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Wenn’s einmal aus wird sein. Selbstmord auf Wienerisch

Frühling ist, wenn der Tichy aufsperrt! Egal, wie das Wetter ist, wenn die Türen des (zu Recht) bekanntesten/beliebtesten/größten Eissalons in Wien offen stehen, dann gibt’s trotz Eis keinen Winter mehr. Und die größte Affenhitze lässt sich aushalten, wenn man, genüsslich von einer Tüte Erdbeer-Zitrone (o.Ä.) schleckend, auf einer schattigen Bank vor dem urbaneren Eissalon am Schwedenplatz sitzt. Da schrumpfen alle Sorgen, und man kann so herrlich die Seele baumeln lassen, während beachtenswerte Mädchenbeine wie im Film vorüberziehen und etliche Gesprächsfetzen von der Nebenbank ans Ohr dringen. Und weil – ebenfalls zu Recht – den Wienern ein eher gemütliches Naheverhältnis auch zum Tod nachgesagt wird (wo sonst nennt man ihn harmlos verkleinernd „Gangkerl“?), fing der Verfasser einmal ein in leichtem Plauderton gehaltenes Gespräch über gleich drei Selbstmorde und deren nähere Umstände ein:

Auf der Nebenbank saßen, gemächlich aus ihren Bechern löffelnd, zwei ältere Damen, von denen die dickere, dominante das Gespräch führte, während die schmächtigere, einfacher gekleidete (vermutlich eine entferntere Bekannte) kaum mehr als gelegentlich erstaunte, beipflichtende oder erschrockene Bemerkungen in den Satzpausen (während ein Löfferl Erdbeereis geschaufelt wurde) einfügte.

Zuerst wurde der mittels Schlaftabletten durchgeführte Suizid einer Nichte abgehandelt: Diese hätte nach ihrer Scheidung zwar ein Jahr später ihren Mann wieder zurückbekommen, es aber nicht verwunden, dass dieser sein schlampertes Verhältnis zum Scheidungsgrund noch aufrecht hielt. Ja, und so hätte sie das Leben nicht mehr gefreut und sie hätte beschlossen, nach Einnahme von zwölf Schlaftabletten nicht mehr aufzuwachen. Und nun zu den Details: Da besagte Nichte gelesen hatte, dass manche Menschen den giftigen Abschiedstrunk nicht vertragen und ihn wieder erbrechen, war ihr die Idee gekommen, vorher eine Haferschleimsuppe einzunehmen, damit der Magen beruhigt sei. Die Polizei hätte vorerst nicht an Suizid gedacht, weil die Nichte ja auch Kreislaufprobleme gehabt hätte. Aber der Hausmeisterin, welche die Tür geöffnet habe, wäre der Topf mit der restlichen Suppe aufgefallen und deshalb habe sie die Polizei informiert, dass da was nicht stimmen könne, weil der Nichte doch nachweislich seit ihrer Kindheit vor Haferschleimsuppe gegraust hätte. Und so sei das eben herausgekommen.

„Entsetzlich, gelln’s, so ein junger Mensch, das ist doch so ein teppert’s Mannsbild gar net wert, net?“, so die Monolog-Partnerin.

Die Erzählerin schwieg eine halbe Minute, weil sie in ihrem Nocciolone-Eis eine Haselnuss gefunden und daran gekaut hatte, dann kam sie zum Teil zwei:

Es sei dann kaum ein halbes Jahr vergangen, bis sich ein Cousin wegen seiner enormen Spielschulden nicht mehr aus noch ein gesehen hätte, und der zwielichtige Geldverleiher, an den er sich zuletzt in seiner Not gewandt habe, hätte ihm bei Terminverlust eine Schlägertruppe in Aussicht gestellt. Das sei alles in einem flüchtig hingekritzelten Abschiedsbrief gestanden. Und als es dann an seiner Türe stark geklopft habe, da hätte er das Fenster aufgerissen und sich aus dem fünften Stock in die Tiefe gestürzt. Er sei sofort tot und damit schuldenfrei gewesen. Dabei war es doch nur der Hausmeister, weil eine Partei Gasgeruch gemeldet hätte. „Und jetzt stellen S’ Ihnen vor, wenn der Cousin noch eine letzte Zigarette geraucht hätte, dann hätte das ganze Haus in die Luft fliegen können. Das wär ja gar nicht auszudenken!“

„Da hätt er ja dann gar nimmer Selbstmord machen brauchen, gelln’s?“ gab da die entzückend naive Gefährtin zu Protokoll, worauf die Erzählerin einen Lachkrampf bekam und beinahe den Eisbecher fallen ließ.

Dann setzte sie fort, dass es immer die Falschen träfe, er sei so ein harmloser und gutgläubiger Mensch gewesen, alles hätte man von ihm haben können, er wäre wirklich zu gut für diese Welt gewesen. Und dass dafür den größten Gfrastern ein langes Leben beschert sei.

Die Monologpartnerin widersprach zaghaft, dass aber der Wiener Kardinal König, der wohl unbestritten ein sehr wertvoller Mensch war, doch schon fast 100 Jahre alt geworden wäre.

Jaja, das sei natürlich die Ausnahme, welche die Regel bestätige, stimmte die Erzählerin zu, aber eben eine seltene. Da wäre zum Beispiel ein Schwager zweiten Grades, der knapp zwei Jahre später auch nicht mehr leben wollte. Dieser habe nämlich mit seiner mühsam aufgebauten Firma Konkurs anmelden müssen und hatte nicht den Mut, es seinen Angestellten zu sagen, und außerdem fürchtete er die Ächtung durch seine Geschäftsfreunde und seine Familie, weil er sich entgegen dem Rat seines Schwiegervaters selbständig gemacht hätte. Und so habe er sich – weil er vom Freitod des Cousins wusste – ebenfalls aus dem Fenster gestürzt, aber weil er nur im dritten Stock gewohnt hätte, habe er mit geknickter Wirbelsäule und mehreren Beinbrüchen überlebt. Noch ein Jahr sei er im Rollstuhl gesessen, bis ihn ein Schleimschlag erlöst habe.

„Gelln’s, da sieht man, was zwei Stockwerke ausmachen“, war die erschütterte Reaktion der Zuhörerin.

„Wie ich schon g’sagt hab, es trifft immer die Guten“, setzte die Erzählerin fort, und dass sich ihr Seliger darüber auch sehr gekränkt habe. Außerdem sei der zuletzt Verblichene sein ständiger Tarockpartner gewesen, und nun sei die Partie zerfallen, weil kein Ersatz aufzutreiben gewesen sei.

„Also da tun S’ mir aber schon leid“, bemerkte nun die Zuhörerin, „Haben S’ da überhaupt noch wem, wenn sich Ihre Verwandten so schnell hintereinander verabschieden? Das muss ja furchtbar sein, da kommen S’ ja gar nicht aus dem schwarzen G’wand ausse!“

„Nein, nein, die waren ja alle von seiner Seit’n“, beruhigte die Erzählerin, und sie selber hätte noch genug Verwandte, weil in ihrer Linie fast alle drei, vier Kinder hätten. Da würde ihr die nächsten Jahre bestimmt nicht fad!

Tja, die besten Geschichten schreibt immer das Leben. Oder dessen Ende.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 24047

Horror-Modus

Ich spiele gerade ein Browser-Game, da erscheint die Meldung auf dem Bildschirm: „Wollen Sie den Horror-Modus aktivieren? Ja / Nein.“ Natürlich klicke ich auf Ja.

