Archiv der Kategorie: Frank Joussen
Vom Lesen und vom Sterben
„Ich kann das nicht lesen.“ Roberts kleiner Zeigefinger tippte vorwurfsvoll auf die handschriftliche Widmung auf der ersten Seite seiner wunderschön illustrierten Ausgabe von „Grimms Märchen“. Seit er zwei Jahre zuvor in die Grundschule gekommen war, ging er immer davon aus, dass er alles Geschriebene auch lesen konnte. Aber wer kann das schon?
„Du hast Recht“, sagte ich, „das ist auf eine alte, schwierig zu lesende Art geschrieben. Es lautet: Für Robertchen, mit Liebe – deine Oma Gertrude.“
„Ich kann mich nicht an sie erinnern! Wie sah sie aus?“
„Sie hatte ein sehr altes, gütiges Gesicht. Lange Haare, die hinten in einem Knoten zusammengehalten wurden – aber zwei oder drei kleine Strähnen wollten sich einfach nicht bändigen lassen und fielen ihr immer ins Gesicht.“
„Okay. Und wann hat sie mir dieses Buch geschenkt?“
„Ja, weißt du, das war eins meiner Lieblingsbücher, als ich so alt war wie du, und sie hat mir immer daraus vorgelesen. Sie war eine super Vorleserin!“
„Warum kann sie dann nicht kommen und mir etwas vorlesen? Du hast immer so wenig Zeit!“
„Schau mal, sie ist gestorben, als du erst zwei Jahre alt warst. Deshalb kannst du dich auch nicht mehr an sie erinnern. Aber sie hat dich sehr liebgehabt.“
„Was ist denn passiert? Wo war sie, als sie …?“
„Sie hat früher immer bei uns gewohnt, in dem großen Zimmer oben, das jetzt Mamas Arbeitszimmer ist. Aber als sie zu schwach geworden war, ging sie in ein Heim für alte Menschen. Da ist sie gestorben.“
Der kleine Robert fing an zu weinen. Ich weiß bis heute nicht, ob er vor der schwarzen Wand des Todes zurückgeschreckt war, die er niemals zuvor gesehen hatte, oder ob er schon dazu in der Lage war, eine Vorstellung von Altenheimen mit ihrer Einsamkeit zu entwickeln. Vielleicht hatte er von beidem eine ungefähre Ahnung bekommen. Oder kam in ihm eine nebulöse Erinnerung auf – vielleicht durch unvorsichtig gemachte Bemerkungen in der Vergangenheit – von dem Tag, an dem sie allein starb?
Wir waren bei ihr im Heim gewesen. Es war Karneval in Deutschland. Alle waren wir für den Rosenmontagszug verkleidet – Robertchen in seinem weißen Clownskostüm mit einem winzigen roten Punkt auf seiner Nase –, als sie uns anriefen. Meine Frau und ich fuhren schnell zum Heim, es war nicht weit. Wir luden Robertchen und seinen Buggy aus dem Auto und hasteten in das Zimmer, in dem sie seit dem Tod meines Großvaters allein wohnte. Sie hatte Fieber, war aber geistig ganz klar. Sobald Robertchen auf dem Arm meiner Frau in den Raum kam, fixierte sie ihn.
„Robertchen, Robertchen, komm her zu deiner Urgroßoma!“
Robert konnte mit seinen kleinen Armen nicht bis zu ihr hin reichen, deshalb musste ich ihm den Teddy in den Arm legen, den sie ihm unbedingt hatte geben wollen.
„Frau Schmitz macht diese schönen Teddys. Wisst ihr, die alte Dame, die dement ist und immer ihre Unterwäsche über ihren Kleidern anzieht. Sie ist eine gute, alte Seele. Ich hatte diesen hier schon vor Monaten bestellt, und jetzt ist er fertig!“
Der Teddy war groß und weich, und Robert fing sofort an, ihn ein bisschen auf und ab zu schütteln; dann untersuchte er sein Gesicht. Meine Oma schien erleichtert. Dann erzählte sie uns von der bösen Erkältung, die sie nicht loswerden konnte, und meinte, dieser Winter käme ihr endlos vor. Sie fragte auch nach unseren Aktivitäten zu Karneval, aber dann wurde sie wieder aufgeregt.
„Es ist schon spät, oder? Ist es nicht längst Zeit für Robertchens Mittagsschläfchen?“
Wir versuchten abzuwiegeln, sie zu beruhigen. Aber etwas in ihrer Stimme hatte Robert verunsichert, und er fing an zu greinen. Das passte gar nicht zu ihm, aber die ganze Atmosphäre in dem halbdunklen Zimmer mit dem Krankenhausgeruch und den gedämpften Stimmen kam ihm wohl nicht ganz geheuer vor.
„Ja, du hast Recht. Weißt du, was wir machen? – Wir fahren schnell nach Hause und kommen wieder, sobald er seinen Mittagsschlaf gehalten hat.“
Aber Robert verhielt sich weiterhin unnormal. Erst aß er viel langsamer als sonst und spuckte die Hälfte des Essens sofort wieder aus. Dann wollte und wollte er nicht einschlafen. Ich erzählte ihm irgendeine blöde Geschichte oder sang ihm ein dummes Gute-Nacht-Lied vor; ich erinnere mich nicht mehr so genau. Endlich schlief er ein – und wachte lange Zeit nicht mehr auf.
