken hing, blickte den Falken auf ihrer Schulter von der Seite an und schnalzte mit der Zunge. Elwood gehorchte auf das Zeichen, galoppierte an und ein Dutzend Pferde folgte dem Leithengst.

So zogen sie in der Abenddämmerung über die Länder, mit wehenden Mähnen, donnernden Hufen und den Rufen des Falken. Beltane sang auf dem Rücken des Pferdes ein Lied in fremder Sprache und der Vollmond zeigte sich bereits am Horizont.

In der Nähe einer Kleinstadt verlangsamten sie ihr Tempo und erreichten einige Siedlungen. Elwood übernahm weiterhin die Führung, er näherte sich den Vorplätzen langsam, schritt durch Garteneingänge, hielt an und wartete ab. Die Einwohner kamen neugierig aus ihren Wohnungen, betrachteten die seltsamen Gäste und staunten. Viele waren spärlich gekleidet, hatten kranke Kinder auf dem Arm und wirkten verwahrlost. Elwood trat vorsichtig an die Kinder heran und mit seinen Nüstern blies er sachte seinen Atem über ihre Köpfe. Seine Augen leuchteten wie die Sonne und spendeten Trost und Zuversicht. Die anderen Pferde taten es ihm gleich und bald schon lachten und tanzten die Einwohner auf den Straßen und Plätzen. Falco zog einige Kreise über die Kleinstadt und landete anschließend wieder auf Beltanes Schulter.

Sie zogen weiter im Galopp in ferne Länder und Gebiete. Dort, wo Armut herrschte, hinterließen die Hufabdrücke der Tiere sofort fruchtbaren Boden. Der Schweiß, der den Pferden vom Fell tropfte, füllte ausgetrocknete Brunnen wieder mit quellklarem Wasser. In Gegenden, wo Menschen traurig und krank waren, schwebten besonders viele Schweif- und Mähnenhaare in die Lüfte. Diese Haare flochten sich die Bewohner in ihr eigenes und bald waren sie wieder mit Frohsinn und Hoffnung erfüllt.

Später in der Nacht erreichten sie eine noble Wohngegend mit pompösen Häusern und meterhohen Zäunen rund um deren Anwesen. Elwoods Atem beschleunigte sich, er stampfte mit dem Vorderhuf, stieg und wieherte laut. Falco hob sich in die Lüfte und schrille Warnrufe weckten die Menschen aus ihren Betten, die anschließend wild gestikulierend in noblen Nachtgewändern umherliefen. Beltane konnte es riechen, hier waren Macht, Gier und Respektlosigkeit zuhause. Hier lebten Menschen, die Tiere und die Natur nicht achteten. Flink griff sie nach dem Bogen und schoss gezielt ihre Pfeile auf Ferse und Knie, die die Verletzten am Davonlaufen hinderten. Die Pferde sprangen über die Zäune, zerstörten Gärten und Wohnräume und hinterließen große Verwüstung.

Der Vollmond stand hoch am Himmel, als sie dem Flug des Falken folgend in ein entferntes Land gelangten. Beltane verstreute aus ihrem Leinenbeutel Kardamom, Salbei und Veilchenwurzel, Moschus und Myrrhe. Elwood brummelte und wieherte leise und die Menschen erfüllte tiefe Liebe, Sinnlichkeit und Fülle.

Und so geschah es, dass sich in der Vollmondnacht vor dem ersten Maitag Himmel und Erde vereinten, die Menschen sich wieder liebten, Kranke geheilt wurden, die Erde wieder fruchtbar und heil war und Kriege, Pandemien, Hungersnot und Elend keinen Platz mehr fanden.

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23070

Laute Stille!

Es ist fünf Uhr früh, leise öffnet sich die angelehnte Tür, du schlüpfst hindurch und wir hören deine Pfotentritte auf dem Parkettboden des Schlafzimmers. Ich muss schmunzeln, denn es ist immer sehr spannend, welche Bettseite du wählen wirst, wo du dann die Nase auflegen wirst und in die scheinbar schlafenden Gesichter schaust. Heute bin ich an der Reihe, du hast mich ausgewählt, dir die Verandatür zu öffnen, damit du in den Garten kannst.

