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Im Silberlicht der Angst

Dass es nichts Gutes in sich verbarg, ahnte ich schon, als ich es gestern zum ersten Mal in meinen Händen hielt. Doch das wirkliche Ausmaß des Grauens, das der Inhalt in mir auslöste, übertraf mit Abstand alle Ahnungen und Befürchtungen, die mein angstbesetztes Hirn des Nachts fantasievoll kreierte.
Gänsehaut pur. Unter Dauerbeschuss stehen sie, die feinen Härchen auf meinem Unterarm, stechen wie stolze Soldaten aus den Poren, stramm und angespannt, bis in die Spitzen, mit eisernen Gesichtern und fest entschlossen, ihre Spannung nicht zu verlieren. Ihre Geradlinigkeit. Ihre Würde. Standhaft zu bleiben und aufs Schärfste bereit zum Kampf, dem Grauen Paroli zu bieten, auch wenn das Fundament zittert und bebt. Oder vielleicht gerade deshalb.

Meine Mundwinkel, noch immer starr und vereist, im Ausdruck tiefster Abneigung verharrend und angewidert gen Kinn gezogen, in steilen Gräben, die Abgründe offenbaren, so tief, halten mit unbändiger Kraft die Lippen in Schach, ziehen sie mit dicken Tauen mit sich in die Tiefe. Ungeachtet ihrer Wunden, die noch weiter aufreißen, weil sie dem Zug, der auf ihnen liegt, nicht mehr standhalten können, eh schon ausgedörrt waren. Von ihrem Ritt durch die endlose Wüste.
Mitleiderregend schrill schreien sie nach Wasser, so habe ich Erbarmen und befeuchte sie mit meiner Zunge, schmecke Salz und Blut, das aus ihnen tropft und bin wieder im Hier und Jetzt. Auf Dr. Walds Couch. In Sicherheit.

Innerlich vertrocknet bin ich, vollkommen leer, nachdem ich alles, was in mir war, aus mir herausgewürgt habe, just als ich den Inhalt des Päckchens sah, heute Morgen, vielleicht sogar meine Seele. Falls sie überhaupt noch in mir wohnte und nicht längst über alle Berge war. Fühle nichts mehr, nur noch Angst. Immer nur Angst. Wann hört das endlich wieder auf? Wer führt diesen entsetzlichen Krieg gegen mich? Warum? Was habe ich getan?
So kann es nicht weitergehen, sonst werde ich wahnsinnig. Oder bin ich das schon? Will er das erreichen? Dass ich komplett durchdrehe?
Schon wieder zieht sich alles in mir zusammen, mein Bauch wird bretthart, schiebt mir das Würgen in den Hals. Ein Speichelsee entspringt in meinem Mund, und mir ist speiübel. Schnell springe ich auf und renne zum Klo. Will sie einfach nur loswerden, diese lähmende Ohnmacht. Die Angst. Das Pochen. Das Flattern. Die ständige Gefahr. Charlotte. Die schrecklichen Bilder von ihr in meinem Kopf. Und diesen elenden Gestank nach Tod, nach Verwesung, der in meiner Nase sitzt und mich schonungslos antreibt, mit einem lauten Peitschenknall, und ich speie und speie.

„Mein Gott, Sie sehen schrecklich aus!“, stellt Dr. Wald besorgt fest, als ich erschöpft zurückkehre, „sind Sie sicher, dass Sie nicht lieber auf Ihr Zimmer möchten? Sie sollten sich dringend ein wenig ausruhen!“
Energisch schüttele ich den Kopf und schleppe mich schlurfenden Schrittes zur Couch, auf gar keinen Fall, denke ich aufgewühlt, bloß nicht auf mein Zimmer, ich will jetzt nicht allein sein, und lasse mich wortlos auf das weiche Polster fallen.
Mein Therapeut schmeißt die professionelle Distanz über Bord, zum ersten Mal, seitdem wir uns kennen, steht auf und deckt mich fürsorglich zu, streicht mir mitfühlend über die Wangen und bringt mir ein Glas Wasser.

Mit geschlossenen Augen sauge ich seinen Duft ein, der angenehm durch meine Nase mäandert, sich dort mutig niederlässt, um den elenden Gestank nach totem Tier endlich zu vertreiben. Mit Erfolg, denn sofort werden Empfindungen in mir wach, die Lebensgeister räkeln sich, gähnen herzhaft, bereit zu neuen Abenteuern.
Verstohlen blicke ich ihn an, registriere sein attraktives Äußeres, die väterliche Ausstrahlung, die mich reizt, suhle mich in dem wohligen Gefühl, das sein Duft in mir auslöst, werde aber schon beim nächsten Prickeln zur Raison gebracht, schwungvoll eingebremst. Was soll das, Anne, mahnen die Abers und Achs, die in engen Kreisen um meinen Hals schwirren, geschickt Lassos auswerfen, um ihn zuzuziehen, bist du übergeschnappt? Du hast andere Sorgen!

Schon gut, schon gut, denke ich und vertreibe sie angewidert, Spaßverderber. Was kann ich dafür, dass sein Duft mich anspricht, inspiriert, befreit, und spüre den Luftzug, der entsteht, weil er sich umdreht und geht, und der auf angenehme Weise meine Wangen kühlt.
„Wann haben Sie das Paket geöffnet?“, fragt er mich, nachdem er hinter meinem Kopf Platz genommen hat. Seine sonst so ruhige und sichere Stimme klingt besorgt, überschlägt sich, als eilten die Worte, längst überfällig, aus ihm heraus, lösten Gedränge aus am Tor, wohlwissend, dass die Zeit knapp wird. Weil die Aufklärung drängt.
Nervös tippt er mit seinen Fingerkuppen auf die breite Armlehne seines Ledersessels und lässt ein unruhiges Schnaufen verlauten. „Die Sache läuft ein wenig aus dem Ruder“, merkt er mit ernster Miene an, „das gefällt mir nicht. Ganz und gar nicht.“
„Heute Morgen, gleich nachdem ich das Dilemma von gestern mit dem Hausmeister geklärt hatte“, beantworte ich seine Frage.
„Was meinen Sie?“, fragt Dr. Wald interessiert nach.