Stunden später – Robert hatten wir inzwischen zur Nachbarin gebracht – gingen meine Frau und ich den gleichen düsteren Flur bis zu ihrer Tür. Sie stand offen. Die Nonnen knieten auf dem blankgescheuerten Linoleum, und Omas ehemalige Verkäuferin, die ich noch nie leiden gemocht hatte, sagte: „Sie ist tot.“
„Weißt du, wenn deine Urgroßoma mir etwas vorlas, war das immer wie Urlaub. Oder wie ein schöner Sommertag – angefüllt mit dem Geruch vom frischem Heu, dem Summen von Bienen, dem Geschmack von Erdbeeren. Ein endloser, wunderschöner Urlaubstag.“
Ich überflog das Inhaltsverzeichnis mit all seinen lustigen und grimmigen Geschichten.
„Und wenn sie zu Ende gelesen hatte, habe ich mich immer nur an den Anfang der Geschichte erinnert, niemals an das Ende.“
Robert war während meiner Reminiszenzen seltsam still geworden. Dann nahm er behutsam meine Hand von der Inschrift und deutete mit meinem Zeigefinger auf das kleine Bild zu „Schneewittchen“.
„Okay, Papa. Es ist okay. Wollen wir jetzt lesen?“
Frank Joussen
aus „Kleinkrieg und Frieden„, hrsg. von Frank Joußen/D.C. Hubbard
www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 25109
Die Wohlgerüche deines Gartens
(in Erinnerung an meinen Großvater Johann Franzen)
Der Geruch nach Schuhcreme
an allen deinen Fingern
weicht nach und nach
den Wohlgerüchen deines
gut gehüteten Gartens,
während du tiefer und tiefer
in die geliebte Erde
deines Zuhauses eintauchst
mit deinen schwieligen Händen,
die aussehen wie Leder.Pflanzen, Beschneiden, Jäten
in deinem riesigen Nutzgarten
bereitete dir immer
das größte Vergnügen
nach einem langen Arbeitstag,
an dem du Schuhe machtest
für jedermann, sogar mich,
und die Gartenarbeit ließ
ein Frühlingslied erblühen
auf deinen spröden Lippen,
das deinen Frohsinn
bis zu Haus und Hof trug.
Frank Joussen
www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 25084
Alter Mann im Frühjahr
Die Felder durchwandere ich
noch in ihrem unfruchtbar wirkenden Februargewand.
Doch die Arbeit im Garten
beschenkt mich mit dem ersten Grün.
Die Pflanzen haben, wie ich, überlebt.
Sie verkünden Mensch und Tier:
Der Winterschlaf der Natur endet hier.Die kalte Luft mischt sich
immer mehr mit milder.
Meine abgestandenen, winterdunklen Gedanken
werden durchlüftet mit frischen Erinnerungen
an den Frühling meines Lebens:
Neue kurze Hemden cool präsentierend
rennen alle Jungs der Nachbarschaft
in Lederhosen durch die alt-ehrwürdige Kleinstadt.
Ich lächle: In meiner Imagination
stehe ich wieder am Bordstein,
gleichzeitig schüchtern und bereit,
mich der wilden Jagd anzuschließen.
Frank Joussen
www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 25083
Freundliches Universum
für Ansgar, einen Neuankömmling
Kann nicht nah genug sein
bei meiner Sonne,
meiner einzigen Sonne;
war immer ein Teil von ihr,
lebte durch sie;
sie ist alles an
Wärme, was ich will,
die Nahrung, die ich brauche,
ihr Puls der Rhythmus,
nach dem ich lebemanchmal spüre ich,
dass es auch andere Planeten gibt,
die meine Sonne umkreisen;
sie tragen mich, bedecken mich,
reiben ihre raue Haut an mir,
der größte von ihnen
nennt mich seine Sonne
seinen Sohn, seinen Zweiten;
sie lehren mich zu greifen,
sie geben mir Geräusche
und Gerüche,die von weit außerhalb
meiner eigenen kleinen Galaxie kommen
mit undeutlichen Botschaften:
Trotz all dieser Weite,
dieser Kälte, dieser Leere,
des schrillen Lärms, des harten Lichts,
des Nicht-verbunden-Seins
kann dieses Universum
sich immer noch als
ein rundum freundliches entpuppen.
Frank Joussen
www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow | Inventarnummer: 25050
Wind nach dem Sturm
Der Wind brauste.
Aber ich musste hinaus
nach dem Sturm,
um meinen Teufeln
eine letzte Chance
zum Entkommen zu geben.Das Erste, was ich wirklich hörte,
war ein durchdringender Hahnenschrei.
Das Erste, was ich wirklich sah,
war der clownartig aussehende Kerl selbst
mit seinem Hühner-Harem.Was hatte ich noch verpasst
auf dem Hinweg zur alten Mühle:
all die abgebrochenen Zweige,
die unschuldigen schwarzen Schafe.
Auch die einhornhaften weißen Pferde,
die mich fragend anzuschauen schienen.
Einige wieherten, eins
schüttelte mit dem Kopf –
scheinbar in meine Richtung –
zu Recht, auf jeden Fall zu Recht.
Denn die Teufel
stecken in den Details,
die meine Gehirnwindungen verstopfen
mit zu vielen virtuellen Blättern
aus zu viel Brainstorming
und der einzige Weg raus ist:
Raus!
Frank Joussen
www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 25049
Der Sturm beginnt
Eine junge Frau
angeleint an zwei weiße Hunde
scheint an meinem Fenster
vorbei zu segeln.
Die Hunde, die Leine, die Frau,
das ganze Ensemble
könnte gleich abheben
im Mary-Poppins-Stil.Die aufwärts treibenden Blätter
sehen aus, als wollten sie
in den Himmel fallen.
Der Himmel hat anscheinend
den ganzen Staub
von der heißen Sommererde gesammelt,
der jetzt nach oben gewirbelt wird,
während dunkle Unschuldsflecken
rasend schnell
den Boden betupfen.
Frank Joussen
www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 25048