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A Sentimental Journey

„In Regen kann’s zwieseln,
aber in Zwiesel kann’s nicht regnen“,
sagtest du dir.
Und wart glücklich zu zweit
auf eurer herbstlichen
Wanderung.

Von einer Bank zur nächsten
durch Wälder und Felder.
Gelb, schwarz und braun
bis zum abendlichen Wein.
Aber ansonsten verlor sich
jede Spur.

Hätte ich dich doch
früher gekannt.
Sagen wir:
Vor einem halben
Jahrhundert.
Mir ginge mein Herz
über
vor so viel Schönheit.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 24119

Mein Traum

Still liege ich da, mit offenen Augen, und hänge meinem Traum nach. Wie seltsam und wie seltsam schön er gewesen ist! Ich bin völlig ergriffen, richtiggehend verzaubert, was äußerst selten der Fall bei mir ist. Zuletzt fühlte ich mich so – fällt mir ein – vor ungefähr neun Jahren. Gefühlsmäßig werde ich nun zurückkatapultiert zu diesen Momenten damals, als ich mich ähnlich überwältigt fühlte wie jetzt. Es war am Tag von Mutters Begräbnis. Ein Musiker-Kollege von Mutter sang ein Medley ihrer Lieblingssongs zu ihrem Abschied. Und bei einem der Songs liefen mir plötzlich Tränen übers Gesicht. Unaufhaltsam. Natürlich werden alle, die mich damals weinen sahen, angenommen haben, dass ich wegen Mutter weinte. Doch es war rein jenes fremdsprachige, sanfte Lied, das mich zu Tränen rührte. Um Mutter zu weinen, gab es keinen Grund.

Sie ist immer abwesend gewesen. Es gab kaum Kontakt zwischen uns. Ich bin bei meinen Großeltern in einem kleinen Dorf aufgewachsen. Die Großeltern waren fleißige, einfache Leute. ‚Und du, Kind, bist ganz aus unserem Holz geschnitzt‘, haben sie des Öfteren stolz zu mir gesagt. Mutter aber tanzte aus der Reihe, sie tanzte weit, weit weg von uns. Sie war nicht das schwarze, sondern das buntschillernde Schaf der Familie. Künstlerin war sie, Sängerin, mit Leib und Seele. Ständig war sie unterwegs, irgendwo, auf Tourneen mit ihrer Band. Sie starb bei einem Autounfall, mit reichlich Alkohol und Drogen intus. Ewig nicht daran gedacht. Schnell schiebe ich diese Gedanken weg und spüre wieder dem Traum nach.

Und – wie schön! – ich fühle mich nach wie vor als diejenige, die ich im Traum gewesen bin. Regungslos bleibe ich liegen, um so lange wie nur möglich dieses Traum-Ich zu bleiben. Ich möchte es halten, es mitnehmen in den Tag. Nein, eigentlich möchte ich es nirgendwohin mitnehmen, eigentlich möchte ich mich nirgendwohin bewegen. Ich möchte im Moment bleiben, oder, noch besser, wieder zurückgehen dorthin, wo ich nie zuvor, außer vorhin im Traum, gewesen bin.

Es ist ein mediterraner Ort. Zielbewusst gehe ich durch schmale Gässchen. Um mich: bunte Fensterläden, hohe, blühende Topfpflanzen, lebhafte Stimmen, Lachen, ab und zu knatternde Mopeds. Die Sonne scheint. Warm ist mir. Hübsche Sandalen und ein kurzes, luftiges Sommerkleid trage ich.

Jetzt muss ich schmunzeln. Ich trage nämlich nie Kleider. Immer Hosen. In einem Kleid würde ich verkleidet wirken. Unförmig sowieso. Vor allem würde ich mich für meine dicken Beine genieren.

In meinem Traum aber bin ich schlank, bin ich schön. Alles passt zusammen. Mein Inneres, mein Äußeres und die Umgebung bilden eine harmonische Einheit. Anmutig spaziere ich die malerischen Gassen entlang, mit der Selbstverständlichkeit derjenigen, die diese Wege unzählige Male gegangen ist. Diese Gelassenheit in mir! Und so also fühlt sich Selbstwertgefühl an: leichthin Leute grüßen und ein paar Worte mit ihnen tauschen – ohne die üblichen quälenden Gedanken meiner Realwelt: ‚Wie komme ich an? Was denken die von mir?‘ Mein Traum-Ich wird geschätzt, ja, verehrt, das ist an der respektvollen Art, die mir entgegengebracht wird, klar ersichtlich. Vielleicht bin ich ja Ärztin oder Schauspielerin, auf alle Fälle eine bekannte Persönlichkeit.

Und hier, jetzt, in meinem kleinen Zimmer, knurrt laut mein Magen. Da riecht es nach abgestandener Luft, da zwickt’s mich im Rücken, da stoßen meine Zehen an die harte Bettkante. Aber das wohlige Traum-Gefühl ist noch da, ist abrufbar.

Vor mir erstreckt sich nun ein weitläufiger Platz, in dessen Mitte ein einladender, offener Gastgarten. Runde Tische mit weißen Damast-Tischtüchern, Korbsessel mit blauen Pölstern. Davor eine kleine Bühne. Hinter diesem ganzen Ambiente: Felsen, die Küste, ein tiefblaues Meer. Ich nehme Platz an meinem Tisch in der Mitte des Gastgartens, genieße das Gefühl des Ankommens, des Willkommen-Seins. Andere Gäste grüßen mich wohlwollend, sie scheinen mich zu kennen. Der Kellner kommt lächelnd zu mir: ‚Das Übliche?‘, fragt er. Ich neige leicht und zustimmend meinen schönen Kopf.

Dieser unausgesprochene Respekt, der meinem Traum-Ich entgegengebracht wird!  In meiner Wirklichkeit ist er mir fremd. Weder von meinen Mitmenschen noch von mir selbst erhalte ich ihn. Ich bin eine, die im besten Fall Mitleid erntet, eine, der man, falls man ein gutherziger Mensch ist, helfen will, weil man mir sofort ansieht, dass ich zu jenen gehöre, die zu kämpfen haben, zu jenen, denen nichts in den Schoß fällt, die sich schwer tun im Leben. Eine Naive bin ich, eine Zaudernde, Schwerfällige. Eine unhübsche Dicke. Bestimmt hat Mutter sich geschämt für die uninteressante Tochter, die ihr mit knapp achtzehn – Vater unbekannt – passiert ist. Geschämt sicherlich auch für ihre biederen Eltern. Doch auch umgekehrt empfanden wir sie, die Künstlerin, als Fremdkörper – eine Verrückte, deren unkonventionelle Lebensweise wir ablehnten.

