Die schöne Unbekannte

Zum ersten Mal traf ich sie in der Bibliothek. Das war gleich nach Neujahr. Ich setzte mich neben sie und bemerkte, als sie ging, dass sie einen schönen gemusterten Schal trug.

Die erste Begegnung blieb folgenlos. Ich ging meinen Tagesgeschäften nach und beschäftigte mich mit anderen Dingen. Es war mir klar, dass ich nicht allein sein wollte und dass diese junge Frau mit dem gemusterten Schal eine gute Gelegenheit gewesen wäre, sich zu verlieben. Leider wusste ich über sie so gut wie nichts. Und dass ich so gut wie nichts über sie wusste, versetzte mich in einen sehr unangenehmen Zustand: Ich hoffte sehr darauf – so unwahrscheinlich es auch war – , dass ich sie wiedersehen und mich mit ihr austauschen könnte.

Eine dieser Gelegenheiten war eine Veranstaltung in einem Jugendzentrum, wo ich hoffte, sie wiedersehen zu können. Ich war schon voller Vorfreude auf dieses Treffen, aber leider war dieses Zentrum, von dem ich nie zuvor etwas gehört hatte, zu weit außerhalb der Stadt und ich kam nur bis zur Endstation der Straßenbahn. Von dort an ging ich am Abend einige Kilometer weit, aber das Jugendzentrum war, wie gesagt, nicht zu finden.

Als ich sie zum zweiten Mal traf, ging sie im Sommer mit einer Sonnenbrille die Stiegen in der Universitätsbibliothek hinauf. Ich hätte sie ansprechen können. Aber es bot sich mir keine Gelegenheit.

Ich hatte eigentlich gar nicht mehr damit gerechnet, sie wiederzusehen und war mir im ersten Moment auch noch nicht sicher, ob es sich um die selbe Person handelte, die ich schon zu Beginn des Jahres gesehen hatte.

Dieses zweite Mal des Sehens war für mich schon etwas vager. Ich verspürte nicht mehr das große Bedürfnis, dieser Person näherzukommen, aber dennoch war wieder etwas mit mir geschehen, das mich in seinen Bann zog.

Es vergingen einige Jahre und die Frau geriet in Vergessenheit. Ich weiß nicht, was es ausgelöst hat, aber eines Tages ergriff mich plötzlich die Erinnerung an diese Person sehr stark. Zwar konnte ich nur erahnen, dass sie Michaela hieß und Pädagogik studierte. Auch an ihre warmen Worte „Auf Wiedersehen und einen schönen Tag dir noch!“ erinnerte ich mich. Zu dieser Zeit lebte ich schon in einer anderen Stadt und war ihr entfernter. Entfernter noch als an diesem Tag im Jänner, als ich das Jugendzentrum suchte. Wenn es doch irgendwie möglich gewesen wäre, ihr von mir etwas zukommen zu lassen. Einen Liebesbrief oder ein Geschenk. Oder ihr einen Gefallen tun.

Mich ergriff die innere Leere. Und es gab nichts, womit diese Leere auszufüllen gewesen wäre. Ich übte mich im Zen.

Eines Tages streifte ich wieder durch die Stadt und ich hatte die vage Hoffnung auf eine ähnliche, aber neue Begegnung dieser Art. Nach einigen Minuten des Umherflanierens sah ich den Eingang eines indischen Restaurants. Da mich die exotische Speisekarte sehr reizte, trat ich ein und bestellte mir ein Curry. Die Gedanken an Michaela würden stärker, und als ich das Essen serviert bekam, merkte ich anfangs noch nicht, wie stark das Vindaloo gewürzt war. Ich nahm einen Bissen und noch einen Bissen. Dann ergriff mich die Schärfe und ich war kurz davor, in Ohnmacht zu fallen. Ich kämpfte mit mir, da es mir schwindlig wurde, und mir schnürte es die Kehle zu. Mir tränten die Augen und die Außenwelt wurde immer verschwommener.

In diesem Moment sah ich Michaela noch einmal in der Bibliothek, diesmal in einem Sommerkleid und mit einem Strohhut. Sie sah mich lange an, dann begann sie zu lächeln.
Nach einer Weile, die sich für mich wie eine Ewigkeit angefühlt hat, sagte sie:

„Schön, dass du die ganze Zeit an mich gedacht hast.“ Und verschwand.

Natürlich war der letzte Teil meiner Geschichte erfunden und das Erlebnis im indischen Restaurant hat es nie gegeben. Dennoch – soweit es mir noch möglich ist – möchte ich die Erinnerung an Michaela festhalten. Ihr sei diese Erzählung gewidmet.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 24034

 

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