Ich betrachte den Sonnenaufgang am Horizont und warte, bis du mit deinem Frühmorgengeschäft fertig bist. Du läufst an mir vorbei zur Wasserschüssel, ich streichle dein weiches Fell und lege mich nochmals hin. Wir hören dich immer zufrieden seufzen, wenn du es dir dann im Hundebett in der Garderobe gemütlich machst. Ein heimeliges, freundliches, glückliches Durchatmen eines frohen Hundes.

Geschäftiges Treiben dann später in der Küche, wenn alle Hausbewohner zum Tagwerk übergehen. Die Kaffeemaschine rattert, der Wasserhahn läuft, die Kühlschranktür wird geöffnet. Das ist immer dein Code – Kühlschranktür! Nun bist du mittendrin, wuselst zwischen unseren Beinen hin und her und kannst es kaum erwarten, bis ich deine Futterschüssel mit Frühstück befülle. Mit Eifer und Appetit verschlingst du deine Ration, die Emailschüssel klappert und klirrt auf dem Fliesenboden, ein Geräusch, das unseren Tag einläutet. Ich streichle über dein weiches, wohlriechendes Fell.

Wenn ich im Sommer anschließend das Gemüsebeet gieße, kommst du immer mit in den Garten, bellst und wedelst mit dem Schweif an meiner Seite und hüpfst durch die Pferdekoppel, ganz wichtig bist du und unheimlich geschäftig. Ein paar Jahre später wirst du nur mehr still an meiner Seite stehen und warten, bis ich fertig bin.

In deinen jungen Jahren rast du anschließend über die Holztreppe in den Keller und läufst mit in den Pferdestall, kontrollierst unsere Arbeit, wie ein Vorarbeiter nimmst du alles unter die Lupe, damit wir ja nichts vergessen. Ich streichle über dein sonnenwarmes Fell.

Womöglich landet bei der Fütterung der Pferde auch etwas Kraftfutter am Boden, das verleibst du dir natürlich sofort ein. Einige Jahre später willst du lieber im Haus bleiben und dich wieder hinlegen.

Nach getaner Stallarbeit gehen wir ins Obergeschoß ins Büro, du folgst uns über die Holztreppe, rollst dich unter dem Schreibtisch zu einem Fellknäuel zusammen und schläfst ein. Wir müssen immer gut aufpassen, damit wir dich mit den lauten Bürosesseln und unseren Füßen nicht wecken. Einmal ziehst du den Stromstecker des PC’s, als du dich reckst und streckst unter meinem Tisch. Ansonsten bist du ein ruhiger, angenehmer Bürokollege und man spürt dich kaum.

Erst zur Mittagszeit, wenn ich in der Küche Essen zubereite, bist du wieder ganz wichtig bei der Sache. Codewort Kühlschranktür! Jeden Arbeitsgang beobachtest du ganz genau, es besteht ja die Möglichkeit, dass mir etwas Essbares von der Anrichte fällt, auf dem Boden vor deinen Pfoten landet. Ich brauche selten einen Staubsauger nach dem Kochen. Wie eine alte Primaballerina hüpfe ich an dir vorbei zwischen Herd, Vorratsladen, Geschirrschränken und Spüle. Nie ist es in all den Jahren passiert, dass ich aus Versehen über dich gestolpert bin. Und manchmal streichle ich zwischendurch über dein Fell.

Einige Jahre später wirst du nur mehr mitten in der Küche am Boden liegen, ein wenig dösen und abwarten, bis ich fertig bin mit dem Kochen.