Kurze Stille, in der ich mich unentschlossen hin und her winde, weil ich mir nicht sicher bin, ob ich ihm wirklich davon erzählen soll. Denn ich schäme mich dafür. Ich schäme mich in Grund und Boden, weil ich meine Emotionen derartig hochkochen ließ, dass die Vernunft keine Chance mehr bekam. Auf der anderen Seite muss ich davon berichten, schließlich vermute ich, nein, ich bin mir sicher, dass das alles kein Zufall war.
Er steckt dahinter, keine Frage. Er ist hier, er ist hinter mir her, will mich kleinkriegen. Ausdrücken wie eine zu Ende gerauchte Zigarette, auch mein letztes Aufglimmen erlöschen.
Ein Räuspern im Hintergrund, unruhiges Fußgetrappel als Ausdruck seiner Ungeduld, dann seine entschlossene, angenehm tiefe, vibrierende Stimme: „Frau Heldt“, konstatiert er förmlich, „Sie werden sicherlich bemerkt haben, dass wir die Ebene eines psychoanalytischen Gespräches längst verlassen haben. Im Moment haben die aktuellen Geschehnisse absolute Priorität. Es drängt nach Handlung. Zügig!“

Ist ja gut, denke ich ein wenig gereizt, ich tue doch schon alles, was in meiner Macht steht, um die Sache aufzuklären, habe das Gefühl, an beiden Seiten zu brennen, und fühle mich genötigt zu beichten, auch wenn er gerade wie ein Lehrmeister klingt, ein wenig zu altklug für meinen Geschmack, und all sein Charme von ihm abbröselt wie der Putz von der Wand.

Anna Helene Claus
www.schreibenmitherz.de

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Seit 14. November 2025 ist dieser Roman erhältlich, unter
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www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens und auszugsweise | Inventarnummer: 25226

Schneefall

Um Punkt sechs Uhr morgens stehe ich auf. Auch diese Nacht habe ich allein auf der Couch im Wohnzimmer verbracht, und auch diese Nacht hat mich die Sorge um dich kaum schlafen lassen.

Bedrückt registriere ich das unter der geschlossenen Schlafzimmertür durchschimmernde Licht, als ich leise daran vorbei Richtung Küche gehe. Dass du neuerlich nachts das Licht eingeschaltet lässt, ist ein weiteres alarmierendes Zeichen für mich. Unweigerlich muss ich an meine Mutter denken, die ebenfalls eine Zeitlang nur bei Licht schlafen konnte. Auf mich, den damals Siebenjährigen, wirkte das irritierend, ja, bedrohlich: Erwachsene sollten keine Angst im Dunkeln haben.

Ich verzichte auf ein Frühstück, öffne die Balkontür, gehe hinaus, um draußen zu rauchen. Aufseufzend lasse ich mich in den Schaukelstuhl sinken, wickle eine Decke um mich, suche, während ich mir eine Zigarette anzünde, nach etwas Blau am Himmel, vergeblich; suche ebenso vergeblich nach etwas Leichtigkeit in mir selbst. Es gibt kein Entrinnen. Die Welt draußen spiegelt offensichtlich meine Innenwelt. Bedrückendes Grau beherrscht das Außen und lastet schwer in meinem Inneren. Dabei will ich doch vor allem jetzt, in deinem Zustand, heiter, voll Zuversicht, will der berühmte Fels in der Brandung sein.

Ich dämpfe die Zigarette aus, hole tief Atem – und atme plötzlich Schneeluft. Ja, es riecht eindeutig nach Schnee. Verwundert schüttle ich den Kopf. Ich muss mich täuschen, schließlich ist doch erst Ende September. Doch da – es beginnt tatsächlich leicht zu schneien. Aus dieser dunklen Wolkendecke so völlig überraschend zartes Weiß fallen zu sehen, wirkt sich seltsam tröstend auf mich aus. Zuversicht beginnt sich in mir auszubreiten, je länger ich die tanzenden Flocken betrachte.

Es scheint mir inzwischen unmöglich, den Blick von dem weißen Schauspiel vor mir zu wenden, unmöglich, aufzustehen, unmöglich, ins Büro zu fahren, so wie gestern mit dir vereinbart, eigentlich vehement von dir gefordert.

„Ich ertrage es nicht, dass du die ganze Zeit an mir klebst, Oskar“, hast du mich plötzlich, ohne ersichtlichen Grund, beim Abendessen angefahren. „Keine Sekunde lässt du mich allein, obwohl es dazu überhaupt keinen Grund gibt. Ich bin schwanger und nicht krank, also bitte, bitte, geh ab morgen wieder arbeiten!“

Deine Stimme ist immer schriller, immer unangenehmer, jedes deiner Worte zu schmerzhaften Stichen in meinem Gehörgang geworden, wimmernd habe ich mir schließlich die Ohren zuhalten müssen, habe dich angefleht: „Bitte, Anna, ich bitte dich, schrei doch nicht so.“

