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Rallye mit Marcello

Ein Oldtimertraum mit Emanzipationsbestrebungen

Copyright: Antonia H.

Copyright: Antonia H.

Marcello hat zugesagt! Ja, der alterslose Schauspieler mit triefendem Blick, der dem hungrigsten Dackel Konkurrenz macht, begleitet mich mit seiner Tochter Chiara auf der wohl ungewöhnlichsten Rallye Frankreichs, der Bonnecar, von Saint Malo bis Cassis.

Wir befinden uns in einem fantastischen Oldtimer, einem eleganten Raubtier, das, von mir gezähmt, ohne Hektik über den Asphalt gleitet. Ein Mercedes 540 K? Ein Peugot 300?  Im Leben kenne ich mich mit Autos nicht aus, Hauptsache, sie sind hübsch und machen was her. Der Motor rattert, als habe ihn ein Tontechniker der Nouvelle Vague getrimmt.

Das Singen der Räder verrät, ob die Straßen gepflastert oder geteert sind. So kann ich, nachdem mein Auto mit lässigen 35 km/h durch Saint Malo defiliert, gemütlich die altmodischen Auslagen, die sich entlang des Trottoirs unter gestreiften Markisen aneinanderreihen, betrachten. Sie zeigen allesamt ein Repertoire der Dinge aus den Fünfzigerjahren und die Beschattung lässt sie wie eine Gemäldereihe aus lauter Stillleben mit nachgedunkeltem Firnis erscheinen.

Marcello und seiner Tochter scheint es zu gefallen. Ja, der alte Marcello grinst sogar in meinen Rückspiegel, weil ihn die Fahrt an längst vergangene Drehtage erinnert.

Als wir das Stadtgebiet verlassen und den Sammelparkplatz für die Rallyeteilnehmer ansteuern, tuckert vor uns ein ganzer Konvoi oranger 2CVs, von denen jeder mit Nonnen in weißem Habitus bestückt ist. Die Nonnen tragen lichte gigantische Flügelhauben und es ist verwunderlich, dass sie in ihren Entencabrios nicht abheben, denn die Ausmaße ihrer Hauben machen Segelfliegertragflächen gewaltig Konkurrenz. Wäre lustig, sie so über die lieblich gewölbten Grashügel schweben zu sehen. Vor dem dunklen Grün des dahinter gelegenen Mischwaldes kommt das Orange der Citroens besonders gut zur Geltung.

Während die weiteren Autos wohl die nobelste und kreativste Ahnengalerie des KFZ-Designs vertreten, scheinen deren Chauffeure einem surrealen Film entsprungen zu sein.

Das wird ein Rennen, denke ich und schiele zu meinem Latin-Lover-Insassen, der keine Miene verzieht, während mich ausgerechnet eine von einer Bulldogge gesteuerte blaugraue Isetta überholt.

Vom Parkplatz aus geht es nach der Verteilung der Startnummern und einem ordentlichen Chaos zum Hafen.

Marokkaner  lauern entlang der Straße, um ein paar Centimes mit Windschutzscheibenputzen zu verdienen. Der Anblick altmodisch gekleideter Flics scheint allerdings ihren Eifer zu dämpfen. Dabei wirken diese mit ihren tonnenförmigen Schirmmützen und den mit weißen Streifen abgesetzten, nicht uncharmanten Uniformen geradezu fröhlich. Ihre weißen Stulpenhandschuhe blitzen im gleißenden Sommersonnenlicht.

Chiaras und Marcellos amüsierte Mienen verraten, dass sie an diesem Sommertagereignis ihren Spaß haben. Chiaras dunkle Augen wetteifern mit ihrem Muttermal am Kinn, das Gesicht zu interpunktieren.

Da ertönt der Startschuss zu einem Trip von Saint Malo über Rennes, Le Mans, Tours, Bourges, Lyon, Avignon bis nach Cassis, alles auf den hübschesten Nebenstraßen, welche die Nord-Südroute zu bieten hat.

Ich fasse mir ein Herz und frage die Tochter der Deneuve, wie ihr Papa denn privat so sei. Er sei doch als Schauspieler anders als als Mensch?

Marcello hebt seine Hände, die im Fahrtwind zu flattern scheinen, und grinst. Die Landschaft zieht nun als eine Art bunter Schliere an uns vorüber.

„Fragen Sie Papa oder Maman“, meint Chiara. Marcello dreht seinen Kopf zur Frucht seiner Lenden und blickt sie bewundernd an. Ansonsten beschränkt er sich optisch darauf, der italienische Prototyp von Mann zu sein, und ich wünsche, seine etwas rasselnde Stimme würde es mit dem Motorgeräusch meines Fahrzeugs über eine längere Wegstrecke aufnehmen. Er wie seine Tochter scheinen von dem Szenario der Oldtimer und ihrer Fahrer gefesselt.

Nach einer kurzweiligen Kilometerfresserei rollt der Konvoi verlangsamt kurz vor Le Mans an Bauschächten vorbei. Ich springe fast abrupt auf die Bremse meines ohnedies im Schritttempo fahrenden Oldtimercabriolets. Marcello und Chiara, die hinter mir im Fond sitzen, stützen sich an den Lehnen der Vordersitze ab und schauen so verdutzt, wie sie es nie in irgendeiner Filmrolle je getan hatten.

Neben uns klettert ein rothaariger Mann aus einem Schacht, der seine etwas zu langbeinig geratenen Bermuda-Shorts beinahe verliert. Die Taschen sind ausgebeult und sehen grad so aus, als habe der Mann ein Arsenal an Bleigewichten darin deponiert. Ich habe keine Lust, die Ansätze seiner Pobacken zu betrachten, von denen ich mir mit Schauder ausmale, dass noch knapp vor der Pofurche ein Büschlein roter Haare sprieße.

