Schlagwort-Archiv: fantastiques

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Die Nacht der vielen Träume den ganzen Schlaf lang

Die Nacht der vielen Träume den ganzen Schlaf lang. Die rothaarige tätowierte Frau nimmt dich an der Hand. „Komm, laufen wir!“ Und gemeinsam lauft ihr, es sind Wiesen und Hügel und Bäume. Du siehst eine Puppe aus Fleisch mit dem Gesicht deiner Freundin. Sie ist tot. Sie hat sich ja auch in Wirklichkeit so lang schon nicht mehr gemeldet. In einem Schwimmbad ist deine Frau. Du sprichst sie an. Sie taucht unter. In Wirklichkeit tut sie das nicht. Oder doch? Du sprichst weiter zu ihr. Sie hört dich nicht. Wie denn auch? „Lass sie!“, sagt die Rothaarige. „Merkst du nicht? Wenn du etwas willst, geht sie auf Tauchstation.“ Die Tochter, der Sohn, große Sorgen, nicht kleine Probleme. Du selbst bist dein größtes. Ihr lauft und lauft, bis der Schlaf aus ist, bis der Tag da ist.

Die rote Amaryllis am 26. Juni 2023, Nahaufnahme

Die rote Amaryllis am 26. Juni 2023, Nahaufnahme

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 24127

Der linke Mensch

Er ist nur ein halber Mensch, und zwar der linke. Er würde gern seinen rechten Menschen treffen und mit ihm einen vollständigen Menschen bilden. Aber gab es ihn immer schon nur als linken? Er kann sich nicht erinnern. Beginnt vielleicht seine Erinnerung zu dem Zeitpunkt, als sein rechter Teil von ihm abfiel? Er sieht sonst nur ganze Menschen mit seinem linken Auge.

Als er nachhause geht, sind dort nur linke Schuhe, linke T-Shirts und ein linker Fernseher. Und linke Zeitungen liegen auf dem Wohnzimmertischchen.

Die rechte Notarzt-Marionette beim SPIELMANN am 24. Mai 2023

Die rechte Notarzt-Marionette beim SPIELMANN am 24. Mai 2023

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 24065

Die Ewigkeit

Die Ewigkeit dauert nicht ein halbes Jahr.
Hast du etwa geglaubt, das wäre so?
Nein, sie dauert, bis riesige Planeten im Weltall kreisen
wie gewaltig vergrößerte Billardkugeln,
und auch das ist noch nicht das Ende.

Heilige in der Pfarrkirche Saak in Nötsch am 29. Juli 2023

Heilige in der Pfarrkirche Saak in Nötsch am 29. Juli 2023

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 24035

Der Mann, der über den Himmel schreitet

Ich schreite über den Himmel.
Obwohl ich kein Vogel bin, kann ich das.
Ich nehme die Farbe des Himmels an.
Hellblau bei Tag, schwarz in der Nacht,
rot und orange, wenn die Sonne sich erhebt und senkt.
Somit bin ich unsichtbar.
Daher weiß niemand, dass ich der Mann bin, der über den Himmel schreitet.

Zweig mit drei braunen Blättern vor dem Himmel mit Wolken

Zweig mit drei braunen Blättern vor dem Himmel mit Wolken

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 24010

Negativabzug

Ein Strahl von Licht
reist durch das All.
Er schneidet eine Linie ins Dunkel
gleich dem Haar eines alten Japaners.

Ein Abbild der Vergangenheit
ist auf dem Weg in die Zukunft.
Und auch wenn seine Empfänger keine Augen haben,
spüren sie doch den Punkt seiner Wärme.

Ein wenig Schnee auf dem sehr dünnen Eis des Lendkanals am 1. Dezember 2021, Nahaufnahme

Ein wenig Schnee auf dem sehr dünnen Eis des Lendkanals am 1. Dezember 2021, Nahaufnahme

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 24020

Drei USB-5.0-Sticks

Der Körper des Roboters ist fertig. Ich hebe seine Haare an, unter denen sich ein USB-Port befindet. Mit dem ersten USB-5.0-Stick spiele ich sein Bewusstsein in sein Neuron-Gehirn. Mit dem zweiten Stick überspiele ich seine Seele, die sich in seinem Körper verteilt. Und mit dem dritten Stick überspiele ich seine Arbeitsaufgaben und sein Programm in seine Wahrnehmungsorgane, seine Arme und Beine.

Der USB-Ventilator mit Lichtern bei Saturn

Der USB-Ventilator mit Lichtern bei Saturn

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23186

Zeitreise

Langsam biegt sie in die Einbahnstraße ab, der Verkehr ist enorm und sie hat etwas Mühe, dem Navigationssystem zu folgen. Sie ist froh, dass die Tschechen so geduldige und unaufdringliche Autofahrer sind.

