Wie Herr Zeitlos die Zeit wiederfand

Vor nicht allzu langer Zeit, da erzählte man sich von einem Land, in dem es alles im Überfluss gab.

Es gab so viele Bananen, dass die Äste von Früchten schwer beladen bis zum Erdboden hinabhingen. Die Bäume beschwerten sich mit Klagemienen, weil sie die Last nicht mehr tragen konnten. Da ihr Wehklagen tagein und tagaus unerträglich schrill durch das ganze Land tönte, fingen die Leute an, die Bananen in den Himmel zu werfen, wo sie zu lauter Monden wurden und schon bald so zahlreich am Himmel standen wie die Sterne.
Es gab so viel Papier, dass man sich angewöhnte, nur einen Buchstaben auf ein Blatt zu schreiben, weshalb die Bücher so dick wurden wie alte Burgmauern.
Und es gab so viele Autos, dass man sie in einer riesig langen Kette, die bis zum entferntesten Planeten des Weltalls reichte, eines nach dem anderen zusammenschweißte. So konnte man ein- und aussteigen, wo man wollte, und sich im gesamten Universum fortbewegen.

Von allem gab es mehr als genug in diesem Land. Nur eines gab es nicht: ZEIT!

In den riesigen Lagerhallen der Zeitfabriken standen abertausende von leeren Säcken, die einst bis oben hin gefüllt waren mit genug Zeit und nun schlaff zusammenfielen. Es gab einfach zu viele Menschen in diesem Land, die mit Zeit versorgt werden mussten.
„Es wird höchste Zeit, dass wir uns um eine bessere Zeitproduktion kümmern!“, mahnten die einen.
„Dazu fehlt uns die Zeit“, erkannten die anderen.
Quer durch das Land, wohin man auch kam, fehlte die Zeit an allen Ecken und Enden. Einige sehr kluge Menschen waren bereits auf der Suche nach ihr: „Zeieiit! Wo biist du?“, riefen sie laut und eindringlich. Vielleicht gab es irgendwo noch geheime Vorräte? Doch hinter Mauern sahen sie kleine, grässliche Zeitmonster lauern, vollgefressen mit den letzten Resten an Zeit, die sie noch finden konnten.

Zweifellos! Die ganze Zeit war verbraucht. Und das wurde langsam zu einem echten Problem.
Die Kinder des Landes hatten plötzlich keine Zeit mehr, Kind zu sein. Und die Eltern fanden keine Zeit mehr, sich um ihre Kinder zu kümmern, weshalb sie sie gleich nach der Geburt in Erziehungsanstalten brachten. Niemand nahm sich mehr die Zeit, ganze Sätze zu sprechen. So warfen sich die Menschen im Vorbeigehen nur noch Buchstaben zu. Sie hatten keine Zeit mehr, einander anzusehen, oder zu fragen: „Wie geht es dir?“
Auch zum Altwerden fehlte die Zeit. Die Alten starben allmählich aus, und es lebten nur noch junge Leute im Land.
Aus Zeitnot vergaßen sie sogar, an besondere Zeiten im Jahr zu denken. „Geburtstagsfeiern kosten zu viel Zeit“, hörte man die Menschen reden. „Weihnachten? Nein, Weihnachten fällt dieses Jahr aus. Keine Zeit!“

In diesem armen, trostlosen Land lebte Herr Zeitlos. Er stand ständig unter Druck, hetzte ziellos von hier nach da und hatte nie die Zeit anzuhalten. Seine Zunge, die ihm vor lauter Erschöpfung ständig zum Hals heraushing, wurde so groß und schwer, dass sie schließlich bis zu seinem Bauchnabel hinunterreichte.
Herr Zeitlos hatte aus Mangel an Zeit das Nachdenken verlernt. „Das Essen raubt mir meine Zeit!“, verkündete er empört. Deshalb hörte er auf damit und wurde so dünn wie ein Strich. Weil er keine Zeit mehr zum Schlafen fand, war er nur noch mürrisch und schlecht gelaunt.
Und das tägliche Waschen? Das war ihm zu zeitaufwändig. Darum sprang er schließlich aus Zeitnot in den Ozean und durchschwamm ihn, bis es nicht mehr weiterging. Wie gut, dass die Haie überhaupt keine Zeit hatten, ihn zu fressen!