Chiara verdreht die Augen, lacht aber dann. Die Flügel der Nonnenhauben, welche aus den 2CVs vor uns ragen, wackeln kaum, während uns die völlig ungerührte Bulldogge in ihrer Isetta überholt, als ob sie noch nie an uns vorbeigezogen wäre. (Wo bitte ist dieses Tier abgefallen?) Der plattschnäuzig am Steuer klebende Hund würdigt den Bauarbeiter, der nun abseits der Straße hinter ein paar Bäumen verschwindet, keines Blickes.

Es geht weiter mit jenem sanften Gleiten, das vielen Reiseträumen zu eigen ist, aber ein wenig das Vibrieren rassiger Chassis vermissen lässt.

Das alte Le Mans, das kurz nach dem Zwischenfall auftaucht, entschädigt mich für die prosaische Rückenansicht.

Marcello bedeutet mir, er wolle in der milden Sommerwärme ein Stück neben dem Wagen herlaufen und sich dabei eine Zigarette anrauchen.

Die Reise setzt sich dennoch zügig fort, nachdem der Schauspieler ohne Mühe und sich mit seiner Tochter unterhaltend das Tempo Zigarettenlänge für Zigarettenlänge bewältigt. Tours, Bourges und Lyon sind passiert, ohne dass das kleine Rauchpäuschen des Italieners sonderlich Auswirkungen auf unser Fortkommen gehabt hätte.

Seit einiger Zeit begleitet uns ein fliederfarbenes Wolkengebilde auf unserer ruhigen Fahrt.

Obgleich die Landschaft zwischendurch außerordentlich lieblich ist und die Städtchen und Ortschaften echte Erlebnisse bieten, wünsche ich mir doch mehr Abwechslung. Die gesamte Strecke von tausend Kilometern ist zwar wie im Flug geschafft, doch an den Kontrollpunkten bin ich außer den Nonnen und der Bulldogge niemandem begegnet. Es gibt keine Überholduelle, kein großartiges Kurvendriften; die Dramaturgie meines Traumes schwächelt.

Doch da blitzt etwas Silbriges am Horizont auf.  Mit geradezu rasender Geschwindigkeit nähert sich uns auf der hügeligen Landstraße ein Aston Martin DB 5.

Im Rückspiegel sehe ich, wie der orange Konvoi nervös zu beben scheint, während vor mir die Isetta, dieses entzückende Stückchen BMW, das mich wieder einmal unbemerkt überholt zu haben scheint, durch die Luft fliegt, und ich bilde mir ein, dass abwechselnd links und rechts aus den Seitenfenstern Bulldoggenohren zucken.

Kaum bei mir angelangt, stellt sich der silberne Blitz auf der Straße quer. Eine erneute Vollbremsung ist angesagt, welche in traumhaftem Zeitraffer Marcello und Chiara gegen die vordere Sitzreihe wirft.

Doch es ist weder ein Hund noch eine Nonne (welche für einen derartigen Schlitten selbst in meinen skurrilsten Träumen völlig unpassend wären), auch kein smarter Engländer in grauem Spionsflanell, der sich so rasch wie möglich aus dem Wagen schraubt. Sondern der Bauarbeiter mit den blitzenden Pobacken.

„Leute, die Rallye ist zu Ende“, meint er schnaufend, und ich wundere mich, wie dieser doch etwas korpulente Mann in den Aston-Martin gelangen konnte.

Er steuert auf unseren Wagen zu, dessen Karosserielack stumpf wird, als weigere er sich, diesen unadäquaten Fahrer widerzuspiegeln. Auch meine Mitfahrer scheinen nicht angetan zu sein.

„Was heißt, die Rallye ist zu Ende“, erwidere ich.

„Die Bonnecar wird hier abgebrochen.“

„So ein Blödsinn. Das ist mein Traum.“

„Ihr Traum? Sie sind nicht befugt, einen Automobiltraum zu träumen.“

„Bin ich nicht?“

„Sie sind eine Frau, die sich mit Autos nicht auskennt, zwei-CVs mit Nonnen mit Flügelhauben besetzt und Isettas mit Bulldoggen.“

„Na und? In der Fantasie ist alles erlaubt.“ Ich drehe mich zu meinen Fahrgästen.

Marcello schweigt, doch Chiara mischt sich ein. „ Wir freuen uns, in so einem hübschen Wagen zu sein.“

„Abgesehen davon“, setze ich mit schneidend scharfer Stimme fort, „was haben Sie in dem geschmacklosen Aufzug im Aston-Martin zu suchen?“

„Das Gleiche, was Sie in dem Hybrid von Peugeot und Mercedes verloren haben.“

„Wie gesagt, ich setzte mich in die Karosse, die mir gefällt. Und wenn eine Mischung aus Peugeot und Mercedes besser aussieht als jedes dieser Vehikel für sich, dann ist das der Rallyeteilnehmer meiner Wahl.“

„Sie sind wohl blöd? Keine Ahnung von Autos, aber unmögliche Hirngespinste!“

„Ja genau. Als ob ihr Kerle keine bescheuerten Fantasien hättet.“

Der Mann steht jetzt ungemütlich nahe an meinem Seitenfenster. Ich wünsche mir, ich hätte die kleinen Zusatzgeräte, die die Bond-Fahrzeuge haben, um diesen Kerl wegzupusten.

„Frau und Automobiltraum geht gar nicht“, blafft der Mann.