Endlich erreicht sie ihr Hotel im Zentrum von Prag und checkt ein. Die Agentur hat ihr eine nette Unterkunft reserviert, von wo aus sie zu Fuß alle wichtigen Sehenswürdigkeiten erreichen und das Auto in der Tiefgarage parken kann für die nächsten Tage. Sie hat noch genügend Zeit bis zu ihrem Termin nach dem Besuch im Museum Franz Kafka.

Mit einem kleinen Rucksack, vollgepackt mit Notizbüchern, Stiften, der Eintrittskarte fürs Museum und dem vorgefassten Interviewprotokoll verlässt Doris ihr Zimmer. Es weht eine sanfte, warme Brise durch die Straßen und Gassen, sie ist verwundert, dass Anfang Mai so angenehme Temperaturen in der Stadt herrschen. An diesem sonnigen Freitag sind viele Einheimische und Touristen auf den Straßen unterwegs, die Tische der Cafés und Gasthäuser auf den Bürgersteigen sind ausgesprochen dicht besetzt. Die geöffnete Gastronomie ist ein Segen für die Menschen nach den harten Jahren der Pandemie.

Doris holt sich ein Haarband aus der Jackentasche und knotet geschickt ihre brünetten, etwas widerspenstigen Locken zu einem Dutt. Einzelne wirbelnde Strähnen umrahmen ihren ebenmäßigen Teint und umspielen ihre grünblauen Augen. Die freudige Laune der Menschen um sie herum überträgt sich auf Doris und mit einem zarten Lächeln im Gesicht biegt sie einige Male links, dann wieder rechts durch Gassen und Einkaufsstraßen ab. Sie betrachtet die Fassaden der in gotischem oder barockem Baustil erbauten Häuser und die Blumendekorationen vor den Eingängen und Fenstern. Ihre Schritte hallen gedämpft vom abgenutzten Kopfsteinpflaster wider, in manchen farbenprächtigen Gotikfenstern spiegelt sich die Sonne und wirft bunte Farbkleckse an die gegenüberliegenden Hausreihen. Alles scheint ihr sehr vertraut, als wäre sie eine Bürgerin von Prag. Wie kann das sein? Ich bin das erste Mal hier? Kopfschüttelnd geht sie weiter und taucht in das geschäftige Treiben um sie herum ein.

Plötzlich nimmt sie eigentümliche Gerüche wahr – es riecht nach Pferdemist und Pferdeschweiß. Sie sieht sich um, bemerkt aber keine Kutschen in der Nähe, auch eine Pferdestallung kann sie nicht ausmachen in der unmittelbaren Umgebung. Ein leichtes Gefühl von Verwirrung macht sich in ihr breit. Nicht ein einziges Mal muss sie Google Maps auf ihrem Handy bemühen, sie kennt jede Gasse, jeden Platz, die Brunnen, Pulvertürme, Kirchen und kleinen Parks. An der Ecke Zelezna zum historischen Rathaus bleibt sie jäh stehen. Ihr Atem stockt, ist schwer, sie fühlt sich eingeengt im Brust- und Taillenbereich, als wäre sie von einer Zange umklammert. Sie lehnt sich an die Hausmauer und schließt die Augen. Du musst etwas trinken, das ist nur der Kreislauf nach der langen Autofahrt!

Doris überquert den überfüllten alten Rathausplatz und schlängelt sich geschickt durch die engen Gassen auf den Weg zur Karlsbrücke. Das heimelige Rauschen der Moldau unter ihr lässt Bilder in ihrem Kopf entstehen … – vor ihrem inneren Auge sieht sie eine junge Frau mit Sonnenschirm, breitkrempigem Hut und knöchellangem Rüschenkleid vergnügt die Brücke entlanglaufen Richtung Malá Strana …

Sie braucht dringend ein stilles Plätzchen. Sie weiß auch schon wo, nämlich in dem kleinen, abgeschiedenen Innenhof mit den von Efeu überwucherten Mauern und den schattenspendenden Lindenbäumen auf der Kleinseite von Prag, sie schreitet zügig weiter. Ein einziger Tisch ist noch frei vor der Bühne, wo gerade eine Jazzband, bestehend aus drei Mann mit Kontrabass, Saxophon und Gitarre, eine leise Melodie mit sanftem Blues-Einfluss zum Besten gibt.