So kam es, dass Herr Zeitlos, als er den Ozean zum wiederholten Male unbeschadet verlassen hatte, sich eines Tages auf einer fernen Insel wiederfand. Zwei Zeitgeister bewachten mit strengem Blick den Zutritt durch ein stattliches Tor, das so groß und fest war wie eine Burg und etwas sehr Kostbares hinter sich vermuten ließ.
Herr Zeitlos, der in gewohnter Eile unterwegs war, rannte an den Geistern vorbei und sprang mit einem Satz über das Tor hinweg. Da er nur ein Strich in der Landschaft war, hatten sie ihn nicht kommen sehen. „Hinterher!“, brüllten sie wütend. „Ein Zeitloser! Schnell, einfangen!“ Doch ehe sie bis drei zählen konnten, war der raketenschnelle Herr Zeitlos – ach du liebe Zeit! – gegen das Ausgangstor der Insel geprallt, stürzte zu Boden und versank für Stunden in eine Ohnmacht. Wie war es möglich, für etwas derart Nutzloses seine Zeit zu verschwenden? Und wieso war sie plötzlich da, die Zeit?

„Ich habe keine Zeit!“, schrie Herr Zeitlos, aus seiner Ohnmacht erwacht, die Zeitgeister ungeduldig an, die unbekümmert neben ihm saßen. „Haben die Gruselköpfe zu viel Zeit?“, dachte er noch, als er schon im Begriff war, wie gewohnt loszulaufen, doch dann spürte er die Ketten. „Was für eine Unverschämtheit!“, zeterte Herr Zeitlos wenig zimperlich, „Bindet mich gefälligst los! Mir läuft die Zeit davon!“ Unruhige Wellen durchzuckten wie Stromschläge seinen zeitlos jugendlichen Körper.
Die Geister amüsierten sich köstlich. „Keine Panik!“, beschwichtigten sie ihn und grinsten. „Zeit gibt es hier mehr als genug.“
„Äh, wie? In welcher Zeit lebt ihr?“, rätselte Herr Zeitlos verwirrt. „War ich mit einer Zeitmaschine unterwegs?“ Und gleich einen Atemzug später fiel ihm auf, dass er seit langer Zeit wieder einmal Zeit zum Nachdenken hatte.

„Nimm dir Zeit und gehe ein zweites Mal über unsere Insel!“, vernahm Herr Zeitlos die Anweisung der Zeitgeister, die sorglos über ihm schwebten. Sie ließen ihn angekettet ziehen, so dass er, von ihnen geführt, nur langsam vorankam und sehr zeitintensiv wahrnehmen konnte, was ihn umgab.
„Dass man die Menschen aber auch immer zu ihrem Glück zwingen muss“, hörte man den einen Geist noch verständnislos zum anderen sagen, bevor er auf einer Wiese landete, um ein kleines Nickerchen zu machen.

Herr Zeitlos blickte sich unsicher um. „Soll ich jetzt die Zeit totschlagen?“, fragte er sich. Doch kaum waren seine Worte verhallt, da fühlte er schon den magischen Sog, der ihn antrieb, aufzustehen und weiterzugehen. Und dann kam er aus dem Staunen nicht mehr heraus. Auf der Insel gab es Unmengen an Zeit! Überall Zeit, wohin man auch schaute.
Sie hing wie Blätter an den Bäumen, thronte wie Blüten auf Blumenstängeln und lag wie Ziegeln auf den Dächern. Aus den Erdspalten quoll sie hervor, die Zeit, selbst die Wolken am Himmel waren voll davon und hingen schwer bepackt herab.
„Meine Güte, so viel Zeit auf einem Fleck!“, staunte Herr Zeitlos und gaffte nach allen Seiten. Noch nie in seinem Leben hatte er so viel Zeit gesehen. Und noch nie in seinem Leben hatte er so viel Zeit gehabt, genau hinzusehen. Man konnte sich in diesem Zeitschlaraffenland frei bedienen, sich die Taschen mit Zeit vollstopfen. Man konnte davon nehmen, so viel man brauchte und so viel man tragen konnte.

„Ich bin im Paradies!“, schrie Herr Zeitlos euphorisch, pflückte die Zeit, warf sie hoch in die Luft, tanzte und sprang. Im nächsten Moment fing er sich wieder und wurde nachdenklich. „Oh weh! So viel Zeit kann einem ja richtig Angst einjagen!“ Immerhin hatte er jetzt genug Zeit, seine Fesseln zu lösen.
Er sah sich um wie jemand, der etwas Verbotenes im Schilde führt, hielt kurz inne, blickte noch ein letztes Mal zu den friedlich schnarchenden Zeitgeistern, nahm dann all seinen Mut zusammen und stopfte sich die Taschen voll mit Zeit. Gierig nahm er sich so viel davon, wie er nur kriegen konnte. Als er auch noch den Bauchnabel und die Nasenlöcher mit Zeit ausgefüllt hatte, nahm er seine Beine in die Hand, lief davon wie ein gewöhnlicher Dieb und schwamm durch den Ozean zurück nach Hause.
Dort angekommen, machte er alle Truhen und Körbe randvoll mit der erbeuteten Zeit. „Das dürfte für eine Weile reichen“, sprach er erleichtert zu sich, „vielleicht sogar, bis ich sterbe.“