„Geht doch, wie Sie sehen. Wieso Sie drin vorkommen, ist mir allerdings ein Rätsel.“

„Mir nicht. Klasseautos ohne Kerle gibt es nicht. Sie haben sich ja sogar einen Papagallo in den Fond gesetzt. Hätten Sie ihn wenigstens ans Steuer gelassen.“

Der Mann deutet anklagend auf Marcello.

„Sonst noch was.“ Ich schüttele mich. Herrn Mastroianni selbst im Traum als Papagallo zu bezeichnen, ist nicht nett. Der Prolo hat wirklich keinen Stil.

„Ich wette, Sie würden sich eine Blondine in Ihren Aston setzen, wenn Sie könnten. Aber nochmal. Das ist mein Traum.“

Der Bauarbeiter, oder wer immer er auch sein mochte, zuckt mit den Schultern und guckt mich schief an.

„Wenn das Ihr Traum sein sollte, warum zum Teufel komme ich drin vor?“

„Eingeschlichen?“, vermute ich.

„Nö. Vielleicht Männerquote.“

Es ist nach längerem das erste Mal, dass der Traum mir wieder gefällt. Vielleicht, weil in einer klassischen Männerdomäne endlich ein Quotenmann vorkommt. Ich beschließe, diesen Typen in meinem Traumgespinst zu belassen.

Als ich in Cassis einfahre, mich nicht darum scherend, ob ich nun Erste, Platzierte oder Letzte bin, steht mein Quotenkerl mit dem eigentlich tadellos konservativen Autogeschmack an der Straße und winkt mir freundlich zu.

Seine Shorts hat er auch hochgegürtet.

Antonia H.

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 25224

 

Das Verschwinden der schönen Rose

 

1480 – 1990
Ein Verbrechen zwischen Neuzeit und Jahrtausendwende

Es fing recht banal an: Giorgione Faltrelli di Montemarche erwachte ungewohnt schweißgebadet und setzte sich mit einem Ruck auf, so dass der Baldachin über seinem Kopf erzitterte und das Holzgestell seiner Schlafstätte unversehens ächzte. Der Weg vom Liegen zum Sitzen war nicht weit gewesen, die damals üblichen Polsterberge hatten ihn ohnedies in Steillage schlafen lassen. Ihm hatte von grauen, moosüberwachsenen Ruinen geträumt, die sich im zähem, mahlendem Zeitstrom den schroffen Felsformationen der Gebirgszüge des Monte Falterona angeglichen hatten. Dieses Gebirgsmassiv bot seiner Stammburg Rückendeckung, welche sich zwischen dem Berg und dem Casentiner Tal befand und von durchaus dichten Kastanienwäldern umringt war. Bestürzt erkannte er in den Ruinen die Überreste seines ehemals praktisch unzerstörbaren Heims, welches schon gut seit Generationen Angriffen, Erdbeben und Unwettern getrotzt hatte. Auf einer Felserhebung, an die sich vereinzelt ein paar zähe Büsche klammerten, hatte sich bis zu jenem fatalen Traum sein Bergfried schier unverwüstlich aufgetürmt!

Giorgione, Sohn des ehrenwerten Conte Nicolo Faltrelli, war eben der Jugend entwachsen (die in seiner Epoche bloß eineinhalb Jahrzehnte währte), ein hübscher kräftiger junger Mann mit rötlich braunen, sauber geschnittenen Haaren. Der heftige Traum jedoch hatte zur Folge gehabt, dass sein Haupthaar mehr einem von Hagel verwüstetem Feld als dem akkuraten Pagenkopf eines toskanischen Edelmannes seiner Zeit, des ausgehenden Quattrocento, glich.

Jenseits des Rundbogenfensters seines Schlafgemaches dämmerte es und die Vögel zwitscherten um die Wette den Frühlingshimmel an. Als es an der kräftig gemaserten Nussholztür klopfte, strich er sein wadenlanges weißes Leinenhemd vorsorglich glatt. Als angehender Ritter, allerdings einer der letzten seiner Art, befolgte er die ihm gebotenen Anstandsregeln, sich keine Blößen zu geben.

Seine in die Jahre gekommene Amme, deren Rundungen die beinahe verflossenen drei Lebensjahrzehnte besonders aus ihrem Mondgesicht plätteten, betrat schlurfend, in einem sauberen, steifen, selbstzufrieden knisternden braunen Kittel mit einer Kanne und einem Becher in der Hand das Schlafgemach des jungen Adeligen.

„Guten Morgen mein Herr“, schnarrte sie, „Eure kuhwarme Milch. Vergesst mir nicht, wie Euer Herr Vater aufgetragen, euch ansehnlich herzurichten.“ Dann kicherte sie verschämt. „Seine Durchlaucht Ivo di Selvascuro ist mit seinem Töchterchen eingetroffen. Ein properes Ding. Hihi!“ Sie zog ihre rundlichen Schultern hoch und erglühte unter ihrer Dienstbotenhaube.

Giorgione räusperte sich, was wie eine ungeschmierte Wagendeichsel klang, und winkte schlaff ab. „Schon gut, schon gut.“

Die Amme verstand und machte sich im Rückwärtsgang fort.

„Cara Mamma Cibo, es langweilt mich“, murmelte er der Verschwundenen nach. Was er wohl mit der dreizehnjährigen kleinen Selvascuro anfangen solle? Wahrscheinlich könne sie leidlich sticken, etwas lesen und schreiben, aber: Mit dieser unbekannten Lebensform zu kommunizieren, und dass er so ein fragiles Wesen auf seine geliebten Jagden mitnehmen könne, konnte er sich nicht vorstellen.

