Haus am Meer

Eine sanfte Brise lässt die Gardinen an der Verandatür flattern, Antonia genießt die kleine Abkühlung nach dem heißen Sommertag. Sie legt das Buch zur Seite und tritt auf die Terrasse. Nur das Rauschen des Meeres ist zu hören, dann senkt sich die Nacht über die kleine kroatische Insel.

Im benachbarten Gebäude sieht sie Licht im Obergeschoß, leise Musik ist zu hören.
Seit zwei Tagen ist sie hier.
„Mache Urlaub am Meer, das wird dir gut tun! Und lass um Himmels Willen Smartphone und Tablet daheim, du bist überarbeitet und kommst sonst noch auf blöde Gedanken“, meinte ihr Cranio-Therapeut bei ihrer letzten Sitzung. Er reichte ihr ein Prospekt, auf dem drei kleine Häuser direkt am Meer zu sehen waren. Sie sind in einem Halbkreis angeordnet und liegen ca. zehn Minuten Fahrzeit von einer kleinen Ortschaft entfernt. Antonia war sofort begeistert, sie liebt das Meer.

Gestern ist im Nachbarhaus jemand eingezogen, das dritte Haus steht leer. Antonia konnte nur kurz einen Blick auf die Frau werfen. Lange, mahagonifarbene Haare, die in leichten Wellen den ganzen Rücken bedecken, ein weißes, wehendes Sommerkleid um den schlanken, hochgewachsenen Körper und Flip-Flops an den zarten Füßen. Sie schätzt die Frau auf dreißig Jahre.

Ein lautes Klappern lässt Antonia hochschrecken. Die Frau im Nachbarhaus hat die Fensterflügel geöffnet und dabei eine Blumenvase umgestoßen. Kurz ist sie zu sehen, sie stützt sich mit einer Hand auf das Fensterbrett, mit der anderen hält sie eine Seite des Gesichtes bedeckt. Sie schüttelt sachte den Kopf. Die Musik dringt an Antonias Ohr. Sie erkennt „Die Moldau“ von Friedrich Smetana. Antonia geht zum Gartenzaun:
„Hallo? Ist alles in Ordnung?“ Die Frau erschrickt und starrt Antonia an, dann dreht sie sich um und verschwindet im Raum.
„Wer nicht will, der hat schon“, denkt Antonia kopfschüttelnd.

Am nächsten Morgen geht sie eine ausgedehnte Runde schwimmen. Das macht sie gerne vor dem Frühstück. Im Nachbargebäude ist es noch ruhig. Die Sonne glitzert im spiegelglatten Meer, es scheint wieder ein heißer Tag zu werden. Um die Mittagszeit, Antonia liest gerade in einem Buch, steht dann plötzlich die Frau im Garten und schaut auf das Meer hinaus. Mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand umwickelt sie Strähnen ihrer langen Haare, ihre Bewegungen sind monoton und der Blick ist starr aufs Wasser gerichtet. Leise summt sie ein Lied. Antonia macht sich durch ein Rücken des Gartensessels bemerkbar. Die Frau dreht sich um und lächelt:
„Ein schöner Tag, oder?“, ihre Stimme ist leise und zittrig.
„Guten Tag, ich heiße Antonia. Ja, es ist wunderschön hier auf der Insel.“
„Mein Name ist Elisa.“ Sie nähert sich dem Gartenzaun, hält den Kopf nun seitlich und begutachtet Antonias Verandatisch.
„Acht Stufen.“
„Wie bitte?“, fragt Antonia verwundert.
„Acht Stufen, vom Garten bis zum Meer. Endlich und unendlich. Eine magische Zahl.“

Antonia sieht nun die wunderschönen, smaragdgrünen Augen ihrer Nachbarin und den ebenmäßigen Teint. Sie wirkt zart und zerbrechlich. Ohne ein weiteres Wort verschwindet Elisa im Haus und dreht die Musik wieder an. „Die Moldau“, die mit einer Querflöte leise plätschernd beginnt und dann Fahrt aufnimmt. Antonia schüttelt den Kopf, geht ins kühle Haus, schließt Fenster und Türen und genießt die Ruhe.

