Da sitze ich also wieder, in der kleinen, muffigen Küche meiner Kleinstadtwohnung, das Bierglas vor mir, ganz so, als wäre ich nie weggewesen, als hätte ich nicht vor rund einem Jahr, damals großspurig ‚Für immer!‘ denkend, diese Wohnung verlassen. Obwohl, irgendetwas in mir muss dem Für-immer-Gedanken misstraut haben, da ich die Wohnung nicht aufgelassen, den Dauerauftrag der billigen Miete nicht gekündigt habe. Seufzend nehme ich einen großen Schluck Bier, greife nach meinem Handy und gehe die Anrufliste durch. Viele Namen sind gespeichert, allerdings ist kein einziger darunter, den ich jetzt, mitten in der Nacht, anrufen könnte, kein einziger, zu dem ich leichthin sagen könnte:
„Hey, ich bin’s, ich bin wieder zurück …“
Schuld daran bin ich selbst, da ich sämtliche Kontakte abgebrochen habe im Laufe dieses Jahres, sogar den zu Max, meinem Bruder. Ich würde ihn gerne anrufen, mich ihm erklären, kann mich aber nicht überwinden. Unmöglich. Zu groß ist meine Scham. Ich lege das Handy weg. Ich fühle mich elend. Ich fühle mich einsam. Ich trinke Bier. Die Stille um mich herum ist mir unerträglich. Ach, alles würde ich jetzt geben für ein Gegenüber, bei dem ich mich ausreden könnte, das mir zuhören würde.
Da höre ich ein Sirren in der Küchenecke, und sehe etwas hell schimmern dort im Eck, irgendetwas Undefinierbares. Ich reibe meine Augen, die offensichtlich übermüdet sind, als ich plötzlich etwas Weiches, Warmes an meinem rechten Unterschenkel spüre. Etwas wie eine leichte Umklammerung. Ich fasse reflexartig hinunter, spüre ein weiches Fell oder Haare, denke: ‚Ah, nur die Katze‘, dann springe ich panisch auf:
„Welche Katze, verdammt, ich habe doch keine Katze!?“
Ich sehe auf einen hellen Lockenkopf an einem winzigen Körper, sehe lange, dünne Ärmchen, die sich an mein Bein klammern, schreie erschrocken auf, versuche, sie abzuschütteln. Der Lockenkopf umklammert mich nur noch fester, und dreht sein Gesicht zu mir. Ich schaue in weitaufgerissene hellblaue Augen. Blasses, kleines Gesicht, Stupsnase, der Mund ärgerlich verkniffen. Was ist das? Ein Kind ist das nicht. Ein Zwerg? Es lässt nun mein Bein los, läuft affenartig schwankend in die Küchenecke, kauert sich dorthin, zieht die Knie an, schlingt seine Arme um den kleinen Körper und sagt mit glockenhellem Stimmchen: „Jetzt beruhige dich doch bitte.“
Mein Herz klopft wie wild, ich schließe die Augen, öffne sie, das kleine Wesen sitzt noch immer in der Küchenecke.
„Wer bist du?“, flüstere ich beinahe tonlos.
„Ein Kobold“, piepst das zarte Ding.
Und dann, etwas lauter: „Jaja, ich weiß, ich sehe nicht wie ein typischer Kobold aus. Aber ich bin einer.“
Und schließlich, wütend: „Ach, dann glaub mir halt nicht! Mir egal. Ich hab’s echt satt, mich ständig erklären zu müssen.“
Ich räuspere mich, habe mich aber noch nicht so weit gefasst, dass ich wieder reden kann.
„Mensch. Jetzt reiß dich zusammen“, sagt der Kobold missmutig. „Zur Erklärung: Du kannst mich sehen, weil ich so wie du todunglücklich bin. Verstehst du? Ich habe mir jemanden gewünscht, dem es ähnlich schlecht geht und mit dem ich reden kann. Und dieser Jemand bist offensichtlich du.“
„Heißt das, ... weil es uns ähnlich ergangen ist ...“, krächze ich. Meine Gedanken schwirren.