Plötzlich gehen alle Lichter aus. Ich begebe mich zum Schaltkasten und bringe den Strom wieder zum Laufen. Den Computer lasse ich ausgeschaltet, da es schon spät ist und ich morgen Früh in die Schule muss.

Ich gehe zu Bett und schlafe bald ein. Mit dem Gefühl, verschlafen zu haben, wache ich auf. Und tatsächlich, ein Blick auf meinen Wecker zeigt, dass dieser stehengeblieben ist. Es ist zwar schon hell, Vögel sind aber keine zu hören. Ich stehe auf, kontrolliere die Uhren im Haus, sie sind alle stehengeblieben, und zwar um 10:30 Uhr, meine Digitalarmbanduhr um 22:30 Uhr, das war direkt, bevor der Strom ausfiel. Etwas beunruhigt schalte ich mein Handy ein, kein Netz, Uhrzeit: 22:30, Datum: gestern. Normalerweise aktualisiert sich das Handy über die mobile Internetverbindung, doch Uhrzeit und Datum sind immer noch die gleichen, als ich eine ungefähr eine halbe Stunde später das Haus verlasse. Was auch nicht anders möglich ist, da keine mobile Internetverbindung hergestellt werden kann.

Auf dem Weg zur Schule sehe ich keinen Menschen, kein Auto, nicht einmal ein Tier. Schließlich stehe ich vor der Schultür. Sie ist geöffnet. Im Flur steht die Uhr auf 10:30 Uhr, ich erwartete es nicht anders. Ich gehe in meine Klasse. Die Schulglocke läutet, eine Unterrichtsstunde hat begonnen. Ich bin völlig alleine. Auf der Tafel steht: „Lauf weg!“ Ich blicke nach rechts, auf der Innenseite der Klassentür sind Kratzspuren und kleinere Blutspuren, sie sind ebenfalls auf der Innenseite der Fenster zu sehen. Ich weiß genau, dass ich diesen Ort verlassen sollte, aber in meinem Hinterkopf sagt mir eine Stimme, dass jetzt Mathematik auf dem Stundenplan steht und dass ich mich darauf konzentrieren sollte, ein strebsamer Schüler zu sein. Ich gehe zur Tafel und schreibe Rechnungen aus dem Mathematikschulbuch an. Ich rechne sie durch. Es funktioniert problemlos.

Nach ein paar Minuten muss ich pinkeln gehen. Auf der Toilettenwand steht mit Blut geschrieben: „Hilf mir!“ und „Du wirst sterben!“. In einem Pissoir sind Menschenzähne. Ich gehe zurück in die Klasse. Meine innere Stimme sagt mir, dass ich das hier durchstehen und vorerst einmal weiterrechnen sollte. Als ich wieder die Klasse betrete, bemerke ich, dass die Tafeln gewischt sind. Plötzlich ertönt eine Sirene, Feueralarm!

Ich verlasse die Klasse und laufe den Gang entlang. Am Ende des Ganges sehe ich den Schulwart mit seiner kurbelbetriebenen Handsirene. Er geht in sein Büro. Ich laufe dorthin. Dort sehe ich den Schulwart in seinem Sessel sitzen, mit dem Rücken zu mir. Auf mein „Hallo, brennt es wirklich?“ reagiert er nicht. Während ich mich weiter auf ihn hinzubewege und ein zweites lautes „Hallo“ anstimme, fällt mein Blick auf das Regal an der linken Wand. Da stehen kleine, gegerbte Köpfe, Schrumpfköpfe. Die meisten sind mir bekannt, es sind Klassenkameraden und Lehrer. Von Panik erfüllt, stürze ich aus der Schule. Ich renne so schnell ich kann. Auf dem Fußballplatz der Schule sehe ich einen Ball rollen, obwohl niemand dort ist.

Erst nach mehreren Kilometern, als ich außer Atem haltmachen muss, fällt mir das vollkommen veränderte Stadtbild auf. Plötzlich tauchen von allen Seiten Menschen auf. Sie greifen nach mir. Ich will losrennen, doch ich stolpere. Ich schließe die Augen, ergebe mich meinem Schicksal, aber nichts passiert. Ich öffne wieder die Augen. Ich liege in meinem Bett, bin gerade aufgewacht.

Vom Erdgeschoß ruft meine Mutter nach mir: „Das Essen ist fertig.“ Mit Hunger im Bauch laufe ich hinunter. Vater und Schwester sitzen schon am Tisch. Es gibt Herrengulasch, Gulasch mit Würstchen, Spiegelei, zerschnittenen Gürkchen und Semmelknödeln. Appetitlich dampft der Topf. Vater, Mutter und Schwester grinsen ständig. Irgendetwas stimmt nicht. Möglichst beiläufig frage ich: „Sag mal, wie geht es dir denn eigentlich jetzt in der Schule, Sophie?“ Meine Schwester heißt allerdings nicht Sophie, sondern Magdalena. „Ganz gut“, sagt sie. „Möchtest du noch etwas?“, fragt mich meine Mutter. „Na klar, Mama“, sage ich. Sie gibt mir zwei Schöpfer Gulasch mit einem Semmelknödel in meinen Teller. Ich rühre mit dem Löffel um. Was schwimmt da. Es ist kein Fleischstückchen, kein Würstchen, es ist ein Zeigefinger. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Hat niemand außer mir den Finger gesehen? Alle drei sind völlig unbeeindruckt. „Danke, ich bin schon satt“, sage ich und stehe auf. Ich gehe auf mein Zimmer, setze mich an meinen Tisch und denke nach, wie ich möglichst schnell möglichst weit davonkommen kann. Draußen höre ich einen Zug vorbeirauschen. Mir fällt ein, dass weniger als einen Kilometer von unserem Haus entfernt ein Bahnhof liegt. Gespannt warte ich, bis ich aus dem Erdgeschoß keine Geräusche mehr vernehme.

Dann laufe ich los. Ich brauche ein paar Minuten bis zum Bahnhof. Auf dem Weg dorthin treffe ich auf keinen Menschen. Mein Plan ist es, den ersten Zug zu nehmen, egal, wohin er führt. Ich warte am ersten Bahnsteig, fünf Menschen, zehn Minuten, eine Würstelbude. Jetzt fährt von links ein Zug ein. Ich steige ein, betrete den Waggon und setze mich hin. Viele Sitze sind besetzt. Jetzt fährt der Zug an. ich blicke auf meine Armbanduhr. Es ist 22:30 Uhr. Sie steht still. Ich sehe mir die Menschen zu meiner Linken an. Es sind alles Männer mit dem gleichen Gesicht und dem gleichen Gewand. Meine Armbanduhr beginnt wieder zu ticken.

A.C.A.B. - ALL COMPUTERS ARE BROKEN

A.C.A.B. - ALL COMPUTERS ARE BROKEN

Johannes Tosin (Text und Bild)
und
Michael Tosin (Text)

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 23142

 

 

 

(Foto: A.C.A.B. – ALL COMPUTERS ARE BROKEN.jpg von Johannes Tosin)

 

365 Sekunden vor dem Untergang

365 Sekunden vor dem Untergang

Die Tage sind gezählt. 1, 2, 3. In drei Tagen, am 23. Juni um 19:42 Uhr Ortszeit, wird ein Komet, der sich von der Oortschen Wolke, welche die Erde vor zwei Millionen Jahren passierte, gelöst hat, mit der Erde kollidieren. Dieser Komet wird in den Medien als Hades-13 bezeichnet, sein Durchmesser beträgt 1247 Kilometer. Sein Aufprall wird 200 Kilometer südwestlich von Island stattfinden. Es wird das Ende jeglichen Lebens auf der Erde sein.