An den Wochenenden oder Feiertagen nehmen wir dich am Nachmittag mit zu einem langen Spaziergang. Manchmal bist du auch der Reitbegleithund für meinen Mann, du darfst dann an seiner Seite neben dem Pferd laufen. Das sind immer deine absoluten Highlights, das übersteigt sogar noch die Kühlschranktür. Schnauze Richtung Boden, Rute in die Höhe und so ziehen wir durch Wälder, Güterwege und Landschaften. Es ist immer unglaublich spannend für dich, egal, wie oft du einen Weg schon gelaufen bist, es gibt immer etwas zu entdecken. In ganz jungen Jahren sind wir am Hundeplatz und auf Agilityturnieren mit dir. Deine Aufregung ist dann besonders groß und so ein Turniertag mit der zwölfjährigen Tochter an deiner Seite eine Riesenfreude. Du lernst ihr sehr viel in diesen Jahren: Geduld, liebevolle Konsequenz, korrekte Körpersprache, Verlässlichkeit und Fürsorge. Du wirst ihre Jugendzeit prägen und wir sind unheimlich dankbar dafür. Und sehr oft an solchen Tagen streicheln wir dein windzerzaustes Fell. Später wirst du keine Turniere mehr laufen, aber du begleitest uns auf Almhütten in die Nockberge, wanderst ruhig und unaufgeregt über sanfte Hügel mit uns, genießt den Ausblick beim Lagerfeuer an der Hütte über die Berge und vielleicht fällt manchmal auch etwas für dich ab vom leckeren Essen, ich denke da an einen vorbereiteten Eierschwammerlstrudel, der auf deiner Schulterhöhe zum Abkühlen in der Speisekammer gelagert ist. Wir lachen heute noch darüber. Überhaupt eroberst du mit Leichtigkeit und deiner eigenen Art von Humor alle Herzen unserer Freunde, Bekannten und Verwandten im Sturm.

Dein Leben auf dem Pferdehof ist ausgeglichen und routiniert, wir können die Uhr danach ablesen. Wenn wir mit der abendlichen Stallarbeit beschäftigt sind, liegst du in der Wiese vor dem Stall und wartest geduldig, du siehst den Spaziergängern und Reitern auf der Straße zu, beobachtest Schmetterlinge und im Winter spielst du mit den Schneeflocken. Nie, niemals läufst du in den angrenzenden Wald und gehst alleine auf die Pirsch. Du kennst deinen erlaubten Bewegungsradius sehr gut. Manchmal haben wir Besuch im Reiterstüberl und hier hast du einen Sonderplatz, du darfst auf einer Decke auf der Eckbank liegen. Wir streicheln dann ausgiebig dein weiches Fell. Aber nur hier im Stüberl darfst du auf der Bank schlafen, im Haus ist es nicht erlaubt und du weißt das von Anfang an. Niemals liegst du auf dem Sofa, du denkst gar nicht darüber nach – okay, ganz selten doch, wenn ein Gewitter tobt oder es stürmisch ist, dann würdest du dich doch gern zu uns auf dem Sofa an uns schmiegen. Einige Jahre später wirst du nichts mehr hören und dann plagt dich auch das Grollen eines Donners nicht mehr.

Gerne läufst du an solchen Gewittertagen auch über die Treppe in den Keller und verkriechst dich, dort ist es nicht gar so laut und bedrohlich. Überhaupt liegst du oft vor Türen und Treppen, wenn niemand daheim ist. Das Schweifwedeln fällt dann besonders üppig aus, wenn jemand heimkommt und du nicht mehr alleine bist. Wir streicheln dann extra lobend und liebevoll dein schokobraunes Fell. So herzlich begrüßt zu werden macht allen Familienmitgliedern Freude. Später werden wir Absturzgitter an den Stiegen anbringen, du kannst nicht mehr gut Treppen laufen und wir haben Angst, dass du hinunterstürzt.

Und heute sitze ich da und die Stille im Haus und am Hof ist so laut, dass es in den Ohren schmerzt. Kein zufriedenes Seufzen mehr vom Hundebett, kein klapperndes Emailgeschirr beim Fressen, keine tapsigen Pfotentritte mehr auf Holzböden und kein Bellen mehr aus dem Garten. Unglaublich laute Stille!

Vierzehn Jahre hast du uns und unseren Tagesablauf geprägt, unser Leben unheimlich bereichert. Dein weiches Fell fehlt unserer Haut, deine bernsteinfarbenen Augen bleiben unvergessen, deine Herzlichkeit und Fröhlichkeit, dein wirbelndes Wesen in jungen Jahren, dein sanftes Gemüt als Senior. Du fehlst so sehr, dass es körperlich weh tut. Du warst unser aller Schatten, Tag für Tag!

Und täglich beim Öffnen der Kühlschranktür muss ich lächeln und wenn noch manchmal Hundehaare auf unseren Socken zum Vorschein kommen, freuen wir uns ein bisschen. Und sei gewiss, wir werden dich alle nie vergessen, mein Freund!

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com/

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 23069

Hätte ich doch …

… das Gefühl, am kroatischen Meer zu sitzen, in Flaschen abgefüllt, ich könnte sie zu Hause öffnen, wenn es mir nicht gut geht.

