Schlagwort-Archiv: hardly secret diary

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schmetterlingsmünder und kokonwünsche

es schlägt herbst.
heiß faselt der kaffee in seiner tassenwelt.
eine weitere phase brennender blätter und schwerer wolkentränen.
der oktober schläft sich nun immer mehr zur tode und der sommer fließt
[aus den parkkörpern gewaschen] zu unseren erinnerungen hin.
damals: ein auffinden des anderen mit neugierde bedruckt.
nun: ich verstecke mich hinter kriminalromanen und du hinter romantischen versen und
doch suchen wir immer das gleiche – den ersten schritt des anderen
[ein sich wieder annähern].
die bücher enden fortlaufend und immer kreisen diese gedanken durch die köpfe,
die wir uns gesagt wünschen und die doch nie die lippen überwinden konnten
[seit so vielen Jahren].
herz: „wie sehr hätte ich das gedachte in mir zum wahrlich gesagten verpuppt“

Tim Tensfeld
https://www.autorenwelt.de/person/tim-tensfeld

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 24140

Für einen letzten Moment

Was würd ich geben
für einen letzten Moment mit dir.
Der all mein Streben
und Tun lenkt, mich kostbar beschenkt
und bis zum Ende fortblüht in mir.
Der in meinem Herzen Feuer fängt
und – bis wir uns wiedersehen
und die Wunder der Liebe geschehen –
meinen Schmerz ausschwemmt.
Wie all das, was mich am Weiterleben hemmt.

Was würd ich geben
für ein allerletztes Wort von dir.
Das all mein Erleben
verdichtet, von uns berichtet
und bis zum Ende fortklingt in mir.
Das meine Seele wärmt und belichtet
und wohlig gebettet in deinen sanften Klang,
der ganz leise, auf vertraute Weise so oft für mich sang,
in mir den richtigen Ton anstimmt
und meine tiefsten Ängste nimmt.

Claudia Lüer

Diesen Text können Sie hier auch hören, gelesen von der Autorin.

www.verdichtet.at | Kategorien: hardly secret diary und unerHÖRT!| Inventarnummer: 24129

Die Sonnenbrille

Ich saß vor Angst erstarrt in meinen Bügeln,
steckte sie fest in vorgegeb’ne Löcher.
Um mich andre Brillen noch und nöcher.
Es galt, jede Bewegungslust zu zügeln.

Doch dann kamst du und alles drehte
im Kreise sich, bis du mich fasstest
Und aus den Löchern zogst und mich entrastest.
Ach, wie ich dir entgegenschwebte!

Beweglich wurde ich in meinen Achsen
Du zeigtest mir die Welt durch unsre Augen
Ich mühte mich, UV-Licht wegzusaugen
Wir konnten beide aneinander wachsen.

Du zeigtest mir den Sinn meiner Gelenke:
Gespreizt zum Flug an schönen Tagen,
an schlechten, ruhig zusammenschlagen.
All das waren die schönsten der Geschenke.

Von heut auf morgen hast du mich vergessen.
Es war schon warm, sie saß mit langen Beinen.
Und mir war klar, du wolltest dich mit ihr vereinen.
Mit ganzer Last bist du auf mir gesessen.

Unbeschreiblich, wie die Schmerzen stachen.
Nicht nur mich, du hast auch dich verraten.
Es gibt kein Wort dafür in allen Sprachen.
Der Schmerz so groß, dass meine Augen brachen.

Ich sehe wieder, doch durch der Risse Spalten
fällt Sonnenlicht, ich seh alles gebrochen.
Nur eines sei dir Schuft versprochen:
Meine Fassung, die hab ich behalten!

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 24121

 

Katzenmädchen

Geweint hatte sie, die Nachbarin vom dritten Stock, als du ihr zufällig im Stiegenhaus begegnet bist. Geweint vor dir, einer ihr relativ Unbekannten, und auf dein behutsames Nachfragen stockend erzählt, soeben erfahren zu haben, dass ihr Bruder einen schweren Autounfall gehabt hat, dass sie zu ihm wolle, für ein, zwei Wochen, mit dem nächstmöglichen Flug, nach Berlin, unbedingt, zum Bruder, der dort im Krankenhaus liege – sie wisse jedoch niemanden, der ihre Katze während dieser Zeit versorge. Du hast nicht eine Sekunde gezögert und ihr deine Hilfe angeboten.