Gestern wurde die zukünftige Katastrophe bekanntgegeben. Heute ist

Tag 3 vor dem Untergang.

Man müsste den Kometen, wenn er noch weit von der Erde entfernt ist, mit einer massiven Nuklearsprengladung treffen. Diese Technik ist aber nie entwickelt worden. Alle Prognosen sagen auch aus, dass keine Sprengladung stark genug wäre, den Kometen bersten zu lassen.

Da es keine Möglichkeit gibt, das Unglück abzuwenden, kann man sich nur damit abfinden, dass alles aus sein wird. Es ist eine seltsame Vorstellung: Plötzlich, ohne jede Vorwarnung wird jeder und alles sterben, alle zum fast gleichen Zeitpunkt. Vor einiger Zeit sind die Dinosaurier ausgestorben und mit ihnen der größte Teil des Lebens auf der Erde, aber ein kleiner Teil blieb eben, die Lebewesen entwickelten sich weiter, und unter anderem entstand der Mensch. Diesmal wird es endgültig sein. Die einzige Möglichkeit zu überleben wäre, mit einem Raumschiff die Erde zu verlassen, aber dazu ist die Menschheit heutzutage nicht imstande, und Zukunft wird es für sie keine geben. Der Tod ist der ultimative Gleichmacher. Ist jemand wirklich reich, stirbt er nicht leichter als ein Armer, wahrscheinlich stirbt er schwerer, weil er sich ärgern wird, alles zu verlieren. „Wozu war das Ganze dann gut?“, wird er sich selbst fragen. Und die Antwort wird sein: „Für nichts.“

Der Tod wird durch die gewaltigsten Erdbeben, die es jemals gegeben haben wird, veranlasst, durch wolkenkratzerhohe Tsunamis, die Menschen werden erschlagen werden oder ertrinken, es ist auch möglich, dass die Atmosphäre entweicht, das wäre wohl der gnädigste Tod. Es ist ja nicht der Tod, der wehtut, sondern das Sterben. Bestimmt gibt es auch Selbstmordkandidaten, denen der Kometeneinschlag die Arbeit abnimmt. Viele von ihnen trauten sich wohl nie, sich selbst zu richten, jetzt, in drei Tagen, erledigt das der Komet. Es wird das Ende jeden Kalenders sein, vom 24. Juni an hat er keine Fotos mehr, keine Beschriftung, er ist nur noch weiß. Weiß ist das Sterben, die Trauer ist schwarz. Die Liebe ist rot, der Glaube violett, grün ist die Hoffnung. Und blau? Blau ist das Wasser.

Die Kirchen, die Moscheen, die Synagogen sind nun gefüllt. Kein Platz ist mehr frei. Die Menschen beten für die Vergebung ihrer Sünden, damit sie ein gutes Leben nach dem Tod führen können, dass sie in den Himmel kommen und nicht in die Hölle. Manche wollen auch ihr irdisches Leben gerettet sehen. Was nicht passieren wird.

Aber, was wirklich seltsam anmutet, ist, dass viele Beschäftigte heute an ihrem Arbeitsplatz erschienen sind. Die Büroarbeiter tippen in ihre Computer, die Arbeiter in den Werkhallen produzieren, in der Qualitätskontrolle werden die Waren geprüft. Die Sekretärinnen wollen Termine für ihre Chefs vereinbaren. Sie rufen bei Stellen an, wo ihnen gesagt wird: „Die Erde wird untergehen, der letzte mögliche Termin ist der 23. Juni. Sollen wir bis zu diesem Tag etwas vereinbaren?“

Florian ist einer dieser Büroarbeiter. Er mag Blumen nicht besonders, obwohl er diesen Namen trägt, aber den suchten ja seine Eltern für ihn aus. Seine Frau ist zuhause bei dem Baby, das niemals ein Kleinkind werden wird. „Bist du verrückt, warum gehst du in die Firma?“, fragte sie ihn in der Früh. „Ich muss etwas fertigmachen“, antwortete Florian. „Du musst gar nichts mehr fertigmachen“, sagte seine Frau, „das Einzige, was du musst, ist sterben, in drei Tagen, wie wir alle.“ „Ich gehe nur noch heute hin“, sagte Florian, „ich bin ja am frühen Abend wieder zuhause bei euch.“ Seine Frau wusste nicht, wie sie Florian von seinem Vorhaben abbringen könnte, und wenn man etwas nicht weiß, fällt man oftmals in eine Art Schockstarre. Sie stand nur da und sah ihn an. „Okay“, sagte sie dann. „Okay, bis dann“, gab Florian zurück.

Ja, und jetzt ist Florian in seiner Firma. Natürlich gibt es einen Grund, dass er hier ist. Er ist keiner dieser Verrückten, die Bestelllisten abarbeiten, wo nie mehr eine Lieferung folgen wird. Florians Grund ist Isabel, die in den technischen Abteilungen verschiedene Arbeiten erledigt. Er hat sich schon seit Langem in sie verschaut, machte aber nie Anstrengungen, sie zu erobern, da berufliche Affären ein No-Go für ihn waren. Mittlerweile war das einerlei, Job-Nachteile innerhalb der letzten drei Tage, nach denen die Erde untergeht? Lächerlich, obwohl nun nicht die Zeit zum Lachen war. Egal, jetzt war anything goes angesagt, es war keine Zeit mehr übrig, um zu warten. Now or never. Florian wusste noch gar nicht, ob er überhaupt abends nachhause fahren würde. Es war bekannt, dass Isabel Drogen nahm. Er nahm auch Drogen, was höchstwahrscheinlich niemand in der Firma wusste. Heute war seine Aktentasche gleichzeitig ein Drogenkoffer – mit Dope, Koks, Es gefüllt, genug für eine gute Zeit, mit Isabel, wenn sie denn will. Mal sehen, bislang hat Florian sie nicht ausgemacht.

„Knien Sie nieder, Sie Schwein!“, tönt es aus dem Büro des Abteilungsleiters. Es ist Herrn Warmuths Stimme. Das Verhältnis zwischen dem Abteilungsleiter und ihm war immer schon sehr angespannt, inzwischen hat sich das noch verschärft. Jetzt hört man den Abteilungsleiter laut beten. Noch vor dem Amen schallt es „Bumm, Bumm, Bumm, Bumm, Bumm!“ Das war Herrn Warmuths Intention, heute ins Büro zu kommen. Verständlich, findet Florian, den einen treibt die Liebe, den anderen der Hass. Der Hass ist vielleicht das wirkungsvollere Stimulans.

Später erfuhr Florian, dass Isabel bislang nicht in der Firma erschienen war. Er verbrachte noch einige Zeit beim Kaffeeautomaten in der Fertigungshalle rauchend und den paar Wahnsinnigen zusehend, die Maschinenteile produzierten, die nie mehr verbaut werden würden. Dann fuhr er nachhause. Wohl hat sich Isabel auch ihren Traum wahrgemacht, der nichts mit der Firma und nichts mit ihm zu tun hat.