Um ihren Kreislauf anzukurbeln, bestellt sie Espresso und Cola. Doris lauscht der wohltuenden Musik. Die Vögel zwitschern in den Bäumen, Insekten surren an den Linden- und Efeublüten, langsam beruhigt sie sich wieder. An den Nebentischen wird gegessen, getrunken, gelacht und diskutiert. Aber halt! Viele Gäste sprechen tschechisch! Und: Doris versteht jedes Wort dieser ihr bis zum heutigen Tag fremden Sprache. Jak je možné, že rozumím česky? Wie ist es möglich, dass ich Tschechisch verstehe?

Wieder überkommt sie dieses einengende Gefühl in der Brust, sie ruft den Kellner, bezahlt und verlässt das Gartenlokal. In einigen Minuten Fußmarsch erreicht sie auch das Museum Franz Kafka in der Cihelná 2. Ein kurzer Blick auf die Uhr verrät ihr, dass sie den Zeitplan perfekt einhalten kann und pünktlich zum Treffen mit anderen Journalisten im Garten des Wallensteinpalastes eintreffen wird.

Die Räume, Gänge und Treppen des Museums sind unglaublich dunkel gehalten, teilweise schwarz tapeziert, leise Musik aus dem Hintergrund verleiht dem Ambiente eine rätselhafte, leicht bedrohliche Stimmung. Den Museumsbetreibern ist es perfekt gelungen, das Kafkaeske dieser Ausstellung dem Besucher zu vermitteln. In einigen Nischen werden in Schwarz-Weiß gedrehte Filme an schwarze Leinwände projiziert, die einen Einblick in das Leben in Prag um die Jahrhundertwende gewähren. Die Präsentation beinhaltet auch Glasvitrinen mit Originalausschnitten von Kafkas Tagebüchern und Briefen. Doris liest aufmerksam die Zeilen und sie erschaudert, die seelische Zerrissenheit und tiefe Trauer von Franz Kafka gehen ihr nahe. Im Hintergrund hört sie leise Musik von Friedrich Smetana, die Museumsbesucher schlendern ruhig über die knarzenden Holzdielen, kaum jemand spricht oder unterhält sich, jeder scheint in Gedanken versunken zu sein, in eine Welt voll Tristesse, Melancholie.

Doris wendet sich der Stiege zu, die ins Erdgeschoß zum Ausgang führt, sie muss sich am Treppengeländer festhalten, die Beleuchtung ist dürftig. Kurz vor der letzten Stufe spürt sie einen dumpfen Schlag gegen ihre Stirn, sie hat sich an einem Balken den Kopf kräftig gestoßen. „Zatracený“, verdammt, entfleucht es ihrem Mund. Sie fasst an die schmerzende Stelle und fühlt auch schon ein warmes zartes Rinnsal über ihrem Nasenflügel.

Schnell packt sie Jacke und Rucksack aus der Garderobe und eilt in den sonnigen Hof vor dem Museumseingang. An einer schattigen Parkbank nimmt sie Platz und sucht nach Taschentüchern. Doris atmet tief durch, lehnt sich an die Hausmauer, drückt das Tuch an ihre Stirn und schließt die Augen.

Ein leichter Wind zieht durch die Gassen in den Innenhof in der Malá Strana, ihre salopp nach hinten gekämmten nackenlangen Locken schlüpfen unter dem kleinen Glockenhut hervor. Ihr violetter Rock aus weitem Jersey schmiegt sich an ihre Knie, ein schmaler Gürtel betont ihre Taille. Die hochgeschlossene weiße Satinbluse schimmert im Sonnenlicht und ihre Finger der linken Hand spielen mit einer beigefarbenen langen Perlenkette. Ein schelmisches Lächeln umspielt ihre vollen, rot geschminkten Lippen. Das Paar sitzt auf der Parkbank und beobachtet das rege Treiben auf den Straßen, Hufgetrappel auf dem Kopfsteinpflaster ist zu hören und kündigt eine Pferdekutsche an, dicht dahinter klingelt die Straßenbahn.

 „Was für ein herrlicher Tag, meine Liebe!“, flüstert ihr František ins Ohr, sein rauer Atem kitzelt ihren Hals. Er drückt ihre rechte Hand, die auf seinem Schoß liegt. Der Wollstoff seiner anthrazit-grauen Hose mit goldbrauner Streifenoptik ist angenehm weich auf ihrer Haut. Aus der Tasche seiner hochgeschlossenen Weste baumelt eine goldene Uhrkette, das Einstecktuch und die Krawatte sind mit ihrem violetten Rock abgestimmt. Er rückt sich den grauen Fedora-Hut mit mittelbreiter Krempe und dunkelgrauem Hutband zurecht, beugt sich vor und küsst sie.