Natürlich war der Besuch aus dem Piemont mehr als ein Anstandsbesuch. Er war zum Zwecke der Begutachtung, nein, der Bekanntmachung der Tochter des Hauses als Heiratskandidatin. Da beide Familien befreundet waren und man sonst keine Grafschaft mit Eheschließungsbedarf berücksichtigen musste, war wohl die kleine Bellarosa fix für Giorgione vorgesehen.

Giorgiones Mutter mit dem schönen Namen Viola war geradezu aus dem Häuschen gewesen, dass ihr Sohn sich mit den durchaus vermögenden Selvascuros verbinden sollte. Immerhin war Bellarosas Mutter Sofia ihre Kusine, welche eigentlich aus bäuerlichen Verhältnissen aus dem Val Pellice stammte, allerdings war dort die Landbevölkerung seit Jahrhunderten sowohl mächtig als auch finanzkräftig gewesen und hatte es sogar zur Herrschaft über eine eigene Bauernrepublik gebracht.

Auf der Apenninenhalbinsel war es gerade en vogue, sich Güter und bestenfalls sogar Stadtherrschaften per Verschwägerung einzuverleiben.

Als sich der junge Ehekandidat im Rittersaal einfand, erwarteten ihn seine Eltern an der langen dunklen Eichentafel ungewöhnlich würdevoll, jedoch vom aufsteigenden Geruch aus den Rüstkammern, einer Mischung aus Ammoniak und Schweinefett, umweht. Wenigstens wussten sie die prächtigen Plattenpanzer berühmter toskanischer Machart zu Ehren von Bellarosas Papa, einem Condottiere, mit abgestandenem Urin und Sand geputzt und mit Fett eingelassen und aufpoliert. Geeichte Jungneuzeit-Nasen störte sowas wenig. Die Vögelchen aus Zypern, wie man das beliebteste Parfum der Städter nannte, hatten hier keine Einflugschneise genommen und wurden auch gar nicht vermisst. Sie wären ohnedies vom Rußgeruch, welcher zwei Eisenkandelaber und einen Kronleuchter umwehte, gefressen worden.

Giorgiones Vater war wie immer recht einfach und geradezu farblos gekleidet, allerdings mit einer schweren Silberkette behangen und an den Händen prächtigst beringt, seine Mutter hatte eine ausladende Tracht aus Samt und Seide angelegt, was er ziemlich übertrieben fand. Der Sohn hatte sich an seinen Vater gehalten und sich nach einer raschen Waschung in ein braunes Wams mit engen Beinkleidern geworfen.

Conte Nicolo mochte den Repräsentationsdrang seiner Frau Viola bei derlei Treffen gerne missen, aber die Sitten der Zeit verlangten, dass man sich als Familie offiziellen Besuchern entsprechend adjustiert präsentierte, selbst wenn sie zur Verwandtschaft zählten.

Die bereits von den Reisestrapazen erholten und entsprechend restaurierten Gäste konnten beim Eintreffen durchaus beeindrucken. An der anderen Seite der Tafel ließ sich der düster gewandete Ivo auf dem Ehrenplatz, einem dunklen, reichlich verzierten Eichenstuhl, mit seiner ganzen Gewichtigkeit nieder. Neben seinen ausladenden schwarzen Puffärmeln ging ein kleines, recht lebendiges Püppchen, seine Tochter mit rundlichem Gesichtchen, rosa Wangen und unter einer weißen Mädchenhaube herausquellenden kastanienfarbenen Haarzöpfen beinahe unter, obwohl ihre Zofe sie in ein leuchtend grünes Kleidchen aus Samt und Zendal aus Lucca gesteckt hatte. Die doch eher beschwerliche Reise, die auch durch dichte und nicht ungefährliche Wälder führte, hatte Mama Sofia di Selvascuro vermieden, zumal sie ihre Residenz, das Castel Solelonghi in der Nähe von Asti, persönlich in Schuss halten hatte wollen.

Man sah der Kleinen an, dass sie sich Besseres gewusst hätte, als eine lange beschwerliche Reise zu Pferd anzutreten, um als Verschwägerungspfand feil gehalten zu werden. Ihre braunen Knopfaugen blickten starr geradeaus. Ihren potenziellen Verlobten würdigte sie keines Blickes.

Alle saßen etwas steif an der Tafel. Das schwache Licht, das durch die nicht verhangene obere Fensteröffnung fiel, trug nichts zur Aufheiterung dieser Szene bei. Der Austausch der Höflichkeiten begann entsprechend steif: „Welch eine Freude, Euch so wohlbehalten anzutreffen. Wir hätten es uns nicht verziehen, wenn wir nicht trotz des jugendlichen Alters unserer Kleinen den Weg gescheut hätten. Dass sich unsere Nachkommen recht bald kennenlernen, kann für später nicht schaden.“

„Dass Ihr solch eine zarte Knospe dieser Reise ausgesetzt habt, zeugt von Eurer Freundschaft zu uns“, antwortete der Gastgeber. Ganz geheuer war dem alten Faltrelli di Montemarche nicht dabei, denn derlei Stilblüten pflegte ihm seine Gattin einzuflüstern, die bei derartigen Anlässen das Reden dem Hausherrn zu überlassen hatte. Er drehte sich zu Giorgione. Der machte ein unbeteiligtes Gesicht.

Unter Cinquecento-Teenagern gab es keinen unbefangenen Umgang. Bis zur eigentlichen Hochzeit würde man zu beider Erleichterung noch zuwarten; verbindlich beschlossen war sie ja. Zu baldige Ehearrangements für Kindsvolk waren zwar im ausgehenden 15. Jahrhundert bereits verpönt, doch gewisse Ewiggestrige, und dazu zählten die Selvascuros, ignorierten, was gewinnbringenden Interessen im Weg stand.

