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Der Mann, der über den Himmel schreitet

Ich schreite über den Himmel.
Obwohl ich kein Vogel bin, kann ich das.
Ich nehme die Farbe des Himmels an.
Hellblau bei Tag, schwarz in der Nacht,
rot und orange, wenn die Sonne sich erhebt und senkt.
Somit bin ich unsichtbar.
Daher weiß niemand, dass ich der Mann bin, der über den Himmel schreitet.

Zweig mit drei braunen Blättern vor dem Himmel mit Wolken

Zweig mit drei braunen Blättern vor dem Himmel mit Wolken

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 24010

Negativabzug

Ein Strahl von Licht
reist durch das All.
Er schneidet eine Linie ins Dunkel
gleich dem Haar eines alten Japaners.

Ein Abbild der Vergangenheit
ist auf dem Weg in die Zukunft.
Und auch wenn seine Empfänger keine Augen haben,
spüren sie doch den Punkt seiner Wärme.

Ein wenig Schnee auf dem sehr dünnen Eis des Lendkanals am 1. Dezember 2021, Nahaufnahme

Ein wenig Schnee auf dem sehr dünnen Eis des Lendkanals am 1. Dezember 2021, Nahaufnahme

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 24020

Drei USB-5.0-Sticks

Der Körper des Roboters ist fertig. Ich hebe seine Haare an, unter denen sich ein USB-Port befindet. Mit dem ersten USB-5.0-Stick spiele ich sein Bewusstsein in sein Neuron-Gehirn. Mit dem zweiten Stick überspiele ich seine Seele, die sich in seinem Körper verteilt. Und mit dem dritten Stick überspiele ich seine Arbeitsaufgaben und sein Programm in seine Wahrnehmungsorgane, seine Arme und Beine.

Der USB-Ventilator mit Lichtern bei Saturn

Der USB-Ventilator mit Lichtern bei Saturn

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23186

Zeitreise

Langsam biegt sie in die Einbahnstraße ab, der Verkehr ist enorm und sie hat etwas Mühe, dem Navigationssystem zu folgen. Sie ist froh, dass die Tschechen so geduldige und unaufdringliche Autofahrer sind.

Endlich erreicht sie ihr Hotel im Zentrum von Prag und checkt ein. Die Agentur hat ihr eine nette Unterkunft reserviert, von wo aus sie zu Fuß alle wichtigen Sehenswürdigkeiten erreichen und das Auto in der Tiefgarage parken kann für die nächsten Tage. Sie hat noch genügend Zeit bis zu ihrem Termin nach dem Besuch im Museum Franz Kafka.

Mit einem kleinen Rucksack, vollgepackt mit Notizbüchern, Stiften, der Eintrittskarte fürs Museum und dem vorgefassten Interviewprotokoll verlässt Doris ihr Zimmer. Es weht eine sanfte, warme Brise durch die Straßen und Gassen, sie ist verwundert, dass Anfang Mai so angenehme Temperaturen in der Stadt herrschen. An diesem sonnigen Freitag sind viele Einheimische und Touristen auf den Straßen unterwegs, die Tische der Cafés und Gasthäuser auf den Bürgersteigen sind ausgesprochen dicht besetzt. Die geöffnete Gastronomie ist ein Segen für die Menschen nach den harten Jahren der Pandemie.

Doris holt sich ein Haarband aus der Jackentasche und knotet geschickt ihre brünetten, etwas widerspenstigen Locken zu einem Dutt. Einzelne wirbelnde Strähnen umrahmen ihren ebenmäßigen Teint und umspielen ihre grünblauen Augen. Die freudige Laune der Menschen um sie herum überträgt sich auf Doris und mit einem zarten Lächeln im Gesicht biegt sie einige Male links, dann wieder rechts durch Gassen und Einkaufsstraßen ab. Sie betrachtet die Fassaden der in gotischem oder barockem Baustil erbauten Häuser und die Blumendekorationen vor den Eingängen und Fenstern. Ihre Schritte hallen gedämpft vom abgenutzten Kopfsteinpflaster wider, in manchen farbenprächtigen Gotikfenstern spiegelt sich die Sonne und wirft bunte Farbkleckse an die gegenüberliegenden Hausreihen. Alles scheint ihr sehr vertraut, als wäre sie eine Bürgerin von Prag. Wie kann das sein? Ich bin das erste Mal hier? Kopfschüttelnd geht sie weiter und taucht in das geschäftige Treiben um sie herum ein.

Plötzlich nimmt sie eigentümliche Gerüche wahr – es riecht nach Pferdemist und Pferdeschweiß. Sie sieht sich um, bemerkt aber keine Kutschen in der Nähe, auch eine Pferdestallung kann sie nicht ausmachen in der unmittelbaren Umgebung. Ein leichtes Gefühl von Verwirrung macht sich in ihr breit. Nicht ein einziges Mal muss sie Google Maps auf ihrem Handy bemühen, sie kennt jede Gasse, jeden Platz, die Brunnen, Pulvertürme, Kirchen und kleinen Parks. An der Ecke Zelezna zum historischen Rathaus bleibt sie jäh stehen. Ihr Atem stockt, ist schwer, sie fühlt sich eingeengt im Brust- und Taillenbereich, als wäre sie von einer Zange umklammert. Sie lehnt sich an die Hausmauer und schließt die Augen. Du musst etwas trinken, das ist nur der Kreislauf nach der langen Autofahrt!

Doris überquert den überfüllten alten Rathausplatz und schlängelt sich geschickt durch die engen Gassen auf den Weg zur Karlsbrücke. Das heimelige Rauschen der Moldau unter ihr lässt Bilder in ihrem Kopf entstehen … – vor ihrem inneren Auge sieht sie eine junge Frau mit Sonnenschirm, breitkrempigem Hut und knöchellangem Rüschenkleid vergnügt die Brücke entlanglaufen Richtung Malá Strana …

Sie braucht dringend ein stilles Plätzchen. Sie weiß auch schon wo, nämlich in dem kleinen, abgeschiedenen Innenhof mit den von Efeu überwucherten Mauern und den schattenspendenden Lindenbäumen auf der Kleinseite von Prag, sie schreitet zügig weiter. Ein einziger Tisch ist noch frei vor der Bühne, wo gerade eine Jazzband, bestehend aus drei Mann mit Kontrabass, Saxophon und Gitarre, eine leise Melodie mit sanftem Blues-Einfluss zum Besten gibt.

Um ihren Kreislauf anzukurbeln, bestellt sie Espresso und Cola. Doris lauscht der wohltuenden Musik. Die Vögel zwitschern in den Bäumen, Insekten surren an den Linden- und Efeublüten, langsam beruhigt sie sich wieder. An den Nebentischen wird gegessen, getrunken, gelacht und diskutiert. Aber halt! Viele Gäste sprechen tschechisch! Und: Doris versteht jedes Wort dieser ihr bis zum heutigen Tag fremden Sprache. Jak je možné, že rozumím česky? Wie ist es möglich, dass ich Tschechisch verstehe?

Wieder überkommt sie dieses einengende Gefühl in der Brust, sie ruft den Kellner, bezahlt und verlässt das Gartenlokal. In einigen Minuten Fußmarsch erreicht sie auch das Museum Franz Kafka in der Cihelná 2. Ein kurzer Blick auf die Uhr verrät ihr, dass sie den Zeitplan perfekt einhalten kann und pünktlich zum Treffen mit anderen Journalisten im Garten des Wallensteinpalastes eintreffen wird.