Doch du bist umso lauter geworden, hast gebrüllt, was das nun wieder solle, die Lautstärke deiner Stimme sei doch dieselbe wie immer, du hast dich hineingesteigert, wie so oft in letzter Zeit, hast das Besteck auf den Tisch geknallt, bist aufgesprungen, hast geschrien, dass das nicht mehr so weitergehe, du willst normal mit mir reden können und nicht flüstern müssen, dass die Kommunikation zwischen uns generell nicht mehr funktioniere, dass meine Harmoniesucht völlig überzeichnet und abnormal sei, ich sämtlichen, auch völlig harmlosen Auseinandersetzungen panisch ausweiche, vor jeder noch so kleinen Reibung flüchte, dass du – ja, dass du meine Art nicht mehr erträgst, meine übertriebene Fürsorge, meine unerträgliche Sanftheit, meine ständige stille Anwesenheit – und dann, als ich dich beruhigen wollte: „Anna, bitte, reg dich doch nicht so auf, denke an unser Baby“, hast du sogar vor Wut ein paar Bücher aus einem Regal gerissen und zu Boden geschleudert.

Wieder fällt mir die Parallele zu meiner Mutter auf, denke an deren Gereiztheit und Unberechenbarkeit. Manchmal, wenn das Nachbarskind zu Besuch war und wir in meinem Zimmer spielten, hat sie uns lächelnd Saft und Kuchen gebracht, war herzlich und fröhlich, doch nur Minuten später hat sie die Tür aufgerissen und uns böse angebrüllt, dass wir gefälligst leiser sein sollen, sie halte diesen Lärm nicht aus. Und wie oft, wenn ich ihr irgendetwas erzählen wollte, hat sie mich hysterisch angeschrien: „Sprich mich jetzt ja nicht an, Oskar! Lass mich in Ruhe, geh weg von mir, ich will allein sein“, um sich dann kurz darauf weinend bei mir zu entschuldigen.

Mir ist kalt, ich wickle die Decke enger um mich, denke wieder an dich, an den schönen Beginn unserer Beziehung, und daran, dass du dich doch gerade wegen meiner ruhigen Art, die dir nun so missfällt, in mich verliebt hast. Endlich jemand, der nicht ständig diskutieren und recht haben muss, hast du damals gesagt, endlich jemand, der zuhören kann. Noch vor wenigen Monaten verliefen unsere Tage harmonisch – nie hast du Streit mit mir gesucht, im Gegensatz zu jetzt.  Wie sehr du dich doch verändert hast, speziell in den letzten Wochen. Wieder steigt heiß Sorge um dich in mir auf, und ich fasse den Entschluss, mich weiterhin im Büro krankzumelden, bei dir zuhause zu bleiben, auf dich achtzugeben, auch wenn du das nicht möchtest. Auf keinen Fall werde ich dich alleinlassen. Der Fehler von damals wird sich nicht wiederholen.

Damals – da hatten die Eltern alles für eine Woche Winterurlaub vorbereitet, das Hotel war reserviert, die Koffer gepackt, doch dann, kurz vor der Abfahrt, hat die Mutter zum Vater gesagt: „Sei mir nicht böse, aber ich möchte zuhause bleiben. Ich bin müde, schrecklich müde, ich brauche Ruhe – brauche dringend ein paar Tage nur für mich. Bitte fahrt ohne mich, lasst es euch gutgehen in den Bergen, du und Oskar.“

Als der Vater gezögert hat, ist sie wie so oft wütend geworden: „Jetzt lasst mich doch endlich mal allein! Du und Oskar, ihr klebt ja die ganze Zeit über förmlich an mir. Und immer deine unnötige Sorge um mich, das macht mich fertig! Kapier doch endlich: Ich bin schwanger und nicht krank!“

„Stopp. Aus. Stopp“, sage ich jetzt halblaut, und die inneren Bilder der Vergangenheit verblassen und verschwinden folgsam, ich schließe die Augen, ziehe die Decke bis übers Kinn, schrecke auf, als du plötzlich mit wirrem Haar im Morgenmantel vor mir stehst. Offensichtlich bin ich trotz der Kälte eingenickt.

„Was ist mit dir, warum bist du nicht im Büro?“ Du klingst müde, abgekämpft.

„Ach, Anna – also, ich bleibe doch noch zwei, drei Tage zuhause. Ich gebe im Büro Bescheid, das ist kein Problem“, stottere ich, sehe, wie du deine Lippen zusammenpresst, die Stirn in Falten legst.

„Aber was sagst du zu diesem Wunder: Schneefall im September.“ Ich werfe die Decke von mir, stehe auf, strecke meine Hand über die blühenden Balkonpflanzen, um ein paar Flocken aufzufangen, sehe hinunter in den glitzernden Innenhof. „Der Schnee bleibt sogar liegen, schau!“

Du schaust nicht. Du starrst mich an, lange und sonderbar fassungslos, dann fauchst du: „Jetzt spinnst du also komplett!“

Du wendest dich ab, gehst hinein. Ich folge dir, doch du durchquerst schnell die Küche, gehst, die Tür vor mir zuknallend, ins Wohnzimmer. Deprimiert höre ich dich schimpfen: „… vollkommen übergeschnappt … wird immer ärger, redet von Schnee bei diesem schönen Wetter …“

Dann ist kurze Zeit Stille, und nun vernehme ich gedämpft deine veränderte, ruhige Stimme: „Hi, ich bin’s, Anna …“

Mehr verstehe ich nicht, offensichtlich bist du telefonierend weiter ins Nebenzimmer gegangen. Kurz darauf kommst du zurück, würdigst mich keines Blickes, während du eine Tasse aus dem Küchenschrank nimmst, den Wasserkocher einschaltest, dann Tee aufgießt und sagst: „Oskar, ich habe vorhin Mark angerufen. Wir haben Glück, ein Patient hat abgesagt, um zehn Uhr können wir zu ihm in die Praxis.“

Das kommt völlig unerwartet. Ich muss mich bemühen, meine Erleichterung nicht allzu offen zu zeigen. Ich habe dich unterschätzt: Es ist dir also sehr wohl bewusst, wie gefährdet du bist. Sicher hat es dich enorme Überwindung gekostet, Mark anzurufen, deinen Cousin, der ein paar Straßen von uns entfernt seine psychiatrische Praxis hat.