 „Aber František, doch nicht vor allen Leuten“, flüstert sie, wirft den Kopf in den Nacken und lacht.

„Hallo? Geht es Ihnen gut? Ist alles in Ordnung, gnädige Frau?“ Eine Hand liegt auf Doris’ Schulter und drückt sie sachte. Sie öffnet die Augen und sieht eine ältere Dame mit besorgter Miene vor ihr stehen.

„Ja, danke. Es ist alles in Ordnung. Ich habe mir nur den Kopf gestoßen. Das wird schon wieder.“ Doris betrachtet das Taschentuch, die Wunde hat aufgehört zu bluten.

„Komm, trinken Sie ein Gläschen Absinth, ich habe es gerade aus dem Haus geholt, als ich Sie hier sitzen sah.“ Das hellgrüne Wermutgetränk erfrischt ihren Gaumen und die Kehle abrupt, ein kleines Feuerwerk schießt indessen in ihren Kopf. Sie blickt auf ihre Uhr und erschrickt.

„Vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen, aber ich muss jetzt dringend zu meinem Termin!“

Die meisten Plätze sind schon besetzt, und am Podium haben sich die Diskussionsleiter bereits eingefunden. Kurzer Check der Mikrofone, Doris zückt ihren Block und ihre Interviewfragen, startet ihr Aufzeichnungsgerät und atmet tief durch. Einige wenige Journalisten sind ihr aus anderen Literaturdiskussionen bekannt, sie winkt ihnen höflich zu. An den Tischen auf der Seite sieht sie Bücher ausgestellt von Franz Kafka. Eigenartig – es sind zahlreiche Bände dabei mit farbenfrohen Bildern von Gustav Klimt auf dem Cover. Von einigen Titeln hat sie noch nie gehört. Ist sie denn auf dem richtigen Meeting?

„Meine Damen und Herren, ich darf Sie herzlich begrüßen zur Literaturdiskussion über Franz Kafka …!“

„… er war ein lebensfroher Mensch mit herrlich humorvollen Romanen und zarten Liebesbriefen an seine geliebte Dora …!“

„… er war ein Ausnahmetalent, der erst in späten Jahren, von einer tiefen Melancholie kommend, jedoch über die Liebe zu Dora zu einem herausragenden Schriftsteller wurde …!“

„… Franz Kafka war hoch geschätzt und hat zu Lebzeiten zahlreiche Werke verkauft, er konnte bis ins hohe Alter mit seiner Frau ein gesundes, glückliches und wohlhabendes Leben hier in Prag führen …!“

Doris schüttelt den Kopf und hebt ihre Hand:

„Entschuldigen Sie bitte, aber von welchem Franz Kafka sprechen Sie? Er wurde nicht alt, er war schwer lungenkrank, vermutlich auch depressiv, … und vermögend war er schon gar nicht. Und von welcher Dora sprechen Sie?“

Die Gäste auf den Rängen vor ihr drehen sich um zu Doris, sie lächeln, scharren verlegen mit den Schuhsohlen auf dem Kieselboden und vereinzelt ist ein Räuspern zu hören.

„Aber nein! Nein! Wir sind doch heute hier, um über die wunderbare Literatur von Franz Kafka zu sprechen und über die großartige Wende in seiner zweiten Lebenshälfte, als er Dora Diamant kennenlernte! Wie ist denn Ihr Name, gute Frau, und für welchen Literaturbetrieb schreiben Sie?“ Der Diskussionsleiter ist nun von seinem Platz aufgestanden und betrachtet sie interessiert.

Alle Farbe weicht aus Doris’ Gesicht, eine Gänsehaut macht sich auf ihren Unterarmen breit, sie fühlt die Blicke in ihrem Rücken wie brennende Speere.

„Ich, … also ich, … mein Name ist Doris … Doris Diamant!“

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23143

Zimmer Nummer 409

Nach einer Idee meines Sohnes Michael

64 € kostet das Zimmer im Dreisternhotel in Wien. Für einen 7. März ist das ein durchschnittlicher Preis. Das Buffet soll üppig sein, aber das werde ich erst morgen früh bemerken. Ich nehme den Aufzug, es geht in den 4. Stock, Zimmer Nummer 409. Die Tür öffnet mit einer Keycard.

Drinnen ist es gemütlich, aber eng. 59 € wären wohl eher angemessen. Unter dem Fenster sieht man den Verkehr im nächtlichen Wien. Doch halt!, die Autos bewegen sich nicht, genauso wenig wie die Fußgänger.