Giorgione überließ gelangweilt seine Mimik der Schwerkraft und Bellarosa schien müde zu sein. Anders konnten ihre gesenkten Lider nicht gedeutet werden, war sie doch zu jung, um ihre Augen mit Arroganz zu beschatten.

Ein herrlicher, mit Kastanien garnierter Wildschweinbraten beendete den Austausch von Floskeln. Nicolo lauschte den nun wieder vernehmbaren Geräuschen von in der Festung ein und ausgehenden Menschen mit Genugtuung, klangen sie doch nach präsentabler Geschäftigkeit. Im Nu entspannten sich wirklich alle und langten heiter zu. Ivo mit ausladender Geste, Viola zwar mit spitzen, aber lustvoll bebenden Fingern, und Bellarosa schien Spaß zu haben, ihre Schwiegermutter in spe zu imitieren.

Der Gastgeber stellte einen Ausritt für den nächsten Tag in Aussicht, um seinen Besitz den Besuchern zu zeigen. Obstgärten und Felder sowie ein Forst wollten im Verlauf eines Halbtagesrittes präsentiert werden, Fasane oder gar ein Damwild waren fürs nächste Bankett mit eingeplant.

Der folgende Morgen hatte an diesem Maientag mit ungewöhnlich warmen Temperaturen aufgewartet. Der Hausherr stellte seinen Gästen die besten Reittiere zur Verfügung. Alle Vorzeichen schienen selbst für als abergläubisch geltende Toskaner hervorragend. Pflanzengrün und Blütenfarben leuchteten miteinander um die Wette. Amseln und Stare unterhielten sich angeregt und ließen sich auch nicht von der lebhaften Reitgesellschaft unterbrechen. Giorgione, Niccolo, Ivo und sogar Bellarosa ritten mit zwei Leuten Gefolge einen Pfad, der in den Felshang geschlagen worden war, hinab. In den Hufschlag der Reittiere mischte sich leises Rauschen vom nahen Bach und Klatschen von Holzpaddeln auf nasse Wäsche. Giorgione musste anerkennen, dass sich Bellarosa im Seitensitz prächtig auf ihrem Zelter hielt. Ein recht steiles Stück musste nun von den nickenden, tapsenden, aber selten stolpernden Rössern überwunden werden, doch bald verlief sich das Gestein in einer buckligen Grasfläche, die ihren Platz erfolgreich gegen Fels und Baum behauptet hatte.

Das Versprechen, einen beschaulichen Ritt genießen zu können, wurde jäh durchkreuzt, als ein unerwarteter Blitz zischend über den Himmel raste. Eben noch durch Baumkronen blitzendes Blau wich zusehends rasenden, finsteren Wolken. Die Reiter legten ihre Schenkel dichter an die Flanken ihrer Rösser und versicherten sich ihrer Zügel. Die Reittiere verdrehten Augen und Ohren, vergeblich nach der Gefahrenquelle und gleichzeitig nach einem Fluchtweg suchend. Die Luft roch fremd, süßlich und schwer, das Himmelsdunkel verdüsterte und erhellte sich zusehends im Stakkato.

Gastgeber Niccolo offerierte eine Jagdhütte in der Nähe. „Da finden wir Zuflucht.“ Ivo verriet mit keiner Miene, dass er trotz seiner Militärkarriere abergläubischer war als der furchtsamste Toskaner, atmete aber sichtbar auf. Giorgione blieb jugendlich lässig, während Bellarosas Köpfchen aufflammte. Ihre Miene zeigte nicht, ob sie sich erschreckt hatte. Schon zausten Windböen die Pferdemähnen und fuhren in die stoffreichen Wämser mit den gestopften Ärmeln. Haare standen ob der geladenen Luft zu Berge und das Reitkleid der Kleinen blähte sich so mächtig auf, dass ihr Vater sich sorgte, sie würde demnächst vom Pferd segeln. Dann donnerte es und darauf folgte der erste heftige Regenguss.

Der sonst so sanfte und etwas träge Zelter Bellarosas scheute, gegen sein phlegmatisches Naturell, äußerst heftig und ging durch. Giorgione riss seinen Rappen unverzüglich herum, dass Wasser aus Mähne und Schweif spritzte und folgte ihr Richtung Wald. Er galoppierte mit aller Kraft; einer der Männer vom Gefolge, der sich ihm an die Fersen geheftet hatte, um ihm beizustehen, kam nicht mehr nach und konnte nurmehr das Verhallen der feucht schmatzenden Galoppschläge auf dem Waldboden hören.

Giorgione, ein kühner, manchmal auch etwas übermütiger Reiter, holte die Fliehenden alsbald ein, bekam das schweißgebadete Pferd an den Zügeln zu fassen, die die Kleine schleifen hatte lassen, um sich an der Mähne festzuhalten.

Als sie sich umsahen, wussten beide nicht mehr, wo sie sich befanden. Sie mussten wohl im Kreis geritten sein, da das Gelände felsig anstieg, vermutete Giorgione. Immerhin fanden die Durchnässten unter einem Steinvorsprung Zuflucht.

Der Cavalliere wollte die Kleine zu sich ziehen, als sie sich dem Griff seiner Hand scheu entwand.

„Fräulein, habt Vertrauen.“

Das Mädchen riss die Augen auf und schüttelte den Kopf: „Die Masca stellt mir nach“, flüsterte sie. Giorgione überhörte zunächst den Namen, den er nicht kannte, war die Masca doch ein piemontesisches Zauberweib, das sich in allerlei Tiere verwandeln konnte. „Ich tu euch gewiss nichts anhaben. Eure Ehre ist die meine.“

„Hier können wir nicht bleiben“, drängte sie und schrie plötzlich laut auf: „Masca, Masca!“ Vor Giorgiones Nase schoss eine schwarze Krähe vorbei und verschwand im Gebüsch.