„Ich finde das großartig von dir“, sage ich und bemühe mich, meine Stimme fest und nicht allzu bewegt klingen zu lassen. „Ich meine, eben auch im Hinblick auf unser Baby.“

Du meidest meinen Blick, nippst nervös an deinem Tee, gehst unruhig hin und her.

„Ich ziehe mich dann mal an, wir sollten bald losgehen“, sagst du, verschwindest im Badezimmer. Während ich mich anziehe, nehme ich mir fest vor, dir eine Stütze zu sein, vor allem nichts zu tun oder zu sagen, was dich reizen könnte.

Als du jedoch kurze Zeit später im dünnen Kleid und Sommerschuhen vor mir stehst, kann ich mich nicht zurückhalten und sage so sanft wie möglich: „Entschuldige, Anna, ich will dich sicher nicht bevormunden, aber du hast doch nicht ernsthaft vor, bei diesem Wetter so gekleidet rauszugehen?“

Ich deute zum Balkonfenster, hinter dem es unentwegt schneit. Ich selbst habe mir dem Wintereinbruch angemessen Daunenjacke und Stiefel angezogen.

Deine grüne Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen. „Es ist September, es ist warm draußen, blauer Himmel, herrlichster Sonnenschein. Zieh du an, was du willst, Oskar, aber bitte, bitte, sag ja nichts Verrücktes mehr von Schnee, sag am besten gar nichts mehr, bis wir bei Mark sind!“

Du schnappst deine Tasche, öffnest die Wohnungstür. Ich bin versucht, dir zu widersprechen, greife nach meinem Smartphone, um wetter.com einzugeben und dir die frühwinterlichen Tatsachen, die du einfach leugnest, die du ins Gegenteil verkehrst, in digitaler Form zu präsentieren, denke dann aber an deinen Zustand, an das Baby, und sage nichts, binde mir einen Schal um und folge dir die Treppe hinunter.

Unten im Eingangsbereich wartest du, legst mir kurz deine Hand auf die Schulter.

„Ach, Oskar“, sagst du nun leise. „Ich möchte nicht ständig mit dir streiten, mir ist – mir ist einfach alles zu viel. Wir werden mit Mark reden, er wird uns hoffentlich helfen können. Gehen wir jetzt.“

Ich nicke dir betont aufmunternd zu und öffne die Haustür, was mir Mühe bereitet, denn ein starker Schneesturm wirft sich dagegen, und weht mir eiskalt ins Gesicht, als ich nach draußen trete. Ich blinzle, kann kaum die Augen offenhalten, teils wegen dem Sturm, teils wegen dem strahlenden Weiß, das die ganze Umgebung bedeckt und mich blendet. Du gehst vollkommen unbeeindruckt von all dem an mir vorbei, obwohl du beinahe bis zu den Knöcheln im Schnee versinkst, hältst deinen Kopf aufrecht wie immer, als ob du den eisigen Wind nicht spüren würdest, nicht das Nass, das er dir ins Gesicht, auf dein Haar, in deinen Nacken weht.

„Was ist denn? Nun komm doch!“, drehst du dich zu mir.

Ich schlinge den Schal enger um meinen Hals, stemme mich gegen den Sturm und stapfe zu dir. Der Schnee knirscht laut unter meinen Schuhen.

„Wahnsinn, nicht? Plötzlich Winterwetter!“, entschlüpft es mir. „Frierst du nicht, Anna? Soll ich dir eine Jacke holen?“ Angst um dich steigt in mir auf. Ich kann dich kaum ansehen in deinem dünnen Kleid, das nass an deinen Beinen klebt.

„Oskar, ich warne dich: kein Wort mehr übers Wetter! Mir ist warm, ich brauche keine Jacke“, ist deine böse Antwort, du drehst sich weg, gehst weiter.

Verzweifelt bemühe ich mich, mit dir Schritt zu halten. Ein Radfahrer fährt vorbei. Wie kann man nur zu diesen Bedingungen mit dem Rad unterwegs sein, in kurzen Hosen noch dazu?  Ich verstehe die Welt nicht mehr. Ich muss mich Schritt für Schritt vorwärtskämpfen, der Sturm lässt nicht nach, stellenweise ist es auch sehr rutschig. Unter der Schneedecke liegt anscheinend eine gefährlich glatte Eisschicht, sodass ich alle Mühe habe, das Gleichgewicht zu halten. Das Tröstliche, das der Schneefall am Morgen in mir ausgelöst hat, hat sich längst in Bedrohliches gewandelt. Wie gerne hätte ich dies einfach ausgesprochen. Früher hättest du mich verstanden, hättest meine Gedanken aufgegriffen und sie weitergesponnen, nun aber geht du ein paar Meter vor mir, gefühllos, eine Fremde, die weder Kälte und Nässe noch meine stetig wachsende Angst und Verzweiflung zu spüren scheint.

