Was man für das Leben braucht 3

Sie haben Teil 1 und Teil 2 schon intus?
Dann wollen wir Sie nicht aufhalten ... Viel Spaß mit dem letzten Teil der Geschichte.

Wir erfuhren von dem Entschluss, dass unser Teilunternehmen mit einem anderen Teilunternehmen zusammengelegt werden sollte, das ebenfalls ein Referat hatte, das sich autodidaktisch Lösungen erarbeitet hatte, die aber von Grund auf derart anders waren, dass diese nicht ineinander verschmolzen werden konnten, und eine völlige technische Neuaufstellung war budgetär von den verantwortlichen Chefs vollkommen ausgeschlossen.

Wir erklärten den verantwortlichen Chefs also diesen Umstand inkl. technischer Begründung und erhielten die Antwort, dass dies trotzdem zu funktionieren habe. Als wir nochmals erklärten, dass es nicht an der Motivation mangle, sondern an den gerade dargelegten technischen Fakten, nämlich: „Entweder wir müssen alles von Grund auf neu programmieren oder wir sind zwar offiziell ein Unternehmen, haben aber nach wie vor den Verwaltungsaufwand von zweien“, wurde dennoch darauf beharrt, dass wir das zu schaffen hätten, und die Besprechung beendet.
Wo lag hierbei das eigentliche Problem? Die äußeren Umstände waren komplizierter geworden, doch so lange eine Lösung denkbar war oder wenigstens möglich schien, konnte mich nichts davon abhalten, sie zu suchen. Dass es aber Vorgaben bzw. Zielsetzungen gab, bei denen vollkommen klar argumentiert werden konnte, dass deren Umsetzung einfach nicht möglich war, und der zuständige Vorgesetzte dennoch darauf beharrte, begann mich innerlich zu zersetzen, weil ab diesem Punkt klar war, dass man das nicht mit mehr Einsatz oder noch schlaueren Überlegungen schaffen konnte, sondern die Fakten eben glasklare Undurchführbarkeit ergaben.

Zum ersten Mal in meinem Leben stand ich vor einer Situation, bei der alle Beteiligten wussten, dass sie nicht lösbar war und trotzdem nichts daran geändert werden konnte. Dies hatte zur Folge, dass die ersten Kolleg*innen unser Referat verließen bzw. sich das für die Programmierungen zuständige Referat des anderen Teilunternehmens vollständig auflöste. Wir waren also nun weniger Mitarbeiter*innen, hatten aber statt 1500 Leuten plötzlich 3500 zu betreuen und es gab niemanden, der uns sagen konnte, wie genau die Lösungen der zusätzlichen 2000 Mitarbeiter*innen funktionierten bzw. welche Grundgedanken dahinter lagen, und ab da nahm das Grauen seinen Lauf.

Aufgrund absolut verständlicher Überforderung wurde ich von meiner Chefin plötzlich dazu eingeteilt, Schulungen zu leiten, in denen ich eine Software erklären musste, von der ich noch nie etwas gehört hatte, die zum Zeitpunkt der Schulungen noch weit entfernt davon war, zu funktionieren und die dazu dienen sollte, die Schulungsteilnehmer*innen auf ihre zukünftige Arbeit vorzubereiten, weil sie bisher gewohnt waren, ihre technischen Arbeiten im Außendienst handschriftlich zu dokumentieren und von Laptops und Ähnlichem nichts wissen wollten.

Ich bekam Projekte umgehängt, deren Ursprung irgendein Update der Softwarefirma zugrunde lag, weshalb niemand genau wusste, was an den bisherigen Programmierungen geändert werden musste, um deren Funktionalität weiter zu gewährleisten, während die Fachbereiche, die damit arbeiten mussten, von Haus aus keine Änderungen wollten und dementsprechend kooperativ waren, und es verlässlich niemals jemanden gab, den man fragen konnte, der auch nur einen Funken verwertbare, hilfreiche Informationen hatte.