„Meint ihr etwa den Badalisco?“, fragte er nach. Der toskanische Basilisk trieb sich unten im Casentiner Tal herum, hier herauf würde er doch nicht finden. Immerhin, dieses Mischwesen aus Hahn und Schlange konnte mit seinen Blicken tödlich lähmen.

„Sagt Ihr so hier?“, murmelte sie, ihre schweren, nassen Kleider glattstreichend, während sie sich ruckartig umblickte.

„Ihr braucht schon einen triftigen Grund, warum wir uns dem Unbill des Wetters aussetzen sollen. Mir scheint, Ihr seid ein wenig eigensinnig.“

Bellarosa schwieg, während sich Starkregen über die Landschaft ergoss, unzählige Rinnsale von den Haarspitzen über Kleidung und Pferdeleiber dem Boden zustrebten und die Feuchtigkeit nun sogar begann, alles in Nebelschwaden einzuhüllen.

„Ich muss Euch wohl nötigen. Es ist zu eurem Besten.“

Er versuchte die Zügel, die er Bellarosa gelassen hatte, erneut zu ergreifen, sie aber machte mit dem massiven Ross einen Satz zur Seite und war im nächsten Moment von Gelände und Dunst verschlungen. Er jagte ihr sofort sein Pferd, das beinahe am glitschigen Stein ausglitt, nach. Doch nicht einmal das dampfende Fell ihres Reittieres war noch zu riechen.

Antonia H.

Auszug aus dem Roman „Das Verschwinden der schönen Rose. 1480–1990.
Ein Verbrechen zwischen Neuzeit und Jahrtausendwende“, der hoffentlich bald erscheinen wird.
Wir danken der Autorin für die Möglichkeit der Vorveröffentlichung
und reichen die Bestelldaten nach, wenn das Werk erschienen ist.

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 25195

Schreibenkleister

Und ewig kreisen die Gedankenwelten … wollen sich einfach nicht niederlassen.
Ihre Landefläche ist zu klein: A vier, Papier.

Erst später rinnt es wieder. Meine verstopfte Fantasie staute Ideen für Geschichten zurück.
Am Morgen plätscherte sie noch, am Abend werde ich sie aus meinem Staubecken ablassen und in Geschriebenes gießen können, damit sie in anderen Köpfen neue Bilder und Wörter austreiben lässt.

Grapheme verwandeln sich in inneren Schall und der Schall verwandelt sich in Bild und löst sich in Empfindung auf, schiebt die Wehen an, welche Kopfgeburten einleiten.

Komme ich gar nicht weg von der Syntax, welche meine Gedanken mit den Tauen kultureller Voreingenommenheit festzurrt?
Ohne Syntax wird’s andererseits eine stolpernde Parade der Nonsenswörter.
Anscheinend kann ich nicht ohne Syntax denken, muss unentwegt den Sinn taxieren.
Jedoch: Die Sinntaxe entspricht meines Erachtens nicht dem Wert der Äußerungen.

Derweilen ich drinnen schreibe, verwässert draußen Schnee bereits Angefeuchtetes.
Er fällt nicht, sondern tropft; es ist zu warm.
Alles frische Weiße wandelt sich unversehens in Verbrauchtes … ihm graut.
Dem Papier graut nicht, ihm wird nur ein bisschen schwarz; aber vor meinen Augen.

Antonia H.

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 25134

Der Mann, der seine Stadt rechnete

Aron Kurz lebte seit 30 Jahren in seiner Stadt, die wir hier Dönen nennen. Wir tun das, weil weder Aron noch Dönen gewollt hätten, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen. Aron hatte immer schon einen besonderen Kopf besessen, der Zahlen liebte und besonders viel Ordnung brauchte. Spontaneität wirkte auf Aron wie Hindernisse auf eine Schnecke; beide zogen sich in sich zusammen.

Er arbeitete in einem Computerzentrum, was er gerne mochte, weil dort alles seine Ordnung hatte. Das Computerzentrum, wo Aron arbeitete, gehörte zur Stadtverwaltung.

Seine Stadt unterschied sich nicht von anderen Städten, die 200.000 Einwohner hatten, halb in einer Hügellandschaft, halb in einer Ebene lagen, von zwei Flüssen durchschnitten wurden, etwas Industrie und etwas Kultur aufwiesen und langsam mit den Nachbarorten verschmolzen.

Das Stadtbild des IT-Spezialisten hatte für ihn keine sinnlichen Qualitäten, obwohl die Stadt sich in Regen, Sonne und Schnee veränderte. In der Sommersonne schien sie metallisch zu gleißen, unter Wolkenhimmel verschwammen ihre Konturen. Sie roch nach Gummi, Autos, Feuchtigkeit, manchmal auch dumpf und machte die üblichen Geräusche, welche von Sirenen und Baumaschinenlärm durchstoßen wurden. Doch das war für Aron unerheblich, seine Stadt bestand aus Zahlen, aus Bits und Bytes.

Manche Menschen definieren die Stadt durch ihre Bewohner, ihre Ereignisse, ihren Tageslauf. Der Dreißigjährige mit den kurzen karottenroten Haaren, die sich dank der Schermaschine in Reih und Glied befanden und kaum aufgrund eines Kammes ihre Wuchsrichtung veränderten, mit dem glühbirnenförmigen Kopf, dem schlaksigen mittelgroßen Körper und immer ein wenig abwesend wirkenden braunen Augen hatte nur einen Freund und eine Schwester und seine Eltern, die aber woanders lebten. Außerdem gab es eine etwas jüngere braunhaarige Frau, die sich für ihn interessierte. Auch er interessierte sich für sie, aber er dosierte die Begegnungen so, dass sie in seine Ordnung passten.