Als ich um die Ecke biege, passiert es. Ich rutsche aus, lande mit dem Gesicht voran unsanft im Schnee. Ich höre jemanden schreien, laut und anhaltend schreien. Ich halte mir die Ohren zu, presse mein Gesicht in den Schnee. Und jetzt steigt unaufhaltsam und eiskalt die Erinnerung in mir auf. Genauso wie ich jetzt daliege, der Länge nach, das Gesicht im Schnee, genauso ist meine Mutter gelegen, genauso haben mein Vater und ich damals die Mutter vorgefunden. Nach den Tagen in den Bergen das Heimkommen in ein verlassenes Haus, auf dem Küchentisch leere Tablettenschachteln, leere Schnapsflaschen. Hinterm Haus, im schneeweißen Garten, die Mutter – so ruhig, so still, so alleine – die Mutter, in einem viel zu dünnen Kleid regungslos auf einer Schneedecke liegend. Ich sehe vor mir, wie mein Vater sich über sie beugt, panisch immer wieder ihren Namen ruft, wie er hektisch ins Haus läuft, drinnen den Notruf wählt, sich gleich darauf wieder neben die Mutter in den Schnee kniet, laut schreit und weint, sehe mich starr und stumm daneben stehen und denken: ‚Nein, Papa, hör auf zu schreien, Mama möchte doch ihre Ruhe haben‘, sehe mich still auf meine Mutter schauen, auf den Schnee, der sanft zu fallen beginnt und mich seltsam tröstet, auch noch, als mich irgendjemand in die Arme nimmt und wegträgt …

Aber jetzt, jetzt –, registriere ich plötzlich, jetzt bin ich nicht still, jetzt schreie und weine ich, ähnlich wie damals Vater, verzweifelt und laut. Ja, derjenige, wegen dessen markerschütternden Schreien ich mir die Ohren zuhalten muss, bin ich selbst.

Von weit weg höre ich eine fremdklingende erschrockene Stimme: „Oskar! Oskar, sag mir, was ist mit dir? Komm, steh bitte auf, ich stütze dich. Hast du dir wehgetan?“

Du? Ja, du bist es. Anna. Ach, du weißt ja nicht, warum ich schreie und nicht damit aufhören kann, du kannst nicht wissen, dass mich durch meinen Sturz in den Schnee die Erinnerung soeben dermaßen überwältigt hat, dass ich schreien muss wie noch nie in meinem Leben, mich nicht unter Kontrolle habe. Nie habe dir davon erzählt, kein Wort von meiner toten Mutter im Schnee, nichts von ihren Depressionen, ihrer Schwangerschaft – nur dies: „Meine Mutter hatte einen Unfall als ich sieben Jahre alt war.“

Du hilfst mir auf, sagst nichts, als ich mir schließlich benommen den Schnee, den Schreck, die Erinnerung von der Kleidung klopfe, nimmst mich liebevoll stützend in den Arm, als wir langsam und schweigend weitergehen, jeder Schritt eine Qual für mich.

Zitternd nehme ich meinen nassen Schal ab, ziehe die schneeschwere Jacke aus, als wir endlich das Vorzimmer von Marks Praxis betreten. Du stehst neben mir, wischt dir mit einem Taschentuch die Nässe aus dem Gesicht, ich sehe dich an – aber nein, das ist kein Schnee, das sind Tränen, die du wegtupfst. Mark kommt uns entgegen. Hinter ihm dröhnen in unangenehmer Lautstärke Stimmen aus einem Radio, automatisch halte ich mir schützend die Ohren zu. Dennoch dringt eine fröhlich klingende Frauenstimme in meinen Gehörgang:

„Die Wetteraussichten: Es ist und bleibt ungewöhnlich mild heute, wolkenloser Himmel, Sonnenschein, bis zu 28 Grad.“

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 25218

 

 

Helden

Es heißt, die in den Bloodlands sterben,
sie Gott gerufen hätt’.
Und mit Barmherzigkeit würde der werben,
um den, der sich dem Tod hingeb’n tät’.

Die Friedhöf’ wachsen schnell, so wie die Bäume.
Die Freiwilligen geh’n scheint’s nicht aus
Verkrüppelt oder tot, und ohne Träume,
es kommen alle nach der Schlacht nach Haus.

Den Söldnern ist das Leben wenig wert.
Der Tod, sagt man, der soll dort gar nichts gelten.
Der, der sein Leben hingibt, wird geehrt.
Am Ende sterben alle, eben wie die Helden.

Denn wer sich opfert, der reinigt sich von Sünden,
lügen die Priester, in scheinheil’ger Moral!
Für Freund und Vaterland zu sterben, finden
dieselben, wär Pflicht, und allemal normal.

Der nichts besitzt, wie leicht geht der!
Daheim schimmeln die Wände.
Der Ofen kalt, der Kühlschrank leer,
der Weg zur Front, das ist das Ende.

Am Bahnhof eine letzte Zigarette.
Die Antwort auf warum, ist schroff.
Auch wenn man was zu sagen hätte,
besser man schweigt, sonst gibt es Zoff.

Hier bleiben, das heißt nichts verdienen,
doch dafür trinkt man umso mehr.
Denn unterzeichnen bringt Zechinen,
und sein Säckel bleibt nicht leer.

Man kriegt fürs Morden jeden Monat Lohn.
Und hast du Schulden, oder du bist kriminell,
dann gibt’s ’ne Prämie. Dem Tod zum Hohn.
Sie zwingen dich zu gehen, und das ganz schnell.

Es tröstet die Mama den Jungen,
für diese Tat stirbst du als Mann.
Zur Witwe eines Helden
wird deine Gattin dann.

Und die Daheimgebliebenen sind stolz
auf die, die für sie anstelle sterben.
Und jeder sagt, ach Gott, ich wollt’s,
bloß keine Zeit, mich zu bewerben.