Ich reibe meine Stirn: raus mit diesen unangenehmen Gedanken aus meinem Kopf und zurück in meinen Traum – zurück in den schönen Gastgarten. Selbstbewusst sitze ich in der Mitte des Geschehens. Nun seufze ich selbstmitleidig auf. Normalerweise nämlich, in meinem realen Leben, suche ich überall nach Nischen, in denen ich mich geschützt fühle, setze mich an den Rand, wo ich hingehöre, als Randfigur. Der Kellner serviert mit einer kleinen Verbeugung und einem Scherz mein Getränk, ich lacht laut und unbeschwert.
Um mich sprühen beinahe greifbar positive Energien. Dann wird es still, alle sehen gebannt zur Bühne. Eine wunderschöne Frau mit einem Mikrofon in der Hand steht oben. Sie nickt mir zu, beginnt dann mit samtener Stimme zu singen. Eine sanfte, eindringliche Melodie in einer fremden Sprache. Spanisch, vermute ich.
Sie sieht mir dabei unentwegt in die Augen. Es ist offensichtlich, dass ihre wunderbare Darbietung einzig und allein mir gilt. Als der letzte Ton verklungen ist, lächelt sie mir zu – und so endet der Traum, mit diesem, ja, zärtlichen Lächeln und Blick der Sängerin.

Wieder seufze ich laut auf. Wie unglaublich klar und detailreich mein Traum doch gewesen ist, im puren Gegensatz zu meinen bisherigen Träumen stehend, von denen ich mir, wenn überhaupt, nur verwischte Szenen merken konnte.

Mein Magen knurrt wieder. Nun stehe ich doch auf, ächzend wegen meiner Rückenbeschwerden. Es gelingt mir jedoch, das ungewohnte Hochgefühl durch den Tag zu tragen. Bestimmt auch, weil heute Sonntag ist und ich nicht arbeiten muss. Ich verbringe fast den ganzen Tag auf der Couch, versorge mich mit Pizza, Naschereien und Cola und sehe fern. Abends, als ich die Vorhänge zuziehe und die Nachtlampe einschalte, taucht unvermutet etwas in mir auf. Eine tief in mir gelagerte Erinnerung? Ein Wunschbild? Jedenfalls sehe ich deutlich mein altes Kinderzimmer im Haus meiner Großeltern vor mir. Es ist abgedunkelt, nur der zartgelbe Schimmer einer Nachtlampe fällt in den Raum. Ich sehe mich als winzig kleines Kind in den Armen meiner Mutter. Langsam geht sie mit mir im Zimmer auf und ab, mich liebevoll wiegend, und singt dabei leise und zärtlich ein Lied in einer fremden Sprache.

Mir kommen die Tränen. Aufgewühlt suche ich nach Zigaretten, öffne ein Fenster und rauche. Später dann schalte ich, einem Impuls folgend, den Laptop ein, und suche in abgelegten Ordnern nach dem Video von Mutters Begräbnis, das mir damals, vor neun Jahren, irgendjemand geschickt hat.

Nach ewiger Zeit finde ich es endlich. Noch nie habe ich dieses Video angesehen. Tief atme ich ein und aus, bevor ich auf Start drücke. Dann sehe ich den Friedhof. Mutters Grab. Meine Großeltern, ihre alten, traurigen Gesichter. Daneben ich, mit versteinerter Miene. Ein paar Dorfbewohner hinter uns. Ich sehe mir unbekannte Freunde meiner Mutter, die bewegt leise Abschiedsworte sagen. Und dann Mutters Musiker-Kollege. Das Medley. Klare, eindringliche Melodien. Wie vor neun Jahren muss ich beim selben Lied weinen. Ich erkenne es sofort. Beim ersten Ton. Es ist das Lied von meinem Traum. Dasselbe Lied, das Mutter vor langer, langer Zeit mir, ihrer kleinen Tochter, so zärtlich vorgesungen hat.

Immer wieder spule ich zurück und höre es mir an, präge mir das Lied ein. Dann tippe ich die Worte des Refrains in mein Handy: ‚Mi amada hija hermosa‘. Lasse es auf Deutsch übersetzen. Und lese wieder und wieder die vier Wörter, die schwarz auf weiß da stehen: ‚Meine geliebte schöne Tochter.‘
Sage sie leise vor mich hin, ungläubig, schließe die Augen. Die Traum- und die Erinnerungsbilder von heute tauchen wieder in mir auf und verschmelzen zu einem einzigen Bild. Und dieses Bild breitet sich in meinem Inneren aus und lässt mich spüren, was ich mein bisheriges Leben vermisst habe: Ich spüre Liebe, Wärme und Sicherheit.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 23088

Magie im Alltag

Ich erinnere mich jetzt – mit dem Abstand von drei Jahrzehnten – nur noch vage an sie. Zudem könnte ich nicht einmal mehr sagen, wann ich sie das erste Mal bewusst gesehen oder wahrgenommen habe. Wenn sie in meiner Umgebung war, veränderte sich etwas. Damals. Am Anfang spürte ich eine unbestimmte Art der Erregung, eher eine Art Neid oder Aggression auf sie.

Das konnte ich damals aber noch nicht recht deuten.

Als ich sie beim Baden sah oder der Tag, an dem sie mich wie Mozart in ein Gartenhäuschen sperrte. Ich konnte noch gar nicht wissen, wie ich meine Empfindungen einordnen sollte.

Mir war es, als wollte ich sie näher kennenlernen. Aber wollte ich es wirklich?

Der Tag, als ich mich zum ersten Mal verliebt in sie zeigte. Es sollte der letzte gemeinsame Tag sein.

An einen Nachmittag in meiner Schulzeit erinnere ich mich noch. Es war bereits dunkel und ich aß eine Dose Heringsfilet in Tomatensoße. Da fiel mir ein Auto ein, dessen Namen ich gelesen hatte, aber dessen Aussehen ich nicht kannte: Morris Marina von 1972. Ich dachte an einen wertvollen britischen Oldtimer, rassiges Design. Damals dachte ich, dass Autos aus dem Grund der technischen Perfektion entwickelt worden wären. Erst viel später kam die Ernüchterung. Aber der vorgestellte Morris Marina gefiel mir viel besser als die reale Entsprechung. Und das ist auch eine Art Magie im Alltag, die mehr und mehr verlorengeht: die Vorstellungskraft.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 23078

Schulgeschichten

Der Lateinlehrer, der dem Schüler sagte, er sei ein „Radfahrer“, und bemerkte „nach oben buckeln, nach unten treten“ und ein paar Klassenstufen später war es ebenjener Lehrer, der diesen Schüler bei einem Referat bloßstellte und einem anderen Schüler, der wegen seines frechen Verhaltens bei den anderen Lehrern sehr unbeliebt war, ständig Komplimente machte („du, dein Vater ist doch Universitätsprofessor“).