Die Räume, Gänge und Treppen des Museums sind unglaublich dunkel gehalten, teilweise schwarz tapeziert, leise Musik aus dem Hintergrund verleiht dem Ambiente eine rätselhafte, leicht bedrohliche Stimmung. Den Museumsbetreibern ist es perfekt gelungen, das Kafkaeske dieser Ausstellung dem Besucher zu vermitteln. In einigen Nischen werden in Schwarz-Weiß gedrehte Filme an schwarze Leinwände projiziert, die einen Einblick in das Leben in Prag um die Jahrhundertwende gewähren. Die Präsentation beinhaltet auch Glasvitrinen mit Originalausschnitten von Kafkas Tagebüchern und Briefen. Doris liest aufmerksam die Zeilen und sie erschaudert, die seelische Zerrissenheit und tiefe Trauer von Franz Kafka gehen ihr nahe. Im Hintergrund hört sie leise Musik von Friedrich Smetana, die Museumsbesucher schlendern ruhig über die knarzenden Holzdielen, kaum jemand spricht oder unterhält sich, jeder scheint in Gedanken versunken zu sein, in eine Welt voll Tristesse, Melancholie.

Doris wendet sich der Stiege zu, die ins Erdgeschoß zum Ausgang führt, sie muss sich am Treppengeländer festhalten, die Beleuchtung ist dürftig. Kurz vor der letzten Stufe spürt sie einen dumpfen Schlag gegen ihre Stirn, sie hat sich an einem Balken den Kopf kräftig gestoßen. „Zatracený“, verdammt, entfleucht es ihrem Mund. Sie fasst an die schmerzende Stelle und fühlt auch schon ein warmes zartes Rinnsal über ihrem Nasenflügel.

Schnell packt sie Jacke und Rucksack aus der Garderobe und eilt in den sonnigen Hof vor dem Museumseingang. An einer schattigen Parkbank nimmt sie Platz und sucht nach Taschentüchern. Doris atmet tief durch, lehnt sich an die Hausmauer, drückt das Tuch an ihre Stirn und schließt die Augen.

Ein leichter Wind zieht durch die Gassen in den Innenhof in der Malá Strana, ihre salopp nach hinten gekämmten nackenlangen Locken schlüpfen unter dem kleinen Glockenhut hervor. Ihr violetter Rock aus weitem Jersey schmiegt sich an ihre Knie, ein schmaler Gürtel betont ihre Taille. Die hochgeschlossene weiße Satinbluse schimmert im Sonnenlicht und ihre Finger der linken Hand spielen mit einer beigefarbenen langen Perlenkette. Ein schelmisches Lächeln umspielt ihre vollen, rot geschminkten Lippen. Das Paar sitzt auf der Parkbank und beobachtet das rege Treiben auf den Straßen, Hufgetrappel auf dem Kopfsteinpflaster ist zu hören und kündigt eine Pferdekutsche an, dicht dahinter klingelt die Straßenbahn.

 „Was für ein herrlicher Tag, meine Liebe!“, flüstert ihr František ins Ohr, sein rauer Atem kitzelt ihren Hals. Er drückt ihre rechte Hand, die auf seinem Schoß liegt. Der Wollstoff seiner anthrazit-grauen Hose mit goldbrauner Streifenoptik ist angenehm weich auf ihrer Haut. Aus der Tasche seiner hochgeschlossenen Weste baumelt eine goldene Uhrkette, das Einstecktuch und die Krawatte sind mit ihrem violetten Rock abgestimmt. Er rückt sich den grauen Fedora-Hut mit mittelbreiter Krempe und dunkelgrauem Hutband zurecht, beugt sich vor und küsst sie.

 „Aber František, doch nicht vor allen Leuten“, flüstert sie, wirft den Kopf in den Nacken und lacht.

„Hallo? Geht es Ihnen gut? Ist alles in Ordnung, gnädige Frau?“ Eine Hand liegt auf Doris’ Schulter und drückt sie sachte. Sie öffnet die Augen und sieht eine ältere Dame mit besorgter Miene vor ihr stehen.

„Ja, danke. Es ist alles in Ordnung. Ich habe mir nur den Kopf gestoßen. Das wird schon wieder.“ Doris betrachtet das Taschentuch, die Wunde hat aufgehört zu bluten.

„Komm, trinken Sie ein Gläschen Absinth, ich habe es gerade aus dem Haus geholt, als ich Sie hier sitzen sah.“ Das hellgrüne Wermutgetränk erfrischt ihren Gaumen und die Kehle abrupt, ein kleines Feuerwerk schießt indessen in ihren Kopf. Sie blickt auf ihre Uhr und erschrickt.

„Vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen, aber ich muss jetzt dringend zu meinem Termin!“

Die meisten Plätze sind schon besetzt, und am Podium haben sich die Diskussionsleiter bereits eingefunden. Kurzer Check der Mikrofone, Doris zückt ihren Block und ihre Interviewfragen, startet ihr Aufzeichnungsgerät und atmet tief durch. Einige wenige Journalisten sind ihr aus anderen Literaturdiskussionen bekannt, sie winkt ihnen höflich zu. An den Tischen auf der Seite sieht sie Bücher ausgestellt von Franz Kafka. Eigenartig – es sind zahlreiche Bände dabei mit farbenfrohen Bildern von Gustav Klimt auf dem Cover. Von einigen Titeln hat sie noch nie gehört. Ist sie denn auf dem richtigen Meeting?

„Meine Damen und Herren, ich darf Sie herzlich begrüßen zur Literaturdiskussion über Franz Kafka …!“

„… er war ein lebensfroher Mensch mit herrlich humorvollen Romanen und zarten Liebesbriefen an seine geliebte Dora …!“

„… er war ein Ausnahmetalent, der erst in späten Jahren, von einer tiefen Melancholie kommend, jedoch über die Liebe zu Dora zu einem herausragenden Schriftsteller wurde …!“

„… Franz Kafka war hoch geschätzt und hat zu Lebzeiten zahlreiche Werke verkauft, er konnte bis ins hohe Alter mit seiner Frau ein gesundes, glückliches und wohlhabendes Leben hier in Prag führen …!“

Doris schüttelt den Kopf und hebt ihre Hand:

„Entschuldigen Sie bitte, aber von welchem Franz Kafka sprechen Sie? Er wurde nicht alt, er war schwer lungenkrank, vermutlich auch depressiv, … und vermögend war er schon gar nicht. Und von welcher Dora sprechen Sie?“

Die Gäste auf den Rängen vor ihr drehen sich um zu Doris, sie lächeln, scharren verlegen mit den Schuhsohlen auf dem Kieselboden und vereinzelt ist ein Räuspern zu hören.

„Aber nein! Nein! Wir sind doch heute hier, um über die wunderbare Literatur von Franz Kafka zu sprechen und über die großartige Wende in seiner zweiten Lebenshälfte, als er Dora Diamant kennenlernte! Wie ist denn Ihr Name, gute Frau, und für welchen Literaturbetrieb schreiben Sie?“ Der Diskussionsleiter ist nun von seinem Platz aufgestanden und betrachtet sie interessiert.

Alle Farbe weicht aus Doris’ Gesicht, eine Gänsehaut macht sich auf ihren Unterarmen breit, sie fühlt die Blicke in ihrem Rücken wie brennende Speere.

„Ich, … also ich, … mein Name ist Doris … Doris Diamant!“

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23143

Zimmer Nummer 409

Nach einer Idee meines Sohnes Michael

64 € kostet das Zimmer im Dreisternhotel in Wien. Für einen 7. März ist das ein durchschnittlicher Preis. Das Buffet soll üppig sein, aber das werde ich erst morgen früh bemerken. Ich nehme den Aufzug, es geht in den 4. Stock, Zimmer Nummer 409. Die Tür öffnet mit einer Keycard.

Drinnen ist es gemütlich, aber eng. 59 € wären wohl eher angemessen. Unter dem Fenster sieht man den Verkehr im nächtlichen Wien. Doch halt!, die Autos bewegen sich nicht, genauso wenig wie die Fußgänger.

Ich will das Fenster öffnen, dabei stoße ich auf dickes Papier. Das Fenster ist eine Tapete. An allen Wänden dieses Zimmers kleben Tapeten. Auch die Tür ist eine Tapete.

Ich komme hier nie mehr raus!, ist mein erster Gedanke. Aber ich habe ja mein Handy!, lautet der zweite.