Ben hast du nicht davon erzählt, um dir seine Kommentare zu ersparen.

Bereits einige Stunden später streichelst du die Katze in der fremden Wohnung, ein zartes Tier, das sich sogleich vertrauensvoll an deine Beine schmiegt. Du genießt es, das weiche Fell zu berühren.

In deiner Kindheit sind ständig Katzen um dich gewesen. In deinem Elternhaus, bei den Großeltern, bei Freundinnen. Du liebtest das.

Ben hingegen mag keine Haustiere.

Als du Katzenfutter in eine Schüssel gibst, hörst du ihn innerlich nörgeln: „Typisch für dich. Als ob du nichts anderes zu tun hättest. Du musst lernen, Nein zu sagen.“

Zugleich taucht ein Bild in dir auf: du, als kleines Mädchen in Omas Stube. Wie so oft streichelst du eines ihrer Kätzchen, das auf deinem Schoß liegt.

„Katzenmädchen“, sagt Oma, von einer Stickarbeit aufblickend, zärtlich zu dir. „Mein Katzenmädchen.“

Wie sanft doch Omas Stimme in deinem Inneren die tadelnde von Ben unterbrochen hat! Es treibt dir Tränen in die Augen.

Du hast deine Oma lange nicht gesehen, dein letzter Besuch bei ihr liegt Monate zurück. Damals ist Ben mitgekommen. Zum ersten und sicherlich letzten Mal. Er hat sich unwohl gefühlt in der überheizten, altmodischen Stube, hat sich geekelt, vor den Katzenhaaren am Sofa, vor Omas abgetragener Kleiderschürze, ihrem selbstgemachten Kompott, und sich kaum bemüht, dies zu verbergen. Oma hat offensichtlich nichts bemerkt, naiv hat sie euch beiden immer wieder Hände und Wangen getätschelt. Du hast dich geschämt. Für sie, für ihn.

Deine alte Welt bei Oma, deine neue Welt mit Ben, sie passen nicht zusammen.

Du solltest nun gehen. Jeden Moment wird Ben nach Hause kommen, heute mit seinen beiden Kollegen. Projektbesprechung. Du hast Sushi für sie vorbereitet. Die Kollegen werden Ben um dich beneiden: rare Momente, in denen Ben stolz auf dich ist.

Oma ist nie stolz auf dich. Ihre Liebe zu dir ist immer gleichbleibend, unabhängig von Leistung, Erfolg oder Misserfolg.

Dein Handy läutet. Ben. Du ignorierst seinen Anruf. Wie müde du plötzlich bist. Du legst dich auf die Couch im Wohnzimmer. Wohltuende Stille um dich. Die Katze springt zu dir. Du streichelst sie. Die Katze schnurrt, schläft dann ein auf deinem Bauch. Wieder Handyläuten. Nein, flüsterst du, nein. Du weinst.

Später dann, viel später, nimmst du das Handy, drückst auf eine Nummer, wartest sehnsüchtig. „Oma“, sagst du leise, als du den vertrauten Klang ihrer Stimme hörst.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary| Inventarnummer: 24110

Für meinen Vater – Liebeserklärung

Es gibt Ereignisse im Leben, die so tief einschneiden, dass unsere Herzen für immer verwundet bleiben und Worte fehlen, um das zu beschreiben.

Alles, was du sagst,
klingt durch meine Räume.
Das, wonach du fragst,
bereichert meine Träume.
All das, was du denkst,
nährt meine Theorien.
Ich kann in deinem Licht
vor meinen Ängsten flieh’n.
Das, woran du hängst,
das veränder ich nicht.
Denn das, was du mir schenkst,
ist unersetzlich für mich.

Alles, was du weißt,
hast du mir beigebracht.
War mein Herz vereist,
hast du mit mir gelacht.
Hast noch an mich geglaubt,
als ich längst aufgegeben hab.
Hast auf mich gebaut
und mich gestärkt, Tag für Tag.
Hast mir so viel gegeben
und nie an dich gedacht.
Hast mein ganzes Leben
über mich gewacht.