Der Geschichtelehrer, der in seinem Unterricht das Prinzip der Hitlerjugend erklärte („und dann marschierten die Hitlerjungen draußen fröhlich und die restlichen Schüler/innen wurden in der Schule mit schweren Aufgaben schikaniert“). In einem Zeitungsinterview über sein Schultheaterprojekt erklärte er später, die Schüler/innen, die dieses Wahlfach gewählt hatten, durften mit ihm viele Städte in Europa besuchen, während die restlichen Schüler im Unterricht saßen.

Der Religionslehrer, der immer vor der Faszination des Nationalsozialismus und der Ideologie der Herrenrasse warnte und später ein Zitat eines modernen griechischen Schriftstellers über die angebliche Überlegenheit der griechischen Sprache verbreitete.

Und ich habe noch heute Hochachtung vor der zierlichen Französischlehrerin, die sich zu unserer Verwunderung am Wandertag im Biergarten Strammen Max bestellt hat und dann auf dem Rückweg verdächtig lange hinter dem Kriegerdenkmal verschwunden ist.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 23041

 

Sigurd Sigurdssons Ritterleben

Sigurd Sigurdsson:
Diese Frau gefällt mir außerordentlich, lieber Bruder. Ich möchte sie besitzen!

Kollege des Bruders:
Was hat er denn?

Bruder:
Er erlitt einen Autounfall.

Sigurd Sigurdsson:
Falsch! Mein Streitross warf mich ab.

Bruder:
Hör mal, Stefan. Die Werkstätte hat dir einen Kostenvoranschlag gemailt, 1.317 Euro.

Sigurd Sigurdsson:
Ich ließ mein Streitross doch einschläfern.

Bruder:
Also können sie dein Auto entsorgen?

Sigurd Sigurdsson:
Auto wie automatisch? Interessant. Sag Bruder, was machen wir mit der hübschen Frau?

Bruder:
Eine Heirat ist ausgeschlossen. Sie erhält keine Aussteuer.

Sigurd Sigurdsson:
Schade, sehr schade. Ich werde jetzt ein bisschen mit der Lanze üben.

Bruder:
Auf einem neuen Streitross?

Sigurd Sigurdsson:
Na klar.

Der Ritter mit der roten Atemschutzmaske

Der Ritter mit der roten Atemschutzmaske

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 22076

Bertha Benz

Dass Bertha Benz im Jahr 1888 mit dem Benz Patent-Motorwagen Nummer 3 die 106 Kilometer von Mannheim nach Pforzheim fuhr und drei Tage später über eine andere Route zurück, war natürlich ein werbetechnisch geschickter Schachzug. Die Botschaft lautete: „Wenn ein Weibsbild imstande ist, dieses Höllengefährt zu bewegen, dann kann das jeder Mann.“

Die Rapperbadeente mit Propeller

Die Rapperbadeente mit Propeller

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 22074

„Extrablatt!“

„Extrablatt, Extrablatt! Die Eilmeldung von den Unruhen in Deutsch-Südwestafrika!“

Extrablatt, Eilmeldung – wahrscheinlich per Telegramm. Was ist da los? Er denkt kurz nach. Klar, wir haben das Jahr 1904, und ich befinde mich in Berlin, der Hauptstadt des Deutschen Reiches und des Teilstaats Preußen. Das Staatsoberhaupt ist der nichtsnutzige Kaiser des Deutschen Reiches und König von Preußen Wilhelm II.

Schlechte Zeiten stehen bevor. Das weiß ich, weil ich aus der Zukunft komme.

Die Afrikanerin mit der Amphore

Die Afrikanerin mit der Amphore

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 22063

Man steht am Fenster 2

Oktober 1956, der Ungarn-Aufstand

Vielleicht war in dieser Zeit auch die Rede von Ungarn, vielleicht habe ich etwas aufgeschnappt von der bedrohlichen Situation im Nachbarland, 60 Kilometer von uns entfernt. Die Gefahren durch den Kommunismus waren im Bräuhaus und auch später bei uns in Tulln immer gegenwärtig:
Die Erzählungen vom Leben in der sowjetischen Besatzungszone, von der Zonengrenze auf der Ennsbrücke, die Onkel Klaus und seine Bierführer einmal in der Woche passieren müssen, vom Putsch der gefährlichen Kommunisten in der Tschechoslowakei. Alles nicht weit weg. Und jetzt ging es um Ungarn, noch näher. Sicher verstand ich nichts von der politischen Situation, aber nur das Wort „Kommunismus“ ließ alle Alarmglocken klingeln. Die Erwachsenen senkten ihre Stimmen und machten sorgenvolle Gesichter. Es hatte immer mit Krieg zu tun, mit Flucht, Gefangenschaft, Stalingrad und Sibirien. Das hatte ich mit meinen acht Jahren schon oft gehört und die Angst der Erwachsenen im Raum mitschwingen gespürt.

Nach dem Abendessen, dem gemeinsamen Rosenkranz und dem Singen verteilten wir uns auf unsere Zimmer. Hedi und ich bewohnten die „kleine Mansarde“. Sie war sechs, ich acht. Papa kam später noch zu uns herauf. Er sang Lieder und rezitierte Verse. Er machte Spompanadeln mit Worten und Gesten. Er konnte manche Kinderbücher im Ganzen auswendig aufsagen, in Reimen und mit Melodien unterlegt. Immer mit einem dramatischen Getue, das uns zum Lachen brachte. Er sprach keine tröstenden oder beruhigenden Worte direkt aus, sondern machte Spaß mit lustigen Wortspielen. Er war der erste Rapper aller Zeiten. Er konnte uns ablenken und verzaubern wie ein Kartentrickser, nur mit Worten. „Puckerl und Muckerl“ hatte er vertont, indem er es mit der Melodie von Hänsel und Gretel unterlegte. Hedi schlief meist schnell ein. Ich flüsterte noch lange mit meinem Vater, der am Bettrand saß.