Ich will das Fenster öffnen, dabei stoße ich auf dickes Papier. Das Fenster ist eine Tapete. An allen Wänden dieses Zimmers kleben Tapeten. Auch die Tür ist eine Tapete.

Ich komme hier nie mehr raus!, ist mein erster Gedanke. Aber ich habe ja mein Handy!, lautet der zweite.

Bunte Fenster im Lokal DAS WOHNZIMMER in der Nacht des 23. Dezember 2020

Bunte Fenster im Lokal DAS WOHNZIMMER in der Nacht des 23. Dezember 2020

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23185

Wieder zurück

Da sitze ich also wieder, in der kleinen, muffigen Küche meiner Kleinstadtwohnung, das Bierglas vor mir, ganz so, als wäre ich nie weggewesen, als hätte ich nicht vor rund einem Jahr, damals großspurig ‚Für immer!‘ denkend, diese Wohnung verlassen. Obwohl, irgendetwas in mir muss dem Für-immer-Gedanken misstraut haben, da ich die Wohnung nicht aufgelassen, den Dauerauftrag der billigen Miete nicht gekündigt habe. Seufzend nehme ich einen großen Schluck Bier, greife nach meinem Handy und gehe die Anrufliste durch. Viele Namen sind gespeichert, allerdings ist kein einziger darunter, den ich jetzt, mitten in der Nacht, anrufen könnte, kein einziger, zu dem ich leichthin sagen könnte:

„Hey, ich bin’s, ich bin wieder zurück …“

Schuld daran bin ich selbst, da ich sämtliche Kontakte abgebrochen habe im Laufe dieses Jahres, sogar den zu Max, meinem Bruder. Ich würde ihn gerne anrufen, mich ihm erklären, kann mich aber nicht überwinden. Unmöglich. Zu groß ist meine Scham. Ich lege das Handy weg. Ich fühle mich elend. Ich fühle mich einsam. Ich trinke Bier. Die Stille um mich herum ist mir unerträglich. Ach, alles würde ich jetzt geben für ein Gegenüber, bei dem ich mich ausreden könnte, das mir zuhören würde.

Da höre ich ein Sirren in der Küchenecke, und sehe etwas hell schimmern dort im Eck, irgendetwas Undefinierbares. Ich reibe meine Augen, die offensichtlich übermüdet sind, als ich plötzlich etwas Weiches, Warmes an meinem rechten Unterschenkel spüre. Etwas wie eine leichte Umklammerung. Ich fasse reflexartig hinunter, spüre ein weiches Fell oder Haare, denke: ‚Ah, nur die Katze‘, dann springe ich panisch auf:

„Welche Katze, verdammt, ich habe doch keine Katze!?“

Ich sehe auf einen hellen Lockenkopf an einem winzigen Körper, sehe lange, dünne Ärmchen, die sich an mein Bein klammern, schreie erschrocken auf, versuche, sie abzuschütteln. Der Lockenkopf umklammert mich nur noch fester, und dreht sein Gesicht zu mir. Ich schaue in weitaufgerissene hellblaue Augen. Blasses, kleines Gesicht, Stupsnase, der Mund ärgerlich verkniffen. Was ist das? Ein Kind ist das nicht. Ein Zwerg? Es lässt nun mein Bein los, läuft affenartig schwankend in die Küchenecke, kauert sich dorthin, zieht die Knie an, schlingt seine Arme um den kleinen Körper und sagt mit glockenhellem Stimmchen: „Jetzt beruhige dich doch bitte.“

Mein Herz klopft wie wild, ich schließe die Augen, öffne sie, das kleine Wesen sitzt noch immer in der Küchenecke.

„Wer bist du?“, flüstere ich beinahe tonlos.

„Ein Kobold“, piepst das zarte Ding.

Und dann, etwas lauter: „Jaja, ich weiß, ich sehe nicht wie ein typischer Kobold aus. Aber ich bin einer.“

Und schließlich, wütend: „Ach, dann glaub mir halt nicht! Mir egal. Ich hab’s echt satt, mich ständig erklären zu müssen.“

Ich räuspere mich, habe mich aber noch nicht so weit gefasst, dass ich wieder reden kann.

„Mensch. Jetzt reiß dich zusammen“, sagt der Kobold missmutig. „Zur Erklärung: Du kannst mich sehen, weil ich so wie du todunglücklich bin. Verstehst du? Ich habe mir jemanden gewünscht, dem es ähnlich schlecht geht und mit dem ich reden kann. Und dieser Jemand bist offensichtlich du.“

„Heißt das, ... weil es uns ähnlich ergangen ist ...“, krächze ich. Meine Gedanken schwirren.