Wir haben keine Angst vorm Tod,
der Tod ist unausweichlich.
Noch ehe ihnen Elend droht,
nicht nur durch Schnaps, den gibt es reichlich.

Und, danke schön für eure Söhne,
der Kriegsherr winkt und zynisch lächelt.
Kein Wort von Schmerz, höchstens Gestöhne.
Man schweigt aus Tradition. Ein andrer röchelt.

Nur in der Hauptstadt wird das Sterben leicht verdrängt.
Der Propagandist, der feiert, wie der Profiteur.
Sie alle trinken auf das Leben,
Krimsekt, und es genießt der Connaisseur.

Hier tut der Tod nicht weh, wie an der Front.
In der Provinz endet das Leben oft mit dreißig.
Am Schlachtfeld klappt es meistens prompt.
Wertlos, verheizt, so endet es vorzeitig.

Man liegt im Sarg, so aufgebahrt, vor Langeweile,
zur Probe, quasi nur für kurze Zeit.
Und eine Grabsteinkollektion von einer Meile,
die inspiziert man gern, entspannt, im Cocktailkleid.

Doch hier, da macht man Selfies, in mit Velours geschmückten Särgen,
Chopin liefert den Trauermarsch dazu.
Tam, tam ta tam, ta ti, ta ta, ta ta, ta tamm!
Davor der Muskelprotz posiert, derweil die andren sterben,
mit Teufelshorn und Engelsflügel, als gäb es kein Tabu.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 25203

Schnitter Tod

Ich bin der Schnitter, der heißt Tod! Und alle fürchten meine Klinge.
Zu jeder Tageszeit bereit, auf dass sie in die Körper dringe.
Mir ist der Abend grad so lieb als wie der Morgen.
Und wer sich in den Weg mir stellt, der hat nie wieder Sorgen.
Wer liegen bleibt, ist selber schuld, er hätte fliehen können.
Der meinen Motor schon von Weitem hört, davon müsste er rennen.

Da fallen Köpfe, Glieder und was sonst ins feuchte Gras sich bettet.
Wer nur verletzt dort liegenbleibt, der wird nicht mehr gerettet.
Auch wenn sich noch bewegen Bein und Kopf und Arm,
ein kurzer Blick genügt, ein letzter Streich, das Blut, das ist noch warm.

Ich bin ein wahrer Meister meines Fachs und in der Kunst des Minimierens,
und achte nicht, ob stark, ob schwach, beim Werk des Dezimierens.
Und wenn ich fertig bin, so ist um mich ein einzig’ großes Grab.
Dann zieh ich meine Stiefel aus und stell den Rasenmäher ab.

Copyright: Norbert Johannes Prenner
Copyright: Norbert Johannes Prenner

Norbert Johannes Prenner (Text und Grafik)

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 25179

Heimat, fremde Heimat

Ich wusst’ mir eine Heimat,
da wo die Sonne wärmt’ das Herz.
Da wo die Blätter des Parteibuchs
rauschten, damals, an jenem Tag im März.

Da wo die Lehrer und die Pfaffen
sich laut ins Fäustchen lachten, hell!
Da wo die Wunden offen klafften,
streuten Salz sie drauf, und das ganz schnell.

Die Leut’ müssten erzogen werden,
sonst wird aus ihnen sicher nichts.
Der Prügel macht folgsam die Herden.
Des Führers Ruf. Des Todes, angesichts.

Die Hand erhoben, wird gegrüßt.
Tut’s wer nicht gleich, ich sag, der büßt!
Die Sippe haftet mir, auf Ehr’!
Den Kerker bewacht das Maschinengewehr!

Wer nicht mit ihnen, der war dagegen.
Solche Leut’ kannte man gleich,
Die ließ man steh’n, bei Nacht, im Regen.
Verfolgt. Und durch Enteignung wurd’ man reich.

Ich wusst’ mir eine Heimat,
da wo noch Kindheitsträume lebten,
vor Sehnsucht, nach dem Eichenblatt.
Wo Blut und Untaten an Händen klebten.

Wo der, der sich dagegen wehrt’,
der Böse war, und nicht geehrt.
Die wahren Helden war’n die Täter.
Der Mann im Widerstand – Verräter!

Da wo der Nachbar einstmals auf uns schoss.
Immer noch Nachbarn. Jetzt sind wir groß
und üben leis’ die Kunst übers Vergessen.
Was damals war, mag man heut’ kaum ermessen.

Da wo die Hoffnung nie vergeht,
weiß ich mir eine Heimat.
Auch wenn das Wort für etwas steht,
das damit nichts gemein hat.
Ist manchmal nah und manchmal weit entfernt.
In meinem Herzen trag ich sie.
So hab ich es gelernt.

 (Im Gedenken an meinen Vater)

Copyright: Norbert Johannes Prenner
Copyright: Norbert Johannes Prenner

Norbert Johannes Prenner (Text und Grafik)

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 25146

Jugendgewalt

Du meinst, Jugendgewalt ist männlich?
Na klar, sieht ihnen wieder ähnlich.
Am häufigsten sind es oft Knaben,
die Probleme mit dem Ego haben.

Sie sind am stärksten, wie man meint,
gruppendynamisch, wenn vereint.

Es lernt ein Junge von der Pike
den Unsinn rasch von seiner Clique.
Doch Einzelgänger, ich sag’s ehrlich,
scheinen mir nicht ungefährlich.

Und eines ist wohl allen gleich,
im Öffentlichen liegt ihr Reich.
Im Häuslichen begeh’n die Alten
ganz unbemerkt ihre Gewalten.