Tag 2 vor dem Untergang

Ein Open-Air-Konzert wird vorbereitet. Musiker sind da, um Songs zu spielen, das Publikum zu unterhalten, manche wollen auch Messages transportieren. Wann, wenn nicht jetzt, sollen Musiker auftreten? Jetzt, genau! Die Instrumente und die Mikros auf der Bühne sind verkabelt. Der Soundcheck fällt aus. Gleich wird es beginnen. Die Musiker kommen auf die Bühne. Abertausend Menschen stehen davor. Es ist 20:07 Uhr. Noch existiert die Erde, sonst könnte niemand stehen und niemand könnte spielen und singen. Es ist eine Death-Metal-Band. Die Sängerin singt vom Tod. Die Menschen toben, recken die Arme in Richtung der Bühne. Diesmal ist es nicht nur eine Show. Es ist der vielleicht letzte Auftritt dieser Band. Und alles wird mit dem allgemeinen Sterben ändern. Die Toten werden nicht mehr begraben werden, und niemand wird sich ihrer erinnern, weil niemand mehr da sein wird. Auch darüber singt die Sängerin. Diesmal ist es mehr als Unterhaltung. Es ist so ernst, wie der Tod ernst ist, nach dem nichts mehr folgt. Jeder hofft, dass es danach weitergeht, doch das wird es nicht. Es ist kein vorläufiges Ende, es ist das absolute Ende. Der Punkt des ewigen Satzes.

Statt einer Lightshow brennen Feuer auf der Bühne. Alle Musiker sind schwarz gekleidet, wie die meisten im Publikum. Dann sieht man von den Menschen nur die Gesichter und die Hände, die weiß herausleuchten. Überall werden Joints geraucht, wie früher bei Konzerten, als es noch keine Handys mit Kameras gab. Am Rand sitzen Leute mit pulverförmigen Substanzen, Löffeln, Teilen von Zigarettenfiltern und brennenden Feuerzeugen. Jeder nimmt ein, was er hat. Keine Security ist hier, und auch keine Polizei. Alles ist scheinbar legal, da es keine Veranlassung mehr gibt, jemanden abzustrafen. Die Band auf der Bühne bietet die beste musikalische Darbietung, zu der sie fähig ist. Und das ist eine fantastische. Es ist traurig, denken wohl die allermeisten der Zuseher und Zuhörer, dass es das letzte Mal ist, dass ich diese Band erlebe. Natürlich muss alles irgendwann beendet sein, aber doch noch nicht jetzt, ich bin doch noch viel zu jung.

Mit den Worten: „Goodbye Leute, wir lieben euch, wir sehen uns wieder in der Hölle“, tritt schließlich die Band ab.

Eine andere Band tritt auf und gibt, was sie kann, was diesmal absolut der Superlativ ist. Der helle Gesang lässt eher an den „Stairway to Heaven“ denken als an die Treppe in die Unterwelt. Die Stimme entführt zu anderen Galaxien, was die Rettung wäre, doch sobald man die Augen öffnet, ist man wieder hier, innerhalb der Menge, auf der Erde gefangen.

Seb und Lene verlassen nun den Platz vor der Bühne. Sie gehen durch den Park, in dem sie aufgebaut ist. Da ist Rasen, sind Bäume und Kies, der scheinbar weiß strahlt, Eichhörnchen sind da und Enten, die quaken. Die beiden jungen Leute hatten große Pläne, zuerst ihre Ausbildung beenden, zusammenziehen, ein Kind, mindestens, besser zwei oder drei. Die Pläne werden nun Pläne bleiben, sie können nicht mehr realisiert werden. Leider. Sie besuchen den städtischen Friedhof, auf dem Leute wie sie gerne ein Picknick veranstalteten. Jetzt sitzen sie bloß im Schneidersitz neben einem Grab, jeder schaut für sich, von ihnen fällt kein Wort.

Sie sind nicht die einzigen Schwarzgekleideten hier, von denen man denkt, sie seien Satanisten. Einige haben sich auf dem Friedhof versammelt. Heute reißt niemand das Kreuz eines frischen Grabes heraus und steckt es andersrum zurück in die Erde.

In Wirklichkeit will ja niemand von ihnen, dass sie der Teufel holt. Wenn es denn so wäre, dann wäre das übermorgen der Fall. Es kann gut sein, dass diese Leute von dieser besonderen Ruhe eines Friedhofs angezogen sind, und auch davon, dass er ein historischer Ort ist, mit den altertümlichen Namen und manchen Schwarzweiß-Fotos der Verstorbenen. Es ist der richtige Platz, um langsam zu atmen. Nachts kommen die Geräusche fast nur vom Wind und von kleinen Tieren.

Jetzt greift Lene nach Sebs Hand. „Es ist schade um uns“, sagt sie. „Ja, es ist schade um uns“, sagt Seb.

Tag 1 vor dem Untergang

Die Tageszeitung liegt vor der Wohnungstür. Der Kolporteur macht weiter, als wenn nichts wäre. Er ist Sikh. „Frohe Weihnachten und ein glückliches neues Jahr“, stand auf einer Karte von vor ziemlich genau einem ½ Jahr, die mit Singh beschriftet war. Wahrscheinlich sammelt er Pluspunkte für sein zukünftiges Leben, denkt Tino. Aber wo will er ohne Erde leben? Doch das soll mich nicht kümmern, es geht mich auch nichts an. Der Mann wird schon wissen, was er tut. Er arbeitet ja nur noch um der Arbeit willen, denn Lohn wird er keinen mehr erhalten.

Tino blättert die Zeitung durch. Sie hat weniger Seiten als früher, aber sie ist erschienen, die Seiten sind bedruckt mit Text und Fotos, Redakteure und Fotografen waren an der Arbeit. Als ob sie einen Auftrag zu erfüllen hätten, oder sie glauben, dass das Unglück doch abgewendet werden kann. Tino ist nicht zur Arbeit gegangen „Scheiß drauf!“, hat er sich gesagt, „diese Arbeit ist nicht mein Lebenszweck.“ Und bald darauf fragte er sich: „Morgen werde ich sterben, was soll ich dann heute tun?“ Bald bemerkte er, dass ihm niemand wichtig genug war, um ihn – oder sie, in jedem Fall viel eher eine Sie – zu besuchen und vielleicht bis zum Ende zu bleiben. Nein, das war es nicht, was ihm fehlte. Er ließ seine Gedanken schweifen, und dann hatte er es vor sich: eine Gebirgslandschaft. Ja, das war es: Er würde wandern gehen, auf den Hochobir. Dort war er noch nie, und genau jetzt war es an der Zeit, ihn zu besteigen. Sonst gäbe es ja auch keine Gelegenheit mehr dafür.

Tino macht sich fertig. Er würde alleine gehen. Als er jünger war, hat er oft lange Sportausflüge unternommen, bei so gut wie allen war er solo. Das ist ihm lieber, er braucht sich nach niemandem zu richten, keiner ist da, der ihn beschwatzt. Und besonders jetzt möchte er in Ruhe gelassen werden. Er setzt sich in sein Auto, unterwegs tankt er kostenlos, er fährt bis zum Fuß des Hochobirs. Von ganz unten wäre die Gehzeit für ihn zu lange, er fährt die Serpentinen des Berges hinauf, bis da ein großer Parkplatz ist. Dort stellt er das Auto ab. Von hier bis zum Gipfel und zurück müsste er es bei seiner schlecht gewordenen Kondition in vier bis längstens fünf Stunden schaffen.