Hätte ich doch den Duft der Olivenhaine Andalusiens in eine Holzschachtel gepackt, meine Nase könnte sich in Zeiten von Lockdowns daran erfreuen.

Hätte ich doch das Kaffeehaustreiben Roms in meine Handtasche verfrachtet, ich würde das Geräusch jederzeit herausholen, wenn es mir zu still ist.

Hätte ich doch das Rauschen der Pinien- und Zypressenbäume der Toskana in meine Hosentasche gesteckt, ich würde nach der Musik meditieren.

Hätte ich doch den kühlwitzigen Charme der Hamburger Kapitäne in meinem Repertoire, ich würde mehr Menschen zum Lachen bringen können.

Hätte ich doch das kühle Wasser des Atlantiks aus Carbo da Roca´s Sandstrand in eine Brustflasche gefüllt, ich könnte meine Stirn damit kühlen, wenn ich erhitzt bin.

Hätte ich doch den Wind der Côte d’Azur in meinen Haaren versteckt, ich müsste mir keine Sorgen mehr um die Frisur machen.

Hätte ich doch die Rezepte der ligurischen Region in mein Notizbuch geschrieben, es würde täglich ein köstliches Gericht auf dem Tisch stehen.

Hätte ich doch ein Gemälde eines Straßenkünstlers der Prager Karlsbrücke erstanden, ich könnte daheim mit der Fingerspitze über die Kontur streichen.

Hätte ich doch … nicht so viele Wünsche, die sich gerade nicht erfüllen.

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

www.verdichtet.at | Kategorie: Kleinode - nicht nur an die Freude | Inventarnummer: 21038

Sonnentanz

In staubigen Mokassins betrat Pa-Akanti den großen Platz, der sich kreisrund inmitten der zahlreich angeordneten Tipis seines Stammesvolkes bildete. Vor der Lagerfeuerstelle machte er Halt. Die langen schwarzen Haare hingen windzerzaust über seinen Rücken, die reichverzierte Lederkleidung wirkte etwas mitgenommen. Der Schamane des Kiowa-Stammes mit dem bedeutenden Namen „Stürmischer Stier“ war ein imposanter Mann mittleren Alters, hochgewachsen, schlank und sein Körper durch viele Stunden am Pferderücken stählern muskulös.
„Sei gegrüßt, Pa-Akanti. Endlich bist du zurückgekehrt von deinen geheimen Zeremonien!“ Dohasan, der Häuptling des Stammes, trat auf den Schamanen zu und klopfte ihm brüderlich auf die Schulter. Auch Dohasan machte den Kiowas alle Ehre mit seiner vornehmen Erscheinung.

Hinter den Tipis spielten Kinder, sie liefen um die Wette, manche von den Buben bedienten schon Pfeil und Bogen und wieder andere waren bereits richtig gut im Reiten. Als nun alle Pa-Akanti entdeckten, kamen sie angelaufen und brachten Holz für das Lagerfeuer, sie breiteten Bisonfelle aus, und die Frauen des Stammes kümmerten sich um Essen und Getränke. Dohasan holte seine Pfeife aus dem Tipi, und die Ältesten gesellten sich ebenso zu der Runde.
Im Hintergrund funkelte der Canadian River, der sich ruhig durch die markanten Sandsteinfelsformationen schlängelte. An den Hängen in Ufernähe wuchsen vereinzelt Kieferbäume und Wacholderbüsche, deren Duft ständiger Begleiter des Stammes war.