Papa, kommt der Krieg zu uns? Nein, niemals. Warum? Weil sie nicht dürfen. Aber die Buben, die Brüder, machen oft etwas, was sie nicht dürfen. Ja, weil sie Kinder sind. Die Russen und die Ungarn, sind das große Kinder, die tun, was sie nicht dürfen? Nein, das sind Staaten, und da passen alle anderen auf, dass sie nichts tun, was sie nicht dürfen. So ging das hin und her, bis auch mir die Augen zufielen.
Aber ich schlief nie sofort ein. Ich hatte mir mit den Fingernägeln in der Wand Gräben ausgekratzt. Zum Teil durch den porösen Verputz, zum Teil entlang der hellgelben Kringel der Malerei. Als ich kleiner war, fuhr ich dort die Reisen des Florians über die Tapete von Franz Karl Ginzkey nach, die Papa sehr dramatisch und komisch vortragen konnte. Jetzt grub ich dort Tunnel und Höhlen aus, in denen ich mich vor den Kommunisten verstecken konnte. Aber ich war nirgends sicher, denn vom Bett meiner Schwester kam ein leises, aber ununterbrochenes Geräusch des Mahlens. Sie mahlte ihre Zähne aufeinander, dass ich dachte, in der Früh müsse Mehl neben ihrem Bett liegen.

Mein Vater war Katholik, Pazifist, Kriegsteilnehmer, der keine einzige Kugel abgeschossen hat, ein amerikanischer Kriegsgefangener und Spätheimkehrer. Altphilologe, Germanist, Philosoph, Lehrer und Autor, getragen von hohen Aspirationen im akademischen Leben, geschlagen mit sieben Kindern und einer psychisch angeschlagenen Frau, meiner Mutter.

Einmal spielte ich mit den jüngeren Geschwistern Hedi und Franzi im Garten. Fangen, Verstecken, Nachlaufen, Bäumekraxeln. Ich war ziemlich weit oben im Weichselbaum, er war schon kahl im Oktober. Ich hing in einer bequemen Astgabel mit einem Querast, an den ich mich mit den Händen klammerte. Da schwebte über mir plötzlich ein Fluggerät. Ein Hubschrauber oder ein Flugzeug, eines oder viele, geräuschvoll oder stumm, kreisten sie oder standen über mir, bereit zum Angriff, uns zu vernichten. Das weiß ich nicht mehr. Jetzt sind die Russen da, die Gewissheit, und ich ließ den Ast los. Ein kurzes Empfinden von Segeln, und dann war ich schon tot. Den Aufprall auf der Wiese unter dem Weichselbaum spürte ich nicht mehr.

Ich lag wie ein Käfer auf dem Rücken, stocksteif. Wassergüsse und Wangentätscheln, Rückenklopfen und Pulsfühlen, alle Geschwister sprachen auf mich ein, die Kaninchen des ältesten Bruders schnupperten an meinem Gesicht herum, seine Barthaare kitzelten. Die Eltern wickelten mich in eine Decke und verfrachteten mich ins Bett. Tee, Honigmilch, Suppe, Gesänge und Gebete, Puckerl und Muckerl und die Reise des Florian über die Tapete, das Zähnemahlen meiner Schwester. Alles vermischt und weit entfernt. Die Familiengeschichte sagt, ich habe drei Tage und Nächte geschlafen und danach einige Zeit nicht gegessen und nicht gesprochen.

Da war schon alles vorbei, der Ungarn-Aufstand und die Ungarn-Krise. Die Flugzeuge und Hubschrauber hatten nicht die Russen in Ungarn über uns kreisen lassen, sondern sie kamen vom „Fliegerhorst Langenlebarn“ fünf Kilometer entfernt. Das österreichische Bundesheer hatte sie aufsteigen lassen, damit sie nicht am Boden zerstört werden konnten. Also war ich damals nicht die Einzige, die vor den Russen Angst gehabt hatte. Das verstand ich erst viele Jahre später. Der „Flughafen Langenlebarn“ lud zu jedem „Tag der Fahne“ am 26. Oktober zu einer Schau ein. Wir Kinder durften auf Panzer klettern, Flugzeuge und Hubschrauber besichtigen und bekamen Gulaschsuppe aus der Gulaschkanone. In meiner Erinnerung gibt es bis heute keine bessere Gulaschsuppe auf der Welt.

Danach kamen die Flüchtlinge. Ins Haus, in die Schule, ins Pfarrheim und ins Judenauer Schloss. Redda barnen, mit vielen fröhlichen blau-gelben Wimpeln. Die Schweden waren so freundlich, dass ich ihnen meine Lieblingspuppe, mein einzige Puppe damals, die Lotte, überließ, für die Ungarn-Kinder. Sie sagten bei jeder Spende, die wir ins Schloss brachten: Jegelskedeg, so wie der Mesner in der Kirche mit dem Klingelbeutel sagt: Vergelts Gott, Gott vergelts. Meine Schwester trennte sich von ihrer Kuscheldecke, mein kleiner Bruder von seinem Matador-Baukasten. Wir waren sieben Kinder in einem nicht übergroßen Haus, aber Zsuzha wohnte bei uns, und sie blieb mir fast bis zur Matura die „beste Freundin meines Lebens“.

Ich war sehr unglücklich über den Verlust meiner Lotte und malte mir aus, dass sie auf eine schöne, weite Reise gegangen ist, vielleicht bis ins freundliche Land der Schweden. Redda barnen und jegelskdeg, das war Schweden. Das hab ich nie vergessen, und erst sehr viel später erfahren, was jegelskedeg bedeutet. Zumindest so habe ich das gehört. Mehr Schwedisch habe ich nie erlernt und bin leider noch nie dort gewesen.

Teil 2: 28.2. - 1.3.22

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
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www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 22047

McDonalds, 22 Jahre am Puschkin-Platz, Ende am 9.3.22

Es bietet sich ein eigenartiges Bild. Im bitterkalten Jänner 2000 stehen tausende Moskauer auf dem Puschkin-Platz. Ein Ort um das Denkmal für den Dichterfürsten, wo sich traditionell Menschen zu Festen und Protesten versammeln. Schon Dostojewski hielt dort seine historische Rede zum 100. Geburtstag, in den revolutionären Tagen von 1905 und 1917 war das ein Versammlungsort, wo die Massen gegen Hunger und Krieg protestierten. Immer große, wild durcheinander wogende Menschenknäuel, mit Transparenten und Schildern. Die Stufen und der Sockel des Denkmals sind auch zu normalen Zeiten immer mit Blumen belegt, im Sommer verwelkt, im Winter erfroren, aber immer frisch die Verehrung.

Seit Gorbatschows Lockerungen mit Glasnost und Perestroika ab 1985 diente der zentrale Puschkin-Platz für die täglichen Demokratie-Kämpfer. Man hatte den Eindruck, dass manche Hauptstädter dort Tag und Nacht leben.