„Jetzt reicht es aber!“ Sie kann es nicht fassen. Die Musik im Nachbarhaus will und will nicht enden, mit zunehmender Tageslänge steigt auch die Lautstärke des ewig gleichen Orchesterwerkes. Kurz vor Sonnenuntergang ist der Lärm unerträglich und Antonia geht in den Garten, will mit Elisa sprechen. Das Fenster des Schlafzimmers ist geöffnet und die Frau steht vor dem Spiegel, in einer Hand hält sie eine große Schere, in der anderen ihre Haare.

Antonia öffnet die Gartentür und betritt das Grundstück.
„Elisa! Hallo? Bitte könntest du die Musik leiser machen?“
Elisa reagiert nicht, langsam und mit konstanten Bewegungen schneidet sie Strähne für Strähne ihrer Haare ab. Tränen laufen über ihre Wangen, ihre Augen sind weit geöffnet und starren in den Spiegel, sie schneidet weiter ihre Haare, bis nur noch eine wirre, ungepflegte Kurzhaarfrisur übrig bleibt.
Antonia drückt die Türklinke nach unten, die Tür ist verschlossen. Sie klopft und ruft, doch Elisa hört sie nicht.
„Himmel noch eins!“ Wütend stapft Antonia wieder in ihr Haus.

Ein gellender Schrei lässt sie aus dem Schlaf hochschrecken. Sie lauscht. Hat sie geträumt? Sie hört nur das Meeresrauschen, plötzlich ein weiterer lang anhaltender, schriller Schrei, der die Nacht durchbricht. Sie tritt ans Fenster und späht ins Dunkel, kann nur einen hellen Farbklecks am Strand erkennen. Im Nachbarhaus ist es finster und der Schrei kam definitiv aus der Richtung des Meeres. Stille. Nur das leise Plätschern der Wellen am Felsen. Antonia wirft einen Blick auf die Uhr, es ist 03:30, sie beschließt, nochmal ins Bett zu gehen.

Das Badetuch umgehängt, in Badeanzug und Strandschuhen schlendert Antonia frühmorgens müde über die Stufen zum Strand. Sie erstarrt. Vor ihr liegt ein weißes Kleid auf den Felsen, daneben Flip-Flops und Unterwäsche. Es sind Elisas Sachen, das erkennt sie sofort. Antonia sucht das Meer ab, es ist niemand zu sehen, kein Schwimmer, kein Boot, nichts. Sie läuft die Treppe wieder hoch, sucht Garten und Umgebung des Hauses ab.

„Elisa?“, ruft sie durch das noch immer offen stehende Schlafzimmerfenster. Langsam drückt sie die Türklinke hinunter, es ist offen, sie späht in den Wohnraum. „Elisa?“, fragt sie nochmals. Sie sieht die Unordnung auf dem Sofa und dem Couchtisch. Leere, umgekippte Gin-Flaschen, benutzte Gläser, Kleider, Schuhe, alles wild durcheinander auf Boden und Möbeln. Antonia überlegt kurz, ob sie eintreten soll, entscheidet dann aber, dass sie zur Polizei fährt.

„Policajac Branko Paravić“, steht auf dem Schild an der Tür. Der Händedruck des Kommissars ist kräftig, seine dunklen Augen sind aufmerksam auf Antonias Gesicht gerichtet.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragt er in ausgezeichnetem Deutsch.
„Mein Name ist Antonia Steger. Ich habe ein Haus in der südlichen Bucht gemietet. Mit meiner Nachbarin muss etwas passiert sein, ihre Kleider liegen am Strand und sie antwortet nicht, wenn ich nach ihr rufe.“ Antonia spricht mit zittriger Stimme.
„Ah, in DER Bucht. Heißt ihre Nachbarin zufällig Elisa?“, fragt er.
„Ja, genau. Also ich kenne sie nicht so gut, sie ist erst seit zwei Tagen hier, aber irgendwas stimmt da nicht.“
„Ich werde mir das am besten vor Ort ansehen. Aber sie müssen wissen, dass uns diese Frau schon bekannt ist. Es gab wegen ihr so manche Anfragen, Beschwerden. Wissen Sie, wie die Bucht noch genannt wird?“
„Nein, das weiß ich nicht?“
„Die Bucht der Verrückten.“

Antonia richtet ihren Blick aus dem Fenster. Die bunten Häuser in der engen Gasse stehen dicht aneinandergereiht. Geklapper von Geschirr ist aus den Küchen zu hören und ein verlockender Geruch nach mediterranem Essen dringt an ihre Nase.
„Wir fahren jetzt gemeinsam zum Haus, in Ordnung?“ Der Kommissar nimmt den Autoschlüssel vom Schreibtisch und hält Antonia die Tür auf.

