Es dämmert, und der Regen wird stärker. Müde und gereizt halte ich unter dem schützenden Vordach des Firmengebäudes nach dem bestellten Taxi Ausschau. Der Arbeitstag mit den Berliner Kolleg:innen ist anstrengend verlaufen. Ich hadere innerlich mit mir selbst. Warum nur habe ich nicht für diese Nacht ein Hotelzimmer gebucht? Dann könnte ich mich jetzt erholen, könnte morgen ausschlafen, um dann ausgeruht nach Wien retour zu fliegen. Ich denke an Marie, an ihre leise Stimme vorhin am Telefon, denke an die Entfremdung zwischen uns – schon länger diese Entfremdung, die sicherlich zum Großteil aufgrund meiner vielen Geschäftsreisen, meiner tage- und nächtelangen Abwesenheiten entstanden ist.
Ach, als ob diese jetzige lächerlich vierzehn Stunden frühere Heimreise alles wieder gutmachen könnte!
Als das Taxi endlich vor mir hält, eile ich im Laufschritt durch den strömenden Regen zur Hintertür, öffne sie und setze mich aufatmend, den Aktenkoffer neben mich schiebend, auf den Rücksitz. Kaum habe ich die Tür geschlossen, gesellt sich zu meiner schlechten Laune zusätzlich ein ungutes Gefühl. Ein Gemisch aus Traurigkeit, Wut und Unsicherheit steigt in mir hoch. Noch bevor ich seine Stimme höre, und erkenne, dass diese diffusen Emotionen ihren Ausgangspunkt in ihm, dem Taxifahrer, haben – noch bevor sich unsere Blicke im Rückspiegel treffen, weiß ich, wer er ist.
Faris. Eindeutig Faris. Ich erkenne ihn an seiner Augenpartie, den dichten Augenbrauen, an seinem Blick, der mich im Spiegel mit demselben spöttischen Ausdruck trifft wie damals.
„Zum Flughafen also“, sagt er gelangweilt, und ich räuspere mich zustimmend.
Er fährt langsam los. Seine hellen Augen lassen nun von mir ab, doch seine obere Gesichtshälfte ist nach wie vor in meinem Blickfeld. Ich, eingeklemmt zwischen meinem Aktenkoffer und meinen Emotionen, bewege mich nicht. Zum Glück scheint Faris mich nicht erkannt zu haben.
‚Durchhalten“, spreche ich mir innerlich gut zu, „du musst nur knappe zehn Minuten bis zum Flughafen durchhalten …“
Faris richtet den Rückspiegel, und wieder durchbohrt mich sein Blick. Ich sehe, wie er eine Augenbraue hochzieht, halte die Luft an, doch er sagt kein Wort. Wir fahren durch eine Unterführung. Im Schutz der Dunkelheit rutsche ich unauffällig zur Seite, hinter seinen Vordersitz ans Fenster, schließe erschöpft die Augen. Ungewollt taucht die Szenerie, die sich vor knapp zwanzig Jahren abgespielt hat, in mir auf.
Paradoxerweise trafen sich auch damals unsere Blicke in einem Spiegel. Ich saß, eine Flasche Bier in der Hand, gegenüber einer verspiegelten Zimmerwand, auf dem Parkettboden in Lukes Zimmer. Luke war Balletttänzer, darum die Spiegelwand.
Keine Ahnung mehr, warum ich so saß, mir selbst gegenüber – offenbar wollte ich meinem Elend ins Gesicht blicken. Es war nämlich Maries Abschiedsfeier. Noch immer konnte ich es nicht fassen. Marie zog tatsächlich aus. Zu ihm! Zu diesem Faris nach Berlin. Von einem Tag zum andern! Völlig überhastet hatte sie dies entschieden.
Über ein Jahr lang hatten Luke, Marie und ich uns die Wohnung geteilt. Ebenso lang war ich in Marie verliebt. Seit der Sekunde, als sie aufgrund Lukes und meiner Zeitungsannonce: „Mitbewohner/in für 3er-WG gesucht“, hereingeschneit und noch am selben Tag bei uns eingezogen ist, war ich von ihrem Wesen wie magisch angezogen: diese Mischung aus resolut und warmherzig, sensibel und stark, geheimnisvoll und redselig. Ihr Lachen. Und wie schön sie war! Ich war sehr unsicher damals, wagte nicht, ihr zu sagen, wie sehr sie mir gefiel. Doch der richtige Zeitpunkt würde kommen, davon war ich überzeugt. Und immerhin: Innerhalb kürzester Zeit war ich Maries Vertrauter, ihr bester Freund geworden, wie sie mir immer wieder beteuerte.
Damit war Schluss, als sie Faris kennenlernte. Sie sprach nur mehr von ihm.
„Noch nie ist mir ein Mensch wie er begegnet“, schwärmte sie. „Er ist einfach unglaublich, Daniel! Faris ist ein echter Künstler, ein Original, ein Freigeist.“
Marie war nicht mehr greifbar für mich. Schlagartig hatte ich verloren, was ich nie besessen hatte.