Der Parkplatz ist fast voll. Tino geht los. Viele Menschen gehen mit ihm und kommen ihm entgegen. Es ist ein Run auf den Berg. Steile und flachere Abschnitte wechseln einander ab. Wunderschön findet er die Natur, und interessant, wie sie sich mit steigender Höhe verändert. Jetzt sieht er unten in einem Tal einen kleinen See. Tino kennt ihn gar nicht. Er wird morgen dort baden gehen, bis es aus sein wird. Wenn der Komet einschlagen wird, wird er am Ufer des Sees liegen.

Überall sind jetzt viele Bergsteiger unterwegs, touristische, welche die Berge begehen, und Kletterer, die Felswände vertikal hinaufkrabbeln. Man würde denken, dass praktisch alle Kletterer freeclimben würden – es muss doch toll sein, einen langen freien Fall zu erleben, bevor man stirbt, was morgen ja ohnedies der Fall sein wird –, aber nein, mehr als wahrscheinlich üblich sind angeleint, sie wollen wohl keine einzige Stunde versäumen.

Nun hat Tino den Gipfel erreicht. Er sieht sich beim Gipfelkreuz um, dann geht er bergab, in Richtung des Parkplatzes, wo sein Auto steht, zwischen vielen anderen. Jetzt, wo er dort ist, kommt ihm ein kleiner, böser Gedanke: Warum habe ich, wo ich mich mein Leben lang immer bemüht habe, nur einen als gebraucht gekauften Kleinwagen, und manche von den anderen, die die totalen Flaschen sind, haben hier ihre Nobelkarossen stehen?

Und so nimmt er seinen Autoschlüssel in die Hand und zerkratzt den Lack von einigen der Limousinen, Sportwagen, Riesen-SUVs. Er macht das unauffällig. Trotzdem kann es natürlich sein, dass manche von den anderen Wanderern hier seine Aktion bemerken. Jedenfalls sagt niemand etwas – weil es nicht ihr Auto ist, überlegt Tino, diejenigen, die feststellen werden, dass bei ihrem Auto der Lack zerkratzt wurde, sind bestimmt, wenn schon nicht fuchsteufelswild, dann wenigstens nur wild, eher aber doch fuchsteufelswild – obwohl sie in etwas mehr als 24 Stunden sowieso sterben werden und die gesamte Erde unbewohnt sein wird.

Während er nachhause fährt, denkt er nach, wie er morgen zu diesem kleinen See gelangen soll. Das Internet wird ihm eine Lösung aufzeigen, kein Problem. Er stellt sich das Wasser vor, in das er dort tauchen wird. Wasser ist für ihn ein angenehmes Medium, wie komprimierte Luft. Schwimmt man lange Strecken, kann das wie Schweben anmuten.

Ob es Surfer auf den Tsunamis geben wird? Der Großteil der Menschen wird ja recht unmittelbar nach dem Kometeneinschlag sterben, aber auch wenn es manche Surfer danach noch aufs Meer schaffen würden, und selbst wenn sie einen Tsunami erreichten, bevor der sich zur vollen Größe aufgebaut hätte, wäre er viel zu schnell, um ihn zu reiten. Es wäre absolut unmöglich. Aber es gäbe ein spektakuläres Bild, einen Surfer auf einer viele hundert Meter hohen dahinrasenden Welle zu sehen.

Tag des Untergangs

Es ist 00:26 in Österreich. Theo ist auf einer Party. 20 Stunden und 16 Minuten ist noch Zeit. Überall sind jetzt Partys, Farewell-Partys, Goodbye-to-Earth-Partys. Musik und Visuals, DJs, DJanes. Put your hands up in the air. Never stop.

Doch genau jetzt denkt Theo: Was tue ich eigentlich hier? Er zieht sich in eine ruhigere Ecke zurück und schreibt auf seinem Smartphone Nachrichten, an Frauen, die ihm wichtig waren und, ja, es noch immer sind. Es gibt schon seit Langem keinen Kontakt mehr, aber sie ist wichtig, die eine, und sie ist wichtig, die andere, und einige mehr, die ihm wichtig sind, an alle die schreibt er. Nach einiger Zeit kommen auch Nachrichten zurück. Eine schreibt ihm: „Theolein, warum hast du mir das nicht vor drei Jahren geschrieben?“ Dann könnten wir jetzt vielleicht beisammen sein, weiß er.

Man kann das Leben so sehen, dass es aus Taten besteht, oder man kann es so sehen, dass es aus Versäumnissen besteht.

Anyway, heute ist es aus.

Jetzt, je näher der Untergang rückt, desto mehr Menschen sitzen vor ihren Fernsehern. Manche lassen sich unterhalten – bestimmte Sender strahlen Blockbuster-Filme aus. Andere betrachten Zusammenschnitte von historischen Filmaufnahmen ohne Ton. Dort wird genau jetzt eine Zahl in dieser Schrift eingeblendet:

365 Sekunden bis zum Untergang

364, 363, 362, 361, 360. Sieht man aus Fenster, ist der Komet bereits deutlich größer als die Sonne, bei jeder weiteren niedrigeren Zahl ist er weiter gewachsen. Bei 100 beschleunigt die Luft stark. Der Komet ist jetzt so groß wie ein Fußball 50 Zentimeter vor den Augen.

Bei 30 schließt Fiona die Augen. Sie wird sie erst wieder öffnen in dem Moment, in dem sie stirbt.

Die Totenszene mit der jungen Frau am Kreuz

Die Totenszene mit der jungen Frau am Kreuz

 

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 23139

Klärend, heilend

Kurz vor halb sechs Uhr morgens, als ich gerade dabei bin, mir Tee zuzubereiten, klingelt das Handy. Sofort füllen sich meine Augen mit Tränen. Als ob sie nur darauf gewartet hätten, die Tränen, als ob das Handyläuten das Startsignal für sie wäre. Natürlich ist dein Vater der Anrufer. Er weiß genau, dass ich längst auf den Beinen bin, weiß genau, wie mir zumute ist, heute, an diesem besonderen Tag.

Ich gehe zum Fenster, sehe hinaus, zum Park gegenüber, der noch im Morgendunkel liegt und durch den wir unzählige Male gejoggt sind, dein Vater und ich, meist um diese Uhrzeit, während du noch tief geschlafen hast. Ich lasse das Handy läuten, lasse meine Tränen laufen, meinen Tee kalt werden, lasse meine Gedanken zu. Gedanken an kleine Episoden der vielen Jahre zu dritt, an die trügerische Selbstverständlichkeit unseres Zusammenseins. Dein Vater, du, ich.

Nun ist alles anders. Seit drei Monaten lebe ich allein. Nachdem du gegangen bist, habe ich keinen Menschen mehr in meiner Nähe ausgehalten. Vor allem deinen Vater nicht. Der Satz, dass Unglück Menschen zusammenschweißt, stimmt nicht, zumindest nicht für mich. Von Tag zu Tag habe ich es weniger ertragen, meine Trauer um dich im Gesicht deines Vaters gespiegelt zu sehen. Irgendwann hat er mein Bedürfnis nach Alleinsein akzeptiert, ist ausgezogen, hat sich eine kleine Wohnung gemietet.

