Alles blüht

Irgendwann ist mein Leben stehen geblieben: Wenn man die ersten vierzig Jahre lebte und die nächsten vierzig Jahre das Leben verstand, war das bei mir schon nach zwanzig Jahren der Fall. Und was mich am meisten beschäftigte, waren die vielen verpassten Chancen in den ersten Jahrzehnten meines Lebens. Ich wurde am Neujahrstag 1978 geboren. Mein Gedächtnis setzt aber erst eine ganze Weile später ein. Ein Kind, das am Beginn eines neuen Jahres geboren wird, ist zwar in vielen Kulturen ein Zeichen der Hoffnung oder der Auferstehung, aber ich bin nichts davon. Vielleicht war mein Leben ein ewiges Neujahr, und ich konnte weder zurück an den Anfang noch an das Ende. Wird mein Todestag auf Silvester fallen? Wer weiß? Ich jedenfalls glaube nicht an Wunder und auch nicht an Zufälle.

Nun bin ich vierzig Jahre alt und habe, wie gesagt, zwanzig Jahre des Lebens und zwanzig Jahre der Reflexion hinter mir. Was in den kommenden vierzig Jahren sein wird, weiß ich noch nicht. Vielleicht beginnt dann alles wieder von vorne oder etwas Neues, Unerwartetes geschieht. Ich hoffe noch immer auf eine alles verändernde Begegnung mit einem anderen Menschen oder auf das Wiedersehen, wäre ich diesem Menschen schon einmal früher begegnet und hätte nichts von der Bedeutung unseres Treffens gewusst.

Als Sechzehnjährigen bewegten mich Gedanken an solche Begegnungen noch nicht. Erst Jahre später, als die Erinnerung verblasst war, kamen die Gedanken wieder hoch. Es waren die Jahre, in denen ich nachts immer vorm Fernseher hing. Die Handlungen in Filmen hielt ich für Vorahnungen auf mein Leben als Erwachsener. (Hatte ich damals schon einen Lieblingsschauspieler oder kannte ich einen guten Regisseur? Wohl eher nicht!)

Beruflich hatte ich später die Laufbahn als Journalist eines kleinen Nachrichtenmagazins eingeschlagen und war häufig im Ausland unterwegs. (Mir kamen die Landungen des Flugzeugs oft vor wie kleine Geburten: mal sanft und äußerst angenehm, manchmal abrupt und manchmal war ein Unwohlsein da und man wünschte sich, einige Minuten nach der Landung wieder in den Bauch des Flugzeuges zurückkehren zu dürfen. Auf diese Weise wurde ich wohl einige dutzendmal wiedergeboren, scherzte ich manchmal.)

Vor meiner letzten Dienstreise schrieb ich Anja, einer Bekannten aus meiner Schulzeit, ein SMS: „Du kannst mich ruhig einen Clown nennen, aber weil du dich in der elften Klasse einmal so lange mit mir unterhalten hast, dachte ich, du hättest Interesse an mir gehabt, jedenfalls damals. Die Schulzeit ist schon eine Weile her und es kann sein, dass du dieses Treffen und mich schon lange wieder vergessen hast. Aber ich muss dir sagen: Ich war damals anders und so bin ich heute nicht mehr. Wie gerne würde ich dir schreiben, dass mir dieses Treffen gefallen hat und ich angenehm überrascht gewesen bin, mit dir diskutieren zu können, auch wenn du ganz anderer Meinung als ich gewesen bist.“

Nach kurzer Zeit hatte ich das SMS wieder vergessen und bereitete mich auf die Reise vor, indem ich die Preise der Fluggesellschaften verglich, beim günstigsten Ticketpreis zuschlug und inzwischen auch meine Koffer gepackt hatte.

Zweck der genannten Reise war ein Treffen mit einer Schriftstellerin. Es handelte sich allerdings um eine bei uns wenig bekannte Autorin, die in ihrem Heimatland zudem mit einigen Jahren Schreibverbot sanktioniert worden war und nur – halb in die Illegalität gezwungen – ihre Bücher über Mittelsmänner im Ausland veröffentlichen konnte.

Nachdem ich ihre Adresse, die sie verständlicherweise nur den wenigsten Leuten weitergibt, gefunden und mit ihr einen Termin ausgemacht hatte, traf ich sie in ihrer ganz beträchtlichen Privatbibliothek und machte mit ihr ein Interview. Ich begann zuerst mit allgemeinen Fragen, ob sie als Schriftstellerin, die keine Bestseller und auch keine Krimis schreibt, überhaupt beim Publikum Gehör findet; woran die moderne Gesellschaft krankt und ob es überhaupt noch große Provokationen in der Literatur gäbe. (Das Politische klammerte ich so weit es ging in diesem Gespräch aus.) Sie antwortete mir, die Welt müsse wieder einen Sinn haben, wir bräuchten etwas Größeres, Erhabeneres, für das es sich zu leben – und falls es sein muss, zu sterben – lohne. Die großen Erzählungen, Homer, Vergil, Dante und so. Außerdem bräuchte unsere Welt wieder einen Sinn für das Phantastische. Ja, genau: „Wir brauchen eine zweite Romantik ...“ Mir ging ihr kluges Gefasel zwar schon jetzt gehörig auf die Nerven, aber ich durfte mir nichts anmerken lassen, schließlich war ich ja nicht als Privatperson, sondern dienstlich hier. Sie fuhr weiter fort:

„Der Held meines neuen Romans kann sich nicht so recht entscheiden zwischen einer bürgerlichen Laufbahn oder einer Künstlerkarriere. Er fühlt sich zu etwas Höherem berufen, muss aber mit irgendetwas sein Geld verdienen und möchte – verständlicherweise – ein Haus, Auto und Familie mit Hund und allem, was dazugehört. Das bringt ihn natürlich in einen Gewissenskonflikt – man könnte fast sagen, in ein Dilemma: Denn wie er sich entscheidet, er kann sich nur falsch entscheiden. Machte er das eine, kann er das andere nicht machen und umgekehrt ... Aber, durch einen erzählerischen Trick versuche ich, dass beides funktioniert, ich habe bereits beide Lebensentwürfe ausgearbeitet. Ich will zeigen, dass es doch möglich ist ...“

„Wie das?“, fragte ich erstaunt.

„Ich habe überlegt, einen Werdegang zu erzählen, und den anderen z. B. in den Fußnoten gleichberechtigt zu erzählen. Ich weiß aber noch nicht, welcher Lebensweg in den Haupttext und welcher in die Fußnoten kommt.“

„Sie glauben ehrlich, dass das geht: den einen Lebensweg leben, aber die andere Option, die ja im Extremfall das genaue Gegenteil sein kann, kann man gleichzeitig auch leben?“

„Genau. Man müsse nur wollen und natürlich wissen, wie es geht.“

„Und was muss man genau wissen?“, fragte ich neugierig.

„Das habe ich mir noch nicht genau überlegt. Aber ich denke, man muss nicht alles tatsächlich leben. Es reicht doch auch, wenn man Dinge nur symbolisch tut.“

„So wie ich eine Lederkluft zuhause habe, die ich nur einmal getragen habe, weder Gitarre spielen kann noch einen Motorradführerschein besitze.“

„Genau das meinte ich mit: symbolisch.“

„Ich wollte auch immer Schriftsteller werden. Ich habe deshalb auch Publizistik studiert. Meine Vorbilder waren ... lassen Sie mich kurz nachdenken: Kafka und Hesse. Aber jetzt bin ich Journalist und denke, jetzt im Nachhinein war es die bessere Entscheidung.“

Die Schriftstellerin schlug vor, zum Abschluss des Interviews in ihre Stammkneipe zu gehen und uns zu betrinken, die Zeche gehe auf ihre Kappe. Als wir uns auf den Weg begaben, blühten auf den Alleen die Kirschbäume. Menschen kamen uns entgegen, alte, junge, Familien mit Kinderwägen. Sie finde in dieser Stadt alles, was sie für ihre Romane bräuchte, sagte sie beiläufig, alte Kalender, Groschenromane, überall fände man heutzutage Anregungen. Vor einem Gebäude sah ich eine Menschenansammlung, Fähnchen in den Landesfarben, laute Sprechchöre. „Sie demonstrieren hier gegen unsere Regierung und unseren Präsidenten. Er ist aber bei den meisten Menschen in diesem Lande sehr beliebt. Wissen Sie, politisch ist für jeden was dabei. Vom 'Nationalromantiker' bis zum Altanarchisten. Jeder kann sich was aussuchen von seiner Ideologie, wie gesagt: Für jeden ist etwas dabei. Und er ist sehr sprachbegabt, einfache, wirkungsvolle Sätze. Inszenierte Fototermine. Meistens mit Kindern. Das wirkt. Und das macht ihn auch so gefährlich. Jedenfalls für uns Intellektuelle.“ Tränengas. Die Menge wurde auseinandergetrieben. Wir änderten unsere Pläne und kehrten zu ihrer Wohnung zurück. Sie zitterte am ganzen Leib und holte eine Flasche Whisky aus einem Schrank. „Das ist die Wirkung des Tränengases. Zudem bin ich Asthmatikerin, das macht es doppelt schlimm“, sagte sie nachdenklich. Wir prosteten uns beide zu, ich verlor den Faden und schlief ein, erst am nächsten Tag erwachte ich in meinem Hotelbett wieder.

Was dann am nächsten Tag geschah, nachdem ich aufgewacht war, überraschte mich außerordentlich: Ich merkte, dass ich anscheinend auf einer Party gewesen sein musste. Mein Diktiergerät, mit dem ich das gestrige Gespräch mitgeschnitten hatte, war gelöscht. Ich kleidete mich daraufhin hektisch an und beschloss, zu meiner Schriftstellerin zurückzukehren. Im Frühstückssaal des Hotels nahm ich neben einem alten Ehepaar Platz. In der Eile fiel mir der Teller mit den Käsescheiben herunter und zerbrach in tausend Stücke. Ich sagte: Das ist doch kein Weltuntergang! Wobei das alte Ehepaar dermaßen in Rage geriet. Ich muss wohl eine Vorahnung für den Tod in ihnen geweckt haben.