Angst vor denen haben Frauen,
Ältere werd’n kaum verhauen.
Die Jugend sucht nach ihrem Opfer,
meist unter sich. Hab’n die ‘nen Klopfer?

Und wo des Vaters Ohrfeig’ knallt,
liegt oft der Ursprung der Gewalt.
Familienleben dissonant,
Jugend außer Rand und Band.

In der Schule nur als Gast,
bürgt im Leben leicht für Knast.
Aggressiv und abnormal,
erhöht die Delinquentenzahl.

Mehrfachtäter schaffen leicht,
was so für die Statistik reicht.
In Lebenswelten, schwach erhellten,
Gewalttaten, die dort oft gelten.

Nur allzu groß ist jene Kluft,
die Arm und Reich daneben schuf.
Was kann aus armen Schluckern werden,
bei dieser Konkurrenz auf Erden?
Die Schlinge zieht sich eng zusammen,
bleibt wohl nur eins, sie wegzurammen.

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Norbert Johannes Prenner (Text und Grafik)

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 25128

 

Zensur

Pass auf, sie woll’n dich kontrollieren,
dich behindern, ausquartieren
aus deiner Gedanken Reich.
Hier, und jetzt, womöglich gleich.

Versuchen dich zu unterdrücken,
sehen ihren Plan missglücken
dich zu formen und zu kneten,
am liebsten möchten sie dich treten.

Hassen deine Äußerungen,
war’n sie allzu sehr gelungen,
über ihre Machenschaften,
was sie ordentlich erschreckt,
und sie fühl’n sich aufgedeckt.

Streichen deine Publizierung
restriktiv in ihrer Führung.
Nutzen staatliche Instanzen
mittels Druck, durch ihre Schranzen.

Massenmedien, frei zugänglich,
eingeschränkt und unverfänglich
in neuen Kontext gepresst,
wie’s beliebt, so steht es fest.

Den Diskurs zu kontrollieren,
Wettbewerb zu suspendieren,
jedes Mittel ist erlaubt,
wird an der Zensur geschraubt.

Ziel ist es, die bloßen, nackten
Inhalte und ihre Fakten
im Sinne ihres Geist’s vernichten
und hernach dich hinzurichten.

Dazu kommt, dass die Gerichte
die Zensuren und Berichte
über die Zensur verbieten,
weil sie ihr System verrieten.

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Copyright: Norbert Johannes Prenner

 

Norbert Johannes Prenner (Text und Grafik)

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 25124

Wacht auf, wacht auf!

Milliarden können es nicht schaffen,
hört, und staunt, von einem Affen,
sich von diesem zu befreien?
Wenn’s nicht wahr wär, echt zum Schreien.
Ein Phänomen nur, und das zählt:
Gottverdammte Männerwelt!

Lassen uns tyrannisieren,
schlagen, treten, schikanieren,
von ehemals Spitzeln und korrupten,
wie sich später bald entpuppten,
Geisteskranken und Agenten,
spiel’n mitunter Präsidenten.
Ist er erst einmal gewählt,
keiner sein Versprechen hält!
Gottverdammte Männerwelt!

Kriminelle Kleptokraten,
die das eig’ne Volk verraten.
Lügen, stehlen und missbrauchen,
die, wenn’s eng wird, untertauchen.
Blutrünstig, korrupt und mies,
wählt sie nicht, sind alle fies!

Unreif wär’n die Leut’, sag’n die,
starke Führung brauchen sie.
Prügel müsst dem Volk verschreiben,
die nicht hergehör’n, vertreiben.
Mag ertragen, wem’s gefällt.
Gottverdammte Männerwelt.

Dann also schnallt die Gürtel enger,
macht den Kerlen Angst und bänger,
werft sie auf die Scheiterhaufen,
haltet sie, lasst sie nicht laufen!
Tut ihnen dasselbe an,
das, was sie euch angetan.

Lasst sie eure Schmerzen spüren,
die ihnen schon längst gebühren,
so, wie sie euch oft gepeinigt,
gehasst, gefoltert und gesteinigt.
Hängt sie auf, am nächsten Ast,
so viele von ihnen, bis es passt!

Herunter dort vom gold’nen Sessel,
legt sie allesamt in Fessel!

Heraus aus der gold’nen Limousin’,
Vetter, Onkel und Cousin
Zündet diesen Haufen an,
dass er nichts mehr anstell’n kann.

Das Lametta reißt herunter,
Kopf ins Wasser, taucht sie unter.
wie sie es mit euch getan.
Bloß nicht zaudern, spuckt sie an.
Prügelt sie, bis dass es gellt!
Gottverdammte Männerwelt!

Selbst der Wunsch nach Macht den Kindern,
wäre besser zu verhindern.
Schon die Kinder spielen Krieg,
krank machend verfluchter Sieg!

Vorbilder sind weder Schiller,
Goethe nicht, sondern Godzilla.
Irgendein brutaler Scheiß,
und einer, der alles besser weiß.
Immer Macht und Ruhm und Geld:
Gottverdammte Männerwelt!

Worte auf Papier verschwendet,
all die Jahre, nichts beendet.
Alles fängt von Neuem an,
weil man sich nichts merken kann.
Einerseits zu blöd zum Lesen,
dann so tun, wär nichts gewesen.
Weil der Mensch nicht anders kann,
fängt er stets von vorne an,
der, dumm gebor’n und nichts behält,
in der verdammten Männerwelt.

So sucht nach geistigen Eliten,
solche, die euch Hoffnung bieten,
selbstlos, klug und auch gerecht!
Einen mit Bildung und Gefühl,
keinen, der macht, was nur er will!

Und seht euch vor, wen ihr anheuert,
nicht wieder einen, schwanzgesteuert,
mit viel Muskeln, ohne Hirn!
Bietet solchen jäh die Stirn!