„Jaja“, nickt der blonde Kobold, ziemlich ungeduldig, wie mir scheint, angesichts meiner Begriffsstutzigkeit. „Darum.“
„Aber das gibt’s doch nicht!“ Ich habe endlich meine Stimme wieder. „Ich meine, ich bin ein dreißigjähriger Mann, kein Kind mit einem Überschuss an Fantasie. Ach, wahrscheinlich war ich zu lange allein. Meine Nerven. Der Alkohol.“
„Glaub, was du willst. Mir egal. Ich habe meine eigenen Probleme“, sagt der blonde Kobold.
Ein Bier und einen Schnaps später ist er noch immer da. Kauert nun nicht mehr in der Küchenecke, sondern wesentlich entspannter am Küchentisch mir gegenüber. Er ist tatsächlich ungemein zart, wirkt beinahe durchscheinend. Die schwarze Hose und der schwarze Rollkragenpullover, die er trägt, unterstreichen sein helles Äußeres.
„Fassen wir zusammen“, sage ich. „Wir können uns sehen, weil wir im selben Moment dasselbe gedacht haben, präziser, weil wir im selben Moment verzweifelt gewesen sind, und uns ein Gegenüber gewünscht haben, mit dem wir reden können, ein Gegenüber, das uns versteht.“
Der Kobold rollt ungeduldig mit seinen Augen.
„Dann fangen wir endlich damit an, Mensch“, fordert er. „Mit dem Reden.“
„Und warum bist du bei mir gelandet, hier in meiner Wohnung?“, denke ich weiter laut nach. „Und nicht ich bei dir in deiner Welt?“
„Ts, ts, ts“, lacht der Kobold sirrend, „Das ist doch meine Wohnung, Mensch! Ich lebe hier, seit es mich gibt. Obwohl, im letzten Jahr habe ich mich völlig zurückgezogen. Aber jetzt bin ich wieder zurück. Übrigens leben hier auch noch einige andere Kobolde, aber die kannst du nicht sehen.“
Mir verschlägt es wieder die Sprache.
„Also, beginnen wir endlich. Soll ich zuerst erzählen? Oder du, Mensch?“
„Kobold first“, versuche ich mich nach einem weiteren großen Schluck Bier in Lässigkeit.
„Thank you“, sagt der Kobold und dann. „Und unterschätze mich bitte nicht. Außer Englisch spreche ich fließend Französisch, Russisch und Japanisch. Und damit bin ich auch schon bei meinem Problem angelangt: Ich bin nämlich komplett anders als die anderen Kobolde. Nicht nur äußerlich. Ich bin wissbegierig. Ich lese viel. Ich denke. Ich hinterfrage. Ich lerne. Ich schreibe. Das alles macht der typische Kobold nicht.“
„Ich verstehe“, sage ich verwirrt.
„Nichts verstehst du“, sagt der Kobold kopfschüttelnd. Seine Haut schimmert noch eine Spur durchsichtiger vor Ärger, ich kann alle Gegenstände hinter ihm durchsehen.
„Ich habe mich rund ein Jahr lang völlig aus der Koboldwelt zurückgezogen. Mein Intellekt verbietet mir nämlich, dumme Streiche zu spielen. Es langweilt mich, zuzusehen, wie Menschen aufgrund stupider Koboldaktionen ihre Schlüssel oder Brillen suchen. Was aber quasi die Lebensaufgabe eines Kobolds ist. Spielt ein Kobold selten oder gar keine Streiche, wird seine Stimme immer höher, sein Haar, seine Haut immer blasser, heller, elfenhafter, dann durchsichtig, und schlussendlich löst er sich völlig auf. Im Nichts. Das Resultat meiner Verweigerung ist also, dass ich bald kein Kobold mehr sein werde.“
„Ich verstehe“, sage ich wieder. Ich verstehe nun tatsächlich. Und nicht nur das, ich habe die Lösung für sein Problem glasklar vor Augen.
„Es geht also tatsächlich um dein Leben“, sage ich. „Ich denke, es ist an der Zeit, dass du ein paar Kompromisse schließt. Aber du brauchst keinesfalls dein Lebenskonzept aufgeben. Integriere es.“
„Wie stellst du dir das vor?“, schnaubt der Kobold.