Aber das Bild an diesem kalten Jännertag war anders. Keine buntgewürfelten Menschenmassen, sondern lange Schlangen, ein Mensch hinter dem anderen, umrundeten ein Gebäude an der Südwestecke und wanden sich in gewundenen Spiralen durch alle Nebengassen. Es lag eine eigenartige Stille und Spannung über diesem Menschengemenge. Für Moskauer Verhältnisse eine ungewöhnliche Ordnung und Disziplin, viele Menschen mit Kindern, pelzeingemümmelt in Kinderwägen oder an der Hand ihrer Eltern oder Großeltern. Mir kamen sie vor wie eine gezähmte Schar von Bären. Es muss einen Lottogewinn geben.

Die pelzbehüteten Köpfe reckten sich und waren ausgerichtet nach dem großen Ecklokal mit Fenstern, in denen gelbe Bögen prangten. Alles wartete mit hoffnungsvollen Gesichtern auf die Sensation. Ganz Moskau schien auf den Beinen zu sein: Es sperrte die erste Filiale von McDonalds auf! Als ausländisches TV-Team waren wir unter den ersten, die ganz vorne hineindurften. Als sich die Türen öffneten, brach das Chaos auch. Ich fürchtete um mein Leben in diesem Gedränge. Die Leute waren wie wilde Tiere, Mütter und Babuschkas kämpften wie die Löwen, seriöse Familienväter setzten Fäuste und Ellbogen ein, es waren einfach alle verrückt nach McDonalds. Das Personal war so heillos überfordert von diesem Ansturm, dass es nicht einmal die Miliz herbeirufen konnte. Mein Team war so bedrängt, dass es kaum zum Filmen kam. Einige Bilder von diesem zeitenwendenden Event gelangen doch, und wir brachten sie über den Sender in die Welt.

Ich versuchte herauszufinden, was McDonalds für das postsowjetische Russland bedeutete. Ein Mythos, eine Ikone der westlichen Welt, eine neue Konsumkultur, große Erwartungen und Illusionen. Welche? Endlich in den Mahlstrom des Rests von der Welt zu gelangen. „Normalno“ zu werden, das hörte ich damals am häufigsten. Ein normales Leben in einem normalen Land wie alle anderen auch. Meine Tochter damals hatte den besseren, unverstellten Blick. Kurze Zeit später beobachtete sie das Treiben im McDonalds am Puschkinplatz und berichtete mir davon. Die Russen spinnen, sie tun so, als würden sie ihre Kinder mit den Pommes und Chickennuggets wie mit Goldbarren füttern. Goldrausch. Sie sind festlich angezogen wie für einen Kirchenbesuch. Die Kinder sperren ihre Mäulchen auf, und sie versenken andächtig die Pommes wie Vogeleltern Würmer und Insekten in die Goldkehlchen.

Die Bilder vom Puschkinplatz am 9. März 2022 sehe ich von meiner Wiener Couch aus. Sie ähneln sich, wieder viele Eltern und Großeltern mit Kindern, die Kleidung ist besser, wieder in Schlangen rund um den Puschkinplatz und seine Nebenstraßen, nur die Gesichter sind anders. Nicht mehr hoffnungsvoll nach oben gerichtet, sondern auf den Boden, wie Verurteilte.

Es ist der 14. Tag von Putins Krieg gegen die Ukraine. Die letzten Hamburger, die letzten Pommes, das letzte Cola, denn auch Coca-Cola zieht sich aus Russland zurück. McDonalds schließt seine erste Filiale am Puschkinplatz und weitere 850 im ganzen Land.

10.3.22

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 22032

Wie uns ein Schatz verloren ging, den wir nie hatten

Es mag etwa Anfang 1998 gewesen sein – auf jeden Fall war ich noch jung im Amt –, da meldete mir meine Sekretärin, ein gewisser Iwanov möchte die Kulturrätin sprechen. Einen Moment lang dachte ich an einen Scherz der guten Frau Schwaner, weil jeder zweite Russe Iwanov heißt und das etwa so vielsagend ist, wie wenn sich ein Herr Maier oder Huber anmeldet.

Aber es war zu dieser Zeit noch so ungewöhnlich, dass sich ein gewöhnlicher Bürger in eine westliche Botschaft wagte, dass ich ihn herauf in mein Büro bat. Es war ein älteres Männlein von unbedeutendem Aussehen, ein gequälter Sowjetbürger mit schlechten Zähnen und schlechter Kleidung in abgetretenen Schuhen, wie man sie immer und überall sieht. Das einzig Ungewöhnliche an ihm war eine große, lederne Aktentasche von ansehnlichem Alter. Er stellte sich vor als Dmitri Alexandrowitsch Iwanow, pensionierter Postbeamter aus Mogiljow. Das ist doch Weißrussland. Ja, Belarus. Er gab vor, in Moskau bisnis zu tun zu haben und wollte dabei der österreichischen Republik einen Schatz anbieten, der für sie von Interesse sein könnte. Umständlich holte er aus seiner Aktentasche mehrere papki, Papiermappen, hervor und zeigte mir seinen Schatz. Ich blätterte sie durch und sah eine große Anzahl von Schwarz-weiß-Bildern von einer Front, der russischen Westfront von 1917.

Die Fotografien waren feinsäuberlich auf Pappkartons aufgeklebt, untertitelt mit Ortsnamen und Datum: 18. Juli 1917, Soborow, 19. Juli, Kalusch, 22. Juli, Krewo und Smorgon. Einige Postkarten mit Landschaften waren dabei und Konterfeis von damaligen Politikern und Militärs. Die Generäle Brjussilow, Denikin, Koltschak, Samsonow und von Kerenski, das waren die mir bekannten Namen. Sogar Bilder von Großfürst Lwow und anderen Regierungsmitgliedern  waren dabei. Die meisten Fotos zeigten aber Stellungen von der Front, Soldaten in Gruppen unter Bäumen, Soldaten in Reih und Glied, die irgendjemandem salutierten. Immer wieder Kerenski umgeben von Militärs, auf Rednertribünen und unter einfachen Soldaten. Einklebte Ordensbändchen und Medaillen. Eindeutig: die russische Armee bei ihrer Sommeroffensive 17 gegen die Mittelmächte, die österreichischen und deutschen Truppen. Der letzte, entscheidende Schlag.