Branko Paravić hockt neben der Kleidung am Felsstrand. Antonia bemerkt den breiten, kräftigen Rücken des Mannes und die grau melierten, dichten Haare. Er macht einen sportlichen Eindruck, ein Mann in den besten Jahren, der sich fit hält.
„Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?“
„Nun, ich wollte Elisa abends zur Rede stellen, weil sie die Musik so laut aufgedreht hatte ...“
„Die Moldau? Von Smetana?“, fragt Paravić und richtet sich wieder auf.
„Ja, genau. Dann habe ich beobachtet, dass sie sich die Haare ganz kurz geschnitten hat. Die schönen Haare …“
„Für mich hört sich das eher nach Suizid an, wenn ich ehrlich bin“, entgegnet der Kommissar.
„Aber warum dann die Schreie in der Nacht?“, fragt Antonia.
„Welche Schreie? Davon haben Sie nichts gesagt.“
„Ich bin um drei Uhr nachts wach geworden. Zweimal hörte ich eine Frauenstimme vom Meer herüber, die Stimme klang sehr ängstlich und beunruhigend!“
„Sind Sie ganz sicher? Nicht geträumt?“
„Aber ja!“

Der Kommissar legt Antonia die Hand auf die Schulter und führt sie über die Treppe in den Garten.
„Sie müssen wissen, diese Urlaubshäuser hier gehörten dem Mann von Elisa. Er ist leider vorigen Sommer mit dem Motorboot verunglückt. Seine Leiche wurde nie gefunden, das Boot ist am Festland gestrandet. Er ist spät abends alleine rausgefahren, nach einem Streit mit seiner Frau.“ Branko Paravić betrachtet die Häuserfassaden, massiert sich den Nacken und fährt fort:
„Darum kam ich auf den Gedanken, dass sich Elisa vielleicht das Leben genommen hat. Sie kam nicht darüber hinweg. Also, ich fahre jetzt mal ins Kommissariat und komme später nochmal vorbei. Geht es Ihnen gut?“
„Ja, ja, alles in Ordnung.“

Später holt Antonia ihre Badesachen, sie will noch eine Runde schwimmen nach diesem aufregenden Tag. Die angenehme Wärme des Wassers umhüllt sie, sie schwimmt hinaus, holt tief Luft, taucht unter und zieht kräftig ein paar Meter unter Wasser. Als sie auftaucht, spürt sie eine seltsame kalte Strömung an den Beinen, ein eigenartiger Wirbel umspült sie und zieht sie hinunter. Mit geöffneten Augen erkennt sie zahlreiche kleine Fische, die dem Strudel zu entrinnen versuchen. Sie kann wieder an die Oberfläche gelangen, schnappt nach Luft, nimmt die plötzliche Trübung des Meeres um sie herum wahr. Ganz verzweifelt paddelt sie mit den Armen, um ans Ufer zu gelangen. Erst jetzt bemerkt sie, dass sie sehr weit vom Land entfernt ist. Wieder wird sie von einer unsichtbaren Gewalt in die Tiefe gerissen, tosendes Rauschen in ihrem Kopf, sie strampelt, paddelt mit aller Kraft, kommt wieder an die Oberfläche. Antonia sieht das Auto des Kommissars in die Einfahrt fahren, wieder scheint sie etwas an den Beinen zu fassen. Eine Hand, sie umklammert fest ihren rechten Knöchel, zieht an ihrem Fuß, sie taucht wieder unter, strampelt, kurz lässt die Hand ihr Bein los, um, nachdem sie für Sekunden auftauchen und schreien kann, sie wieder in die Tiefe zu ziehen.

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

Erstveröffentlichung beim Online-Schreiblust-Verlag

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um | Inventarnummer: 19137

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