Und plötzlich hatte er alle Zeit der Welt!
Zeit, in der Nase zu bohren.
Zeit, mit dem Finger im Sand zu malen.
Zeit, mit den Augen Wolkenspaziergänge zu machen.
Er hatte sogar so viel Zeit, dass er sie auch mal eine Weile sinnlos verstreichen lassen konnte. Doch trotzdem fehlte noch etwas, damit es bis in die Fingerspitzen kribbeln konnte. Etwas, das sein Herz zum Hüpfen brachte.

„Die reine Zeitverschwendung!“, dachte Herr Zeitlos, als er gerade dabei war, ziellos aus dem Fenster zu sehen, denn so ganz hatte er sich noch nicht an den Luxus gewöhnt, auch dafür genügend Zeit zu haben. Er beobachtete die Menschen, wie sie vor seinem Haus gestresst auf und ab liefen, den Blick abwesend in die Ferne gerichtet, gehetzt und getrieben wie ein gejagtes Reh.
Und er sah sich selbst, wie er noch vor kurzer Zeit genau wie sie die Straßen entlanggerannt war, dicht gefolgt von der Zeit und immer auf der Hut davor, von ihr überholt zu werden. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Natürlich!

Wie sollte er mit all seiner kostbaren Zeit glücklich werden, wenn er der Einzige im Land war, der großzügig darüber verfügen konnte? „Ich werde allen Menschen in diesem Land Zeit schenken“, beschloss Herr Zeitlos. „Nur so können wir besseren Zeiten entgegensehen.“
Und kurzerhand packte er viele kleine Päckchen voll mit Zeit. Er umwickelte sie mit Goldfolie, damit jeder sofort erkennen konnte, wie kostbar sie waren. Dann stellte er sich damit auf den größten und belebtesten Platz des Landes und pries sie an: „Zeit! Ich verschenke Zeit! Kostenlos kostbare Zeit!“
„Ach du liebe Zeit!“, dachten die wenigen Menschen, die, obwohl sie in großer Eile waren, Herrn Zeitlos bemerkten. Sie waren zunächst skeptisch, tuschelten miteinander und näherten sich nur vorsichtig, so wie man sich eben verhält, wenn jemand etwas ganz und gar Ungewöhnliches tut. Doch dann wurden sie neugierig. Und als die Ersten begannen, ein goldenes Geschenk anzunehmen und sich über dessen Inhalt klar wurden, verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer, und die Menschen strömten in Scharen herbei.

„Zeit! In den Päckchen ist Zeit!“ – „Was, Zeit? Die fehlt mir schon so lange!“ – „Endlich! Ich hatte schon geglaubt, wir müssten ohne sie weiterleben!“ –  „Verpackte Zeit? In Zeiten wie diesen?“ – „Dann lasst uns keine Zeit verlieren!“
Und in kürzester Zeit wurde Herr Zeitlos zu einem Helden seiner Zeit. Von nun an hatten alle Menschen im ganzen Land genug Zeit. Und wenn die Päckchen verbraucht waren, wusste man, wo man Nachschub bekam. Kurz gesagt, konnte sich niemand mehr bis zu seinem Lebensende über Zeitnot beklagen.
Da gab es sie plötzlich wieder, die längst in Vergessenheit geratenen Zeitgenossen, Menschen, die einem die Zeit raubten, Zeitlöcher, Zeitmaschinen und die Gezeiten, Zeitfüller, Zeitzonen und Zeitraffer, die Zeitmesser und Zeitverschwender … Und alles hatte wieder seine Zeit.

Doch da man sie einst schmerzlich vermisst hatte, die Zeit, blieb sie stets ein kostbares Gut. Und jeder war glücklich darüber, dass er mit denen, deren Herz im gleichen Takt wie das eigene schlug, endlich ausreichend Zeit verbringen konnte, so glücklich, dass all der Überfluss im Land überflüssig wurde.
Wie gut, dass man nun genug Zeit hatte, alles, was zu viel war, über die gesamte Welt gleichmäßig zu verteilen! Der ganze Erdball hüpfte vor Freude. Fast hätte er mit diesem gewaltigen Ruck die Zeit durcheinandergebracht …
Nur die Bananen warf man auch weiterhin in den Himmel, weil sie dort oben so schön strahlten. Und ihr Licht erhellte die Nacht. Für alle Zeit.

Ersterscheinung in:
Schubladengeschichten 2, Eine Anthologie der Textgemeinschaft,
Verlag epubli, Berlin 2019.

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 22104

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