Iwanow erklärte, er habe diese Sammlung von seinem Großvater geerbt, der sei Soldat in der Elften Armee der Südwestfront gewesen. Das bezweifelte ich sofort, denn kein einfacher Frontsoldat hätte solche Fotos machen und ein solches Konvolut anlegen können. Der allergrößte Teil des Fußvolkes waren einfache Bauern, Analphabeten, nach drei Jahren Krieg und vielen Verlusten waren es nur noch schlecht ausgerüstete und unterernährte Rekruten, die man zusammenfing zum letzten Aufgebot.
Kein Frontsoldat könnte eine Kamera gehabt haben und Gelegenheit, solche Fotos zu machen. Einige Bilder zeigten Frontabschnitte und Schützengräben in gebirgigen Gegenden, wahrscheinlich die Südostfront in Rumänien oder flachen Meeresgegenden wie bei Riga. Sie hatten alle eine Art von offiziellem Charakter, waren keine Schnappschüsse, sondern zu Propagandazwecken aufgenommen worden: eine Gruppe von Soldaten, entspannt unter einem Baum lagernd wie nach einem fröhlichen Picknick, in die Kamera lächelnd, Soldaten, die mit lachenden Gesichtern Schützengräben ausheben oder Pferde pflegen wie auf einem Reiterhof. Liebe Grüße von der Front! Keine Bilder von Dreck, Schlamm, Kälte, Hunger, zerfetzten Körpern, vergasten Menschen, verendeten Pferden und verbrannten Dörfern.

Ein Album anlegen, beschriften mit Koordinaten, Ort, Datum, weißer Schrift auf schwarzem Papier.

Unmöglich. Wer war der Fotograf, wer der Sammler? Ich war Feuer und Flamme und furchtbar aufgeregt. Wo waren sie gelagert? Wie hatten sie die letzten 80 Jahre überstanden? Hat dieser Iwanov sie gefunden oder gestohlen? Waren sie schon einmal in einer größeren Sammlung, in einem Museum? Ich hatte damals schon Solschenizyns Kriegsroman „Das Jahr 1918“, Kerenskis selbsterhöhende Memoiren und andere Literatur über den Ersten Weltkrieg gelesen, historische und belletristische, und daher einiges über den erbärmlichen Zustand der russischen Armee.

Joseph Roth, Gregor von Rezzori, wer hat noch geschrieben? Entweder war sein Großvater im Stab des Oberkommandos von Mogiljow gewesen oder mit Kriegsberichterstattung beschäftigt. Unwahrscheinlich. Eher war Herr Iwanow anderweitig an diese historischen Dokumente gekommen. Allein die mögliche Provenienzgeschichte ließ mein Herz höher schlagen und trieb das Blut in die Wangen. Ich hoffte, Iwanov hatte nichts bemerkt und ich habe nicht ausgesehen wie der Pawlow’sche Hund bei der Klingel mit der Wurst, mit saftelnden Speichelfäden an den Lefzen.
Zum Glück war Iwanov viel zu sehr damit beschäftigt, seine Schüchternheit und die Scham über das Verlangen nach dollari zu bekämpfen. Dabei musste ich mich bemühen, mir nichts von meinen Zweifeln an seinem Großvater anmerken zu lassen, fragte nur, warum er meine, dass seine papki – Papiermappen, er sagte immer bumaschki-Papierchen für Österreich interessant sein könnten. Sie zeigen doch auch die avstrizi i nemzi, überall im Hintergrund oder am Horizont sind die feindlichen Stellungen zu sehen. Da ist der Rauch von den feindlichen Kanonen, da über den Bäumen. Ich sehe sie nicht, nur Wolken, Wälder, Hügel, Wiesen, Hütten, Heuschober. Das ist Galizien und Ostpolen, das war damals österreichisch, die Ostfront. Ich war keine Spezialistin für Kriegsfotografie.

Aber aha, in so eine Gegend könnte die Journalistin Alice Schalek in Karl Kraus’ bösartigem Verriss hineingeschaut haben, als er sie das Bumsti! ausrufen ließ und der k. und k. akkreditierten Kriegsberichterstatterin der Neuen Freien Presse damit ein Negativdenkmal setzte. Aber Karl Kraus hätte seine Freude gehabt an Iwanovs Foto-Sammlung. Er bezog die Quellen für sein Weltkriegsdrama „Die letzten Tage der Menschheit“, nicht nur Originalzitate aus Zeitungen und Armeeberichten ein, sondern war besonders angetan von Fotografien, Postkarten, k. und k. Plakaten und Reportagen. Ich glaube, dass er beim Durchblättern der Iwanow’schen Mappen Spontanfieber bekommen hätte, wenn es so etwas gibt.

Herr Iwanov wollte die Sammlung verkaufen, das war der Zweck seines Besuches in der österreichischen Botschaft. Ich hielt ihn für sehr mutig, er musste in großen Nöten sein. Aber Russland hat doch ein viel größeres Interesse an seinem Schatz? Er soll ihn doch den vaterländischen Archiven, Bibliotheken oder Ministerium anbieten. Oder zumindest einem auf Historie spezialisierten Antiquitätenhändler. Er schnaubte durch die Nase und machte eine wegwerfende Handbewegung, als sei er in Russland damit schon von Pontius zu Pilatus gelaufen. Ich konnte das gut nachempfinden, wusste ich doch, in welchem Chaos Russland damals lag. Wirtschaft, Bürokratie, Gesellschaft und Wissenschaft hatten sich vom Zusammenbruch der Sowjetunion noch nicht erholt. Die zahlen nichts oder nur ein paar zerquetschte Rubel, aber er braucht dollari, valjuti. Aha, ich verstehe. Nichts verstehe ich. Seine Tochter hat in Mogiljow Anglistik studiert, jetzt will sie nach Großbritannien auswandern, wie so viele Junge. Brain drain. Dafür braucht sie Geld, bis sie eine Arbeit findet, gleich welche, nur weg aus Belarus! Er wünscht ihr Erfolg, ist aber unglücklich, dass sie so weit weg von ihm leben wird.

War er schon bei der deutschen Botschaft? Neinnein, dort will er auch nicht hin. Eigenartigerweise empfindet er sie mehr als Feinde als die Österreicher. Der Zweite Weltkrieg wirkt da auch noch nach, wo die Russen die Österreicher kaum als Mittäter wahrnehmen.