„Jaja“, nickt der blonde Kobold, ziemlich ungeduldig, wie mir scheint, angesichts meiner Begriffsstutzigkeit. „Darum.“

„Aber das gibt’s doch nicht!“ Ich habe endlich meine Stimme wieder. „Ich meine, ich bin ein dreißigjähriger Mann, kein Kind mit einem Überschuss an Fantasie. Ach, wahrscheinlich war ich zu lange allein. Meine Nerven. Der Alkohol.“

„Glaub, was du willst. Mir egal. Ich habe meine eigenen Probleme“, sagt der blonde Kobold.

Ein Bier und einen Schnaps später ist er noch immer da. Kauert nun nicht mehr in der Küchenecke, sondern wesentlich entspannter am Küchentisch mir gegenüber. Er ist tatsächlich ungemein zart, wirkt beinahe durchscheinend. Die schwarze Hose und der schwarze Rollkragenpullover, die er trägt, unterstreichen sein helles Äußeres.

„Fassen wir zusammen“, sage ich. „Wir können uns sehen, weil wir im selben Moment dasselbe gedacht haben, präziser, weil wir im selben Moment verzweifelt gewesen sind, und uns ein Gegenüber gewünscht haben, mit dem wir reden können, ein Gegenüber, das uns versteht.“

Der Kobold rollt ungeduldig mit seinen Augen.

„Dann fangen wir endlich damit an, Mensch“, fordert er. „Mit dem Reden.“

„Und warum bist du bei mir gelandet, hier in meiner Wohnung?“, denke ich weiter laut nach. „Und nicht ich bei dir in deiner Welt?“

„Ts, ts, ts“, lacht der Kobold sirrend, „Das ist doch meine Wohnung, Mensch! Ich lebe hier, seit es mich gibt. Obwohl, im letzten Jahr habe ich mich völlig zurückgezogen. Aber jetzt bin ich wieder zurück. Übrigens leben hier auch noch einige andere Kobolde, aber die kannst du nicht sehen.“

Mir verschlägt es wieder die Sprache.

„Also, beginnen wir endlich. Soll ich zuerst erzählen? Oder du, Mensch?“

„Kobold first“, versuche ich mich nach einem weiteren großen Schluck Bier in Lässigkeit.

„Thank you“, sagt der Kobold und dann. „Und unterschätze mich bitte nicht. Außer Englisch spreche ich fließend Französisch, Russisch und Japanisch. Und damit bin ich auch schon bei meinem Problem angelangt: Ich bin nämlich komplett anders als die anderen Kobolde. Nicht nur äußerlich. Ich bin wissbegierig. Ich lese viel. Ich denke. Ich hinterfrage. Ich lerne. Ich schreibe. Das alles macht der typische Kobold nicht.“

„Ich verstehe“, sage ich verwirrt.

„Nichts verstehst du“, sagt der Kobold kopfschüttelnd. Seine Haut schimmert noch eine Spur durchsichtiger vor Ärger, ich kann alle Gegenstände hinter ihm durchsehen.

„Ich habe mich rund ein Jahr lang völlig aus der Koboldwelt zurückgezogen. Mein Intellekt verbietet mir nämlich, dumme Streiche zu spielen. Es langweilt mich, zuzusehen, wie Menschen aufgrund stupider Koboldaktionen ihre Schlüssel oder Brillen suchen. Was aber quasi die Lebensaufgabe eines Kobolds ist. Spielt ein Kobold selten oder gar keine Streiche, wird seine Stimme immer höher, sein Haar, seine Haut immer blasser, heller, elfenhafter, dann durchsichtig, und schlussendlich löst er sich völlig auf. Im Nichts. Das Resultat meiner Verweigerung ist also, dass ich bald kein Kobold mehr sein werde.“

„Ich verstehe“, sage ich wieder. Ich verstehe nun tatsächlich. Und nicht nur das, ich habe die Lösung für sein Problem glasklar vor Augen.

„Es geht also tatsächlich um dein Leben“, sage ich. „Ich denke, es ist an der Zeit, dass du ein paar Kompromisse schließt. Aber du brauchst keinesfalls dein Lebenskonzept aufgeben. Integriere es.“

„Wie stellst du dir das vor?“, schnaubt der Kobold.

„Ganz einfach.“ Koboldprobleme zu lösen, fällt mir erstaunlich leicht. „Lebe und beweise deinen Intellekt anhand deiner Streiche. Spiele keine dummen Streiche, sondern deiner Intelligenz angemessene, strategisch durchdachte, sinndurchflutete. Erstelle Pläne, schreibe Bücher über durchdachte Koboldaktionen, unterrichte eventuell auch andere interessierte Kobolde im intelligenten Streiche-Spielen.“

„Oh“, sagt der Kobold. Er starrt mich erstaunt an, offensichtlich hat er mich unterschätzt.