Selbst die Projekte, die früher kein Problem gewesen wären, verursachten grobe Schwierigkeiten, sobald man Programmierungen, die außerhalb unserer Zuständigkeit waren, anforderte, weil diese Kolleg*innen plötzlich nicht mehr sauber arbeiteten bzw. man sich auf deren Zusagen nicht mehr verlassen konnte. Man schickte ein stolzes Mail an die Fachbereiche, weil man die auf alle Heiligtümer dieser Welt geschworene, fixe Zusage bekommen hatte, dass die letzte notwendige Programmierung auf dem Produktivsystem nun funktionierte, und hatte eine halbe Stunde später 800 Störungsmeldungen, weil sich das Programm nicht einmal öffnen ließ.

Als ich mich darüber bei meiner Chefin beschwerte, schob diese mir die Schuld zu mit dem Argument: „Du weißt ja, dass die Kolleg*innen nicht mehr sauber arbeiten, und hättest du alles noch einmal durchgetestet, bevor du das Mail an die Fachbereiche geschrieben hast, hättest du alle Fehler dokumentieren, zurückschicken und die Fachbereiche vertrösten können.“ Ich argumentierte weiter: „Es kann nicht sein, dass es in Ordnung ist, zu akzeptieren, dass Kolleg*innen ihre Arbeit unfertig und falsch abliefern, und wir stattdessen deren Arbeit und Fehlverhalten, obwohl das in deren Zuständigkeit läge, ausbessern und so deren falsches Verhalten auch noch unterstützen und in weiterer Folge bei Beschwerden in der nächsthöheren Ebene die Antwort bekommen, dass doch eh alles funktioniere und worüber wir uns eigentlich aufregen …“ Sie nickte verständnisvoll, aber resignierend: „Ich kann die Situation nicht ändern. Entweder wir tun, was nötig ist, damit es am Ende funktioniert, oder unser Referat wird outgesourct.“

Ich erklärte unsere Zukunftsaussichten: „Das wird zur Folge haben, dass wir dann über kurz oder lang alles vollkommen alleine machen müssen, und das aber in Bereichen, von denen wir überhaupt keine Ahnung haben und auch nicht mehr die Zeit, uns in selbige einzuarbeiten.“ Sie nickte wieder resignierend, mahnte positives Denken ein, und als ich zugegebenermaßen aus der aktuellen Emotionalität heraus ein wenig deftig: „Es ist zwar oasch, aber es ist positiv oasch“ entgegnete, stieß sie ruckartig Luft aus ihrer Nase aus, grinste mich kopfschüttelnd an, und zum ersten Mal lag ich vor lauter Hass eine ganze Nacht lang wach, mein Magen fühlte sich an wie eine glühend heiße Bowlingkugel und ich schwitzte, als würde ich gerade ein Tennismatch bestreiten. Einige beruflich äußerst unglückliche Jahre zogen ins Land.

An der gerade beschriebenen Situation änderte sich nicht mehr viel, außer, dass ich mich daran gewöhnte, jede Nacht um 03:00 Uhr in der Früh schweißgebadet aufzuwachen bzw. Schüttelfrost zu haben, bis um 06:00 Uhr der Wecker läutete, und dass meine Arbeit ab einem gewissen Punkt ausschließlich aus von vornherein unlösbaren Projekten bestand, deren Voraussetzungen von Projekt zu Projekt an nicht mehr steigerbar geglaubter Aussichtslosigkeit auf erfolgreichen Abschluss um den aktuellen Aussichtslosigkeitsrekord stritten.