Ich nehme mich sehr zusammen, um die Anzeichen meines Interesses zu unterdrücken und vorsichtig auszuloten, ob er mir seine Sammlung überlassen könne. Die Botschaft und ich selbst können nichts kaufen, ich müsste erst an das Außenministerium einberichten, und dieses beim Verteidigungsministerium, Staatsarchiv und Heeresgeschichtlichen Museum das Interesse erkunden, Begründungen schreiben, Herkunftsnachweise einholen, Kopien einsenden, viel Arbeit. Die würden dann über einen Ankauf entscheiden und einen Preis festsetzen. Das kann dauern, wenn überhaupt. Herr Iwanov ist sichtlich enttäuscht, dass er heute nicht mit einem Bündel dollari nach Hause fahren würde, lässt sich aber nach Aushändigung einer Empfangsbestätigung dazu bewegen, seinen Schatz in meiner Obhut zu belassen. Ich nehme seine Daten auf und ersetze ihm die Reisekosten zurück nach Mogiljow. So viel ist mir erlaubt, aus der Handkasse freihändig auszulegen.

198 Rubel, 2. Klasse. Ich war Feuer und Flamme, das waren Fotos zur Hälfte der etwa 220 Szenen der letzten Tage der Menschheit!
Zuletzt fragte ich Herrn Iwanov noch, was er sich als Kaufpreis vorstelle. Vielleicht 500? Mit Fragezeichen und wagte diese ungeheure Summe nur zwischen seine Knie zu seinen Schuhen auf den Boden zu hauchen. Ich fiel fast in Ohnmacht angesichts vor so viel Unwissenheit und Bescheidenheit, murmelte aber nur: Das ist möglich.

Dann begann mein Ritt durch die österreichische Bürokratie. Ich war noch so frisch auf meinem Posten, dass ich nichts ausrichten konnte, ohne die Hilfe meiner Sekretärin, Frau Schwaner, die fast ihr ganzes 35-jähriges Berufsleben in allen Weltteilen für das Außenministerium gedient hatte. Sie lachte sich noch immer krumm und bucklig, dass ich den Unterschied zwischen Akt und Akten nicht kannte, das Amtsdeutsch nicht beherrschte und meine Berichte ans Amt wie literarische Kleinode ausstattete. „Fürn Akt gehn S’ ins Schlafzimmer oder ins Theater, für die Akten bin ich zuständig.“ Die talmudischen Geheimnisse der Aktenzahlen habe ich bis zuletzt nicht begriffen.
Dafür hatte ich einen Riecher für historische Schätze, eine feine Nase wie eine südamerikanische Schnüffelmaus. Mit ihrem Erfahrungsreichtum warnte sie mich von Anfang an: „Do kummt nix aussi, Frau Seyr. Lossn S’  des, nix wie leere Kilometer. I kenn des Amt, des können S’  ma glauben.“ Ich glaubte ihr wie immer, war aber in meiner Schatzjägerei nicht zu bremsen. Und natürlich unternahm sie alles, um aus der Akte (nicht dem Akt!) „Mogiljow“ einen Erfolg zu machen. Der Herkunftsnachweis würde das Schwierigste sein, das Unmögliche. Auch davor warnte mich Frau Schwaner. Ihnen schwant immer etwas. „Ja, ich kenn’ meine Pappenheimer im Amt.“

Bericht ans das Amt mit Fotokopien mit Bitte um Behandlung und Weiterleitung an alle möglichen interessierten Stellen. Schweigen im Walde, lange Zeit, nur die Bestätigung des Posteingangs. Währenddessen saß ich mit der Lupe über den Fotos im Büro, stundenlang abends und nachts nach den Dienststunden. Sie nach Hause zu nehmen, habe ich nie gewagt, immer im Tresor verschlossen. Daneben nahm ich mir die gesamte mir zugängliche Literatur zum Ersten Weltkrieg wieder vor, besonders das Schicksalsjahr 1917. Ich ging sogar in die Lenin-Bibliothek und hob sowjetische Werke aus, ins Kriegsarchiv, das damals für eine kurze Zeitperiode allgemein zugänglich war. Ich schrieb außertourlich das Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsforschung an und einen Studienkollegen vom Institut für Osteuropäische Geschichte, damals längst Professor. Die beiden letzteren waren ebenso begeistert wie ich, mussten aber ebenfalls den Dienstweg einhalten.

Zar Nikolaus II. verlegte 1915 das Hauptquartier des Obersten Befehlshabers der Armee nach Mogiljow. Ab da gab er sich als großer Feldherr, der Zar, der schon in Friedenszeiten seine kaiserlichen Pflichten kaum gemeistert, die Amtsgeschäfte gehasst, die Zeit am liebsten mit seiner Familie verbracht, und wenn er getrennt war, ununterbrochen Briefe an seine Frau geschrieben hat.
Er konnte kaum eine Seite zusammenhängend lesen und tat sich schwer beim Schreiben. Nikolaus hörte mehr auf den selbsternannten Popen und Wunderheiler Rasputin als auf seine Generäle und führte seine Armee auf dem geradesten Weg in den Untergang. Ich kam zu dem Schluss, dass die Fotosammlung nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 zusammengestellt wurde, weil der Zar nirgendwo auftaucht, dafür aber viele Fotokarten vom eitlen Kerenski, der als Kriegsminister der Provisorischen Regierung und später als ihr Ministerpräsident wie in einer Raserei die Fronten abfuhr und sich immer wieder im Hauptquartier von Mogiljow aufhielt und geschönte Fotografien als Andenken für die analphabetischen Frontsoldaten herstellen ließ.

Er war ein guter Agitator, vor allem in den kritischen Monaten März, April und Mai 17, als sich die Armee nach vielen Meutereien und deutscher Feindpropaganda, Verbrüderungen, massenhaften Desertionen und kommunistischer Agitation im Prozess des Zerfalls befand. Das war weder dem Feind noch den Verbündeten der Entente entgangen. Die Deutschen verstärkten ihre Bemühungen um einen Separatfrieden, Frankreich und England drängten die Russen zu einer Frühjahrsoffensive, die die entscheidende Wende bringen sollte. 1917, das letzte Kriegsjahr. Es musste unter allen Umständen verhindert werden, dass durch die Einstellung der Kampfhandlungen an der Ostfront das Deutsche Reich in der Lage wäre, seine Truppen nach Westen zu werfen. Die oberste Armeeführung selbst war gespalten zwischen Bündnistreue gegenüber der Entente und den Friedensverlockungen der Deutschen.

Genau zu dieser Zeit gelang den Deutschen ihr Supercoup: Lenin aus dem Schweizer Exil im plombierten Zug nach Russland zu schleusen. So haben sie im Oktober die bolschewistische Revolution möglich gemacht. Den Separatfrieden gab es doch, im Dezember, als Lenin in Brest-Litowsk mit dem Deutschen Reich Frieden schloss. Drei weitere Jahre sollte es dauern und einen Bürgerkrieg lang, bis alle ausländischen Truppen aus dem Land vertrieben waren.