Frauen schätzen Leib und Leben,
weil sie es sind, die’s schließlich geben.
Nichts davon versteht ein Mann,
weil er sich’s nicht vorstell’n kann.
Foltern Frauen oder morden,
rücksichtslos, wie Männerhorden?
Die Welt bedroh’n, zu lange schon,
bloß Kerle, voll Testosteron.
Wir brauchen wen, der zu uns hält,
nicht die verdammte Männerwelt!

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 25110

 

 

 

 

 

 

Männerhölle

In den Unruhstand gerettet,
gleich mal seh’n, wohin man jettet,
jedoch davor noch eine Hürde.
Ob man dennoch nicht mal würde,
zur Gesundenuntersuchung geh’n?,
meint das Weib, du musst versteh’n,
ich will einen fitten Alten, am Strand,
und überhaupt,
nicht nur bloß zum Handerlhalten.

Männer sind ja, wie man kennt,
vor Beratung resistent.
Sollt’ ich meinen Stand verraten?
Lieber ins Kaffeehaus waten?
Besser noch, ins Kino geh’n?
Doch mein Hasi riecht den Braten.
Den Befund? Den will sie seh’n!

Cowboyschritt hin zum Labor.
Enge Jeans und Stiefeletten,
wie Clint Eastwood, täuscht man vor,
Unrasiert würd’ man auftreten,
hart und rau. Oui, je suis d’accord!
Da unten mal für Ordnung sorgen,
wie Kilgore, bei Coppola.
Lieutenant Colonel glaub ich?
Griff ans Gemächt, na hoppala!

Beim Blutdruck fragt die Laboröse,
was ist das denn für ein Getöse?
Jetzt sagen Sie, wos homma do?
Anwort; Nix, is immer so!
Bloß nichts zugeb’n, wär ja g’lacht,
dass man sich noch Sorgen macht!
Erleichtert geht man auf ein Bier,
Prostata! Drauf trinken wir!

Auf diesem Mail hier steht kein Kitsch,
ernstzunehmende Messitsch!
Geht recht hart an den Humor.
Roter Marker beim Tumor!
Was zum Henker steht geschrieben?
PSA, mit Nummro sieben?
Herz rutscht hurtig in die Hose.
Nur ein Griff zur off’nen Dose
bringt,
Linderung in höchster Not.
Grauenhaft, was sich hier bot!
Das zu lesen, jetzt und hier!
Prostata! Drauf trinken wir!

Die Frage ist, was kann man tun?
Hasi steht nur ratlos rum.
Vielleicht einmal paar Freunde fragen,
hören, was Erfahr’ne sagen.
Innsbruck wär der heiße Tipp!
Dorthin führt der nächste Trip.
Eastwoodgang scheint längst passé.
Schauspiel offline, waß ma eh.
Gang sieht aus nach Kreuze kriechen,
Einstellmodus Richtung Siechen.

In Innsbruck trifft ein Radiologe
schon nach kurzem Dialoge
rasch auf eine heikle Stelle,
von der er schließlich hielt,
dass sie zu beachten gilt.
Er überweist, mir vis-à-vis,
mich zu einer Biopsie,
wobei er hofft, von mir zu hören
um die Sache abzuklären.

Banges Warten im Spital,
Gleich beginnt das Infernal.
Die Position im birthing stool
is’ alles andere als cool.
Sechzehn superschnelle Pfeile
schießen, sehr zu meinem Leide,
tief in meine Eingeweide.
Stundenlang dauert der Schmerz,
noch danach, ganz ohne Scherz.
Schon seh ich meinen Stern im Sinken,
Prostata! Drauf woll’n wir trinken.

Bei Therapist in shabby chic,
hab ich leider gar kein Glück.
Unverblümt macht sie mir klar:
Gleason-Score, Wert drei sogar,
general anesthesia.
Photonendosis volles Rohr,
das kommt mir ziemlich komisch vor.
Worin frag ich, liegt hier der Sinn?
Hinterher is alles hin.
Artig sag ich: Dankeschön!
Bye, bye, bis bald, auf Wiederseh’n.
Keine Sekunde bleib ich hier.
Prostata! Drauf trinken wir!

Geht’s nicht weiter, wird’s nicht besser,
sucht man nach einem Professor.
So einer ist rasch gefunden.
Der verrechnet nach Sekunden
und der Deal wird rasch verhandelt,
Gleason drei wird nicht behandelt!
Freu mich, da gibt’s eine Chance,
nämlich, active surveillance.

Schnell vorbei ist brav und bieder,
es erwacht Clint Eastwood wieder.
Auf dem Weg hierher es gab,
wie gerufen, auch ein Pub.
Tisch und Hocker vor der Tür,
Prostata! Drauf trinken wir!

Nun sind fast zwei Jahr’ vergangen,
und Corona abgefangen.
Wieder geht man ins Labor.
Scheiße! Nun steht elf davor!
Vor der Elf steht der Professor,
seine Worte, like Kompressor.
Herz klopft wild, mein Kopf wird rot,
in zwei Jahren sind Sie tot!
Wenn wir nicht sofort was tun,
werden Sie auf ewig ruh’n.
Angst sitzt in den Eingeweiden,
sehe schon mein End’ erleiden.
Im Kopf geht’s wie im Kreis herum!
Alles umsonst? Es ist zu dumm!
Weib, Kind und Studium.
Grad jetzt, wo fern die Freiheit rief,
nun droht des Todes fieser Mief.
Wie’s weitergeht? Am End’ kein Licht!
Prostata! Wir trinken nicht.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 25077