„Das hat was“, sagt er dann. „Warum sind mir diese Möglichkeiten nie in den Sinn gekommen?“

„Obwohl, so einfach ist das alles nicht“, fügt er hinzu. „Dazu braucht es einiges an Einsatz, an Umdenken, an Flexibilität und Überwindung“, sagt er.

„Tja. Ein Kobold zu sein, ist sicher nicht leicht“, sage ich großmütig.

„Nun gut, Mensch. Ich denke, zunächst einmal werde ich eine Abhandlung über komplexe Streiche-Strategien schreiben, bevor ich es angehe mit dem praktischen Teil, dem Umsetzen.“ Er hebt seine durchsichtige Hand wie zum Abschied, will vom Küchentisch springen.

„Halt, Kobold“, sage ich schnell. „Nicht so eilig. Was ist mit mir? Mit meinen Problemen? Es geht doch darum, dass wir uns gegenseitig zuhören, nicht?“

„Gut. Dann erzähle“, seufzt der Kobold widerstrebend. „Aber mach schnell, bevor ich mich völlig auflöse.“ Er hebt seinen blassen Fuß und betrachtet ihn kopfschüttelnd.

„Also“, sage ich. „Ich bin ausgebildeter Schauspieler. Vor gut einem Jahr bin ich von hier weg und in die Großstadt gezogen, um Karriere als solcher zu machen. Hier in der Kleinstadt gibt es nämlich kaum Möglichkeiten zum Spielen. Doch nach ein, zwei kleinen Rollen bekam ich keine Aufträge mehr. Die Konkurrenz war zu groß. Kurz gesagt: Ich bin gescheitert. Mir blieb schließlich nichts anderes übrig, als die teure Stadtwohnung zu kündigen und wieder hierher zurückzukommen.“

„Ich verstehe“, sagt der Kobold gähnend.

„Nichts verstehst du“, sage ich kopfschüttelnd. Sein Desinteresse ärgert mich.

„Ich habe sämtliche Kontakte abgebrochen, sogar den zu meinem Bruder, weil ich mich voll und ganz meiner Schauspielkarriere, die keine geworden ist, gewidmet habe. Ich kann mich nicht überwinden, ihn anzurufen. Ich schäme mich zu sehr, verstehst du? Ich habe keinen Job, kein Geld. Ich trinke zu viel. Ich bin am Ende.“

„Ich verstehe“, sagt der Kobold wieder. Er scheint nun tatsächlich zu verstehen. Und nicht nur das, er scheint die Lösung für mein Problem glasklar vor Augen zu haben.

„Es geht also tatsächlich um dein Leben“, sagt er. „Ich denke, es ist an der Zeit, dass du ein paar Kompromisse schließt. Aber du brauchst keinesfalls dein Lebenskonzept aufgeben. Integriere es.“

„Und wie stellst du dir das vor?“, schnaube ich.

„Ganz einfach!“ Menschenprobleme zu lösen, fällt dem Kobold sichtlich leicht. „Hör auf mit dem Trinken. Rufe deinen Bruder an, erzähle ihm, dass du zurück bist und hier im Ort eine Schauspielgruppe gründen wirst. Suche dir einen Proberaum, gib Schauspielunterricht, schreibe und inszeniere eigene Stücke.“

„Oh“, sage ich erstaunt und starre den Kobold an, den ich völlig unterschätzt habe.

„Das hat was“, sage ich dann. „Warum sind mir diese Möglichkeiten nie in den Sinn gekommen?“

„Obwohl, so einfach ist das alles nicht“, füge ich hinzu. „Dazu braucht es einiges an Einsatz, an Umdenken, an Flexibilität und Überwindung.“

„Tja“, sagt der Kobold gelangweilt. „Ein Kob-, ich meine, ein Mensch zu sein, ist sicher nicht leicht.“

Und dann: „Mensch, kann ich jetzt endlich los? Wir müssen ja nicht übertreiben mit dem Einander-Erzählen. Ich meine, schau mich an!“ Er fächelt mit seinen bedenklich durchsichtigen Händen. „Ich muss mich jetzt dringendst um mich kümmern.“

Ich nicke ihm zu. Der Kobold hüpft schwankend vom Tisch zum Kücheneck und ist sogleich verschwunden. Nur mehr ein helles Sirren in meinen Ohren. Eine Weile starre ich nachdenklich in das Eck, öffne erneut eine Flasche Bier, doch dann merke ich, wie müde ich bin. Nun erstmal schlafen, beschließe ich, und stelle das Bier in den Kühlschrank.

