Schlagwort-Archive: anno

Von den blauen Bergen kommen wir

Ach, was für eine schöne Zeit!
Das begreifen wir erst heut.
Wie auch immer, viel’ Skandale
prägten viel zu oft die Male.
Hat Cartoonisten reich gemacht,
Humor ist, wenn man trotzdem lacht.

Was wirklich war, das übertrifft
der künstlerische Zeichenstift
in spitzer Reproduktion.
Und wahr ist’s doch, na und, wenn schon?

Wer auf der sel’gen, uns’rer Insel,
in den Achtzigern gelebt,
vom „Alles super ist“-Gewinsel
weiß, man hat nach Höherem gestrebt.

Soziale Sicherheit und Wohlstand
prägten lange Zeit das Land,
bis, weg’n der Defizite,
dies mit einem Mal verschwand.

Beschäftigungsrekorde weg, Neurosen!
Düst’re Arbeitsmarktprognosen.
Der Schuldenstand im Praktischen, normativ,
die Kraft des Faktischen.
Ach, was für eine schöne Zeit!
Willkommen in der Wirklichkeit.

Loyalitätsbedingt dem Alten
muss man den Staat nun neu gestalten.
Es stampft und dampft, die nicht ganz vife
Populär-Lokomotive.

Von Krisen zeigt das Land, geprägt, sich
liberal sozial zersägt.
Die grüne Au wird zum Konflikt,
das Land zur Skandalrepublik.

Waluliso predigt mahnend
Frieden!, weil schon Unheil ahnend.

Den Wein, den panscht der Winzer listig,
ihn trinkt kein Mensch mehr, weil er mistig.
Ein Reiter sitzt am hohen Ross
Und rüttelt stark am Opfermythos.

Ein neuer Geist irrt jetzt umher.
Den alten Weg, den gibt’s nicht mehr.
Zunehmend wird man jetzt globaler,
medial und digitaler.

Der Privatisierung heller Schein
dringt in die Politik hinein.
Medien stören Prominente
im intimen Ambiente.
Skandale nehmen ihren Lauf,
der Journalismus deckt sie auf.
Das Budget wird immer dünner,
jedoch das Parlament wird grüner.

Alles frönt dem Hedonismus,
der Yuppie zählt zum Organismus
erfolgsgewohnter Börsianer.
Die Hofreitschul’ zeigt Lipizzaner.
Alles happy, alles da,
weil I am from Austria.

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Norbert Johannes Prenner (Text und Grafik)

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 25118

 

 

 

CARTOON EINFÜGEN

Der große Wohltäter

Gestern trug man ihn zu Grabe, ohne große Ehren.
Und nicht am Willen lag es, ihm sie zu verwehren.
Im Stillen ward’ er, hierorts, leis’ zu Grab getragen.
Ein großer Mann, das darf man wahrlich über diesen sagen.

Erfinder war er keiner, und auch kein Weltverbesserer,
so einfach war er, herzensgut, und sonst auch kein Besessener.
Sein Wunsch, alles ins rechte Licht zu rücken.
Es lag ihm fern, womöglich alle zu beglücken.

War’s angebracht, hielt er den Mund und hielt auch keine Reden.
Kein unnütz’ Wort, es lag ihm mehr am Geben.
Hat nichts entworfen oder gar erfunden,
wollt’ gern der andern heimlich’ Wunsch ergründen.

Nie war sein Ding, über and’re zu bestimmen.
Er wollte nie zu hohe Berge selbst erklimmen.
Nahm weder teil an Treffen noch Konferenzen,
und nie versetzte er den Stein an fremden Grenzen.

Hat lieber geschwiegen, als selber große Reden zu halten.
Nie von sich reden machen, nichts zwischen ihm und andern spalten.
Kein Reporter musst’ ihn je besuchen.
Kein Kommentator wegen ihm Termine buchen.
Nur ein einzig’ Mal hat man von ihm vernommen,
sei er, der gold’nen Hochzeit wegen, in ein Wochenblatt gekommen.

Vor Bewund’rung steh’n wir, ehrfurchtsvoll beseelt,
an dieser Bahre hier und hör’n, was man von ihm erzählt.
Ein Mann, der vieles unterlassen hat, bei Gott, jedoch nicht lahm,
weil er vor lauter Pflichterfüllung zu gar nichts and’rem kam.

Da war seine Familie, die Kinder und der Garten.
Bäume pflanzen, Steuern zahl’n, auf bess’re Zeiten warten.
Nur selten war Gelegenheit, ein Gläschen Wein zu trinken,
nach der Arbeit, die getan. Die Sonne schon im Sinken.

Vielleicht deshalb ein großer Mann, ein Vorbild für die Jungen?
Eher von anno dazumal, hätt’ man ein Lied auf ihn gesungen.
Was soll auf seinem Denkmal stehn? Dem Wohltäter der Menschheit?
Der niemanden gequält, verletzt oder vielleicht gelangweilt.
Heut reicht es kaum zum Denkmal hin, was wird denn so erwartet?
Der Mann, der war zu gut, zu brav, ja, beinah schon entartet.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 25115

Die Wohlgerüche deines Gartens

(in Erinnerung an meinen Großvater Johann Franzen)

Der Geruch nach Schuhcreme
an allen deinen Fingern
weicht nach und nach
den Wohlgerüchen deines
gut gehüteten Gartens,
während du tiefer und tiefer
in die geliebte Erde
deines Zuhauses eintauchst
mit deinen schwieligen Händen,
die aussehen wie Leder.