Die Brünette mit den grünen Augen und dem etwas fülligeren Körper durfte ihn etwa täglich zwischen 18.00 und 19.34 weder persönlich noch per Handy stören, denn da rechnete Aron seine Stadt auf seine Weise aus. Geburt und Tod, Kartoffel- und Fleischverbrauch, allgemeiner Wasserverbrauch, spezieller Wasserverbrauch, Diebstähle, Müllverbrauch, Christbaumverschleiß.

Seine Stadt hatte 174 Frisöre, die 130.000 Liter Wasser pro Tag brauchten, sofern sie einen Durchschnitt von 5 Kunden pro Tag hatten, was wenig war, denn 870 Kunden waren unverhältnismäßig für eine Stadt mit 200.000 Einwohnern. Das verbrauchte Wasser hätte den täglichen Trinkwasserbedarf eines Dorfes von 2.400 Einwohnern gedeckt.

Andererseits, mit Kochen, Waschen und Duschen brauchte eine Person alleine 60 bis 100 Liter, schon weil eine Dusche 16 Liter Wasser pro Minute raussprüht. Das waren für seine Stadt 20 Millionen Liter täglich. Damit würden 100 Menschen ihr ganzes Leben lang nie Durst haben.

Mit dem Wasser spülte seine Stadt etwa 80.000 Tabletten pro Tag runter, vorausgesetzt, jeder nahm durchschnittlich 2 Stück.

Außerdem wusste Aron, dass 30.000 Plastiksackerln oder 600 Kilo am Tag verwendet wurden. 600 Kilo, das produzierte eine Person jährlich an Gesamtmüll.

Arons Verehrerin erfuhr das auch, als sie ihn auf einen Kaffee einlud. Für die Kaffeepause hatte Aron exakt 100 Minuten eingeplant. Weil er nicht besonders gut in Konversation war, unterbreitete er seiner braunhaarigen Schönen seine Ergebnisse und erntete ein Seufzen.

„Das heißt, ich habe in einem Jahr 600 Kilo Mist zur Mülltonne geschleppt?“

„Statistisch gesehen ja.“

Sie sah ihn mit hochgezogenen Brauen an, während er anstatt ihrer fragenden Miene nur das dumpfe Geplapper im Hintergrund und das zeitweilige Klappern und Klirren von Geschirr registrierte.

„Angefühlt hat es sich wie 300 Kilo“, legte sie nach.

„Davon kann ich nichts sagen, wie es sich anfühlt.“

„Es wäre schön, wenn ich meinen Mist nicht alleine tragen müsste“, wagte sie ihrer Meinung nach eine Andeutung, sie wolle ihren Haushalt irgendwann mit einem Partner teilen.

Doch Andeutungen verstand Aron nicht. Außerdem war Mist das unromantischste Thema, das man sich vorstellen konnte, um die Kurve zu einem Partnerschaftsangebot zu kratzen.

„Aron, wie viele Menschen heiraten pro Jahr?“

„922. Aber wir haben schon hundert Minuten gesprochen. Ich muss jetzt gehen. Bis nächste Woche zur selben Zeit.“

Wir wissen an diesem Punkt der Ereignisse noch nicht, ob Aarons Treffen mit seiner Braunhaarigen irgendwann zu was anderem führte als zu zahlenmäßigen Erörterungen seiner Stadt. Wir wissen aber, dass die Zahlen für Aron etwas Besonderes waren und dass man sich ihm und seinem Leben am besten nähern konnte, wenn man das berücksichtigte.

Und mehr als seine persönlichen Beziehungen wuchs seine klar quantifizierbare Beziehung zur Stadt.

Sein Leben begriff er als einen geringfügigen prozentualen Anteil an ihr. Wie oft er seine Straßen zur Arbeit und zurück beging, wie viele Autos an ihm vorbeifuhren, wie hell sie in der Nacht leuchtete (etwa ein 12-Tausendstel der Leuchtkraft der Sonne, rechnete er aus).

Diese Berechnungen trug Aron fein säuberlich in ein Heftchen ein.

Doch irgendwann ging ihm auf, dass man die Menschen nicht berechnen konnte. Nicht die Braunhaarige, nicht mal seine eigene Verwandtschaft, und das irritierte ihn.

Und eines Tages kam das Unvermeidliche.

Die Frau, die mit ihm Kaffee trinken ging und sich übrigens Eva nannte, hatte, seiner Ausführungen müde, auf ihn, Aron, persönlich Bezug genommen.

„Aron, immer sprichst du von Zahlen. Von deiner Stadt in Zahlen. Wann sprichst du von dir? Können wir sogar nicht auch einmal von uns sprechen?“

Das verschreckte den Mann, der sich deshalb so an seine Zahlen klammerte, weil er allem, das nicht auf eine numerische Größe reduzierbar war, zutiefst misstraute. Damit konnte er nicht umgehen.

Eva hatte seine Grenzen überschritten. Sie merkte es erst, als sie Arons verkrampftes Gesicht sah. Dass dieser seltsam korrekte zahlenbesessene Mann nicht anders konnte, ahnte sie. Aber dass er so heftig reagierte, überraschte sie, die bisher keinem Menschen mit einem so speziell arbeitenden Gehirn begegnet war.

Alles in Zahlen zu fassen, zu quantifizieren, war ja grundsätzlich auch ein Männerding.