Bunte Fenster im Lokal DAS WOHNZIMMER in der Nacht des 23. Dezember 2020

Bunte Fenster im Lokal DAS WOHNZIMMER in der Nacht des 23. Dezember 2020

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23185

Wieder zurück

Da sitze ich also wieder, in der kleinen, muffigen Küche meiner Kleinstadtwohnung, das Bierglas vor mir, ganz so, als wäre ich nie weggewesen, als hätte ich nicht vor rund einem Jahr, damals großspurig ‚Für immer!‘ denkend, diese Wohnung verlassen. Obwohl, irgendetwas in mir muss dem Für-immer-Gedanken misstraut haben, da ich die Wohnung nicht aufgelassen, den Dauerauftrag der billigen Miete nicht gekündigt habe. Seufzend nehme ich einen großen Schluck Bier, greife nach meinem Handy und gehe die Anrufliste durch. Viele Namen sind gespeichert, allerdings ist kein einziger darunter, den ich jetzt, mitten in der Nacht, anrufen könnte, kein einziger, zu dem ich leichthin sagen könnte:

„Hey, ich bin’s, ich bin wieder zurück …“

Schuld daran bin ich selbst, da ich sämtliche Kontakte abgebrochen habe im Laufe dieses Jahres, sogar den zu Max, meinem Bruder. Ich würde ihn gerne anrufen, mich ihm erklären, kann mich aber nicht überwinden. Unmöglich. Zu groß ist meine Scham. Ich lege das Handy weg. Ich fühle mich elend. Ich fühle mich einsam. Ich trinke Bier. Die Stille um mich herum ist mir unerträglich. Ach, alles würde ich jetzt geben für ein Gegenüber, bei dem ich mich ausreden könnte, das mir zuhören würde.

Da höre ich ein Sirren in der Küchenecke, und sehe etwas hell schimmern dort im Eck, irgendetwas Undefinierbares. Ich reibe meine Augen, die offensichtlich übermüdet sind, als ich plötzlich etwas Weiches, Warmes an meinem rechten Unterschenkel spüre. Etwas wie eine leichte Umklammerung. Ich fasse reflexartig hinunter, spüre ein weiches Fell oder Haare, denke: ‚Ah, nur die Katze‘, dann springe ich panisch auf:

„Welche Katze, verdammt, ich habe doch keine Katze!?“

Ich sehe auf einen hellen Lockenkopf an einem winzigen Körper, sehe lange, dünne Ärmchen, die sich an mein Bein klammern, schreie erschrocken auf, versuche, sie abzuschütteln. Der Lockenkopf umklammert mich nur noch fester, und dreht sein Gesicht zu mir. Ich schaue in weitaufgerissene hellblaue Augen. Blasses, kleines Gesicht, Stupsnase, der Mund ärgerlich verkniffen. Was ist das? Ein Kind ist das nicht. Ein Zwerg? Es lässt nun mein Bein los, läuft affenartig schwankend in die Küchenecke, kauert sich dorthin, zieht die Knie an, schlingt seine Arme um den kleinen Körper und sagt mit glockenhellem Stimmchen: „Jetzt beruhige dich doch bitte.“

Mein Herz klopft wie wild, ich schließe die Augen, öffne sie, das kleine Wesen sitzt noch immer in der Küchenecke.

„Wer bist du?“, flüstere ich beinahe tonlos.

„Ein Kobold“, piepst das zarte Ding.

Und dann, etwas lauter: „Jaja, ich weiß, ich sehe nicht wie ein typischer Kobold aus. Aber ich bin einer.“

Und schließlich, wütend: „Ach, dann glaub mir halt nicht! Mir egal. Ich hab’s echt satt, mich ständig erklären zu müssen.“

Ich räuspere mich, habe mich aber noch nicht so weit gefasst, dass ich wieder reden kann.

„Mensch. Jetzt reiß dich zusammen“, sagt der Kobold missmutig. „Zur Erklärung: Du kannst mich sehen, weil ich so wie du todunglücklich bin. Verstehst du? Ich habe mir jemanden gewünscht, dem es ähnlich schlecht geht und mit dem ich reden kann. Und dieser Jemand bist offensichtlich du.“

„Heißt das, ... weil es uns ähnlich ergangen ist ...“, krächze ich. Meine Gedanken schwirren.

„Jaja“, nickt der blonde Kobold, ziemlich ungeduldig, wie mir scheint, angesichts meiner Begriffsstutzigkeit. „Darum.“

„Aber das gibt’s doch nicht!“ Ich habe endlich meine Stimme wieder. „Ich meine, ich bin ein dreißigjähriger Mann, kein Kind mit einem Überschuss an Fantasie. Ach, wahrscheinlich war ich zu lange allein. Meine Nerven. Der Alkohol.“

„Glaub, was du willst. Mir egal. Ich habe meine eigenen Probleme“, sagt der blonde Kobold.

Ein Bier und einen Schnaps später ist er noch immer da. Kauert nun nicht mehr in der Küchenecke, sondern wesentlich entspannter am Küchentisch mir gegenüber. Er ist tatsächlich ungemein zart, wirkt beinahe durchscheinend. Die schwarze Hose und der schwarze Rollkragenpullover, die er trägt, unterstreichen sein helles Äußeres.

„Fassen wir zusammen“, sage ich. „Wir können uns sehen, weil wir im selben Moment dasselbe gedacht haben, präziser, weil wir im selben Moment verzweifelt gewesen sind, und uns ein Gegenüber gewünscht haben, mit dem wir reden können, ein Gegenüber, das uns versteht.“

Der Kobold rollt ungeduldig mit seinen Augen.

„Dann fangen wir endlich damit an, Mensch“, fordert er. „Mit dem Reden.“

„Und warum bist du bei mir gelandet, hier in meiner Wohnung?“, denke ich weiter laut nach. „Und nicht ich bei dir in deiner Welt?“

„Ts, ts, ts“, lacht der Kobold sirrend, „Das ist doch meine Wohnung, Mensch! Ich lebe hier, seit es mich gibt. Obwohl, im letzten Jahr habe ich mich völlig zurückgezogen. Aber jetzt bin ich wieder zurück. Übrigens leben hier auch noch einige andere Kobolde, aber die kannst du nicht sehen.“

Mir verschlägt es wieder die Sprache.

„Also, beginnen wir endlich. Soll ich zuerst erzählen? Oder du, Mensch?“

„Kobold first“, versuche ich mich nach einem weiteren großen Schluck Bier in Lässigkeit.

„Thank you“, sagt der Kobold und dann. „Und unterschätze mich bitte nicht. Außer Englisch spreche ich fließend Französisch, Russisch und Japanisch. Und damit bin ich auch schon bei meinem Problem angelangt: Ich bin nämlich komplett anders als die anderen Kobolde. Nicht nur äußerlich. Ich bin wissbegierig. Ich lese viel. Ich denke. Ich hinterfrage. Ich lerne. Ich schreibe. Das alles macht der typische Kobold nicht.“

„Ich verstehe“, sage ich verwirrt.

„Nichts verstehst du“, sagt der Kobold kopfschüttelnd. Seine Haut schimmert noch eine Spur durchsichtiger vor Ärger, ich kann alle Gegenstände hinter ihm durchsehen.

„Ich habe mich rund ein Jahr lang völlig aus der Koboldwelt zurückgezogen. Mein Intellekt verbietet mir nämlich, dumme Streiche zu spielen. Es langweilt mich, zuzusehen, wie Menschen aufgrund stupider Koboldaktionen ihre Schlüssel oder Brillen suchen. Was aber quasi die Lebensaufgabe eines Kobolds ist. Spielt ein Kobold selten oder gar keine Streiche, wird seine Stimme immer höher, sein Haar, seine Haut immer blasser, heller, elfenhafter, dann durchsichtig, und schlussendlich löst er sich völlig auf. Im Nichts. Das Resultat meiner Verweigerung ist also, dass ich bald kein Kobold mehr sein werde.“

„Ich verstehe“, sage ich wieder. Ich verstehe nun tatsächlich. Und nicht nur das, ich habe die Lösung für sein Problem glasklar vor Augen.