Pflanzen, Beschneiden, Jäten
in deinem riesigen Nutzgarten
bereitete dir immer
das größte Vergnügen
nach einem langen Arbeitstag,
an dem du Schuhe machtest
für jedermann, sogar mich,
und die Gartenarbeit ließ
ein Frühlingslied erblühen
auf deinen spröden Lippen,
das deinen Frohsinn
bis zu Haus und Hof trug.

Frank Joussen

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 25084

Heldenberg – Reportage aus der (zukünftigen) Vergangenheit

Der freiheitliche Noch-Klubobmann Peter Westenthaler im ORF-ZiB1-Interview vom 9.9.02 nach der Rolle Volksanwalt Ewald Stadlers beim Aufstand der FP-Funktionäre gefragt, meint, dieser hätte Geister gerufen, die er nicht mehr losgeworden sei.

Am Morgen des 8.10., einen heißen Spätsommertag nach den Ereignissen bei dem Knittelfelder FP-Treffen, begibt sich Volksanwalt Ewald Stadler zur niederösterreichischen Gedenkstätte Heldenberg in der Nähe von Kleinwetzdorf, um dort auf einer „Radetzky-Feier mit Feldmesse“ eine Ansprache zu halten. Die Veranstaltung steht unter seinem, Verteidigungsminister Herbert Scheibners und des niederösterreichischen Landeshauptmanns Erwin Pröll Ehrenschutz.

Die Gedenkfeier auf dem mit 280 Metern nicht gerade hohen Heldenberg findet in geschichtsträchtigem Rahmen statt, nämlich auf einer Ruhmesstätte österreichischen Heldentums, die Mitte des 19. Jahrhunderts aus den privaten Mitteln des aus ärmlichen Verhältnissen aufgestiegenen Armeelieferanten Josef Gottfried Pargfrieder errichtetet wurde.

Im spätklassizistischen Stil gehalten, bestücken die Anlage: eine Art Ehrenhalle, ursprünglich zur Unterbringung einer ständigen Militärmannschaft vorgesehen, Siegessäulen, 142 Hohlbüsten österreichischer Armeeführer und Kaiser aus damals modernem  Zinkguss und, der Ehrenhalle gegenüber, ein echtes Mausoleum in Form eines Obelisken.

In diesem liegen zur letzten Ruhe:  Maximilian Freiherr v. Wimpffen und J.J.W. Graf Radetzky, der Bezwinger Napoleons. Die beiden Feldmarschälle schlugen 1848/49 die italienischen und ungarischen Aufstände gegen die Herrschaft der Habsburger nieder. Zu Füßen der Gräber dieser beiden historischen Persönlichkeiten liegt dasjenige des Armeelieferanten Pargfrieder, der es schaffte, die beiden Herren testamentarisch zu verpflichten, sich auf seiner Anlage und zu seiner Seite begraben zu lassen, indem er ihnen im Gegenzug ihre (Spiel-)Schulden beglich.
In der Gruft, dem Eingang gegenüber angebracht, ist der zumindest grammatikalisch bemerkenswerte Spruch zu lesen:„Wehe dem, der unsere Ruhe stört. Wir sind nicht todt, weil wir schweigen.“

Kurz vor neun Uhr morgens nehmen vor dieser Kulisse und unter schmissiger Marschmusikbegleitung  Garden, vor allem aus Jungen-Nachwuchs bestehend, in mit Stolz getragenen historischen Uniformen aus vergangenen Jahrhunderten, nebst hohen Gästen und Vertretern aus Polizei und Bundesheer auf den Stufen der Ehrenhalle Aufstellung. Es wird die „Meldung an den Höchstanwesenden“ erstattet.

2384 Personen seien zur Feier eingetroffen – ob man die Feier beginnen könne? Der so informierte Höchstanwesende erteilt den Befehl: „Feier beginnen“, auf das folgende Kommando „Parade, habt Acht!“  nehmen rund 2000 Angehörige von Kameradschafts-, Traditions- und Soldatenverbänden aus Österreich und Mitteleuropa, unter ihnen auch solche mit Uniformen aus beiden Weltkriegen, stramme Haltung an. Gespräche verstummen. Ein leiser Wind weht durch schwere Fahnen und mächtige Helmbüsche. Der ebenfalls geladenen Bevölkerung wird durch das ungeduldige Handzeichen eines Offiziers bedeutet, sich von ihren zwischen Ehrenhalle und Mausoleum aufgestellten Bierbänken zu erheben. Sie erhebt sich. Dann werden unmittelbar hinter ihr drei markerschütternde Schüsse einer Kanone aus dem Ersten Weltkrieg abgefeuert. Ein nochmaliges Kommando ergeht: „Parade, ruht!“  – Etwas unschlüssig setzen sich die zahlenmäßig unterlegenen Zivilisten. Die Uniformträger bleiben stehen.