Mit dir zusammen sah ich
meinen ersten Regenbogen.
Du bist mit mir im Traum
bis zu den Sternen geflogen.
Alles, was du fühlst,
wohnt auch in meinem Herzen.
Das Wasser, das dich kühlt,
dimmt auch meine Schmerzen.
Das, was du erinnerst,
spinnt meine Seele fort,
verpackt als Kostbarkeit
an einem sich’ren Ort.

Das, was du verschweigst,
sprech ich für dich aus.
Das, womit du haderst,
lös ich für dich auf.
Was du hast durchgestanden,
das reibt mich nicht mehr auf.
Die Schätze, die wir fanden,
heb ich für meine Kinder auf.
Ich hatte großes Glück
mit dir auf meinem Weg.
Das geb ich jetzt zurück,
denn dir verdank ich, dass ich leb.

Alles, was ich weiß,
ist, dass wir uns wiedersehen.
Doch bis ich zu dir reis,
will ich noch weitergehen.
Dann bist du die Musik,
die in meinem Herzen klingt.
Und der warme Wind,
der mir ein Nachtlied singt.
Die unsichtbare Hand,
die mich durch schwere Zeiten trägt.
Du bleibst in meinem Sinn,
bis ich nicht mehr leb.

In memoriam Gerhard Lüer
Für meinen Vater, Beschützer und liebenden Wegbegleiter – dem wunderbarsten Menschen, dem ich in diesem Leben so intensiv begegnen durfte.

 

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 24083

 

Luna

Ich bin glücklich. Ich habe den Mond ganz für mich allein, weil nur ich hier bin. Der einzige Astronaut, nur ich in der Mondbasis. Diese Stille! Und diese kleine Erde, dabei ist sie gar nicht klein. Wie ich es liebe, bloß auf Mondgestein zu sitzen.

Doch allmählich beschleicht mich die Vermutung, dass mit meiner Idylle etwas nicht stimmt. Und ja, leider ist es nicht so wie gedacht.

Ich bin in einer Anstalt, auf der Station Luna, das ist die geschlossene. So schnell komme ich da wohl nicht raus! Dafür gibt es keine Astronautenkost. Das ist auch etwas wert.

Der Mond über der Kiefer im Schnee im Europapark am Abend des 20. Januar 2024

Der Mond über der Kiefer im Schnee im Europapark am Abend des 20. Januar 2024

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 24077

Jetzt bist du Staub

Jetzt bist du Staub.
Und ich? Ich glaub
immer noch nicht,
dass dein Licht
erloschen ist.
Sehe auch nicht,
wo du gerad‘ bist.
Fühl mich bleischwer
und bin doch leer.
Ein Höllenschmerz
reißt mich entzwei.
Platzwunden klaffen
und durch mein Herz
tönt als Klagelied
ein schriller Schrei.
Will Klarheit schaffen.
Ich drück auf Repeat
und richte es mir
in einer Zeit-
schleife mit dir
gemütlich ein.
Ich bin so weit.
Atme dich ein
als heilende Kur.
Will einfach nur
nah bei dir sein.
Spul deine letzten
hochgeschätzten
Worte an mich
unzählig oft zurück.
Form daraus für dich
ein Gedicht und schick
es dir. Fixier
mit starrem Blick
mein Handy, lenk
all mein Fühlen
zu dir, konzentrier
mich und denk,
dich zu spüren,
indem ich
wissentlich
getäuschter Sinne
Fäden spinne,
hin zu dir.
Da hör ich schon
am Telefon
deine Stimme.
Die so vertraut
die Sehnsucht stillt,
mich aufbaut,
mit Wärme füllt
und dein Bild
an meiner Wand
bis zum Rand
auslichtet,
sodass es
dein Strahlen
in hellem Schein,
mit satten
Farben so rein,
auf die Schatten
der kahlen
Stellen meiner
tobenden Wellen
richtet.
Das feine Band
von mir zu dir
kunstvoll verdichtet,
weil es den großen
Streit in mir,
von bloßem Fühlen
und dem Verstand,
dem kühlen,
der mich zerreißt,
endlich schlichtet
und uns auf ewig
zusammenschweißt.
Denn alles,
woran ich glaub,
ist, dass von dir
tief in mir
und im Universum
um uns herum
mit Sicherheit
unendlich viel mehr bleibt
als nur Asche und Staub.