„Es geht also tatsächlich um dein Leben“, sage ich. „Ich denke, es ist an der Zeit, dass du ein paar Kompromisse schließt. Aber du brauchst keinesfalls dein Lebenskonzept aufgeben. Integriere es.“

„Wie stellst du dir das vor?“, schnaubt der Kobold.

„Ganz einfach.“ Koboldprobleme zu lösen, fällt mir erstaunlich leicht. „Lebe und beweise deinen Intellekt anhand deiner Streiche. Spiele keine dummen Streiche, sondern deiner Intelligenz angemessene, strategisch durchdachte, sinndurchflutete. Erstelle Pläne, schreibe Bücher über durchdachte Koboldaktionen, unterrichte eventuell auch andere interessierte Kobolde im intelligenten Streiche-Spielen.“

„Oh“, sagt der Kobold. Er starrt mich erstaunt an, offensichtlich hat er mich unterschätzt.

„Das hat was“, sagt er dann. „Warum sind mir diese Möglichkeiten nie in den Sinn gekommen?“

„Obwohl, so einfach ist das alles nicht“, fügt er hinzu. „Dazu braucht es einiges an Einsatz, an Umdenken, an Flexibilität und Überwindung“, sagt er.

„Tja. Ein Kobold zu sein, ist sicher nicht leicht“, sage ich großmütig.

„Nun gut, Mensch. Ich denke, zunächst einmal werde ich eine Abhandlung über komplexe Streiche-Strategien schreiben, bevor ich es angehe mit dem praktischen Teil, dem Umsetzen.“ Er hebt seine durchsichtige Hand wie zum Abschied, will vom Küchentisch springen.

„Halt, Kobold“, sage ich schnell. „Nicht so eilig. Was ist mit mir? Mit meinen Problemen? Es geht doch darum, dass wir uns gegenseitig zuhören, nicht?“

„Gut. Dann erzähle“, seufzt der Kobold widerstrebend. „Aber mach schnell, bevor ich mich völlig auflöse.“ Er hebt seinen blassen Fuß und betrachtet ihn kopfschüttelnd.

„Also“, sage ich. „Ich bin ausgebildeter Schauspieler. Vor gut einem Jahr bin ich von hier weg und in die Großstadt gezogen, um Karriere als solcher zu machen. Hier in der Kleinstadt gibt es nämlich kaum Möglichkeiten zum Spielen. Doch nach ein, zwei kleinen Rollen bekam ich keine Aufträge mehr. Die Konkurrenz war zu groß. Kurz gesagt: Ich bin gescheitert. Mir blieb schließlich nichts anderes übrig, als die teure Stadtwohnung zu kündigen und wieder hierher zurückzukommen.“

„Ich verstehe“, sagt der Kobold gähnend.

„Nichts verstehst du“, sage ich kopfschüttelnd. Sein Desinteresse ärgert mich.

„Ich habe sämtliche Kontakte abgebrochen, sogar den zu meinem Bruder, weil ich mich voll und ganz meiner Schauspielkarriere, die keine geworden ist, gewidmet habe. Ich kann mich nicht überwinden, ihn anzurufen. Ich schäme mich zu sehr, verstehst du? Ich habe keinen Job, kein Geld. Ich trinke zu viel. Ich bin am Ende.“

„Ich verstehe“, sagt der Kobold wieder. Er scheint nun tatsächlich zu verstehen. Und nicht nur das, er scheint die Lösung für mein Problem glasklar vor Augen zu haben.

„Es geht also tatsächlich um dein Leben“, sagt er. „Ich denke, es ist an der Zeit, dass du ein paar Kompromisse schließt. Aber du brauchst keinesfalls dein Lebenskonzept aufgeben. Integriere es.“

„Und wie stellst du dir das vor?“, schnaube ich.

„Ganz einfach!“ Menschenprobleme zu lösen, fällt dem Kobold sichtlich leicht. „Hör auf mit dem Trinken. Rufe deinen Bruder an, erzähle ihm, dass du zurück bist und hier im Ort eine Schauspielgruppe gründen wirst. Suche dir einen Proberaum, gib Schauspielunterricht, schreibe und inszeniere eigene Stücke.“

„Oh“, sage ich erstaunt und starre den Kobold an, den ich völlig unterschätzt habe.

„Das hat was“, sage ich dann. „Warum sind mir diese Möglichkeiten nie in den Sinn gekommen?“

„Obwohl, so einfach ist das alles nicht“, füge ich hinzu. „Dazu braucht es einiges an Einsatz, an Umdenken, an Flexibilität und Überwindung.“

„Tja“, sagt der Kobold gelangweilt. „Ein Kob-, ich meine, ein Mensch zu sein, ist sicher nicht leicht.“

Und dann: „Mensch, kann ich jetzt endlich los? Wir müssen ja nicht übertreiben mit dem Einander-Erzählen. Ich meine, schau mich an!“ Er fächelt mit seinen bedenklich durchsichtigen Händen. „Ich muss mich jetzt dringendst um mich kümmern.“

Ich nicke ihm zu. Der Kobold hüpft schwankend vom Tisch zum Kücheneck und ist sogleich verschwunden. Nur mehr ein helles Sirren in meinen Ohren. Eine Weile starre ich nachdenklich in das Eck, öffne erneut eine Flasche Bier, doch dann merke ich, wie müde ich bin. Nun erstmal schlafen, beschließe ich, und stelle das Bier in den Kühlschrank.

Am nächsten Morgen fällt mir sofort der Kobold ein. Ob das nächtliche Gespräch Einbildung gewesen ist oder nicht, Tatsache ist, dass ich meine Lebenssituation nun nicht mehr als aussichtslos betrachte. Mit meiner neu gewonnenen Gelassenheit ist es allerdings rasch vorbei, als ich feststelle, dass die Bierflasche, die ich nachts in den Kühlschrank gestellt habe, nicht mehr voll, sondern leer ist. Und ich stehe starr vor Schock, als ich entdecken muss, dass nicht nur diese Flasche, sondern sämtliche Bier-, Wein- und Schnapsflaschen völlig ohne Inhalt sind.

„Das darf doch nicht wahr sein“, fluche ich.

War ich gestern so betrunken, dass ich sie alle ausgeleert habe? Und dann sehe ich es. Das Koboldhaar. Eine blonde Locke klebt an einer der leeren Weinflaschen.

„Also, Kobold“, rufe ich wütend, „ob das tatsächlich ein intelligenter, sinndurchfluteter Streich ist, darüber lässt sich streiten!“

Obwohl, gebe ich insgeheim zu, dadurch natürlich der ideale Ausgangspunkt geschaffen ist, um endlich aufzuhören mit dem Trinken. Was würde mein Bruder dazu sagen? Ich nehme mein Handy in die Hand. Ach, Max weiß ja nicht einmal, dass ich wieder zurück bin. Ich zögere, lasse die Hand mutlos sinken. Als ich das Handy wieder weglegen will, zischt plötzlich etwas wie eine Art Blitz direkt an mir vorbei, und drückt auf Max’ Nummer. Rufaufbau, lese ich. Zugleich vernehme ich ein bekanntes Sirren.

‚Was tust du, Kobold!! Das geht mir zu rasch!‘

Doch schon höre ich Max’ Stimme:

„Oh, das ist ja eine Überraschung. Hey, Bruder!“

„Hey, Max, tja, ich bin’s“, stottere ich. „Ich- ich bin wieder zurück …“

Später sitze ich da, die Fenster meiner kleinen Küche weit geöffnet, eine Tasse grüner Tee vor mir, und fühle mich großartig. Ich denke an das Gespräch mit meinem Bruder. Max hat es mir einfach gemacht, mich zu erklären, und er hat mir in jeder Hinsicht seine Unterstützung zugesagt. Diesem Telefonat sind einige weitere gefolgt, größtenteils aufgrund tatkräftiger Kobold-Anregung. Unter anderem eines mit dem Leiter der örtlichen Volkshochschule, in der ich ab sofort Schauspielkurse geben kann, und eines mit einem Musiker, der mir die Möglichkeit bietet, tageweise seinen Proberaum sowie die Bühne zu benutzen. Ja, meine Vorstellungen werden zusehends realer, alles kommt ins Rollen. Zufrieden starte ich meinen Laptop, um all meine Ideen schriftlich festzuhalten.