In einer halbstündigen Begrüßungsansprache werden honorige Gäste aus Wirtschaft, Kirche, Adel, Exekutive und Politik für ihr Kommen bedankt, befindet der Bürgermeister der Gemeinde Heldenberg, die Radetzky-Feier wäre keine Bühne für Politik, und werden Grußworte aus aller Welt verkündet. Ein kerniger Bayer beginnt die seinen mit den einleitenden Worten, er müsse aufpassen, sonst hätte er hier gleich den Staatsanwalt am Hals, und erntet verständnisvolle Lacher. Er berichtet vom beklagenswerten Zustand der deutschen Bundeswehr unter einer rot-grünen Regierung, um mit der hoffnungsvollen Ankündigung zu schließen, so wie in Österreich, werde auch in Deutschland die Anstrengungen vernünftiger Kräfte wieder für ordentliche Zustände sorgen, und wird mit aufmunterndem Applaus verabschiedet.

Daraufhin besteigt der Volksanwalt Ewald Stadler in seiner Funktion als Festredner die Stufen zum Rednerpult, begrüßt die anwesenden Journalisten, meint aber, sie enttäuschen zu müssen – er gäbe heute keine Feuerrede (Gelächter, Bravorufe). Was der Magister dann folgen lässt, ist auch wirklich bloß eine vergnügliche Freiluftstunde in Geschichte. Er erhebt die Heldenberg-Gedenkstätte zum österreichischen Walhalla, schildert den Werdegang Radetzkys bis zum ruhmreichen Sohn Österreichs, zitiert Grillparzer: „Glück auf, mein Führer, führ den Streich – in deinem Lager ist Österreich!“ (Der Dichter meinte den Feldmarschall), setzt etwas unvermittelt Radetzkys historische Bedeutung mit derjenigen einer von sowjetischen Besatzungsmächten nach Russland verschleppten Niederösterreicherin gleich, stützt diese offensichtlich von ihm erkannte Ähnlichkeit mit einer von ihr entworfenen Schleife für einen Kameradschaftsbund, die eilfertig und zur besseren Sichtbarkeit auf ein Mikrophon gelegt wird,  und kommt so eher zufällig auf die Behandlung der österreichischen Nachkriegszeit  im Kontext objektiver Geschichtsbetrachtung zu sprechen. Hier fragt er sich bestürzt, wo die Feministinnen denn seien, wenn es um das Schicksal zigtausender vergewaltigter Frauen ginge, schlägt vor, sich, statt auf deren und gewisser „Gutmenschen“ verfälschende Sehweise der Vergangenheit, ganz auf Berichte von Zeitzeugen zu verlegen, von denen in der anwesenden Versammlung ja einige, Gott sei Dank, noch am Leben wären, und fordert gewiss in deren Sinne, dass „…freie Meinungsäußerung nicht zum halsbrecherischen Unternehmen wird!“
Schließlich endigt er aber mit der beruhigenden Feststellung: „Diese Radetzky-Feier ist ein lebender Beweis dafür, dass hier die Unabhängigkeit zu Land und in der Luft …“, wiederholt: „… Zu Land und in der Luft – gewährt ist.“ (Einige überzeugen sich mit Blicken.) Er knüpft daran rasch noch an, dass zur weiteren Verteidigung dieser Unabhängigkeit der Ankauf von Abfangjägern einfach unerlässlich sei, und entfernt sich rasch vom Pult.
(Gedämpftes Klatschen.)

Nach nochmaligem Abfeuern der Kanone beginnt ein Militärkaplan zwischen auf einem Tisch vorbereiteten Kandelabern und Kirchengerät das Kyrieeleison zu murmeln, verlässt das Lateinische, um aus dem Lukas-Evangelium von Jesus bei den Pharisäern zu berichten, die ihn einluden, um ihn zu bespitzeln. Er ermutigt, sich wie der Christus ebenfalls nicht den Mund verbieten zu lassen, auch wenn Zeitgeist und Spitzeltum das opportun erscheinen ließen, spricht mit zunehmender Verve vom im Gange befindlichen Verfall sittlicher Werte, der der Eroberung eines Landes durch fremde Mächte immer vorausginge, und erwähnt als Beispiel für diesen Prozess als pornographisch zu bezeichnende Aufklärungsliteratur an den Schulen, die selbst einen Lenin erröten lassen würde.
Zwar wäre es nicht immer leicht, gegen derartige Umtriebe das Wort zu erheben, und brächte oft Benachteiligung mit sich, aber: „Gott hilft uns, wenn andere ihre Waffen zücken …“ Nach einer Klage über eine gewisse revolutionäre Schichte, die verdiente Veteranen zu Verbrechern verurteile, mahnt er: „Jenen, die uns beobachten, nicht Anlass zu Ärgernis zu geben, sondern zeigen: Es ist uns ernst damit (…).“Der Rest ist unverständlich.

Unter weiterem Kanonendonner fällt der Feldprediger wieder ins Lateinische.

Ein untersetzter Herr in Anzug breitet sorgfältig ein Taschentuch auf den Kiesboden, nimmt den Hut ab und kniet sich Richtung Mausoleum, um eine Art Stoßgebet zu verrichten.

Im selben Moment bewegt sich auf dieses eine Delegation von der Ehrenhalle zu, schreitet eilig durch die inzwischen zum Teil verlassenen Bierbänke, um im Inneren des Obelisken die Kranzniederlegung zu begehen.

Ein Kind ruft beim Anblick der sich zur abschließenden Parade formierenden Verbände und zweier Reiter in Dragoneruniform begeistert in sein Handy: „Ja! Zinnsoldaten sind hier. Weißt du, wie viele? Es sind Tausende!“

Unweit davon eröffnet ein Veteran einem jungen Fotografen, er, der Veteran, wäre damals bei der SS gewesen, und zwar bei der Totenkopfbrigade, krempelt zum Beweis seinen Ärmel hoch und zeigt seine Tätowierung.