„Ganz einfach.“ Koboldprobleme zu lösen, fällt mir erstaunlich leicht. „Lebe und beweise deinen Intellekt anhand deiner Streiche. Spiele keine dummen Streiche, sondern deiner Intelligenz angemessene, strategisch durchdachte, sinndurchflutete. Erstelle Pläne, schreibe Bücher über durchdachte Koboldaktionen, unterrichte eventuell auch andere interessierte Kobolde im intelligenten Streiche-Spielen.“
„Oh“, sagt der Kobold. Er starrt mich erstaunt an, offensichtlich hat er mich unterschätzt.
„Das hat was“, sagt er dann. „Warum sind mir diese Möglichkeiten nie in den Sinn gekommen?“
„Obwohl, so einfach ist das alles nicht“, fügt er hinzu. „Dazu braucht es einiges an Einsatz, an Umdenken, an Flexibilität und Überwindung“, sagt er.
„Tja. Ein Kobold zu sein, ist sicher nicht leicht“, sage ich großmütig.
„Nun gut, Mensch. Ich denke, zunächst einmal werde ich eine Abhandlung über komplexe Streiche-Strategien schreiben, bevor ich es angehe mit dem praktischen Teil, dem Umsetzen.“ Er hebt seine durchsichtige Hand wie zum Abschied, will vom Küchentisch springen.
„Halt, Kobold“, sage ich schnell. „Nicht so eilig. Was ist mit mir? Mit meinen Problemen? Es geht doch darum, dass wir uns gegenseitig zuhören, nicht?“
„Gut. Dann erzähle“, seufzt der Kobold widerstrebend. „Aber mach schnell, bevor ich mich völlig auflöse.“ Er hebt seinen blassen Fuß und betrachtet ihn kopfschüttelnd.
„Also“, sage ich. „Ich bin ausgebildeter Schauspieler. Vor gut einem Jahr bin ich von hier weg und in die Großstadt gezogen, um Karriere als solcher zu machen. Hier in der Kleinstadt gibt es nämlich kaum Möglichkeiten zum Spielen. Doch nach ein, zwei kleinen Rollen bekam ich keine Aufträge mehr. Die Konkurrenz war zu groß. Kurz gesagt: Ich bin gescheitert. Mir blieb schließlich nichts anderes übrig, als die teure Stadtwohnung zu kündigen und wieder hierher zurückzukommen.“
„Ich verstehe“, sagt der Kobold gähnend.
„Nichts verstehst du“, sage ich kopfschüttelnd. Sein Desinteresse ärgert mich.
„Ich habe sämtliche Kontakte abgebrochen, sogar den zu meinem Bruder, weil ich mich voll und ganz meiner Schauspielkarriere, die keine geworden ist, gewidmet habe. Ich kann mich nicht überwinden, ihn anzurufen. Ich schäme mich zu sehr, verstehst du? Ich habe keinen Job, kein Geld. Ich trinke zu viel. Ich bin am Ende.“
„Ich verstehe“, sagt der Kobold wieder. Er scheint nun tatsächlich zu verstehen. Und nicht nur das, er scheint die Lösung für mein Problem glasklar vor Augen zu haben.
„Es geht also tatsächlich um dein Leben“, sagt er. „Ich denke, es ist an der Zeit, dass du ein paar Kompromisse schließt. Aber du brauchst keinesfalls dein Lebenskonzept aufgeben. Integriere es.“
„Und wie stellst du dir das vor?“, schnaube ich.
„Ganz einfach!“ Menschenprobleme zu lösen, fällt dem Kobold sichtlich leicht. „Hör auf mit dem Trinken. Rufe deinen Bruder an, erzähle ihm, dass du zurück bist und hier im Ort eine Schauspielgruppe gründen wirst. Suche dir einen Proberaum, gib Schauspielunterricht, schreibe und inszeniere eigene Stücke.“
„Oh“, sage ich erstaunt und starre den Kobold an, den ich völlig unterschätzt habe.