Ich dachte bei mir, wenn sich die neureichen Russen weniger um den weltweiten Erwerb von Fabergé-Eiern, Gemälden oder der Kronjuwelen gekümmert hätten, als diesen Schatz zu heben …
Aber dies was none of my business. Herr Iwanov hatte ihn nun einmal der Republik Österreich angeboten. Er vertraute den ehemaligen Feinden mehr als seinem Land. Ein Sittenbild. Oder weil wir für den Verkäufer die Kleinsten und Harmlosesten waren.
Letztendlich verlief sich der Verkauf innerhalb der österreichischen Bürokratie. Ich konnte nie herausfinden, woran es hakte, ich bekam von der Zentrale nie eine klare Antwort – außer einem definitiven Nein zum Ankauf. Meine Vermutung ging in die Richtung, dass sich Staatsarchiv und Heeresgeschichtliches Museum nicht einigen konnten. Am Kaufpreis von 500$, wie von Iwanov gewünscht, kann es nicht gelegen sein.

Das dicke Ende für mich kam erst noch. Wie dem Herrn Iwanov sein Eigentum zurückstellen? Wie ihm die negative Antwort beibringen? Seine Tochter brauchte doch das Geld! England, GB, die neue Zukunft!
Post kam nicht in Frage, Moskau – Mogiljow, in Belarus zu dieser Zeit? Es gab noch nie eine Zeit, in der das sicher gewesen wäre. Nicht einmal die deutsche Wehrmacht hat das im 41er Jahr zustande gebracht, ganz zu schweigen von Napoleon, hin und zurück. Mich juckte es, ihm seinen Schatz selbst zurückzubringen, konnte aber nicht einfach losfahren. Also wartete ich die Lesereise einer etwas ängstlichen und kapriziösen österreichischen Schriftstellerin nach Weißrussland ab, auf der ich sie begleiten sollte.

Ich verpacke seine Fotosammlung und rufe ihn von Minsk aus an. Die Telefonnummer, die er mir aufgeschrieben hat, ist aber nicht seine eigene, sondern die einer Nachbarin. Iwanov ist nicht zu Hause, sie wird ihn rufen. Leitung tot. Noch einmal versuchen. Nachbarin hebt ab und ruft Iwanov zum Apparat. Kann er morgen nach Minsk kommen? Kann er nicht. Er hat eine alte, kranke Mutter. Ich gebe die Schriftstellerin in die Obhut einer Mitarbeiterin der Österreich-Bibliothek, suche mir einen Fahrer und düse in seinem alten Moskwitsch nach Mogiljow. 200 Kilometer durch die weißrussischen Pampas, in einer Dezembernacht, eine meiner schwersten Reisen. Nicht wegen der Straßen oder des Schneegestöbers, sondern wegen meines Gewissenskonflikts. Die Baumwände links und rechts der „Minsker Schossee“ fliegen so schnell vorbei wie meine Gedanken durchs Hirn. Mission impossible.

Soll ich oder soll ich nicht? Nur eines ist gewiss – ich darf nicht, ich darf nicht, etwas selbst ankaufen, was der Botschaft, der Republik, angeboten wurde. Beamtin gegen Historikerin gegen Jägerin des verlorenen Schatzes. Dollari für die Tochter, gar eine Wohltäterin? Blödsinn, hin oder her, immer nur gerade bleiben. Krumme Sachen gehen sich nie aus, dafür bin ich nicht gemacht. Mein privates Interesse, für Österreich retten – Abwägung. Blödsinn. Und wenn das für immer verloren geht? Geht mich nichts an. Kann nichts dafür. Andererseits, 500$ sind kein Problem für mich, ich kann ihm auch 1000 geben, für seine Katja, für den Neustart in GB, weit weg von ihm.

Es ist bitter kalt und zugig im Moskwitsch, und Dima raucht eine grässliche Machorka nach der anderen bei hämmerndem Folk-Pop. Kaum möglich, einen klaren Kopf zu bewahren. Meine Gedanken schwanken hin und her im Rhythmus von schlechten Straßen mit Moskwitsch. Dabei ist mir immer im Bewusstsein, dass Dima mich durch die „Bloodlands“ (Timothy Snyder) chauffiert, die Landschaften zwischen Belarus und Ukraine, die in den Weltkriegen am meisten gelitten haben. In Weißrussland kann niemand einen Schritt gehen, ohne über aus dem Boden ragende Knochen zu stolpern. Ein Viertel der belarussischen Bevölkerung liegt da drunten. Dima findet die Vorstadtstraße und das Haus von Iwanov. Was ich damals noch nicht wusste, war, dass in London seit 1918 die „Weißrussische Exilregierung“ ihren Sitz hat, die älteste überhaupt, die die Interessen des ersten unabhängigen Belarus vertritt. Katja hätte vielleicht …? Aber vielleicht hat sie ja …?

Es war schrecklich. Ich mach es kurz. Ich gebe Iwanov seine papki mit Bedauern zurück, entschuldige mich nicht für mein Land und drücke ihm ein Kuvert mit 300 dollari aus meiner Privatkasse in die Hand. Das ist damals in Belarus sehr viel Geld, zehnmal so viel wie seine Pension, habe ich schnell überschlagen. Vielleicht geht sich ein Ticket nach London aus. Das Gewissen freigekauft. Er nimmt sie und bedankt sich überschwänglich. Wir drücken einander die vier Hände, immer und immer wieder, und umarmen uns zum Schluss mit drei Küssen auf die Wangen. Der Schnee knirscht unter unseren Stiefeln vor seinem kleinen Holzhaus, genau so schief, wie die fliegenden Häuschen von Marc Chagall. In so einem Stedtl ist er aufgewachsen, in Vitebsk, nicht weit von Mogiljow.

Ich bedanke mich ebenso überschwänglich bei ihm, ehrlich, echt, herzlich, immerhin hat er mir etwas gezeigt, was vielleicht nie wieder jemand zu sehen bekommt. Er stellt keine Fragen und erspart mir die Schande, das Versagen des Amtes eingestehen zu müssen.
Für die österreichische Schriftstellerin auf Lesereise in Minsk stand ich am nächsten Tag wieder bereit, wenn auch unausgeschlafen und etwas derangiert. Na, Veronika, zu viel gefeiert?, bemerkt sie mit spöttischem Blick auf meine schwarzen Augenringe. Jaja, gefeiert. Was ich gefeiert habe, davon hat diese Frau keine Ahnung, und ich führe sie mit leichtem Gewissen durch die Stadt.

22.1. - 25.1. 2022

Veronika Seyr
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