„Ich betrachte das als vorübergehend“, hat er immer wieder zu mir gesagt, „nur so lange, bis du sagst, komm wieder nach Hause.“ Doch seit ich ihn mit Sara gesehen habe, bin ich unsicher, ob er wirklich zurückkommen möchte. Wie vertraut sie gewirkt haben. Du kennst sie ja, seine langjährige Kollegin, liebenswürdig und sehr hübsch ist sie, und seit kurzem außerdem geschieden. Vorgestern war es, ich ging an einem Lokal vorbei, zufällig fiel mein Blick durch das Fenster, und da sah ich die beiden. Sara hat die Hand deines Vaters gehalten, und sie haben sich tief in die Augen geschaut. Ach, egal. Seit du gegangen bist, ist alles, was mich früher aufgeregt hätte, bedeutungslos für mich geworden. Ich nehme das Handy in die Hand, das Klingeln hat längst aufgehört. ‚Ich rufe dich später zurück‘, schreibe ich, drücke auf Senden. Dann schalte ich das Handy aus. Dein Vater wird es verstehen.

Ich schminke mich. Bin dankbar für diese Möglichkeit, eine Art Schutzschicht aufzutragen. Den düsteren inneren Farben auch durch Kleidung zumindest äußerlich bunte, fröhliche entgegenzusetzen. Gerade heute, zu deinem Geburtstag, wähle ich bewusst mein bestes Outfit, ein elegantes Kleid in Eisblau, mit einem schicken beigen Blazer. Du sollst dich für deine Mutter nicht schämen müssen.

Dann spaziere ich langsam bis in die Innenstadt, setze mich in unser Café, das soeben aufgesperrt hat, bestelle Kaffee, und versuche, Zeitung zu lesen. Doch ich kann mich nicht konzentrieren. Meine Gedanken fliegen zu dir, in die Tage der Vergangenheit. Ich sehe uns beide hier sitzen, du mir gegenüber. Du bist gerade mal fünf Jahre alt, und ich muss lachen, weil du die Erwachsenen imitierst. Du hältst eine Zeitung in deinen kleinen Händen, tust mit ernstem Gesichtsausdruck so, als ob du sie lesen würdest.

Ich muss kurz die Augen schließen, sehe dann auf meine Armbanduhr. Noch zwei Stunden Zeit. Um 10:55 Uhr möchte ich bei dir sein. Genügend Zeit, um dein Geburtstagsgeschenk zu kaufen.

„Eine sehr gute Wahl“, lobt der Kassier des Mineraliengeschäftes eine Stunde später. Behutsam packt er den großen Bergkristall ein. Ich nicke, denn ich habe den schönsten Kristall gewählt, den ich hier für dich finden konnte. ‚Wirkung: Klärend, heilend‘, stand auf einem kleinen Schild darunter. Schon im Kindergarten hast du dich für Mineralien interessiert, und begonnen, sie zu sammeln.

„Ausgezeichnet“, beteuert der Kassier nochmal, nennt dann beiläufig eine hohe Summe und scherzt: „Tja, Schönheit hat ihren Preis.“

„Für meinen Sohn ist mir nichts zu teuer“, sage ich laut. Mir ist bewusst, wie arrogant mein Tonfall sich dabei anhört, kann und will aber nicht anders, als genau so zu klingen. Ich drehe mich dabei etwas zur Seite, blicke zu einer jungen Frau, die hinter mir steht, um zu überprüfen, ob diese registriert hat, welch großzügige Mutter ich bin. Sie hält ein kleines Mädchen an der einen und ein rosa Armband in der anderen Hand.

„Ein Geschenk für den Junior also“, tönt der Kassier scheinbar interessiert.

„Ja. Heute vor 14 Jahren kam mein David zur Welt“, sage ich laut und übertrieben feierlich, sehe nun direkt der jungen Frau ins Gesicht. Diese sieht demonstrativ weg, ich höre förmlich, wie sie denkt: ‚Reiche Tussi. Denk bloß nicht, dass ich mich für dich und deinen verzogenen Sprössling interessiere.‘

„Wie schön, Gratulation“, bemerkt der Kassier.

Ich bezahle, dann verlasse ich grußlos das Geschäft, rausche mit hoch erhobenem Kopf an der Frau und ihrer Tochter vorbei, die Tasche mit dem Kristall an mein eisblaues Kleid gepresst. Bin absolut in die Rolle einer hochnäsigen Mutter geschlüpft.

Ob es im breiten Feld der Psychologie einen Fachausdruck für die Sucht gibt, das Mutter-Sein vorzutäuschen? Für das Bedürfnis, zu spüren, dass fremde Menschen mich als Mutter wahrnehmen? Das Verlangen danach ist zeitweise unwiderstehlich für mich. Ich spiele alle Arten von Muttertypen, fürsorgliche, überbesorgte, oder so wie vorhin unsympathische. Lasse mich von Verkäuferinnen und Verkäufern wegen passender Kleidung oder Spielsachen für dich beraten. Gestern bin ich in einer Apotheke gewesen und habe Hustensaft für dich gekauft. „Der übliche Husten, so wie jedes Jahr um diese Zeit. Vor allem nachts quält er ihn, er kann kaum schlafen deswegen, der Ärmste“, habe ich geklagt.

Draußen sehe ich noch kurz durch das Fenster des Mineraliengeschäftes, sehe, wie die junge Mutter dem Kassier gestikulierend die Handkette reicht, sehe ihn lachen. Wahrscheinlich äfft die Frau mich gerade nach, teilt dem Kassier nun ihrerseits mit: „Vor sieben Jahren wurde meine Kimberly geboren“, und dann, affektiert, die Tatsache, dass die Kette einen Bruchteil des Bergkristall-Preises ausmacht, ignorierend: „Für meine Tochter ist mir nichts zu teuer.“

Ich greife in die Tasche, berühre die Schachtel mit dem Bergkristall. ‚Klärend, heilend‘, denke ich. Zwei Jungen kommen mir entgegen, als ich den breiten Gehsteig entlang gehe. Sie sind ein paar Jahre jünger als du, ungefähr zehn Jahre alt, einer trägt einen Fußball, hat ihn zwischen Arm und Hüfte geklemmt. Sekundenlang starre ich auf den Ball. Hinter meiner rechten Schläfe beginnt es schmerzhaft zu pochen, ich schnappe nach Luft, dann entreiße ich dem Jungen den Ball, werfe ihn mit Schwung über das hohe Gitter einer Baustelle, die sich gleich neben dem Gehsteig befindet. Er verschwindet in einer tiefen Baugrube. Kurz sehe ich in die fassungslosen Gesichter der Kinder, denke, während ich an ihnen vorbeigehe, ich müsste mich ihnen erklären, müsste ihnen von dir erzählen, ihnen sagen, dass du wegen solch eines Balls nicht mehr hier bist, wegen eines Balls, der einem kleinen, fremden Kind auf die Straße gerollt ist. Das Kind ist dem Ball nachgerannt, trotz der stark befahrenen Fahrbahn, du bist dem Kind nach, trotz der stark befahrenen Fahrbahn. Du wolltest das Kind retten. Es ist dir gelungen. Das Kind lebt. Du bist tot. Doch ich erkläre nichts, kein Wort bekomme ich heraus, sondern gehe schnell weiter, weg von den beiden Kindern, die mir nun nachbrüllen:

„He, was soll das? Warum machen Sie das?“

„Blöde Kuh!“

Ich biege um eine Ecke, taste nach dem Bergkristall.

‚Klärend, heilend.‘ Krampfhaft versuche ich, an nichts anderes zu denken als an diese beiden Worte. Meine Augen tränen, aber ich gehe weiter, zwei, drei Straßen entlang. Kurz bevor ich bei dir bin, muss ich mich setzen. Also lasse ich mich auf dem breiten Auslagevorsprung einer Bäckerei nieder, hole einen kleinen Spiegel und ein Taschentuch aus der Tasche. Meine Hände, die eine, die den Spiegel hält, die andere, die das Augen-Make-up mitsamt den Tränen abwischt, zittern stark.