„Hattest du eine Vision während deiner Sonnentanz-Zeremonie, Pa-Akanti?“, richtete der Häuptling das Wort an den Heimgekehrten. Die Stammesmitglieder, die nun alle dicht gedrängt im Kreis am Boden saßen, lauschten aufmerksam.
„Diesmal bat ich die Schutzgeister, mir in einer Vision zu zeigen, welche Krankheiten uns heimsuchen könnten in den nächsten Wintern und wie ich unser Volk davor beschützen könnte. Ich hatte eine ganz besonders anstrengende Visionsreise während meines Fastens. Ich weiß nicht, welches wundersame Kraut mir Meda da in die Pfeife gepackt hat?“, er zwinkerte der alten Medizinfrau zu. Sie lachte und entblößte dabei eine Reihe von Zahnlücken.
„Ich habe in meiner Vision nicht nur die kommenden Jahreszeiten bereist, es wird wohl einige hundert Winter dauern, bis es zu solchen Bedrohungen kommt, wie ich sie gesehen habe. Dort habe ich Völker erahnt, die gänzlich verschieden leben im Vergleich zu unseren Stammesvölkern hier in der Prärie. Es herrschte Angst und Schrecken unter ihnen, sie liefen mit verhüllten Gesichtern durch den Tag. Ich sah nur ihre Augen, der Rest blieb mir verborgen. Manche hatten ängstliche, weit aufgerissene Augen, als wäre der Grizzly hinter ihnen her. Andere hatten einen verschlagenen, respektlosen Ausdruck. Doch eines war ihnen gemeinsam, sie wurden von einer unsichtbaren Krankheit bedroht, die kein Medizinmann und keine Medizinfrau abwenden konnten. Manche erkrankten so schlimm, dass sie daran starben. Andere hatten nur eine leichte Schwäche oder etwas Fieber.“

Der kleine Manipi kletterte wendig auf den Schoß des Schamanen, seine schmutzigen Hände streichelten über Pa-Akantis Gesicht.
„Wieso haben sich die kranken Menschen nicht an so einen klugen Mann wie dich gewandt? Er hätte ihnen bestimmt helfen können, Onkel.“ Ein Lächeln huschte über die Indianergesichter.
„In meiner Vision schien es, dass niemand diese unsichtbare Bedrohung abwenden konnte. Diese Krankheit schlich sich leise und unsichtbar an wie ein Puma, um dann wie ein Tornado durch das Land zu fegen.“
Meda, die alte Medizinfrau, nahm einen tiefen Zug aus ihrer Pfeife und entgegnete mit krächzender Stimme.
„Gegen Fieber wird es doch immer ein Heilkraut geben?“

Es wurde still um das Lagerfeuer, nur das Knistern des Holzes und der rauschende Fluss waren zu hören.
Langsam erhoben sich einige Frauen des Stammes und holten Maisbrot und getrocknetes Büffelfleisch. Die Kinder bevorzugten Wildbeeren, welche in Holzschalen herumgereicht wurden. Mit einem behutsamen Nicken bedankten sich die Männer und Ältesten bei den Frauen für die Fürsorge.
„Konnten denn keine Häuptlinge und Krieger diese Gefahr abwenden?“, erkundigte sich aus den hinteren Reihen eine junge Indianerin mit pechschwarzen Haaren, die kunstvoll geflochten ihren Rücken bedeckten. Pa-Akanti blickte ihr tief in die Augen und dachte lange über die Frage nach.
„Ihre Pferde waren nicht schnell genug und sie konnten sie nicht reiten, Niyaha!“, antwortete der Schamane schließlich.

Eine lange Pause entstand. Der Schamane schloss die Augen und summte eine leise Melodie. Sein Oberkörper bewegte sich im Rhythmus der Flammen, mit der geöffneten rechten Handfläche fächelte er sich Rauch über Gesicht und Haupt. Sein Ausdruck war gequält und angestrengt. Immer lauter wurde sein Summen und Singen, seine Hand zitterte kaum merklich.
„Nicht die unsichtbare Bedrohung der Krankheit wird diese Menschen zerstören. Nein, es ist ihre Lebensart, die viel gefährlicher ist. In der Früh verlassen sie ihre Behausungen, in alle Himmelsrichtungen verstreuen sie sich. Die Kinder verbringen den Tag über unter ihresgleichen, die Alten leben in extra für sie vorgesehenen Einrichtungen und nicht, wie bei uns hier, hochgeachtet unter uns. Alle scheinen sie auf der Flucht zu sein, wie eine Herde ungestümer Pferde! Nichts geschieht behutsam und bedacht bei ihnen, ihre Herzen schlagen laut und beinahe rasend, wie eine Büffelherde. Es wird eine schreckliche Zeit werden, sage ich euch.“

Der kleine Manipi, der an der Seite seines Onkels aufmerksam zugehört hatte, beugte sich über das Feuer und stocherte mit einem Stock die Flammen erneut an.
„Was suchen sie denn nur? Sind sie Jäger?“, fragte er kopfschüttelnd.
„Ja, sie werden auf der Jagd sein. Nach Gold und Silber und Reichtum. Damit sie es eintauschen können in immer größere Behausungen mit immer kleiner werdenden Clans. Sie werden einsame Wölfe sein und jaulen die halbe Nacht. Und niemand wird sie hören.“