Als die an der Kranzniederlegung Beteiligten im hellen Mittagslicht blinzelnd wieder der Gruft entsteigen, um wieder ihre Plätze auf den Stufen einzunehmen, hat sich ein Großteil der Besucher zur am Eingang der Anlage stattfindenden Weinverkostung begeben.

Ungeachtet des von dort herübertönenden Lärms ziehen, unter der Marschmusik sich abwechselnder Militär- und Bürgerkapellen, die Abteilungen diverser Verbände abschließend an den Stufen der Ehrenhalle vorbei, auf denen nach wie vor die Ehrengäste und Garden ausharren. Unter ihnen auf der untersten Stufe und sozusagen in Reichweite befindet sich Ewald Stadler, der den schwer tragenden Fahnenträgern freundlich zulächelt.

Am Nachmittag desselben Tages verkündet Vizekanzlerin Riess-Passer den Medien, dass sie und weitere freiheitliche Minister von ihrem Regierungsamt zurücktreten. Am nächsten Tag kündigt die schwarz-blaue Regierung Neuwahlen an.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 25045

 

 

Im Jahr 2024 in Möderndorf

Es muss um 1850 sein,
hier in Möderndorf,
aber dann stehen da Autos,
und die Menschen sind bunt gekleidet.
Eine der niedrigsten Bevölkerungsdichten
Europa gibt es hier,
dennoch ist es das Jahr 2024.

Stromleitungen in Möderndorf über Wiesen und Weizenfelder am 22. Juni 2024

Stromleitungen in Möderndorf über Wiesen und Weizenfelder am 22. Juni 2024

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 25038

Der Wind der Julier

Mathilda zieht sich ein zweites Paar Wollsocken über ihre Schlafsocken an und in eine dicke Lammfelljacke gehüllt schürt sie das Feuer im Ofen der Stube. Die Kälte wollte in diesem Winter nicht weichen, seit Wochen war das Tal von einer dichten Schnee- und Eiskruste verhüllt. Ihre Finger sind klamm und steif, und sie kann nur mit Mühe Wasser in den Kessel füllen. Aus der Kammer nebenan hört sie leises Wimmern und Husten, die Tochter ist wach. Augustin, der Hund, der in diesem Winter im Haus schlafen darf und der in einer Ecke zusammengerollt geschlafen hat, erhebt sich und tapst zum Bett der Kleinen. Ihm entgeht es nie, wenn ein Kind von Mathilda in Nöten ist.

Aus einigen Lagen Decken und Fellen holt Mathilda die kleine Agatha hervor, zieht Haube, Fäustlinge und Überwurf fest um das Mädchen und stillt das fiebernde Kind. Matthias, der drei Jahre ältere Bruder, der im anderen Bett des Zimmers liegt, öffnet die Augen und steckt sich den Daumen in den Mund. Das Feuer knistert im Ofen, Wasserdampf steigt aus dem Kessel auf und taucht den kleinen, dunklen, verrußten Raum in einen feinen Nebel, das Kerzenlicht am Tisch flackert.

„Wir müssen heute Holz sammeln und Hagebutten ernten, Matthias, hörst du? Du musst mir helfen. Agatha braucht Hagebuttentee, damit sie gesund wird. Unsere Vorräte gehen zur Neige und der Winter ist hartnäckig in diesem Jahr.“

Matthias hüpft von der Pritsche und zieht sich rasch an. Aus der Truhe neben dem Tisch holt er Brot und Käse, ein kleines Stück Geräuchertes und zwei Becher. Mathilda beobachtet ihren Sohn liebevoll und atmet tief durch. Seit dem Tod ihres Mannes im Herbst davor konnte sich ihr Herz nur mehr selten erwärmen, und wenn, dann nur durch den Anblick der beiden Kinder.

Nachdem Mathilda die Hühner, Schafe und Schweine im Stall nebenan gefüttert hat, setzt sie sich mit ihrem Sohn an den Tisch und sie essen die spärliche Mahlzeit. Seit Wochen sind sie und der Kleine hungrig aufgewacht und hungrig zu Bett gegangen. Zum Glück hatte sie noch genug Milch in ihren Brüsten für die kleine Agatha.

Ein sachtes, dunkles Knarzen und gleichmäßiges Poltern ist aus der Richtung des Dobratsch zu hören, als sich Mutter und Kinder auf den Weg machen. Die Tochter fest eingehüllt und mit Tüchern an ihren Bauch festgebunden, stapfen sie mit hohen Stiefeln durch den Schnee.

„Hast du das gehört, Matthias? Dobraci grummelt wieder!“ Der Sohn sieht seine Mutter an und schüttelt leicht den Kopf. „Nein, Mutter, ich höre nichts.“ Sie marschieren entlang des teilweise vereisten Flusses und die Wasserkristalle an der Oberfläche bilden einen glitzernden Nebel. Langsam nähern sie sich dem Fuße des Berges, an dessen Hang Hundsrosen wachsen. Der Hund bleibt schwanzwedelnd vor ihnen stehen und hält inne. Hebt einen Fuß und lauscht. Auch er scheint etwas im Inneren des Berges zu vernehmen. Mathilda stellt den kleinen Korb hin und Sohn und Mutter pflücken die letzten Hagebutten der Sträucher. Augustin streift durch die Büsche und sucht nach Beute, er muss sich selbst versorgen.