Doch ihr Kaffeepausenpartner tat etwas Unübliches. In der 87. Minute sprang er auf, schnappte seinen Mantel und verließ die Kantine der Stadtverwaltung, wo die beiden ihr Heißgetränk einzunehmen pflegten.

Eva blieb überrascht sitzen. Sie blieb sogar noch 20 Minuten vor ihrem erkalteten Kaffee sitzen, weil sie nun ihrerseits nicht einordnen konnte, was passierte.

Fassung zu gewinnen, dazu brauchte Aron mehr als seine Wegstrecke nach Hause. Er wusste nur, er wollte durchaus wieder die Gewohnheit, mit dieser Frau Kaffee trinken zu gehen, aufnehmen, wenn er sich eingekriegt und stabilisiert hatte. Dass er diese Gewohnheit des gemeinsamen Koffeinkonsums jetzt schon misste, war ein Ausdruck dessen, dass er Eva durchaus positiv zugetan war. Alleine, dass er ihr Zeit eingeräumt hatte, die sie miteinander verbrachten, war ein Indikator dafür. Auch, dass der Verlust dieser Gewohnheit ihn mit einem Bangen erfüllte, das über die Befürchtung hinauswuchs, seinen Tagesplan neu auffüllen zu müssen, er sorgte sich sogar, die Gegenwart dieser Frau nie wieder zu erfahren.

Es war also ein Weg zu finden, mit ihr zu sprechen, ohne dass sie auf dramatische Weise erneut plötzlich Verbindliches oder gar Persönliches einforderte. Er musste vielleicht unter Umständen die Möglichkeit zulassen, diesen Aspekt wohldosiert den Begegnungen hinzuzufügen.

Zu Hause setzte er sich an seinen Tisch, nahm eines der sorgfältig aufeinandergestapelten Heftchen, in denen er seine Stadt rechnerisch festgehalten hatte, und suchte in all den statistischen Zahlen etwas Zwischenmenschliches, etwas Persönliches. Denn all diese Zahlen mussten doch in ihrer Generalisierung auch etwas Individuelles geborgen haben. Tatsächlich war er gezwungen, mehrere Hefte auf einmal zu nehmen, zu öffnen, zu überfliegen, zu schließen und wieder fein säuberlich auf ihren fest bestimmten Platz im Stapel zu legen.

Etwas, worüber er Eva berichten konnte und das ihre Beziehung ins Lot brachte, war nicht so leicht zu finden, genauso wie etwas, das vielleicht auch so etwas wie eine Beziehung von zwei Menschen in einer Stadt ausdrückte.

Zwischen 18.00 und 19.34 Uhr war für solche Recherchen nicht viel Zeit. Tage vergingen ohne Ergebnis, ohne die Gewohnheit, mit Frau Eva Kaffee zu trinken oder gar einen neuen Schritt zu wagen. Er war sich schmerzlich bewusst, dass es eine Veränderung geben musste.

Nach drei Wochen war es so weit. Genau 15 Minuten vor Dienstschluss wählte er mit seinem Amtstelefon das Amtstelefon von Frau Eva an.

„Hallo, Frau Eva.“

„Hallo Aron.“

„Frau Eva, ich bedaure, dass ich überstürzt weggelaufen bin.“

„Du bist nicht nur das. Ich habe lange nichts von dir gehört. Ist das das Ende unserer Kaffeetreffen?“

„Das möchte ich nicht. Ich habe eine Lösung gesucht. Eine Lösung, auch anders mit Ihnen zu sprechen.“

„Oh, ist das so schwer für dich?“

„Ja. Ich sage es nicht gerne, aber ich bin als Autist klassifiziert. Ich kann nächstes Mal gerne erklären, was das ist. Aber Sie sollten wissen, dass meine neurologische Spezifikation eine wesentliche Rolle in meinen zwischenmenschlichen Beziehungen spielt. Sie verlangt Ordnung und Absehbarkeit.“

„Hat es was mit deiner Vernarrtheit in Zahlen zu tun?“

„Ja auch. Zahlen geben mir Sicherheit. Spontane Gefühle, abrupte Wendungen verunsichern mich zutiefst.“

Eine Pause von gut zwei Minuten trat ein. Sie wurde ihm nur um weniges leichter, weil er ihre Atemzüge zählen konnte, die sich nicht auf die Minute genau ausgingen.

„Gut, wir können ja uns einmal treffen. Dann erzähl mehr.“

Zum ersten Mal merkte Aron, dass er die Asymmetrie der persönlichen Anrede als störend empfand. Er musste sich also auch zurechtlegen, das Sie und das Du in ein Gleichgewicht zu bringen. Aber zuerst brauchte er eine Lösung, auch seine Beziehung zur Stadt, zur Arbeit zu den Zahlen und zu persönlichen Interaktionen in Einklang zu bringen.

Arons Lösung mag für Außenstehende verblüffend wirken. Sie würde möglicherweise auch sein Leben beeinflussen.

Wochenlang hatte er danach gesucht. Und dann subtrahierte er sich und Eva aus den Berechnungen. Zahlenmäßig würde das nicht ins Gewicht fallen. Etwa 20 Millionen Liter weniger 200 Liter Wasser. Oder die 0,34 Plastiksackerl, die er und Eva durchschnittlich pro Tag brauchten und welche die 30.000 dieser Stadt nicht erheblich dezimierten.

Aber, es war für Aron ein erster Schritt, das Unberechenbare des Menschlichen zuzulassen. In statistisch unerheblichen Dimensionen, versteht sich. Er konnte sich nun beruhigt mehr auf Eva einlassen.

An das Chaos, das dieses Verhalten auslösen würde, wenn jeder so handelte wie er, verschwendete er keinen einzigen Gedanken.

Antonia H.

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