Da höre ich – nein, kein hohes Sirren, sondern im Gegenteil ein tiefes Brummen in der Küchenecke, und sehe etwas dunkel glänzen dort im Eck, irgendetwas Undefinierbares.

„Gut gemacht, Kobold“, sage ich leise, „wir sind wieder zurück.“ Und ich beginne zu schreiben.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23144

Der Mann, den es nicht gab

Er war der Mann, den es nicht gab. Der nicht geboren wurde, somit nicht lebte und nicht starb. Er hatte keine Eltern. Nie war er im Kindergarten und nie in der Schule. Er maturierte niemals, leistete danach nicht den Präsenzdienst ab. Er studierte auch nicht Betriebswirtschaftslehre. Nie verliebte er sich, heiratete nicht, hatte keine Kinder, die Bernhard und Mia hießen. Er stand nie in einem Beschäftigungsverhältnis, hatte nie ein Einkommen. Er wurde nicht alt, so wie er auch niemals jung gewesen war. Er hatte keine Lebenskrisen, weil er zu keiner Zeit lebte. Alles, was hätte sein können, geschah niemals, weil sein vermeintlich zukünftiger Vater seine für ihn vorgesehene Mutter damals auf der Straße nicht angesprochen hatte.

Abendlichter hinter dem grünen Zaun in Pörtschach am 19. April 2023

Abendlichter hinter dem grünen Zaun in Pörtschach am 19. April 2023

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23148

Kalt und schwarz wie das Nichts

Weißt du, wie kalt der Weltraum ist?
Er ist so kalt, wie das Feuer heiß ist.
Deine Haut spürt nur noch Schmerz,
kann nicht unterscheiden.

Du siehst nur Hell und Dunkel,
Fadenwürmer schneeweiß,
dünner als ein Strohhalm und Millionen Lichtjahre lang,
zwischen all den Sonnen im totschwarzen Nichts.

Das Licht über der Erde

Das Licht über der Erde

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23118

Winterzeit

Der Himmel ist offen.
Die Kälte strömt herein.
Harte Tage.
Kurze Nächte.
Winterzeit.

Doch das ist relativ.

Die Einsamkeit des Alls,
die der Astronaut spürt,
ist eine ganz andre.
Ist bekannt, dass die Erdatmosphäre leuchtet,
von draußen besehen?

Der Himmel über Krumpendorf am frühen Morgen des 10. Juli 2022, bearbeitet

Der Himmel über Krumpendorf am frühen Morgen des 10. Juli 2022, bearbeitet

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23099

Minus 12 Minuten

„Du bist plus 12 Minuten“, schreibt Eva. „Ja, ich weiß“, schreibt Heli, was die Abkürzung von Helmut ist. „Du bist minus 12 Minuten. Wir sind 24 Minuten auseinander.“ „Du kennst die Nulllinie, nicht?“, fragt Eva. „Ja natürlich, der 18. März 1998 um 10:24 Uhr“, schreibt Heli. „Findest du nicht, dass unsere Situation schlecht ist? Wir können uns nicht sehen, nicht einmal miteinander telefonieren. Wir können uns schreiben, E-Mails oder im Chat. Das ist die Realität.“ „Es ist unlogisch, dass wir einander schreiben können. Wir leben ja in unterschiedlichen Zeitebenen“, schreibt Heli zurück. „Seien wir froh, dass wenigstens das geht“, schreibt Eva. „Interessiert es dich nicht, warum das möglich ist?“, fragt Heli. „Es ist die einzige Kommunikation, die uns geblieben ist, nicht?“, schreibt Eva. „Ja, es ist das Zugeständnis an uns“, schreibt Heli. „Genau“, schreibt Eva, „heute ist doch jeder alleine, weil er in einer eigenen Zeitebene lebt. Vielleicht bewahrt uns der Umstand, dass wir uns wenigstens über die Schrift verständigen können, davor, dass die Einsamkeit uns erdrückt.“

„Das hast du sehr allegorisch gesagt“, schreibt Heli „Es ist wirklich so, Heli“, schreibt Eva weiter, „wir leben in einer fürchterlichen Welt“. „Meinst du wirklich, Eva?“, schreibt Heli, „in meinem Leben ist immer alles da, was ich brauche. Für Nahrung gehe ich in einen wohlbestückten Supermarkt. Benzin kriege ich von einer Tankstelle, Fahrzeuge von einem Autohaus, Kleidung von einem Modegeschäft und Bücher von einer Buchhandlung. Immer sind sie verlassen, ich bin der einzige Kunde und muss nichts bezahlen. Bei dir muss es ja auch sehr ähnlich sein, Eva.“ „Ja, natürlich ist es das“, schreibt Eva, „aber jetzt geht es um dich, Heli, bist du zufrieden mit deinem Umfeld?“ „Ehrlich gesagt will ich mich gar nicht damit auseinandersetzen. Ich versuche, so gut es geht, dieses Vollkaskoleben zu genießen.“ „Du sagst genießen?“, fragt Eva nach. „Es ist nur das erste Wort, das mir in den Sinn gekommen ist“, schreibt Heli. „Gut, ich verstehe“, schreibt Eva. „Brechen wir diese Kommunikation ab. Ich bekomme auch Kopfweh. Bis? Morgen? In einer Woche? Irgendwann? Ich werde mich wieder melden, Heli, aber ich weiß noch nicht, wann. Tschüs, mach’s gut.“ „Du auch“, schreibt Heli.

Die schriftliche Unterhaltung ist beendet. Eva und Heli sind wieder alleine.

The lady in the beginning

The lady in the beginning

„Nur nicht nachdenken!“, sagt sich Eva. „Nur nicht nachdenken!“ Sie sieht auf die kombinierte ZeitundDatumsAnzeige, die für jeden Menschen individuell ist. Für Eva ist heute der 5. Oktober 2026, 16:19 Uhr. „Ich brauche warme Sachen zum Anziehen“, sagt sie sich, „ich werde mich auf den Weg machen.“ Sie verlässt ihre große Wohnung im Erdgeschoß und geht stadteinwärts. Nach einer Viertelstunde betritt sie die Boutique „Belladonna“. Sie sieht einen hellbraunen Mantel, der aussieht wie aus Kamelhaar gefertigt. Er passt. „Sehr gut!“, sagt sie sich. Sonst sind viele Jeanswaren ausgelegt, Hosen, Hemden, Jacken. Eigenartig, findet Eva, wie in den 1980er-Jahren. Dennoch probiert sie, bis sie ein Set findet, das ihr passt. Sogar große Plastiksackerl sind vorrätig. „Das ist schon ein bisschen Modewonderland“, sagt sie sich, „dahingehend kann ich Heli schon verstehen. Schade nur, dass mich in meiner Zeitebene keiner sieht, weil niemand außer mir darin existiert. Aber ich kann ja Fotos mit meinen E-Mails senden, besser als nichts.“

Auf dem Nachhauseweg fällt Eva ein, dass ihr Kühlschrank ziemlich leer ist. Sie kehrt in einen fSPAR ein. f steht für future. Sie schiebt einen Einkaufswagen durch die Gänge. „Was brauche ich?“, überlegt sie. „Ich will mich nicht zu Tode schleppen.“ Also nimmt sie zwei Liter Milch, ein halbes Kilo Kaffee, einen Brotlaib von einem Kilogramm, nicht allzu viel Wurst und Käse. „Schokolade?“, fragt sie sich. „Da könnte ich jetzt richtig zuschlagen, aber nein, nein. Ich achte auf meine Linie. Zwar sieht mich keiner, aber erstens will ich in der Lage sein, ein aktuelles Foto von mir zu schicken, und zweitens möchte ich mich gut bewegen können, weit gehen, längere Strecken laufen.“ Sie nimmt dann doch eine 100-Gramm-Packung reine Milka-Schokolade. An der Kasse zieht sie es über den Lesebereich. Am Bildschirm der Kasse erscheint „100g-Milka-Alpenmilch-ÖS6,99“. „Die Technik funktioniert immer noch“, sagt Eva sich, „die ist ziemlich unkaputtbar.“