Wieder knarzt und pocht es aus dem Berg, die Erde scheint leicht zu beben und der Hund schießt nun winselnd aus dem Gebüsch. Ein starker Wind zieht über die Julischen Alpen kommend in ihre Richtung und wirbelt Schnee auf. Das Kopftuch von Mathilda entschwindet in die Lüfte.

„Was ist das, Mutter? Kommt ein Schneesturm?“, der Sohn klammert sich an das Kleid der Mutter und schiebt sich den Daumen in den Mund. „Ich weiß es nicht, Matthias. Ich höre den Groll des Dobraci schon länger poltern. Jede Nacht werde ich wach davon.“

„Was sprichst du da, Frau! Was für einen Groll hörst du?“ Der Bauersfrau nähert sich mit Riesenschritten der Pater des Dorfes, der wohl ihren letzten Satz noch vernommen hat.

„Gott zum Gruße, Hochwürden.“ Sie senkt ihren Kopf und drückt ihre Kinder an sich.

„Was treibt dich hier heraus bei diesem Wetter, Witwe? Und wieso ist dein Haupt nicht bedeckt?“ Der Pater stemmt seine Fäuste in die Seiten, unter seiner dicken Lammfelljacke quillt ein beachtlich großer Bauch hervor. Seine buschigen Augenbrauen sind zusammengezogen und seine hellgrauen Augen funkeln. Mit einer hastigen Bewegung fegt er dem Jungen die Mütze vom Kopf. „Benehmen, meine Junge! Benehmen! Nimm die Mütze ab, wenn ich mit euch spreche!“ Mathilda drückt ihren Sohn an sich und blickt dem Pastor nun in die Augen, ihr Kinn leicht nach vor gereckt, atmet sie tief ein und aus und die Atemluft malt Kringel in die Sphäre.

„Meine Tochter Agatha hat seit Tagen Fieber, Hochwürden. Wir suchen hier nur Hagebutten für das kranke Kind, und Feuerholz für den Ofen, es geht zur Neige.“ Mit zittriger und etwas zischender Stimme schmeißt sie dem Pfarrer die Worte vor die Füße. Dieser kratzt sich am Ohr und macht einen Schmollmund.

„Soso, Hagebutten. Die Witwe hat Kräuterwissen? Ist sie gar im Pakt mit dem Teufel, Ketzerei? Und warum war sie mit den Kindern nicht beim letzten Gottesdienst?“

„Ich sagte doch, dass die Kleine krank ist. Ich konnte deshalb nicht zur heiligen Messe.“ Der Pastor stapft zwei Schritte näher an Mathilda heran, sodass er dicht vor ihr zu Stehen kommt. Sein weingetränkter Atem schlägt ihr ins Gesicht. Die kleine Agatha beginnt plötzlich zu husten und zu weinen, als der Pfarrer zu sprechen beginnt.

„Der Gutsherr hat mir berichtet, dass du die Abgaben als Hufenbäurin nicht mehr leisten kannst. Es hat den Anschein, als kommst du den Pflichten der Kindererziehung nicht ausreichend nach, sie zu gehorsamen, gottesfürchtigen und bescheidenen Menschen zu erziehen! Ich rate dir, nach Einhaltung des Trauerjahres wieder zu heiraten, ansonsten nimmt das ein schlimmes Ende mit dir, Weib!“ Die letzten Worte spuckt er angewidert aus, er rümpft die Nase und rotzt in den Schnee.

Mathilda wendet sich jäh ab, greift nach dem Korb mit den Hagebutten und stapft mit ihren Kindern zurück ins Dorf. Der Erdboden scheint nun wieder leicht zu beben und das Donnern aus dem Berg und der beißende Wind aus den Julischen Alpen legt zu. In ihren Augen sammeln sich Zornestränen, sie weiß es geschickt, sie zu unterdrücken: Kinn nach vor, Rücken gerade, tief atmen.

Auf dem Heimweg muss sie an ihren verstorbenen Mann denken, der nach etlichen Jahren mit Missernten, eisig kalten Wintern und nach dem Heuschreckeneinfall vor drei Jahren den Mut nie verloren hat. Er war Bauer aus voller Überzeugung und beide schufteten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf dem kleinen Hof, um die Abgaben an den Gutsherren rechtzeitig leisten und um die Familie ausreichend ernähren zu können. Sie weiß, dass sie es alleine nur schwer schaffen kann, denn sie hat keine Unterstützung von Nachbarn und Frauen aus der Umgebung, die sie nur als „die fremde Frau aus Italien“ bezeichnen, weil sie die Schöne, Unnahbare war, die den heimischen Bauern geheiratet hat, den andere wollten.

In der Nacht pfeift ein eisiger Schneesturm ums Haus, der an den Fensterläden zerrt und das Vieh im Stall unruhig werden lässt. Mathilda, Matthias und Agatha liegen eng aneinandergeschmiegt unter vielen Decken, der Hund liegt vor dem Bett, hechelt und spitzt die Ohren. Der Donner, der nun durchs Tal poltert, kommt nicht vom Himmel, er kommt aus dem Inneren des Berges. Mathilda kann es bis in ihre Magengrube fühlen. Tisch und Stühle in der Stube nebenan zittern sachte, die Becher in der Truhe schlagen aneinander. Die Kinder schlafen, nur Mathilda, der Hund und das Vieh im Stall sind hellwach.