 

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 24075

Mein Leben mit A.

Es waren zwei Figuren, die der eher naiven V., die ebenso sicher ihren Platz im Wiener kulturellen Leben zu verteidigen wusste, als auch A., die es eher verkrampft, aufsteigerisch dazu bringen wollte: der Drang über anderen stehen zu wollen, kulturell, intellektuell, moralisch. Nichts auslassen zu wollen: Kultur als eine Möglichkeit, das Leben ändern zu wollen. Ebenso nahbar wie andererseits unnahbar.

Ich hätte mich nicht mehr erinnern können, wann der Regen begonnen, noch, wann er wieder aufgehört hatte. Die Situation, die – historisch betrachtet – auch als Brautlauf betrachtet worden war: Sie zur Rechten, ich zur Linken. Ich den Regenschirm haltend, wortlos.

Das eigentlich Sonderbare war die Abwesenheit von wechselseitiger Aggression, also auf beiden Seiten, und vielleicht hätte ich die Sicht der anderen Person doch kennenlernen müssen.

Denn siehe, der Winter ist vorbei, die Regenzeit ist vorüber, ist vergangen.

Nicht einmal das genaue Aussehen ist ihm geblieben außer den dunklen Haaren, und als er später einmal ihr Gesicht auf einem Foto gesucht hat, ist er erschrocken, dass er nichts mehr finden konnte. Die erste nicht wahrgenommene Gelegenheit.

Was mir noch an ihr aufgefallen war seit unseren ersten Gesprächen: Sonnenbrille, ein neongelbes Kapuzenshirt und ein abgeschnittenes bonbonfarbenes Stück einer Gardine, das sie damals darunter getragen hat, gewissermaßen als Rock: „Ganz so irre dürfen Sie sie sich auch nicht vorstellen“, sagte ihre Mutter einmal, sie habe schon ein gewisses Niveau, und wenn sie in eine Aufführung geht, dann ist alles in bester Ordnung, dann ist sie äußerlich wahnsinnig gepflegt. Dazu kommt noch die Schönheit unbefangener Gespräche: Sie war darin Weltmeisterin.

War diesen Gesprächen aber nicht immer auch zu eigen, dass in ihnen vor allem die Langeweile erstarb, welche den Ich-Erzähler durch das Aufwerfen der Fragen und Gedanken, die sie immer und immer wieder vor sich hergetragen hatte, aber den anderen um sich herum verschwiegen hätte?

Belanglosigkeiten. Mit Belanglosigkeiten provozieren. Die Kunst, dass einem dies auch gelang.
Eigenartig, dass sich ein solches Entsetzen über Beiläufigkeiten manchmal wiederholen konnte. Theoriebildung auch über die am weitesten hergeholten Ereignisse:

Der Tiananmen-Jahrestag war vorgestern, darauf muss man aber auch erst mal kommen, und wenn die Chines/Innen vielleicht etwas mehr Glück gehabt hätten, so sagte es mir gestern wieder A., wer weiß, ob die Europäische Gemeinschaft nicht längst schon den Laden dichtgemacht hätte. China ist halt anders. Bei uns legitimiert sich die Macht der Politiker/Innen daraus, dass wir alle vier Jahre auf einen Zettel ein Kreuz zeichnen können, in China müssen die Politiker/Innen halt Leistung bringen, um ihre Legitimität zu bestätigen: Arbeitsplätze, Wirtschaftswachstum, Kindergartenplätze und so weiter. Ich finde diese Situation aber surreal. Denn obwohl sich viele Städte der Millionengrenze genähert haben, werden rasch Zweifel an ihrer Urbanität laut. Denn, wenn der/die geneigte Leser/in ebenfalls schon einmal in den Genuss eines Besuches westlicher Metropolen gekommen wäre, würde er/sie wahrscheinlich sehr schnell bemerken, wenn er/sie dort einmal gezielt nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden Ausschau hielt, dass letztere dann doch überwiegen dürften. Vielleicht hätte es ja etwas damit zu tun gehabt, es kann aber überhaupt nichts damit zu tun gehabt haben. Den Genuss des anderen stehlen, indem der Nichtgenuss des anderen genossen wird.