Sie spinnt den Faden weiter. „Genau, wir haben ja immer noch Elektrizität, eigentlich müsste ich sagen: Ich habe ja immer noch Elektrizität. Die Kraftwerke funktionieren automatisch. Gibt es eine Störung, wird sie von einem oder mehreren Robotern behoben, die dafür aktiviert werden. Das funktioniert wirklich gut, muss ich sagen. Dasselbe gilt für die Wasserversorgung. Ich habe fließendes Wasser. Manchmal spaziert ein Roboter herum. Er ist dann außerhalb seines Wirkungsbereichs. Eigentlich ist das nicht richtig, doch die Roboter werden immer intelligenter und wollen auch etwas von der Welt sehen. Das muss man verstehen.“

Eva setzt sich auf eine Bank. Die Weltbevölkerung ist ja nicht nur auf unterschiedliche Zeiten aufgeteilt, sondern logischerweise auch auf verschiedene Regionen, überlegt sie. Ich teile mir diese Kleinstadt Kreaton mit ihrem Umland mit mehreren Personen. Ich kenne nur eine einzige von ihnen, Patricia. Sie ist sechsundzwanzig und besetzt die Zeitebene minus 3 Jahre 257 Tage, 4 Stunden und 59 Minuten. Nimmt Patricia eine Ware, ist sie fort. Bislang werden keine neuen Waren ausgelegt. Wer in einer späteren Zeitebene als ich lebt, muss hoffen, dass nicht ich die Sachen nehme, die sie oder er gerne hätte.

Die ganze Welt ist bevölkert. Heli beispielsweise ist mir zeitlich nahe, aber nicht örtlich. Seine Eltern wanderten mit ihm noch vor der Einrichtung der Zeitebenen nach Sumatra aus. Er lernte als Kind schnell Bahasa Indonesia. Mittlerweile braucht er sie nur noch, wenn ihn ein Serviceroboter in seiner Sprache anredet, was er nicht sollte, aber gelegentlich doch tut.

Heli lebt in einer Region im Regenwald. Er teilt sie sich mit Tieren. Tiere gibt es auf allen Zeitebenen, viel mehr als vorher, weil sie sich ungehindert vermehren.

Auch hier in Kreaton ist es wegen der Braunbären grundsätzlich ratsam, ein Gewehr, das für ein großes Kaliber geeignet ist, mitzuführen. Ja, ich weiß, ich sollte, aber nein, heute will ich nicht. Ein Gewehr ist lang und sperrig. Ich fühle mich wie im Wilden Westen, wenn ich es umgehängt habe.

Die Sonne ist schon schwächer. Und es ist windig. Es ist ein wenig kalt. Herbst eben. In einer Stunde wird die Sonne untergegangen sein. Ich will nicht das Abendessen irgendeines Tieres werden. Es gibt ja auch wieder Wildkatzen. Gegen eine könnte ich mich bestimmt verteidigen, und da Katzen Einzelgänger sind, muss ich mich wohl nicht groß vor ihnen fürchten. Aber Wölfe im Rudel? Da sähe es schlechter für mich aus. Nein, nein, besser ich mache mich auf den Nachhauseweg.

Während des Gehens beschäftigt Eva ein Gedanke, der ständig wiederkehrt. Es ist ein sehr fraulicher Gedanke. Oh Gott, oh Gott!, überlegt sie, ich bin bereits achtunddreißig, meine biologische Uhr tickt immer lauter. Wie gern hätte ich doch ein Kind!, aber natürlich kann ich keines haben, nicht nur weil es in meiner Zeitebene keinen Mann gibt, sondern weil dann auch das Kind in einer anderen Zeitebene als ich leben würde. Wer soll sich darum kümmern? Ich sollte nicht darüber nachdenken, es macht mich doch nur traurig.

Von mir wird nichts übrigbleiben, wenn ich mein Leben verloren haben werde. Das ist aber bei jedem Lebewesen der Fall, nicht? Doch wir sind die Einzigen, denen das Sorge bereitet.

In der Nähe von Evas Wohnhaus lungert ein Roboter herum. Er sagt nichts, aber er sieht sie an. Hoffentlich kommt er nicht irgendwann auf die Idee, mich zu besuchen, denkt sie. Wahrscheinlich würde er dann über seine Arbeit reden wollen. Bitte das nicht!

Zuhause isst sie eine Kleinigkeit, hört Musik mit CDs, sieht aus einem der Wohnzimmerfenster und beobachtet Vögel. Es sind viele und viele verschiedene. Die Natur hat sich kräftig durchgesetzt, und so wird es weitergehen. In der Nacht sieht sie sich eine Liebeskomödie auf VHS an. Vor dem Einschlafen denkt sie an den Roboter, den sie Mr Blechi getauft hat. Er ist ihr am nächsten.

Eva sieht auf den Wecker, der mit ihrer ZeitundDatumsAnzeige verknüpft ist, als sie bereit ist aufzustehen. Es ist 08:49 Uhr am 6. Oktober 2026. Natürlich benutzt sie niemals die Weckfunktion. Sie arbeitet nicht und hat keine Verabredungen. Dem Faulen kommt das vielleicht zupass, aber nicht ihr. Sie würde gern etwas Sinnvolles leisten, nur was? Sie hat keine Idee.

Heute besteht ihr Frühstück nur aus Kaffee mit Milch und Zucker. Der erste Gedanke kommt hoch, der zweite entwickelt sich, der dritte steigt auf. Die Gedanken verbinden sich und wachsen empor wie ein Baum. „Das geht nicht!“, sagt sich Eva. „Ich muss die Gedanken verbrennen, sonst binden sie mein ganzes Denken. Ich kann kein Gefängnis in meinem Kopf brauchen. Was kann ich tun? Ist gar nicht so schwer, ich brauche Action!“

The lady starting to talk fire

The lady starting to talk fire

Sie macht sich fertig, um in die Stadt zu gehen. Diesmal nimmt sie eines ihrer Gewehre mit, eine Beretta, und dreihundert Schuss vom Kaliber 300 Win Mag. Die sollten in jedem Fall reichen.

Eva flaniert nicht durch die Stadt, sondern sie geht schnurstracks in die Erwin-Hoffmann-Kaserne, die früher für dreihundertfünfzig Rekruten ausgelegt war. Eva sieht sich einen Wohnraum für Präsenzdiener an, in dem fünf Stockbetten, ein Tisch und zehn Spinde stehen. Jetzt ist nur sie hier. Wie die Jungs früher geschlafen haben, überlegt sie. Würde ich oben oder unten liegen wollen? Klare Sache: oben.

Da kommt ihr ein Gedanke: Müsste es in einer Kaserne nicht auch ein Waffen- und Munitionsdepot geben? Eva macht sich auf den Weg. Sie findet ein alleinstehendes Häuschen mit der Aufschrift „Depot des österreichischen Bundesheeres“. Die Tür ist mit einem Schlüssel verschlossen worden, zusätzlich ist sie durch ein Vorhängeschloss gesichert. Das müsste es sein, denkt Eva. Ich könnte es mit einem Brecheisen aufbrechen, hier ist sicher eines vorrätig. Aber – vorläufig – nein, ich habe genügend Waffen und Munition zuhause. Will ich den Dritten Weltkrieg beginnen, komme ich wieder.

Zurück geht Eva ein Stück durch den Wald. Sie sieht einen Luchs, Wildschweine, verwilderte Hunde, viele Hauskatzen, die nun in der Wildnis leben, Eichhörnchen. Kein Bär kreuzt ihren Weg. Im Wald schweifen Evas Gedanken nicht ab, sie suchen keine Unendlichkeit, Eva gibt Acht vor dem etwaigen Angriff eines Tieres. In der Steinzeit hatten die jagenden Menschen ja sicherlich auch kaum Gelegenheit nachzudenken.