„Das hat was“, sage ich dann. „Warum sind mir diese Möglichkeiten nie in den Sinn gekommen?“
„Obwohl, so einfach ist das alles nicht“, füge ich hinzu. „Dazu braucht es einiges an Einsatz, an Umdenken, an Flexibilität und Überwindung.“
„Tja“, sagt der Kobold gelangweilt. „Ein Kob-, ich meine, ein Mensch zu sein, ist sicher nicht leicht.“
Und dann: „Mensch, kann ich jetzt endlich los? Wir müssen ja nicht übertreiben mit dem Einander-Erzählen. Ich meine, schau mich an!“ Er fächelt mit seinen bedenklich durchsichtigen Händen. „Ich muss mich jetzt dringendst um mich kümmern.“
Ich nicke ihm zu. Der Kobold hüpft schwankend vom Tisch zum Kücheneck und ist sogleich verschwunden. Nur mehr ein helles Sirren in meinen Ohren. Eine Weile starre ich nachdenklich in das Eck, öffne erneut eine Flasche Bier, doch dann merke ich, wie müde ich bin. Nun erstmal schlafen, beschließe ich, und stelle das Bier in den Kühlschrank.
Am nächsten Morgen fällt mir sofort der Kobold ein. Ob das nächtliche Gespräch Einbildung gewesen ist oder nicht, Tatsache ist, dass ich meine Lebenssituation nun nicht mehr als aussichtslos betrachte. Mit meiner neu gewonnenen Gelassenheit ist es allerdings rasch vorbei, als ich feststelle, dass die Bierflasche, die ich nachts in den Kühlschrank gestellt habe, nicht mehr voll, sondern leer ist. Und ich stehe starr vor Schock, als ich entdecken muss, dass nicht nur diese Flasche, sondern sämtliche Bier-, Wein- und Schnapsflaschen völlig ohne Inhalt sind.
„Das darf doch nicht wahr sein“, fluche ich.
War ich gestern so betrunken, dass ich sie alle ausgeleert habe? Und dann sehe ich es. Das Koboldhaar. Eine blonde Locke klebt an einer der leeren Weinflaschen.
„Also, Kobold“, rufe ich wütend, „ob das tatsächlich ein intelligenter, sinndurchfluteter Streich ist, darüber lässt sich streiten!“
Obwohl, gebe ich insgeheim zu, dadurch natürlich der ideale Ausgangspunkt geschaffen ist, um endlich aufzuhören mit dem Trinken. Was würde mein Bruder dazu sagen? Ich nehme mein Handy in die Hand. Ach, Max weiß ja nicht einmal, dass ich wieder zurück bin. Ich zögere, lasse die Hand mutlos sinken. Als ich das Handy wieder weglegen will, zischt plötzlich etwas wie eine Art Blitz direkt an mir vorbei, und drückt auf Max’ Nummer. Rufaufbau, lese ich. Zugleich vernehme ich ein bekanntes Sirren.
‚Was tust du, Kobold!! Das geht mir zu rasch!‘
Doch schon höre ich Max’ Stimme:
„Oh, das ist ja eine Überraschung. Hey, Bruder!“
„Hey, Max, tja, ich bin’s“, stottere ich. „Ich- ich bin wieder zurück …“
Später sitze ich da, die Fenster meiner kleinen Küche weit geöffnet, eine Tasse grüner Tee vor mir, und fühle mich großartig. Ich denke an das Gespräch mit meinem Bruder. Max hat es mir einfach gemacht, mich zu erklären, und er hat mir in jeder Hinsicht seine Unterstützung zugesagt. Diesem Telefonat sind einige weitere gefolgt, größtenteils aufgrund tatkräftiger Kobold-Anregung. Unter anderem eines mit dem Leiter der örtlichen Volkshochschule, in der ich ab sofort Schauspielkurse geben kann, und eines mit einem Musiker, der mir die Möglichkeit bietet, tageweise seinen Proberaum sowie die Bühne zu benutzen. Ja, meine Vorstellungen werden zusehends realer, alles kommt ins Rollen. Zufrieden starte ich meinen Laptop, um all meine Ideen schriftlich festzuhalten.
Da höre ich – nein, kein hohes Sirren, sondern im Gegenteil ein tiefes Brummen in der Küchenecke, und sehe etwas dunkel glänzen dort im Eck, irgendetwas Undefinierbares.
„Gut gemacht, Kobold“, sage ich leise, „wir sind wieder zurück.“ Und ich beginne zu schreiben.
Claudia Dvoracek-Iby
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