Am nächsten Morgen liegt die Schneedecke dicht vor der Haustür und eine grelle Wintersonne scheint vom Himmel, als wäre nichts gewesen. Einzig den Schafen, Hühnern und Schweinen ist nicht wohl zumute und der Hund läuft aufgeregt um den Hof. Mathilda bereitet Hagebuttentee und der Sohn holt die letzten Brot- und Käsereste aus der Truhe. Die Kirchenglocken rufen zum Morgengebet und die Dorfbewohner stapfen durch die Schneewehen zur Messe.

Mathilda tritt vor das Haus und ihre Blicke schweifen über den eindrucksvollen Dobratsch, der sich wie ein Herrscher über das Tal zu beugen scheint. Weiter westlich liegen die Julischen Alpen, die Julier, die nun von der Sonne hell ausgeleuchtet im Hintergrund verharren, als hätten sie noch etwas zu erledigen an diesem Tag. Wieder spürt Mathilda ein leichtes Beben unter ihren Füßen, ein beharrliches Knarzen und ein Stöhnen vom Berginneren.

„Was ist denn bloß los, Dobraci?“, flüstert sie. Eine plötzliche Übelkeit macht sich in ihr breit und sie muss würgen. Ihr Herz beginnt zu rasen und der Atem stockt in ihrer Brust. Mathilda läuft ins Haus, verstaut das spärliche Hab und Gut in ein großes Tuch, packt ihre Tochter ins Tragetuch und drängt ihren Sohn zur Eile. Sie öffnet die Stalltür und entlässt das Vieh in die Freiheit.

„Mutter, Mutter, die Erde wackelt!“, schreit der kleine Matthias. Sie laufen zur Kirche, reißen die Türen auf und Mathilda ruft ins Gotteshaus: „Ein Erdbeben, sofort raus hier!“

Dann geht alles ganz schnell. Mathilda läuft mit ihren Kindern und dem Hab und Gut das Dorf entlang Richtung Passstraße. Sie weiß, sie muss weg von hier. Einige Schafe und der Hund laufen hinter ihr her. Lautes Geschrei von den Dorfbewohnern ist zu hören, aber sie ist längst auf dem Weg. Sie ist unterwegs in ihre alte Heimat Venetien, zu einem kleinen Dorf am Meer, während hinter ihr der Dobratsch zornig stürzt. Einhundertfünfzig Millionen Kubikmeter Gesteinsmassen schüttet der Berg ins Tal hinab. Die nahe gelegene Stadt steht durch das Erdbeben in Flammen, Flüsse treten über die Ufer und Klöster, Kirchen und Gutshäuser werden zu Ruinen.

Mathilda erreicht mit ihren Kindern nach zwei Tagen Fußmarsch ihr Heimatdorf geschwächt, aber lebend. Der Zorn des Dobratsch hat ihr das Leben gerettet, denn einige Wochen später wird die Pest nach Österreich ziehen und Jahrzehnte danach findet in Kärnten der erste Hexenprozess statt.

Angelehnt an die wahre Begebenheit des Bergsturzes vom Dobratsch am 25. Jänner 1348.

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 24179

Mit Blindheit geschlagen

Manchmal hat man Augen und sieht nicht.
Man sieht die Blitze nicht, man hört den Donner nicht, man spürt den Wind nicht.
Der Himmel ist nicht mal blau, sondern rosarot.

Die alten Römer waren bestimmt der Meinung,
sie wären das am weitesten entwickelte Volk,
sie hätten die ideale Staatsform und wären allzeit gerüstet,

im Jahr eins vor der Völkerwanderung.

Römer mit Federhelm an einer Hauswand in Krumpendorf

Römer mit Federhelm an einer Hauswand in Krumpendorf

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 25008

Der Bauer und sein Herr

„Mein Herr ist um einen Kopf größer als ich“, sagt der leibeigene Bauer. „Er speist fürstlich, was aus meinem Stall und von meinen Feldern stammt. Meiner Familie und mir bleiben die Reste. Mein Herr ist sehr gescheit, ich bin ein dummer Bauer und völlig ungebildet, mein Herr hingegen kann mehr als nur lesen, schreiben und rechnen. Die Kinder meines Herrn sind wohlgeraten und gesund, meine Kinder husten oft und müssen das Bett hüten. Die Gattin meines Herrn ist eine Schönheit, was meine leider nicht ist. Das ist der jetzige Zustand, den ich soeben berichtete, aber wie wird es in hundert Jahren sein? Wird mein Herr überhaupt noch mein Herr sein?“

Das Wohngebäude des Bauernhofs in Viktring am 28. April 2023

Das Wohngebäude des Bauernhofs in Viktring am 28. April 2023

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 24175

A Sentimental Journey

„In Regen kann’s zwieseln,
aber in Zwiesel kann’s nicht regnen“,
sagtest du dir.
Und wart glücklich zu zweit
auf eurer herbstlichen
Wanderung.

Von einer Bank zur nächsten
durch Wälder und Felder.
Gelb, schwarz und braun
bis zum abendlichen Wein.
Aber ansonsten verlor sich
jede Spur.