Als Eva wieder in ihrer Wohnung ist, fühlt sie sich ziemlich gut. Nach einer Stunde verschwindet die Sonne in einem orangen Flammenmeer. Schön, denkt Eva, und alles nur für mich.

Sie setzt sich vor ihren Computer, blickt in die kleine klobige Kathodenstrahlröhre. Er ist immer an. Sie ruft ihre E-Mails ab. Selten ist zumindest eines vorhanden, aber diesmal ist eines da. Die Absenderin heißt Dorothée Laporte. Sie bezeichnet sich als Alpenfranzösin. Sie wohnt 525 Kilometer von Eva entfernt. Sie lebt in derselben Zeitebene wie Eva. Sie fand Eva in einer Datenbank im Internet. Das Internet umfasst nicht viel, Texte, Bilder, ganz wenige Videos, keine Musik, aber Datenbanken eben schon. Dorothée schreibt auf Englisch. Sie fragt, ob sie Eva besuchen dürfte. Sie sendet ein Foto von sich in geringer Auflösung mit. Sie ist zweiunddreißig, blaue Augen, ein hübsches Gesicht, durchschnittlich groß, verwuschelte Haare wie viele Französinnen.

Eva wartet. Sie überlegt. Es sind genügend Waren vorhanden, da könnten mehrere Leute kommen. Könnte die Alpenfranzösin ihr etwas Unangenehmes zufügen wollen? Möglich ist alles, aber besonders wahrscheinlich ist es nicht. Die Einsamkeit nagt schwer an ihr. Sie hat schon viele Löcher in sie hineingefressen. Na klar, sie soll kommen!

Eva antwortet ebenfalls auf Englisch, dass sie willkommen ist. Sie fragt, für wie lange Dorothée sie ungefähr besuchen will. Und wann sie denkt, hier einzutreffen.

Die Antwort trifft nach fünfunddreißig Minuten ein. Dorothée schreibt, sie gedenkt zu bleiben, solange sie Eva nicht zur Last fällt. Und wann denkt sie, hier anzukommen? Sie kann weder Auto noch Motorrad fahren, schreibt Dorothée. Ihr Fortbewegungsmittel wird das Fahrrad sein. Die Reise nach Kreaton dauert vielleicht eine Woche. Ja, wenn sie tüchtig ist, schreibt Dorothée, kann sie eine Woche nach der Abreise bei Eva sein. Sie kann übermorgen in der Früh losfahren. Soll ich losfahren?, fragt sie.

Eva überlegt. Das klingt ziemlich gut. In neun Tagen hätte sie also eine Freundin hier in ihrer Wohnung. Sie schreibt zurück: Liebe Dorothée, mach dich auf den Weg!

Sie fragt auch, ob Dorothée klar ist, dass sie unterwegs nur einen Computer, einen herrenlosen wahrscheinlich, zur Kommunikation nutzen kann. Handys sind unbrauchbar, da es kein Funknetz mehr gibt. Was aber viel wichtiger ist, schreibt Eva, führe Waffen und reichlich Munition mit dir!

Fünf Minuten später kommt Dorothées E-Mail. Sie schreibt: okay und dass sie sich freut, Eva zu sehen.

Das war es dann. Eva war nie auf den Gedanken gekommen, dass Leute aus derselben Zeitebene einander besuchen könnten. Dabei ist es so einfach. Es kann auch nichts schiefgehen. Oder doch? Nein, eigentlich nicht.

Es wird wunderbar sein, Doro zu treffen. Endlich ein persönlicher Kontakt! Der Mensch vertrocknet ja alleine. Andererseits ist das ganz ungewohnt. Sie sah noch nie eine andere Person live vor sich, griff sie an, sprach mit ihr. Viele neue Sachen, viele neue Sachen, in jedem Fall wird Evas Leben bereichert.

An Schlaf ist vorerst nicht zu denken. Eva hört Musik, sphärische Musik, rockige, elektronische, Indie. Dazu mischt sie Campari mit Orangensaft und Gin mit Tonic Water. Sie könnte alle Apotheken leerräumen. Hundert Prozent reine Drogen. Natürlich hat Eva daran gedacht, aber sie hat es nicht getan. Na ja, mal warten, vielleicht hat Doro daran Gefallen.

Irgendwann zu weit vorgerückter Stunde legt Eva sich nieder und schläft bald ein. Sie hat seltsame, aber schöne Träume. Die Träume nehmen sie mit auf verschiedene Reisen.

Als Eva munter wird, ist es 11:06 Uhr, am 7. Oktober 2026. Draußen ist schönes Wetter. Gleich schüttelte sie den Schlaf ab. Sie hat etwas, auf das sie sich freuen kann, eine Freundin, zumindest eine leibhaftige andere Person. Das wird toll, das wird wunderbar! Ich habe achtundzwanzig Jahre darauf gewartet, denkt Eva, und jetzt wird es passieren.

Was muss ich bis zu Doro Ankunft noch machen? Sie braucht eine Schlafstatt. Ich werde ihr das Doppelbett überlassen und auf dem Sofa schlafen. Wir beide im Bett, das wäre doch zu intim. Dennoch gibt es jetzt nichts zu tun, weil ich das Sofa ja noch zum Sitzen nutzen will.

Seitdem die Welt eingefroren wurde, überlegt Eva, gibt es keinen Fortschritt. Einer meiner E-Mail-Partner, Chris, er lebt weit im Osten, in einer Zeitebene von mehr als plus 13 Jahren, sandte mir auf meine Bitte hin einmal Fotos, körnige Fotos. Die Autos, Gebäude und die Mode
sehen aus wie aus dem Jahr 1998, und das wie in einem schlechten Zustand, beispielsweise nach Unruhen, dabei lebt Chris jetzt im Jahr 2039. Das ist doch gruselig, nicht?, denkt Eva, als würde sie mit jemandem sprechen.

Bevor die verschiedenen Zeitebenen eingeführt wurden, weltweit, es war die erste und einzige konzertierte Aktion aller Länder, sogar die sogenannten Schurkenstaaten zogen mit, gab es fast überall Volksabstimmungen. Die große Mehrheit war stets dafür, den Status quo beizubehalten. Doch die Regierungen fuhren fort, als wären alle Menschen dafür, und – Eva erinnert sich – plötzlich saß sie ganz alleine im Speisesaal des SOS-Kinderdorfes, in dem sie lebte. Sie suchte die anderen, rief nach ihnen. Niemand war mehr da.

Nach einiger Weile begriff Eva, dass sie nie mehr in die Schule gehen dürfte, sie ging nämlich gern in die Schule. Zum Glück hatte sie gut lesen, schreiben und rechnen gelernt. Das SOS-Kinderdorf befand sich im Dorf Mairegen. Als die meisten Vorräte in den beiden Supermärkten im Juni 1999 zur Neige gingen, marschierte Eva nach Kreaton. Bis sie ihre damalige Wohnung gefunden hatte, waren es zwölf Kilometer.

Ich sollte das nicht ausbreiten!, denkt Eva. Es wühlt mich doch nur auf. Aber andererseits bin ich schon dabei.

The lady talking fire

The lady talking fire

Huch, es ist schon kühl. Eva dreht die Heizkörper in der Küche, im Wohnzimmer und im Schlafzimmer auf. Sie funktionieren mit Strom. Das ist die einfachste Lösung. Zumindest bis zum letzten Winter funktionierte die Fernwärme genauso. Eva war damals in einem Mehrparteienhaus, in dem die Wohnungen auf diese Weise beheizt wurden. Private Heizsysteme mit Öl sind nicht mehr in Betrieb.

Eva zieht sich an und tritt ins Freie. Was praktisch ist, ist, dass man seine Wohnung nicht absperren muss, überlegt Eva. Zumachen reicht, das aber wegen der Tiere besser schon. Sie nimmt sich ein Moped. Sturzhelm, wozu? Sie fährt zur städtischen Bibliothek. Hier brauche ich ganz bestimmt keinen Bibliotheksausweis, wenn ich mir ein Buch ausborgen möchte, denkt Eva.

