Ziel. Punkt.

Damals wollte ich nur noch schnell etwas einkaufen, ich weiß nicht mehr so genau was. Es muss nicht viel gewesen sein, denn damals, im März 2013, war das Geld knapp. Ich ging in die „Zielpunkt“-Filiale in der Alserbachstraße in Wien und kaufte etwas ein. Was ich auf dem Weg zum Supermarkt gedacht haben muss, weiß ich nicht mehr, vielleicht war es etwas Berufliches. Ich legte mehrere hundert Meter zu Fuß zurück und betrat das Geschäft. Da ich bereits Läden dieser Kette kannte, war es ein routinemäßiger Besuch, der mir zunächst keiner weiteren Beachtung würdig schien. Ich ging durch die gläserne Schiebetür hinein, zunächst zu den Obst- und Gemüsekisten, dann zur Milchtheke und zum Brotregal. Eine Handvoll Sachen hatte ich, denn ich benutzte keinen Einkaufswagen oder Korb. Alles, was ich in meiner Hand halten konnte.

Als ich zur Kasse ging, legte ich meine Sachen aufs Band, es kann sein, dass noch mehrere Kunden im Laden waren. Wann ich die Kassiererin zum ersten Mal erblickte, weiß ich nicht. Es kann sein, dass sie ihr Haar rot gefärbt hatte, aber da bin ich mir nicht so sicher. Ob ich sie schon bemerkte, als sie meine Sachen durch den Scanner zog, weiß ich nicht. Ich könnte auch nicht sagen, ob sie mir beim Bezahlen schon aufgefallen wäre. Aber kurz nachdem ich und wahrscheinlich ein anderer Kunde bezahlt hatten, verließ sie ihren Stand und betätigte mit dem Schlüssel die elektrische Türöffnung, da der Laden schon von außen verriegelt war. Ich schaute ihr in die Augen, verabschiedete mich und sie verabschiedete sich auch, dabei lächelte sie mich an. In diesem Moment war es um mich geschehen. Es war das letzte bewusste Mal, dass ich diesen Laden besucht hatte.

Auf dem Nachhauseweg war ich glücklich ob der Begegnung, aber ich wusste nicht, ob es andere Gedanken gab, die wichtiger waren. Vielleicht habe ich die junge Verkäuferin auch in meinem Tagebuch erwähnt, aber so genau weiß ich das nicht mehr. Was ich am nächsten Tag, in der nächsten Woche, im nächsten Monat tat, ist mir nicht mehr so bewusst.

Einige Jahre später, im August 2017, sah ich in einem Supermarkt eine junge Frau, die Käse aus einer Selbstbedienungstheke holte. Obwohl sie ganz anders aussah, als ich die Zielpunkt-Verkäuferin in Erinnerung hatte, erlebte ich ein Déjà-vu. Ich weiß nicht, welche Gemeinsamkeit sie mit der anderen Frau hatte, jedenfalls fühlte ich eine starke Nähe. Auch diese Erinnerung verblasste.

Erst im Sommer dieses Jahres kam mir die Erinnerung an die Zielpunktverkäuferin. Was ich nicht alles hätte tun können, den Laden häufiger besuchen, ihr ein Kompliment oder ein Geschenk machen. All dies hatte ich nicht getan, aber ich wusste nicht den Grund, warum ich es unterlassen hatte. Und warum wurde das Ganze mir erst jetzt, nach neun Jahren und einem Ortswechsel wieder bewusst? Ich versuchte, über diesen Laden zu recherchieren. Die Supermarktkette Zielpunkt hat 2016 Konkurs angemeldet und die Mitarbeiter*Innen mussten sich eine neue Arbeitsstelle suchen. Ich hatte demnach keine Chance mehr, diese Mitarbeiterin nochmals zu kontaktieren. Auch machte ich mir Sorgen wegen der Kündigung und der prekären Situation zur Zeit der Insolvenz.

Aber ich musste, da die Verkäuferin sehr charmant gewesen war, mir etwas überlegen, wie ich ihr meine Gefühle übermitteln konnte. Ich erschuf folgendes Szenario: Was hätte ich getan, wenn ich dieser Verkäuferin noch einmal begegnet wäre? Hätte ich meine große Schüchternheit überwinden können? Ich dachte zuerst, dass ich eine kleine Süßigkeit hätte kaufen können, die ich ihr nach dem Bezahlen hätte schenken können. Oder einen Zettel mit meiner Adresse. Was ich bevorzugt hätte, weiß ich nicht, aber es hätte Tage geben können, an denen diese Verkäuferin nicht an der Kasse saß und ich Pech gehabt hätte. Also hätte ich auch noch viel Geduld einplanen müssen.

Für den Fall, dass diese Verkäuferin mein Kontaktgesuch angenommen hätte, was hätte ich ihr vorschlagen können? Ein gemeinsames Gespräch, einen Spaziergang? Manche Menschen glauben daran, dass Gedanken übermittelt werden können. So dass die eigenen Gedanken nicht sinnlos um einen kreisen und den anderen doch – auf welche Art auch immer – erreichen. Es gab Versuche, die bestätigten, dass alle Menschen miteinander über ein paar Personen verbunden seien. Warum nicht einfach einmal eine Flaschenpost an die Verkäuferin schreiben? Ich tat es sogar und schickte meine Gedanken an sie an ein unbekanntes Ufer.

Als ich am Samstag, dem 24. September 2022, um 8.00 Uhr aufwachte, wurde mir der Gedanke immer klarer, dass ich diese charmante Verkäuferin in einem kleinen Text verewigen könnte. Ich fuhr meinen Laptop hoch und gab unter Google das Schlagwort „Schreibwettbewerbe“ ein. Nach einigen Klicks wurde ich auf eine Seite weitergeleitet.

Das Thema „Bewusstheit“ der Ausschreibung sah ich am geeignetsten an. Ziel. Punkt.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 22105

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