Also nahm ich nach dem Frühstück ein Taxi und ließ mich zur Wohnung der Autorin fahren. An ihrem Türschild prangte nun das Logo der Regierungspartei. Ich klingelte, aber niemand ließ mich in die Wohnung. Resigniert kehrte ich zurück zum Hotel. Dort packte ich meine Siebensachen, kramte mein Rückflugticket hervor und stieg vor dem Hotel in die hinterste Sitzbank des Hyundai-Starex-Kleinbusses, der mich zum Flughafen bringen sollte.

Auf der Fahrt fuhren wir über eine kurvige Gebirgsstraße. Ein Tunnel nach dem anderen. Mir kam das Licht wie eine Vorahnung auf den Tod vor. Gleich würde es passieren, dachte ich. Ich erinnerte mich an meine Kindheit, wie ich zu den Großeltern gefahren bin und wir genau so einen Tunnel passierten. Dazwischen wurde es wieder hell, als wir aus dem Tunnel herausfuhren. Nach jedem Tunnel fühlte ich mich um einige Jahre jünger und irgendwann musste ich den Status wie vor meiner Geburt erleben. Und ich fühlte eine seltsame Vorfreude: Warten auf die Geburt. (Oder war es die Wiedergeburt?) Was kommt nach dem Tod? Ist dann alles schwarz? Fegefeuer? 72 Jungfrauen? Das weiß niemand!

Plötzlich meldet mein Smartphone ein SMS. Anja hat geantwortet: „Ich nenne dich ruhig einen Clown. Aber das war doch zu flüchtig, um in Erinnerung zu bleiben, oder? Ich meine, ich habe das Ganze inzwischen vergessen. Womit beschäftigst du dich sonst noch? Ist denn damals nichts anderes passiert? Ich bin inzwischen glücklich verheiratet und habe drei Kinder. Dein Leben muss ganz schön fad sein, nicht wahr. In alten Erinnerungen schwelgen. Hast du sonst kein Leben oder warum hast du ausgerechnet an mir so einen Narren gefressen?[1]

Das ältere Ehepaar auf der Sitzbank vor mir schien indessen immer älter zu werden. Nach der letzten Fahrt aus dem Tunnel war das Ehepaar eingeschlafen und rührte sich nicht mehr.

In diesen Minuten verpasse ich meinen Flug. Ich habe vor langer Zeit einmal einen Film gesehen, in dem jemand einen Flugzeugabsturz überlebt, aber dermaßen traumatisiert ist, dass er glaubt, er sei bereits tot und nur noch als Geist auf der Erde, und somit verliert er auch jede Angst. Es vergeht eine halbe Ewigkeit, in der der Kleinbus von Tunnel zu Tunnel rast.

„Du bist schon tot. Das ist die letzte Reise“, höre ich meine innere Stimme. „Ich bin der Tod. Du weißt nicht, dass du schon tot bist.“

Nach dem kurdischen Kalender ist der heutige Tag der Beginn des neuen Jahres.

Neujahr. Neujahrsfeiern. Alles blüht.

 

[1]    Zur selben Zeit kommt der Erzähler andernorts am Flughafen an. Nach einem kurzen Aufenthalt im Wartebereich geht er nach Aufruf mit seinem Gepäck und Ticket zum Check-in-Schalter. Eine merkwürdige Vorahnung macht ihm bewusst, dass es auch anders hätte sein können: Erlebte er nicht auf der Fahrt zum Flughafen ein seltsames Déjà-vu? Schien es nicht so, als ob das alte Ehepaar immer jünger geworden sei und sich schließlich bei der Ankunft am Flughafen geweigert hatte, aus dem Wagen zu steigen, sondern darauf bestand, wieder zum Hotel zurückzukehren und die Reise zu verlängern. Kam nicht wieder ein mulmiges Gefühl, von wegen: Flugzeugabsturz und was wäre wenn, auf? Gerade in diesem Moment erreichte ihn ein SMS von Anja: „Ich kenne dich eigentlich nicht, und dieses Ereignis ist schon über zwanzig Jahre her, aber was soll’s. Du hast mir geschrieben, also schreibe ich dir: Dein SMS zeigt, dass du so ein großes Interesse an mir haben musst, das zudem auch noch ernsthaft ist, dass ich nicht Nein sagen kann. Ich bin seit einigen Jahren eine mittelmäßig erfolgreiche Schriftstellerin. Merkwürdig: Es kommt mir so vor, als hätte ich vor kurzem jemanden getroffen, den ich für den Verfasser dieses SMS hielt. Warst du vor kurzer Zeit im Ausland ...“

Michael Bauer

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