Sicher, wie Lilien blühen nur Lilien und war es nicht endlich an der Zeit, sich diese botanischen Metaphern ein für alle Mal abzugewöhnen?

Obwohl ich sie seit Längerem kannte, war unsere Nähe stets eine ambivalente – ich kann nicht dichten, das ist es. Und wenn ich diesen Raum noch einmal mit meinem inneren Auge betrachtete, dann ist mir dieser Moment immer noch so starr eingefroren da oben. Es erhob sich plötzlich ihre Stimme […] meine unbeschreiblich große Distanz zu diesem Menschen …

Sicherlich wäre es für seinen Charakter erbaulich gewesen, sich mit dem verschmutzten, seit dem letzten Winter vom Schimmelpilz befallenen hölzernen Klappgartentisch auseinanderzusetzen, aber nicht jetzt. Um 2:45 Uhr ein Taxi gerufen, zu Fuß nach Hause wäre jetzt nicht mehr möglich gewesen. [Auch eine Möglichkeit: der Dachboden; was früher hier passiert ist, interessiert keinen.]

Als wäre es das schon gewesen, sagte ich, bevor ich von ihr ging, dass ich nicht die Absicht gehabt hätte, hier meine Arbeit fortzusetzen, und irgendwann würde mir dies auch mit Sicherheit furchtbar leidtun, aber so weit sei ich gerade gefühlsmäßig noch nicht gekommen. Sie sollte das zu verstehen versuchen und ohne mich eine Lösung finden. Aber vielleicht wollte ich es ja gar nicht, so sehr hätte mich allein der Gedanke, dass meinem Gegenüber durch diese Bestrebungen alles zuwiderlaufen würde und sich der Graben zwischen uns beiden noch mehr auftun würde, aus meinen Tagträumen reißen müssen. Leider war diese Idee in meinem Kopf noch viel zu lebendig, als dass ich mich kurzfristig hätte davon losreißen können. Ich hoffte ja auch, endlich von dem Druck befreit zu sein, der sich jahrelang in meinem Inneren angestaut zu haben schien und den ich jetzt in einen gewaltigen Schlussakkord überführen wollte, gleichgültig, ob dessen Ergebnis gut oder schlecht ausfallen sollte. Wie in einem süßen Traum: Alles schien zu gelingen, du scheinst dich wohlzufühlen, du kannst dein Glück noch nicht fassen, bist aber dennoch ständig getrieben, eine Kleinigkeit erledigen zu müssen, bevor du dein Glück genießen darfst. Und dann ist es meistens auch schon wieder zu spät.

Ausbilden: Einen Menschen aus ihr machen, vielleicht war das mein Plan und sie auch dazu bringen, wo er sich nie sehen konnte: Verwirklichen all die hehren Gedanken, die er mit sich herumgetragen hatte …

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 24070

Unverhofft kommt der Tod

Ich war nicht darauf vorbereitet, dass du gehst, glaube fast,
dass man niemals wirklich vorbereitet ist.
Und während ich in einer schalldichten Blase schweb
und verzweifelt an deinem Leben kleb,
rechne ich jeden Moment damit, dass du gleich vor mir stehst,
dich zu mir drehst, und mir – wie immer – erzählst, worüber du gerade nachgedacht hast.

Doch es bleibt still. Kein Laut von dir.
Nur trockene Luft, in die ich mich hüll, an der ich erstick
und meterdick Eis unter mir.
Und der Wind singt mit geneigtem Haupt dein ewiges Lied.
Zelebriert ehrfurchtsvoll deinen Abschied.
Erlaubt dann der Welt, sich weiterzudrehen, und flüstert mir Tor
im Fortgehen noch leise ins Ohr,
dass er das laute Toben in mir,
das mehr und mehr anschwillt,
und mich schon bald bis zum Rand füllt,
nach und nach besänftigen will.

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 24049

Die schöne Unbekannte

Zum ersten Mal traf ich sie in der Bibliothek. Das war gleich nach Neujahr. Ich setzte mich neben sie und bemerkte, als sie ging, dass sie einen schönen gemusterten Schal trug.