Hätte ich dich doch
früher gekannt.
Sagen wir:
Vor einem halben
Jahrhundert.
Mir ginge mein Herz
über
vor so viel Schönheit.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 24119

Mein Traum

Still liege ich da, mit offenen Augen, und hänge meinem Traum nach. Wie seltsam und wie seltsam schön er gewesen ist! Ich bin völlig ergriffen, richtiggehend verzaubert, was äußerst selten der Fall bei mir ist. Zuletzt fühlte ich mich so – fällt mir ein – vor ungefähr neun Jahren. Gefühlsmäßig werde ich nun zurückkatapultiert zu diesen Momenten damals, als ich mich ähnlich überwältigt fühlte wie jetzt. Es war am Tag von Mutters Begräbnis. Ein Musiker-Kollege von Mutter sang ein Medley ihrer Lieblingssongs zu ihrem Abschied. Und bei einem der Songs liefen mir plötzlich Tränen übers Gesicht. Unaufhaltsam. Natürlich werden alle, die mich damals weinen sahen, angenommen haben, dass ich wegen Mutter weinte. Doch es war rein jenes fremdsprachige, sanfte Lied, das mich zu Tränen rührte. Um Mutter zu weinen, gab es keinen Grund.

Sie ist immer abwesend gewesen. Es gab kaum Kontakt zwischen uns. Ich bin bei meinen Großeltern in einem kleinen Dorf aufgewachsen. Die Großeltern waren fleißige, einfache Leute. ‚Und du, Kind, bist ganz aus unserem Holz geschnitzt‘, haben sie des Öfteren stolz zu mir gesagt. Mutter aber tanzte aus der Reihe, sie tanzte weit, weit weg von uns. Sie war nicht das schwarze, sondern das buntschillernde Schaf der Familie. Künstlerin war sie, Sängerin, mit Leib und Seele. Ständig war sie unterwegs, irgendwo, auf Tourneen mit ihrer Band. Sie starb bei einem Autounfall, mit reichlich Alkohol und Drogen intus. Ewig nicht daran gedacht. Schnell schiebe ich diese Gedanken weg und spüre wieder dem Traum nach.

Und – wie schön! – ich fühle mich nach wie vor als diejenige, die ich im Traum gewesen bin. Regungslos bleibe ich liegen, um so lange wie nur möglich dieses Traum-Ich zu bleiben. Ich möchte es halten, es mitnehmen in den Tag. Nein, eigentlich möchte ich es nirgendwohin mitnehmen, eigentlich möchte ich mich nirgendwohin bewegen. Ich möchte im Moment bleiben, oder, noch besser, wieder zurückgehen dorthin, wo ich nie zuvor, außer vorhin im Traum, gewesen bin.

Es ist ein mediterraner Ort. Zielbewusst gehe ich durch schmale Gässchen. Um mich: bunte Fensterläden, hohe, blühende Topfpflanzen, lebhafte Stimmen, Lachen, ab und zu knatternde Mopeds. Die Sonne scheint. Warm ist mir. Hübsche Sandalen und ein kurzes, luftiges Sommerkleid trage ich.

Jetzt muss ich schmunzeln. Ich trage nämlich nie Kleider. Immer Hosen. In einem Kleid würde ich verkleidet wirken. Unförmig sowieso. Vor allem würde ich mich für meine dicken Beine genieren.

In meinem Traum aber bin ich schlank, bin ich schön. Alles passt zusammen. Mein Inneres, mein Äußeres und die Umgebung bilden eine harmonische Einheit. Anmutig spaziere ich die malerischen Gassen entlang, mit der Selbstverständlichkeit derjenigen, die diese Wege unzählige Male gegangen ist. Diese Gelassenheit in mir! Und so also fühlt sich Selbstwertgefühl an: leichthin Leute grüßen und ein paar Worte mit ihnen tauschen – ohne die üblichen quälenden Gedanken meiner Realwelt: ‚Wie komme ich an? Was denken die von mir?‘ Mein Traum-Ich wird geschätzt, ja, verehrt, das ist an der respektvollen Art, die mir entgegengebracht wird, klar ersichtlich. Vielleicht bin ich ja Ärztin oder Schauspielerin, auf alle Fälle eine bekannte Persönlichkeit.

Und hier, jetzt, in meinem kleinen Zimmer, knurrt laut mein Magen. Da riecht es nach abgestandener Luft, da zwickt’s mich im Rücken, da stoßen meine Zehen an die harte Bettkante. Aber das wohlige Traum-Gefühl ist noch da, ist abrufbar.

Vor mir erstreckt sich nun ein weitläufiger Platz, in dessen Mitte ein einladender, offener Gastgarten. Runde Tische mit weißen Damast-Tischtüchern, Korbsessel mit blauen Pölstern. Davor eine kleine Bühne. Hinter diesem ganzen Ambiente: Felsen, die Küste, ein tiefblaues Meer. Ich nehme Platz an meinem Tisch in der Mitte des Gastgartens, genieße das Gefühl des Ankommens, des Willkommen-Seins. Andere Gäste grüßen mich wohlwollend, sie scheinen mich zu kennen. Der Kellner kommt lächelnd zu mir: ‚Das Übliche?‘, fragt er. Ich neige leicht und zustimmend meinen schönen Kopf.