Langsam zog die Nacht über die Prärie und vereinzelt war das Rufen der Coyoten zu hören. Die Sonne tauchte den Canadian River in ein dunkles Orange und die Pferdeherde des Stammes zog langsam und stetig das Ufer entlang auf der Suche nach Futter.
Nach und nach verließen die Stammesmitglieder das Feuer und zogen sich zurück in ihre Tipis. Nur Meda, Dohasan und Pa-Akanti saßen zuletzt noch am Lagerfeuer und hingen ihren Gedanken nach.
„Der Letzte macht das Feuer aus“, flüsterte Meda und erhob sich etwas schwerfällig von ihrem Platz.

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será?  Inventarnummer: 20123

Die letzte Fahrt

Er stand am Bug des Schiffes und hielt sich mit einer Hand am Tau der Takelage fest. Der Wind peitschte ihm erbarmungslos die Gischt ins Gesicht, seine dunklen Locken klebten auf der Haut. Seinen Kopf gegen den Himmel gerichtet, flehte er die Götter an, die Meeresbewohner zu beruhigen.
Die Ruderer an Bord kamen schwer voran, manche riefen ihm zu:
„Orpheus, hilf uns doch! Musiziere und beruhige die Götter!“ Mit Mühe kletterte er auf den rutschigen Dielen zu seiner Lyra und begann zu musizieren. Im Rhythmus gab er den Seemännern den Takt vor, besänftigte das wütend gewordene Meer und endlich konnten sie bei ruhiger See durch die Ägäis segeln.
„Das war knapp“, meinte ein Ruderer später und klopfte Orpheus freundschaftlich auf die Schulter. Die Sonne erhellte wieder das Firmament und trocknete die Kleidung der Seefahrer, die bis auf die Haut nass geworden waren. Zum Dank spielte er weiter auf seiner Lyra und bald erreichten sie die Insel Lesbos.

Reges Treiben herrschte im Hafen und nach einem kurzen Marsch kamen sie in eine kleine Stadt. Sie wollten sich stärken nach der anstrengenden Fahrt, und entlang der Stadtmauer wurden die ersten Waren feilgeboten.
Orpheus fiel eine bedrückte Stimmung auf, ganz anders als auf den anderen Inseln, die sie bisher erreicht hatten. Die Landwirte mit ihren Eselskarren, Töpfer und Schmiede, die Frauen an den Ständen, in kümmerliche Kleider gehüllt, hatten alle einen abweisenden Gesichtsausdruck. Oder war es gar Trauer, die Orpheus in ihren Augen sah?
„Was ist den Menschen hier widerfahren?“, wandte er sich fragend an einen Mannschaftskollegen.
„Lesbos ist bekannt dafür, dass die Menschen hier sehr arm und unglücklich sind. Es fehlt ihnen an den schönen Dingen des Lebens. An Musik, Kunst, Vergnügen.“
Sie saßen an einem kleinen, wackeligen Holztisch, verspeisten Oliven und Schafskäse und tranken jeder einen Becher Wein. Die gedämpften Stimmen der Händler im Hintergrund boten Waren feil und wurden nur wenig von den Vorbeimarschierenden beachtet, die alle mit gesenkten Köpfen ihren Blick auf die staubige Straße richteten.

„Meiner Frau Eurydike, die Götter mögen sie selig ins Reich aufgenommen haben, versprach ich am Sterbebett, meine Musik weiterzuführen und Gutes zu tun. Meint ihr, ich könnte hier auf der Insel mit meiner Lyra die Leute wieder fröhlicher stimmen?“
Die Seeleute erhoben ihre Weinbecher und prosteten ihm zu:
„Ja, Orpheus! Wunderbar!“ Ein junger Matrose sprang auf eine kleine Steinmauer und rief den Menschen zu:
„So kommt und hört! Orpheus ist auf eurer Insel und wird euch mit seinem Gesang den Tag erhellen und erträglicher machen. Kommt herbei!“ Euphorisch die Hände schwingend, bedeutete er den Bewohnern, näherzutreten. Orpheus nahm seine neunsaitige Harfe und begann zu musizieren.
Bald drängten Männer, Frauen und Kinder mitsamt Eseln und Ochsen um den kleinen Platz und lauschten seiner Stimme. Manche hatten Tränen in den Augen, andere tanzten zur Musik, wieder andere nahmen ihre Mitbürger bei der Hand oder fielen einander in die Arme. Den ganzen Nachmittag erfreuten sich die Bewohner der Stadt an der Darbietung von Orpheus.
Auch nächsten Tag und übernächsten Tag konnten es die Menschen kaum erwarten, ihn zu hören. Er hatte große Freude daran, die Einwohner glücklich zu sehen, und in Gedanken war er bei seiner verstorbenen Frau Eurydike.
Die Bewohner sprachen mit leiser Stimme:
„Mit seinem Gesang und der Dichtkunst kann er Götter betören, auch Menschen und sogar Tiere, Pflanzen und Steine. Bäume neigen ihm sich zu, wenn er spielt, und die wilden Tiere scharen sich friedlich um ihn.“