Es war schon nach Mitternacht auf der Abschiedsfeier, als dieser Faris sich plötzlich neben mich vor die Spiegelwand setzte. Bisher hatte ich nur wenige Worte mit ihm gewechselt. Schweigend sahen wir uns im Spiegel in die Augen. Unvermutet lachte er laut auf, pfiff durch die Zähne, sagte: „So ist das also. Alles klar“, und dann eindringlich, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Hör gut zu. Du bist selbst schuld, wenn du es ihr nie gesagt hast, Feigling. Jetzt ist es zu spät. Sie ist mir verfallen, deine Marie. Aber ich …“
Ich stand auf, unfähig, ihm etwas zu entgegnen, wankte aus dem Zimmer, bebend vor Wut.
„He, bleib doch, Mann, ich bin noch nicht fertig – …“ Sein Lachen dröhnte mir nach.
Ein, zwei Stunden später, vis-à-vis von mir auf der Couch, Marie in seinen Arm geschmiegt, sagte er, laut genug, dass ich es hören konnte:
„Süße, ich habe deine Freunde durchgecheckt. Einer hat nicht bestanden.“
Wie sie sofort mich ansah. Wie ich dachte, das war es jetzt. Endgültig. Keine Marie mehr.
„Und, wohin geht’s?“ Faris’ Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Ich blicke aus dem Fenster, erkenne an einem Schild, dass wir zum Glück in wenigen Minuten beim Flughafen sind.
„Nach Wien“, antworte ich widerwillig.
Wieder richtet er den Rückspiegel auf mich. Seine Augen fixieren mich.
„Wien!“ Er lacht sein höhnisches Lachen. „Aus Wien habe ich vor etwa zwei Jahrzehnten ein bildhübsches Anhängsel mitgenommen. Aber nur für ein paar Monate. Weißte, ich war damals nicht der Typ für feste Beziehungen. Ich brauchte Abenteuer. Sie wollte nicht weg von mir, klammerte, weinte. Aber ich habe sie mit einem One-Way-Wien-Flugticket in ein Taxi gesteckt. Tja, und nun fahr ich selbst Taxi. Als Ausgleich zum Malen.“
Er bremst. Rasch reiche ich ihm einen Geldschein nach vor, öffne die Tür – nur raus hier ...
„Grüß sie von mir, Feigling! Gib ihr einen Kuss von mir, okay?“, höre ich ihn noch lachend rufen, bevor ich die Tür zuknalle.
Tags darauf, am späten Nachmittag, als Marie und ich bei einem Glas Rotwein zusammensitzen, spreche ich es an: „Sag mir, Marie, wie war das damals mit Faris? Warum bist du wieder zurück nach Wien? Und warum zu mir?“
Sie sieht mich erstaunt an: „Aber Daniel, diese Zeit liegt doch ewig zurück. Seltsam, dass du jetzt danach fragst. – Also gut, auch wenn du es ohnehin weißt: Ich bin damals zurückgekommen, weil ich dich furchtbar vermisst habe. Und zwar anders, als man einen guten Freund vermisst. Zwischen Faris und mir hat es nicht mehr gepasst. Er wollte, dass ich bei ihm blieb, klammerte, weinte. Eines Nachts jedoch, als er schlief, habe ich ein Taxi gerufen – bin zum Flughafen – bin zu dir ...“
Wir greifen beide gleichzeitig zu unseren Weingläsern, trinken.
„Er lässt dich grüßen“, sage ich dann. „Und ich soll dir einen Kuss von ihm geben.“
Marie wird blass, sie beißt sich auf die Unterlippe.
„Er hat dich also angerufen“, sagt sie. Ihre Stimme klingt belegt. „Was hat er dir erzählt?“
Ich nehme zwei, drei große Schluck Wein, schenke mir nach, frage mich irritiert, warum sie sogleich annimmt, dass er mich angerufen, mir etwas erzählt hätte.
„Daniel, ich habe endgültig Schluss mit ihm gemacht“, sagt Marie leise.
Ich trinke mein Weinglas auf ex. „Wann?“, frage ich.
„Vor zwei Wochen, als – als du übers Wochenende in München warst.“ Sie sieht angestrengt auf ihre Hände.
„Er war hier?! In unserem Haus?“
Marie schweigt.
„Ich habe ihm gesagt, dass ich dieses Doppelleben nicht mehr ertrage“, sagt sie dann.
„Und du warst auch öfter bei ihm in Berlin?“
Sie senkt ihren Kopf, nickt kaum merklich.
„Er hat dich bestimmt angerufen, um dich wissen zu lassen“, sie schlägt ihre Hände vors Gesicht, „dass – dass er will, dass ich wieder zu ihm ziehe.“
Ich atme tief durch.
„Und du? Marie! Was willst du?!“
Sie dreht sich von mir weg, das Gesicht unter ihren Händen versteckt.
„Antworte mir, Marie, rede mit mir. Bitte! Sieh mich bitte an!“
Marie schüttelt den Kopf. Weint. Sagt nichts.
Claudia Dvoracek-Iby
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