Eine Frau in Arbeitskleidung kommt aus dem Geschäft. „Ist Ihnen nicht gut? Warten Sie, ich bringe Ihnen etwas Wasser.“

Eilig geht sie wieder hinein, um mir gleich darauf ein Glas zu reichen.

„Danke, es geht schon wieder“, stottere ich, „es ist nur – heute ist der 14. Geburtstag meines Sohnes.“

„Ach, alles klar – ja, ja, die Pubertät“, missversteht sie mich. „Ihr Sohn steckt wohl in Schwierigkeiten. Wissen Sie, meine Tochter ist fünfzehn. Ich sage Ihnen: Probleme in allen Bereichen, Schule, Freunde, überall. Sie kennen wohl Ähnliches von Ihrem Sohn.“
„Nein, das kenne ich nicht“, sage ich, richte mich auf. „Mein Sohn ist nicht in der Pubertät. Er steckt in keinerlei Schwierigkeiten, macht nie Probleme, im Gegenteil. David ist wunderbar, einzigartig.“

Ich gebe ihr das Wasserglas zurück. Das Lächeln der Frau gefriert.

„Na dann“, sagt sie eingeschnappt, „dann läuft ja alles bestens bei Ihnen. Gut, ich gehe jetzt mal, habe schließlich zu tun.“ Sie nickt mir kurz zu und verschwindet in der Bäckerei.

Wieder berühre ich die Schachtel mit deinem Geschenk, wieder denke ich: ‚Klärend, heilend‘, ehe ich mich aufraffe und meinen Weg fortsetze.

Zehn Minuten später bin ich bei dir, betrachte dein liebes Kindergesicht. Streichle mit meinem Blick dein helles Haar, studiere dein einnehmendes Lächeln. Dann nehme ich den Bergkristall aus der Tasche, platziere ihn zwischen Efeu und Kletterrosen auf schwarzer Erde, unter dein Foto im runden, dunklen Rahmen.

„Das sieht sehr schön aus“, sagt plötzlich jemand leise hinter mir. Dein Vater, natürlich. Ich erschrecke mich nicht, habe wohl innerlich damit gerechnet, dass er ebenfalls bei dir sein wird. Er war schließlich dabei, als du vor genau vierzehn Jahren zur Welt gekommen bist, um 10:55 Uhr. Wir haben beide damals vor Glück geweint. Dein Vater und ich sehen uns an, still, wissend, dass wir das Gleiche denken. Wir denken an dich, betrachten nun gemeinsam dein Foto. Du lächelst uns zu.

Später sitzen dein Vater und ich in der Frühlingssonne auf einer Bank in deiner Nähe. ‚Klärend, heilend‘, klingt es in mir, und dann erzähle ich deinem Vater von allem. Von dem Ball, den ich in die Baugrube geworfen habe, von der Episode im Mineraliengeschäft. Erzähle von meinem Bedürfnis, das Mutter-Sein vorzutäuschen. Es ist das erste Mal, dass ich darüber rede. Dein Vater hört mir zu. Sagt dann, das sei verständlich, dieser Drang würde sich bestimmt mit der Zeit legen.

Wir reden von dir, von unserem veränderten Dasein ohne dich, und da merke ich, dass ich deinem Vater endlich wieder in die Augen schauen kann, ohne dass mein Schmerz um dich sich wie verdoppelt anfühlt. Ich sehe in deinem Vater den geliebten Menschen, der es gut mit mir meint, der mich versteht, der weiß, wie es in mir aussieht.

Es ist inzwischen weit nach Mittag. Wir stehen auf, verlassen den Friedhof durch das schmiedeeiserne Tor. Das Auto deines Vaters steht auf dem Parkplatz. Ich zögere, würde jetzt gerne sagen: ‚Komm wieder zurück‘, aber –

„Wie geht es Sara?“, frage ich, und muss plötzlich gegen einen Kloß in meiner Kehle ankämpfen.

Er sieht mich irritiert an.

„Ich habe euch gesehen, vorgestern, in einem Lokal“, sage ich.

Dein Vater schüttelt den Kopf. „Wir haben nur miteinander geredet und uns gegenseitig getröstet. Sara hat mir von ihrer Scheidung erzählt, ich ihr von David und dir. Zwischen Sara und mir ist nichts als Freundschaft.“ Er ergreift meine Hand. „Ach, du weißt doch, dass ich die ganze Zeit darauf warte, dass du sagst ...“

„Fahren wir bitte nach Hause“, sage ich. „Zusammen.“

„Wirklich?“

„Ja. Komm bitte wieder zu mir – komm zurück nach Hause.“ Erneut muss ich weinen. Dein Vater nimmt mich in die Arme.

„Nichts lieber als das“, sagt er.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 23113

Meine Freundin Gerti

Nach langer Zeit besuche ich wieder meine alte Freundin Gerti. Sie ist mehrmals umgezogen, seit wir uns das letzte Mal sahen. „Schön, dass du hier bist, Christa“, sagt sie zur Begrüßung. Sie wirkt kaum gealtert. Während wir Kaffee trinken und Cremeschnitte essen, kommen wir auf das Thema Suizid. Ich weiß nicht, wer von uns es angesprochen hat. „Für mich ist das kein gangbarer Weg“, sage ich. „Du hast ja auch einen netten Mann, wohlgeratene Kinder und genug Geld. Warst du denn jemals in einer Notsituation?“, fragt sie. „Manche kleine Katastrophen machte ich schon mit“, erwidere ich. „Aber du bist immer durchgetaucht, und als du Luft geholt hast, war das meiste wieder gut. Bei mir sieht es anders aus“, erzählt sie. „Das erste Mal versuchte ich, durch Schlaftabletten mein Leben zu verlassen. Das klappte aber nicht.“ „Und?“, frage ich. „Das zweite Mal sprang ich aus dem 11. Stock des Rothauer Hochhauses.“ „Ja?“, frage ich. „Es hat funktioniert“, sagt Gerti. Sie lächelt.

Nun beginnt der Raum sich zu drehen. Zuerst verschwinden kleine Dinge, dann Möbel und zum Schluss meine Freundin Gerti.

Der beleuchtete Gevatter Tod in der Novembernacht

Der beleuchtete Gevatter Tod in der Novembernacht

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 23089

War

Im Krieg.
Tränen rinnen über sein Gesicht,
nass ist es wie von Wasser.
Und doch, schnell, flüchten oder schießen.
Überleben für diese Sekunde.
Die nächste vielleicht nicht mehr.

Dies bringt Tod und Verderben auf die herkömmliche Weise

Dies bringt Tod und Verderben auf die herkömmliche Weise

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 23077

Die Neue

Als der Chef ankündigte, wir würden eine neue Kollegin bekommen, erwachte ich aus meinem Dämmerschlaf. Er brabbelte von ihrem ausgezeichneten Medien-Studium an der FH und ihrer bisherigen Tätigkeit im Marketing eines Skigebiets und ich wartete ungeduldig darauf, dass er aufhörte zu sprechen, damit ich sie in aller Ruhe googeln konnte. Endlich bekamen wir jemand Neuen. Meine Kolleginnen langweilten mich.

Sie hieß Sophia, postete Fotos von sich in Santorin und vor dem Isländer Gullfoss und teilte vegetarische Rezepte mit Kichererbsen. Ich rümpfte die Nase. Vielleicht hatte ich die falsche Sophia.