Dieser unausgesprochene Respekt, der meinem Traum-Ich entgegengebracht wird!  In meiner Wirklichkeit ist er mir fremd. Weder von meinen Mitmenschen noch von mir selbst erhalte ich ihn. Ich bin eine, die im besten Fall Mitleid erntet, eine, der man, falls man ein gutherziger Mensch ist, helfen will, weil man mir sofort ansieht, dass ich zu jenen gehöre, die zu kämpfen haben, zu jenen, denen nichts in den Schoß fällt, die sich schwer tun im Leben. Eine Naive bin ich, eine Zaudernde, Schwerfällige. Eine unhübsche Dicke. Bestimmt hat Mutter sich geschämt für die uninteressante Tochter, die ihr mit knapp achtzehn – Vater unbekannt – passiert ist. Geschämt sicherlich auch für ihre biederen Eltern. Doch auch umgekehrt empfanden wir sie, die Künstlerin, als Fremdkörper – eine Verrückte, deren unkonventionelle Lebensweise wir ablehnten.

Ich reibe meine Stirn: raus mit diesen unangenehmen Gedanken aus meinem Kopf und zurück in meinen Traum – zurück in den schönen Gastgarten. Selbstbewusst sitze ich in der Mitte des Geschehens. Nun seufze ich selbstmitleidig auf. Normalerweise nämlich, in meinem realen Leben, suche ich überall nach Nischen, in denen ich mich geschützt fühle, setze mich an den Rand, wo ich hingehöre, als Randfigur. Der Kellner serviert mit einer kleinen Verbeugung und einem Scherz mein Getränk, ich lacht laut und unbeschwert.
Um mich sprühen beinahe greifbar positive Energien. Dann wird es still, alle sehen gebannt zur Bühne. Eine wunderschöne Frau mit einem Mikrofon in der Hand steht oben. Sie nickt mir zu, beginnt dann mit samtener Stimme zu singen. Eine sanfte, eindringliche Melodie in einer fremden Sprache. Spanisch, vermute ich.
Sie sieht mir dabei unentwegt in die Augen. Es ist offensichtlich, dass ihre wunderbare Darbietung einzig und allein mir gilt. Als der letzte Ton verklungen ist, lächelt sie mir zu – und so endet der Traum, mit diesem, ja, zärtlichen Lächeln und Blick der Sängerin.

Wieder seufze ich laut auf. Wie unglaublich klar und detailreich mein Traum doch gewesen ist, im puren Gegensatz zu meinen bisherigen Träumen stehend, von denen ich mir, wenn überhaupt, nur verwischte Szenen merken konnte.

Mein Magen knurrt wieder. Nun stehe ich doch auf, ächzend wegen meiner Rückenbeschwerden. Es gelingt mir jedoch, das ungewohnte Hochgefühl durch den Tag zu tragen. Bestimmt auch, weil heute Sonntag ist und ich nicht arbeiten muss. Ich verbringe fast den ganzen Tag auf der Couch, versorge mich mit Pizza, Naschereien und Cola und sehe fern. Abends, als ich die Vorhänge zuziehe und die Nachtlampe einschalte, taucht unvermutet etwas in mir auf. Eine tief in mir gelagerte Erinnerung? Ein Wunschbild? Jedenfalls sehe ich deutlich mein altes Kinderzimmer im Haus meiner Großeltern vor mir. Es ist abgedunkelt, nur der zartgelbe Schimmer einer Nachtlampe fällt in den Raum. Ich sehe mich als winzig kleines Kind in den Armen meiner Mutter. Langsam geht sie mit mir im Zimmer auf und ab, mich liebevoll wiegend, und singt dabei leise und zärtlich ein Lied in einer fremden Sprache.

Mir kommen die Tränen. Aufgewühlt suche ich nach Zigaretten, öffne ein Fenster und rauche. Später dann schalte ich, einem Impuls folgend, den Laptop ein, und suche in abgelegten Ordnern nach dem Video von Mutters Begräbnis, das mir damals, vor neun Jahren, irgendjemand geschickt hat.

Nach ewiger Zeit finde ich es endlich. Noch nie habe ich dieses Video angesehen. Tief atme ich ein und aus, bevor ich auf Start drücke. Dann sehe ich den Friedhof. Mutters Grab. Meine Großeltern, ihre alten, traurigen Gesichter. Daneben ich, mit versteinerter Miene. Ein paar Dorfbewohner hinter uns. Ich sehe mir unbekannte Freunde meiner Mutter, die bewegt leise Abschiedsworte sagen. Und dann Mutters Musiker-Kollege. Das Medley. Klare, eindringliche Melodien. Wie vor neun Jahren muss ich beim selben Lied weinen. Ich erkenne es sofort. Beim ersten Ton. Es ist das Lied von meinem Traum. Dasselbe Lied, das Mutter vor langer, langer Zeit mir, ihrer kleinen Tochter, so zärtlich vorgesungen hat.

Immer wieder spule ich zurück und höre es mir an, präge mir das Lied ein. Dann tippe ich die Worte des Refrains in mein Handy: ‚Mi amada hija hermosa‘. Lasse es auf Deutsch übersetzen. Und lese wieder und wieder die vier Wörter, die schwarz auf weiß da stehen: ‚Meine geliebte schöne Tochter.‘
Sage sie leise vor mich hin, ungläubig, schließe die Augen. Die Traum- und die Erinnerungsbilder von heute tauchen wieder in mir auf und verschmelzen zu einem einzigen Bild. Und dieses Bild breitet sich in meinem Inneren aus und lässt mich spüren, was ich mein bisheriges Leben vermisst habe: Ich spüre Liebe, Wärme und Sicherheit.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 23088