Am nächsten Morgen fällt mir sofort der Kobold ein. Ob das nächtliche Gespräch Einbildung gewesen ist oder nicht, Tatsache ist, dass ich meine Lebenssituation nun nicht mehr als aussichtslos betrachte. Mit meiner neu gewonnenen Gelassenheit ist es allerdings rasch vorbei, als ich feststelle, dass die Bierflasche, die ich nachts in den Kühlschrank gestellt habe, nicht mehr voll, sondern leer ist. Und ich stehe starr vor Schock, als ich entdecken muss, dass nicht nur diese Flasche, sondern sämtliche Bier-, Wein- und Schnapsflaschen völlig ohne Inhalt sind.

„Das darf doch nicht wahr sein“, fluche ich.

War ich gestern so betrunken, dass ich sie alle ausgeleert habe? Und dann sehe ich es. Das Koboldhaar. Eine blonde Locke klebt an einer der leeren Weinflaschen.

„Also, Kobold“, rufe ich wütend, „ob das tatsächlich ein intelligenter, sinndurchfluteter Streich ist, darüber lässt sich streiten!“

Obwohl, gebe ich insgeheim zu, dadurch natürlich der ideale Ausgangspunkt geschaffen ist, um endlich aufzuhören mit dem Trinken. Was würde mein Bruder dazu sagen? Ich nehme mein Handy in die Hand. Ach, Max weiß ja nicht einmal, dass ich wieder zurück bin. Ich zögere, lasse die Hand mutlos sinken. Als ich das Handy wieder weglegen will, zischt plötzlich etwas wie eine Art Blitz direkt an mir vorbei, und drückt auf Max’ Nummer. Rufaufbau, lese ich. Zugleich vernehme ich ein bekanntes Sirren.

‚Was tust du, Kobold!! Das geht mir zu rasch!‘

Doch schon höre ich Max’ Stimme:

„Oh, das ist ja eine Überraschung. Hey, Bruder!“

„Hey, Max, tja, ich bin’s“, stottere ich. „Ich- ich bin wieder zurück …“

Später sitze ich da, die Fenster meiner kleinen Küche weit geöffnet, eine Tasse grüner Tee vor mir, und fühle mich großartig. Ich denke an das Gespräch mit meinem Bruder. Max hat es mir einfach gemacht, mich zu erklären, und er hat mir in jeder Hinsicht seine Unterstützung zugesagt. Diesem Telefonat sind einige weitere gefolgt, größtenteils aufgrund tatkräftiger Kobold-Anregung. Unter anderem eines mit dem Leiter der örtlichen Volkshochschule, in der ich ab sofort Schauspielkurse geben kann, und eines mit einem Musiker, der mir die Möglichkeit bietet, tageweise seinen Proberaum sowie die Bühne zu benutzen. Ja, meine Vorstellungen werden zusehends realer, alles kommt ins Rollen. Zufrieden starte ich meinen Laptop, um all meine Ideen schriftlich festzuhalten.

Da höre ich – nein, kein hohes Sirren, sondern im Gegenteil ein tiefes Brummen in der Küchenecke, und sehe etwas dunkel glänzen dort im Eck, irgendetwas Undefinierbares.

„Gut gemacht, Kobold“, sage ich leise, „wir sind wieder zurück.“ Und ich beginne zu schreiben.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23144

Der Mann, den es nicht gab

Er war der Mann, den es nicht gab. Der nicht geboren wurde, somit nicht lebte und nicht starb. Er hatte keine Eltern. Nie war er im Kindergarten und nie in der Schule. Er maturierte niemals, leistete danach nicht den Präsenzdienst ab. Er studierte auch nicht Betriebswirtschaftslehre. Nie verliebte er sich, heiratete nicht, hatte keine Kinder, die Bernhard und Mia hießen. Er stand nie in einem Beschäftigungsverhältnis, hatte nie ein Einkommen. Er wurde nicht alt, so wie er auch niemals jung gewesen war. Er hatte keine Lebenskrisen, weil er zu keiner Zeit lebte. Alles, was hätte sein können, geschah niemals, weil sein vermeintlich zukünftiger Vater seine für ihn vorgesehene Mutter damals auf der Straße nicht angesprochen hatte.

Abendlichter hinter dem grünen Zaun in Pörtschach am 19. April 2023

Abendlichter hinter dem grünen Zaun in Pörtschach am 19. April 2023

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23148