Ich hatte nicht die falsche Sophia. Am Tag ihres Arbeitsbeginns kam sie mit übergroßer Brille, roségoldenen Ketten und einem Spalt zwischen den Vorderzähnen ins Büro und stellte sich strahlend bei uns vor, machte mir ein Kompliment zu meinem Tattoo am Handgelenk und lachte über die ausgelutschte Warnung einer Kollegin vor der Kaffeemaschine. Sie war nett bis zum Wegdösen. Ich verkrümelte mich schmollend auf meinen Platz.

In den nächsten Tagen beobachtete ich sie. Durch die Glaswände ihres Büros sah ich, wie sie beim Telefonieren brav lächelte, wie sie ihre Einstandsblumen fotografierte, wie sie auf dem iPhone mit zersprungenem Display herumtippte und wie sie ihre platten Wangenknochen vor Kundenterminen mit Rouge bestäubte. So selbstbewusst, wie sie herumlief, könnte man meinen, sie wäre länger hier als ich.

Ich suchte das Gespräch mit ihr. Bereitwillig erzählte sie, dass sie am Land aufgewachsen und lange Zeit bei der Landjugend und der Musikkapelle aktiv gewesen war. Ich verkniff mir das Augenrollen. Gleich würde sie ihren Freund erwähnen, der bei der Feuerwehr war und im IT-Bereich arbeitete. Stattdessen sagte sie, dass sie am Wings-for-Life-Run im Mai teilnehmen wollte. Ich sah schon die Instagram-Story von ihrem verschwitzten Grinsen und ihren neuen Adidas-Laufschuhen neben all den anderen Instagram-Storys von verschwitztem Grinsen und neuen Adidas-Laufschuhen. Ich beendete das Gespräch.

Irgendwann, als wir gleichzeitig Feierabend machten, unterhielten wir uns für ein paar Minuten draußen vor der Tür. Sie erzählte mir, dass ihre Schwester an Depressionen litt. Ich horchte auf. So etwas machte die Leute immer interessanter. Sie fragte mich, was ich so triebe in meiner Freizeit. Vorsichtig erwähnte ich die Comic Cons, auf die ich gern ging, meine Versuche im Fluid Painting und das Geigenspielen. Sie hörte mir zu und stellte Fragen. Ich schöpfte Hoffnung.

„Es glauben alle, sie sind lesbisch“, brummte eine Kollegin. „Nur, weil das jetzt cool ist. Woher wollen die überhaupt wissen, dass sie nichts von Männern wollen, wenn sie es nie probieren?“ Sophia nickte. Ich spielte mit dem Regenbogenanhänger an meinem Schlüsselbund und ignorierte sie nachher in der Küche.

An einem Montag fragte sie mich, ob ich mit ihr und zwei anderen Kolleginnen mittagessen wollte. Skeptisch stimmte ich zu. Als wir zu viert durchs Büro gingen, spürte ich diverse hochgezogene Augenbrauen in meinem Rücken.

Wir saßen in einem dieser protzigen Restaurants mit Schauküche, spiegelnden Tischplatten und violetten Samtbänken, das auf allen Foodblogs gehypt wurde. Sophia aß vegan. Die anderen beiden aßen vegetarisch. Grantig bestellte ich einen Burger. Es ging um die nächsten Urlaubsdestinationen; die eine wollte nach Sardinien, die andere nach Kroatien, Sophia nach San Francisco, weil sie in Europa „schon überall gewesen war“. Ich murmelte etwas von zwei Wochen am Bauernhof meiner Oma, wo ich malen wollte, alle taten beeindruckt und fragten mich dann nichts mehr.

Dann ging es um ihre Freunde: Gleich zwei waren im IT-Bereich, der letzte bei einer Spedition. Drei Paar Augen verdrehten sich nach oben, wenn ihre Besitzerinnen jammerten, dass die Männer nicht so ordentlich im Haushalt waren, wie sie es gern hätten. Ich schaute von einer zur anderen und wartete auf einen Hauch Individualität. Darauf, dass eine von ihnen sagte, sie wäre in einer offenen Beziehung, sie würde koreanische Gedichte lesen, sie hätte ein Jahr in Tansania gelebt. Stattdessen sagte eine nach der anderen, dass sie gern ein Haus in ihrem Heimatdorf haben wollte. Ich fragte mich, ob sie sich auseinanderhalten konnten, wenn sie sich im Spiegel ansahen. Als sie nächste Woche wieder zum Mittagessen aufbrachen, luden sie mich nicht ein.

Wenn wir miteinander redeten, redeten Sophia und ich über das Präsentationstraining, das der Chef für unser Team geplant hatte. Wir reden über Geburtstagsgeschenke für Mütter. Wir redeten über Tee mit oder ohne Zucker. Wir redeten über unsere Wochenendpläne. Sie wollte eine neue 90-Days-Fitness-Challenge beginnen. Ich behauptete, ich hätte nichts vor.

Dann kam die Weihnachtsfeier. Sophia war betrunken. Ich half ihr zu einem abseits gelegenen Tisch, brachte ihr ein Glas Wasser und ein Aspirin, das irgendjemand vorsorglich mitgenommen hatte. Sie bedankte sich. Dann begann sie zu weinen. Sie würde sich in ihrem Leben gefangen fühlen, hätte Angst, dass ihr alles zu schnell ginge, wäre gestresst von ihren Verpflichtungen und den Erwartungen ihrer Familie. Ich nickte und tätschelte ihren Arm und überlegte, wann ich wohl davonschleichen könnte. Sogar ihre Probleme waren langweilig.

Am nächsten Montag tat sie so, als wäre das Gespräch nie passiert. Ich tat es ihr gleich.

Ein paar Wochen später, in meinem Frühlingsurlaub, las ich beim Frühstück in den Online-Nachrichten von einer Siebenundzwanzigjährigen, die mit aufgeschnittenen Pulsadern ins Krankenhaus gebracht worden war. Ich aß meine Cornflakes auf und überlegte, welche Acrylfarben ich mir kaufen sollte. Als ich wieder zurück in die Arbeit kam, fehlte Sophia.

Christina König

FM4 Wortlaut 2022
Mosaik Literaturzeitschrift

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 23073

Der schreiende Soldat

Ich bin Soldat. Meine Aufgabe ist es, das Elektrizitätswerk zu bewachen. Es ist fast schon Winter. Die Stromversorgung muss funktionieren. Die Anlage wird gerade von Raketen des Grad- Mehrfachraketenwerfersystems beschossen. Ich darf meinen Posten unter keinen Umständen verlassen. Links, rechts und direkt hinter mir schlagen die Raketen ein. Eine Rakete hundert Meter vor mir. Ich kann nur schreien, um meiner Angst Ausdruck zu verleihen. Ich bin der schreiende Soldat.

Der letzte US-Soldat, Generalmajor Christopher Donahue, verlässt Afghanistan - vom 1. September 2021

Der letzte US-Soldat, Generalmajor Christopher Donahue, verlässt Afghanistan - vom 1. September 2021

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 22141

Kleinbürgers Nachtgesang

Es findet doch der Wettlauf dauernd statt!
Und jeder schweigt und tut als ob nichts wär

Ich habe diesen Wettlauf langsam satt!
Drum kauf ich mir jetzt bald ein Schießgewehr!

Dann knall ich meine Konkurrenten einfach nieder!
Dann kehrt vielleicht der Frieden endlich wieder!

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 22094