Nach einer Woche stand Orpheus im Hafen und verabschiedete sich von seinen Seefahrern.
„Dies war meine letzte Fahrt. Ich werde hier bleiben, es ist wohl meine Bestimmung.“
„Wir werden wiederkommen, Orpheus. Dann lass uns die Weinbecher erheben und uns deiner Gesangskunst lauschen.“ Die Mannschaft bestieg das große Schiff, nahm an den Rudern Platz und verließ den Hafen.

Bei seinem nächsten Auftritt bemerkte Orpheus unter den Zuhörern eine Frau, sie verweilte in der hintersten Reihe und beobachtete das Treiben. In einem ultramarinblauen seidenen Kleid mit aufgestickten fünfzackigen Sternen aus feinsten Goldfäden stand sie reglos in der Menge, mit versteinerter Miene. Ihr blondes langes Haar wehte im Wind und sie wirkte erhaben und elegant. Sie tanzte nicht, lachte nicht und sie sprach auch nicht mit den anderen. Manchmal blickte sie Orpheus tief in die Augen, als wolle sie ihn verführen. Entgegnete er mit einem Lächeln diesen Blick, wandte sie den Kopf ab und verschwand.

Jeden Tag kam sie auf den Vorplatz an der Stadtmauer, und während einer Mittagspause, als es unerträglich heiß wurde, drängte er sich durch die Menge auf die betörend schöne Frau zu. Mit einer leichten Verbeugung stellte er sich vor und fragte nach ihrem Namen.
„Ich heiße Europē“, entgegnete sie mit kräftiger Stimme.
„Nun, Europē, wie kommt es, dass du täglich meiner Darbietung lauschst, obwohl sie dir augenscheinlich nicht gefallen mag?“, fragte er gutmütig. Sie verzog ihren Mund zu einem abscheulichen Lächeln. Schlagartig war ihr Gesichtsausdruck nicht mehr feminin und zart, er glich eher einer Fratze. Mit spitzer Zunge und bebender Stimme antwortete sie:
„Ich bin lediglich hier um zu beobachten. Es interessiert mich nicht, wie du Menschen betörst und ihnen den Kopf verdrehst. Auf mich wirkt das nicht, es ist geheuchelt und ich harre der Dinge, die da kommen mögen!“, fauchte sie ihn an. Bei ihren Worten wich Orpheus jäh zurück und er konnte nicht fassen, was er gehört hatte.
„Aber ist es denn so schlimm, Gutes zu tun? Den Menschen wieder Zuversicht, Freude und Glück zukommen zu lassen? Viele Bewohner hier leiden Hunger und sind von Kriegsfahrten heimgekehrt, haben schreckliches Elend gesehen. Was ist verkehrt daran, ihnen mit ein wenig Gesang, Musik und Dichtkunst den Weg zu ebnen nach den reinen, feingeistigen Freuden und nach der Liebe?“

Lange Zeit starrte sie ihm in die Augen. Der Wind schien stillzustehen und es war, trotz der Mittagshitze, eine frostige Kälte zu spüren. Die Menschen, die vorher den Platz gesäumt hatten, hatten die Worte von Europē gehört und liefen eilig weg aus Angst.

„Liebe, Mitgefühl, Empathie kann man nicht erzwingen, du Narr!“, entgegnete sie giftig und verließ den Platz.

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

www.verdichtet.at | Kategorie: unerHÖRT! | Inventarnummer: 20111