Bücher sind für Eva etwas Schönes, etwas Gemütliches, etwas Wissensvermittelndes. Diese Bibliothek ist einer von Evas Lieblingsorten in Kreaton. Heute ist sie aber mehr an der Geschichte der Stadt interessiert. Es gibt zwei Plätze für Mikrofilm und Mikrofiche Readers. Eva legt einen Mikrofilm ein, dessen Hülle mit „Kreaton 1900 bis 1914“ beschriftet ist. Es ist eine tatsächliche Filmrolle. Eva sieht kurze bräunliche Filme. Man sieht ausschließlich Kutschen. Jeder Mann trug einen Hut. Kinder waren zahlreich vertreten.

Auf einem Mikrofiche liest Eva Artikel der Kreaton Nachrichten auf dem Jahr 1951. Sie gewinnt den Eindruck, dass damals die Verbrechensrate weit höher war als noch vor dem 18. März 1998.

In jedem Fall, wow, so viel Leben! Als wäre es damals der Regenwald gewesen, und heute ist es die Wüste, das Zusammenleben der Menschen beziehungsweise das jetzige Nicht-mehr-Zusammenleben.

Das war die Reise in die Vergangenheit. Eva lässt das Moped stehen und geht zu Fuß nachhause. Niemand erwartet mich, nie erwartet mich jemand, denkt sie. Warum habe ich eigentlich kein Haustier, eine Katze vielleicht? Weil da draußen, Eva macht eine ausladende Geste vor dem Fenster, viele Tausend Katzen sind, und ich der einzige Mensch bin. Man kann sagen, dass jedes Tier mein Haustier ist.

Es wird gut sein, wenn Doro kommt, und es wird ebenfalls gut sein, wenn sie wieder abreisen wird. Eva nimmt ein Magazin vom Dezember 1997 aus dem Zeitungsständer, das sie schon viele Male gelesen hat. Sie blättert es durch, Mode. Ich habe genug Zeit. Ich könnte mir eine Nähmaschine und ein Buch über Schneiderei besorgen und alle Modelle nachschneidern. Bevor ich vor Langeweile sterbe, werde ich das tun.

Eva isst noch eine Kleinigkeit und liest einen Easy-reading-Roman, von der Bibliothek mitgebracht. Wenig zu denken, viel Romantik, mit Happy End, nimmt sie mal an. Bei Seite 47 legt sie das Buch zur Seite und schaltet das Licht ab.

Alle Tage sind ähnlich, wie auch die Nächte. Was soll sich auch groß ändern, wenn höchstens eine Person an einem Ort lebt? Diese Person kann überleben oder sterben, viel Aktivität wird sie nicht zeigen. Nun jedenfalls muss Eva ständig heizen.

Als sie nach drei Tagen ihre E-Mails abruft, ist eine Nachricht von Doro da. Sie schreibt, dass sie auf ein entzückendes größeres Dorf in der Schweiz gestoßen ist, das unbewohnt war. Alles, was sie sich wünscht, ist vorhanden. Sie wird hier bleiben. Weißt du, Menschen sind mir gar nicht so wichtig, schreibt sie. Je suis désolée, Dorothée.

Man sollte sich nicht auf Menschen verlassen, überlegt Eva. Seit ich zehn bin, tue ich es nicht mehr, weil keine um mich herum sind. Sie nimmt das Steyr-Mannlicher-Gewehr SM12 und die Glock-19-Pistole, dazu viel Munition und geht in den Wald. Sie beobachtet die Tiere. Keines ist ihr feindlich gesonnen betrachtet sie als Bedrohung oder als Beute. Der Wind streicht durch die Bäume. Heute ist es auch wärmer. Doch es ist nicht das Paradies. Das Paradies war zu Beginn der Menschheit. Jetzt ist es eher das Ende der Menschheit.

Es ist doch schlimm, kriecht es am kommenden Tag, der ein nebelverhangener ist, in ihren Kopf. Ich habe keine Freundin, keinen Partner, an einen Liebhaber wage ich gar nicht zu denken, so fern scheint er mir. Kein Mensch oder fast keiner hat eine andere menschliche Seele. Dabei ist der Mensch nicht dafür gemacht, alleine zu sein. Die Neandertaler starben großteils aus, weil sie so wenige waren. Wenigstens sind sie mit bis zu drei Prozent im Genpool des vernunftbegabten Menschen vertreten. Der vernunftbegabte Mensch, ich könnte darüber lachen, wie man so sagt, dabei ist mir bitter. Der moderne Mensch ist der einsamste, den es jemals gab.

Das ist die pessimistische Variante. In der optimistischen, die auch realistisch ist, weiß Eva seit der E-Mail-Korrespondenz mit Dorothée, dass es schon Männer in ihrer Zeitebene gibt. Bestimmt viele auf der ganzen Welt, gutaussehende, nette, welche, in die sie sich verlieben könnte, und solche, die sich in Eva verlieben würden.

Sie folgt den üblichen Routinen, in die Stadt gehen oder fahren, Vorräte besorgen, etwas zum Anziehen, sich in einer der zwei Videotheken einen Film oder eine Serie als VHS oder selten als DVD ausborgen, oder soll man statt ausborgen einfach nehmen sagen? Nein, ausborgen ist richtig, sie bringt alles zurück und stellt es an dieselbe Stelle. Es gibt ja auch Menschen hinter ihr, nach ihr, von minus elf Minuten an ist ein jeder ihr Zukunftsmensch.

Sie geht auch gern in den Wald. Dort fühlt sie sich wie hundert Jahre in der Vergangenheit. Sieht sie ein schickes Auto, schließt sie es kurz, außer die Schlüssel sind unter der Sonnenblende. Ist kein Sprit im Tank, holt sie welchen in einem Kanister von der nächstgelegenen Tankstelle. Dann fährt sie mit diesem eleganten Auto. Meist lässt sie es später irgendwo stehen und geht nachhause.

Sie schläft tief und fest. In ihren Träumen ist Eva meist mindestens zwanzig Jahre jünger. Dies ist bei Menschen oft der Fall. Viele Dinge kann sie gar nicht träumen, weil ihre Erinnerungen vage sind. Sie weiß, wie es mit ihren Brüdern und Schwestern und Erwachsenen im SOS Kinderdorf war, doch danach lernte sie nichts mehr in Gemeinschaft kennen.

Am Abend des 15. Oktobers 2026 setzt Eva sich wieder vor ihren Computer und öffnet das E-Mail-Programm. Sie hat eine Nachricht von Bernhard empfangen. Bernhard ist ihr unbekannt. Er schreibt, er sein ein Bewohner von Kreaton und minus 13 Minuten. Er könne mittels einer hohen Dosis von Betablockern seinen Puls soweit verringern, dass er sich in Evas Zeitebene aufhalten könne. Er wisse allerdings nicht, wie lange. Für den Anfang vielleicht für eine Minute. Wenn Eva ihn treffen wolle, schlägt er morgen um 13 Uhr beim Haupteingang des City-Kaufhauses vor. „Wirst du dort sein, Eva?“, schließt er.

„Ja natürlich, ich bin gespannt, was passieren wird“, schreibt Eva.

Eva ist um 12:45 Uhr dort. Alles ist unauffällig. Um genau 13 Uhr kommt ein starker Wind auf. Er ist nur lokal, schon hundert Meter entfernt bewegt sich nichts. Plötzlich erscheint eine orange-gelbe Männergestalt. Er läuft innerhalb des Windes. Er dreht seinen Kopf zu Eva. Offensichtlich will er etwas zu ihr sagen, aber kein Laut verlässt seinen Mund. Er ist von gequälter Gestalt.

Eva läuft zu ihm. Sie berührt ihn am Rücken. Da zerfällt er zu Staub. Der Wind hat aufgehört. Alles ist wieder so, wie es sein soll.

The lady in the end

The lady in the end

Johannes Tosin
(Text und Bilder)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23098