Marlies-Momente

Und manchmal erinnerte ich mich noch an sie. Wir kannten uns ziemlich gut, damals noch, in der elften Klasse, als wir uns zum ersten Mal sahen: Marlies und ich. Als sie plötzlich und unvermittelt neben mir Platz nahm. Natürlich krümmte sich der Raum um sie herum. Sie hatte das, was man als das „gewisse Etwas“ bezeichnen könnte. Jedenfalls waren die anderen nicht so aufregend. Sie hatte auch andere Interessen als die anderen: Als sie einmal in der Klasse nach ihrem Lieblingsfilm gefragt wurde, nannte sie „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“. Ein anderer Mitschüler kannte nur James Bond.

Jahre vergingen und wir verloren uns aus den Augen. Doch ich hatte gelernt, Menschen wie Marlies zu schätzen, die es vollbrachten, dass sich alles rund um sie veränderte. Schnell begann ich ein Studium und merkte, wie mich meine Kommilitonen anödeten. Sicher, ich hatte das falsche Fach studiert, ohne es zu merken. Dies fiel mir lange Zeit aber gar nicht auf, und ich nahm teil an den anderen Späßen. Doch auf einmal kamen diese Austauschstudierenden und wollten in der Mensa mit uns über Bücher reden. Was sie alles kannten. Dante. Boccaccio, Shakespeare. Eine Studienkollegin sagte, sie kenne nur „Lord of the Flies“. Bzzzz. Und das, ohne rot zu werden.

Manchmal – aber das ist eher schon die Ausnahme – treffe ich Menschen wie Marlies. Menschen, die aus der Masse hervorstechen und eben den Raum krümmen. So jemandem zu begegnen, ist mir manchmal unheimlich, dann fühle ich mich verletzt, eingeschüchtert. Aber hin und wieder verspürte ich den großen Wunsch, genauso zu werden wie sie.

Marlies studierte jetzt irgendeine Geisteswissenschaft. Und was sie machte, das musste ja gut sein. Sie war jedenfalls keine dieser oberflächlichen Studierenden, die, sobald die Schule zu Ende war, kein Buch mehr in die Hand genommen hatten. Und es war ja nicht nur das. Klar, dass sie einen besseren Musikgeschmack und Lebensstil hatte als die anderen.

Manchmal frage ich mich, was aus mir geworden wäre, hätte ich solche Leute wie Marlies nicht getroffen. Ich würde noch immer dieselben dummen Späße machen wie die anderen aus meiner Klasse und würde mich nicht genieren, dumm zu schwadronieren, und das noch mit vierzig.

Sicher, es gibt in der Soziologie so etwas wie das „kulturelle Kapital“. Dies wird durch die Eltern gewissermaßen vererbt. Manche haben mehr davon, manche weniger. Gerade am Beginn des Studiums gibt es ein Aussortieren zwischen den prestigeträchtigen Fächern Jus und Medizin, den als „brotlos“ verschrienen Geisteswissenschaften und einigen biederen Alternativen. Klar bedeutet es für Menschen aus einem bildungsungeübten Haushalt überhaupt schon einen Aufstieg, studieren zu können. Nach einiger Zeit müsste man aber doch merken, dass man manchmal für dumm verkauft wird. Und irgendwann gehen, wenn es einem zu blöd wird.

Meine ganzen Jahre verbrachte ich damit, Leuten wie Marlies zu imponieren. Und genau das war auch meine Motivation: dass es viel schöner war, Zeit mit geistreichen Menschen zu verbringen als mit anderen. Leider waren solche Begegnungen wie die mit Marlies viel zu selten und manchmal wusste ich auch nicht die Chance zu nutzen.

„Die Wege des Herrn sind unergründlich. Sie zu hinterfragen hat keinen Sinn“: So oder so ähnlich heißt es in der Bibel. Ich hoffte innerlich auf mehr Marlies-Momente, doch die kamen immer sehr unerwartet. Und ich habe gelernt, diese Momente auch anzunehmen, in Dankbarkeit und Demut. Denn das Schöne auf der Welt ist eine sehr zarte Pflanze auf einem unwirtlichen Planeten ...

Michael Bauer

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