Die erste Begegnung blieb folgenlos. Ich ging meinen Tagesgeschäften nach und beschäftigte mich mit anderen Dingen. Es war mir klar, dass ich nicht allein sein wollte und dass diese junge Frau mit dem gemusterten Schal eine gute Gelegenheit gewesen wäre, sich zu verlieben. Leider wusste ich über sie so gut wie nichts. Und dass ich so gut wie nichts über sie wusste, versetzte mich in einen sehr unangenehmen Zustand: Ich hoffte sehr darauf – so unwahrscheinlich es auch war – , dass ich sie wiedersehen und mich mit ihr austauschen könnte.

Eine dieser Gelegenheiten war eine Veranstaltung in einem Jugendzentrum, wo ich hoffte, sie wiedersehen zu können. Ich war schon voller Vorfreude auf dieses Treffen, aber leider war dieses Zentrum, von dem ich nie zuvor etwas gehört hatte, zu weit außerhalb der Stadt und ich kam nur bis zur Endstation der Straßenbahn. Von dort an ging ich am Abend einige Kilometer weit, aber das Jugendzentrum war, wie gesagt, nicht zu finden.

Als ich sie zum zweiten Mal traf, ging sie im Sommer mit einer Sonnenbrille die Stiegen in der Universitätsbibliothek hinauf. Ich hätte sie ansprechen können. Aber es bot sich mir keine Gelegenheit.

Ich hatte eigentlich gar nicht mehr damit gerechnet, sie wiederzusehen und war mir im ersten Moment auch noch nicht sicher, ob es sich um die selbe Person handelte, die ich schon zu Beginn des Jahres gesehen hatte.

Dieses zweite Mal des Sehens war für mich schon etwas vager. Ich verspürte nicht mehr das große Bedürfnis, dieser Person näherzukommen, aber dennoch war wieder etwas mit mir geschehen, das mich in seinen Bann zog.

Es vergingen einige Jahre und die Frau geriet in Vergessenheit. Ich weiß nicht, was es ausgelöst hat, aber eines Tages ergriff mich plötzlich die Erinnerung an diese Person sehr stark. Zwar konnte ich nur erahnen, dass sie Michaela hieß und Pädagogik studierte. Auch an ihre warmen Worte „Auf Wiedersehen und einen schönen Tag dir noch!“ erinnerte ich mich. Zu dieser Zeit lebte ich schon in einer anderen Stadt und war ihr entfernter. Entfernter noch als an diesem Tag im Jänner, als ich das Jugendzentrum suchte. Wenn es doch irgendwie möglich gewesen wäre, ihr von mir etwas zukommen zu lassen. Einen Liebesbrief oder ein Geschenk. Oder ihr einen Gefallen tun.

Mich ergriff die innere Leere. Und es gab nichts, womit diese Leere auszufüllen gewesen wäre. Ich übte mich im Zen.

Eines Tages streifte ich wieder durch die Stadt und ich hatte die vage Hoffnung auf eine ähnliche, aber neue Begegnung dieser Art. Nach einigen Minuten des Umherflanierens sah ich den Eingang eines indischen Restaurants. Da mich die exotische Speisekarte sehr reizte, trat ich ein und bestellte mir ein Curry. Die Gedanken an Michaela würden stärker, und als ich das Essen serviert bekam, merkte ich anfangs noch nicht, wie stark das Vindaloo gewürzt war. Ich nahm einen Bissen und noch einen Bissen. Dann ergriff mich die Schärfe und ich war kurz davor, in Ohnmacht zu fallen. Ich kämpfte mit mir, da es mir schwindlig wurde, und mir schnürte es die Kehle zu. Mir tränten die Augen und die Außenwelt wurde immer verschwommener.

In diesem Moment sah ich Michaela noch einmal in der Bibliothek, diesmal in einem Sommerkleid und mit einem Strohhut. Sie sah mich lange an, dann begann sie zu lächeln.
Nach einer Weile, die sich für mich wie eine Ewigkeit angefühlt hat, sagte sie:

„Schön, dass du die ganze Zeit an mich gedacht hast.“ Und verschwand.

Natürlich war der letzte Teil meiner Geschichte erfunden und das Erlebnis im indischen Restaurant hat es nie gegeben. Dennoch – soweit es mir noch möglich ist – möchte ich die Erinnerung an Michaela festhalten. Ihr sei diese Erzählung gewidmet.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 24034