Wie Sie bereits vermuten werden, war schon lange nichts mehr mit Erholung von den vielen Freizeitaktivitäten in der Dienstzeit, sondern in der Regel kam ich heim und schlief ein bis zwei Stunden, um überhaupt wieder Kraft für irgendeine Handlung zu haben bzw. um, bis meine Frau als PKA in einer Apotheke im Normalfall gegen 20:00 Uhr nach Hause kam, wieder einigermaßen fit zu sein, weil sie nicht unter meiner Arbeitssituation leiden sollte. „Warum kündigst du nicht einfach oder wechselst zumindest die Abteilung?“ „Weil es innerhalb des Unternehmens gerade in jeder Abteilung so aussieht wie in meiner, mit dem Unterschied, dass ich in den anderen Abteilungen zwischen 500 und 1000 Euro netto weniger Gehalt bekomme und was mach ich dann, wenn die Probleme genauso unlösbar sind, mich genauso belasten und ich dafür auch noch um so viel weniger Geld bekomme als davor? Beim Kündigen besteht das Gehaltsproblem zwar nicht, sofern ich in der gleichen Branche bleibe, aber dafür ist mein Job nicht so sicher wie hier und von den externen Programmierer*innen habe ich die gleichen Geschichten gehört wie bei uns im Unternehmen, mit dem Unterschied, dass du einfach gekündigt wirst, wenn du die unlösbaren Dinge nicht löst.“ „Dann mach halt was ganz anderes.“ „Da bekomm ich dann in jedem Fall 1000 Euro netto weniger, weil die einzige offizielle Ausbildung, die ich abgeschlossen hab, die zum Bürokaufmann/-frau ist und ich bin jederzeit ersetzbar bei einem Beruf, der vermutlich ebenfalls wieder keinen Spaß macht und jede Woche 40 Stunden verschissene Lebenszeit darstellt und das kann ich nicht, weil ich kein Leben führen möchte, bei dem mir 40 Stunden jede Woche komplett wurscht sein müssen, damit ich es aushalte.“

Insgesamt sieben Jahre nach meiner ersten schlaflosen Nacht wurden bei meiner jährlichen Vorsorgeuntersuchung Herzrhythmusstörungen festgestellt, für die es keine körperlichen Gründe gab. Mir wurde ein psychologischer Test nahegelegt und bei der Befundbesprechung ein sofortiger Krankenstand inkl. psychologischer Betreuung dringend empfohlen. Einerseits half es sehr zu erfahren, dass nicht ich als Person bzw. meine Einstellung zur Arbeit, sondern die Arbeitsumstände schuld daran waren, wie es mir ging, andererseits ging es mir im Krankenstand nur geringfügig besser, da ich wusste, egal wie lange der Krankenstand auch dauern würde, irgendwann wieder zurück in diesen Job zu müssen. Ich beendete den Krankenstand also früher als geplant, erklärte meinem Abteilungsleiter, meinen bisherigen Job aus psychischen Gründen nicht mehr machen zu können, und ließ mich dazu überreden, im gleichen Team, aber einem anderen Bereich, die Tätigkeiten eines Kollegen, der ein bis zwei Jahre vor seiner Pensionierung stand, Schritt für Schritt zu übernehmen.

Zu Beginn fühlte ich eine kurzfristig Situationsverbesserung, aber bei näherer Beschäftigung mit den neuen Themen kristallisierten sich wieder die gleichen Probleme und die gleichen Zukunftsaussichten heraus, die der besagte Kollege mit Müh und Not bis zu seiner Pensionierung noch durchdrücken wollte. Als ich das erkannte, schaute ich mich nach Lösungsmöglichkeiten um und stieß durch Zufall auf eine Seite, bei der man 2500 Zeichen (ohne Leerzeichen) lange Kurzgeschichten veröffentlichen konnte. Ich erhielt positive Rückmeldungen in einem Ausmaß, das ich mir niemals träumen hätte lassen inkl. zum ersten Mal in meinem Leben bunt bemalter Fanpost im Briefkasten bzw. als ich in einer großen Buchhandlung in Wien Mitte einmal eine Geschichte von mir vorlesen durfte, von dunkelroten, aufgeregten, lieben Menschen die Hand geschüttelt und erzählt bekam, wie toll sie meine Texte fanden.

Plötzlich war es wieder da, dieses wunderschöne Gefühl von ganz früher, an das ich mich kaum noch erinnern konnte, nämlich mit einer Tätigkeit, die einem Spaß machte, anderen Leuten eine Freude bereiten zu können, und ab dann überschlugen sich die Ereignisse. Ich bekam eine Kollegin, die zumindest einen Teil meiner alten Tätigkeiten übernehmen sollte, gleichzeitig ging meine, mich immer zum Positiv-Denken ermutigende, Chefin aus psychischen Gründen in Krankenstand, ich wurde Vater und mich durchflutete plötzlich eine derartige Sinnhaftigkeit in meinem Tun, bei jeder gewechselten Windel, jedem Flascherl, jedem Trösten, Spielen, also eigentlich jeder Beschäftigung mit diesem wunderbar durch und durch reinen, ehrlichen Geschöpf, dass für mich nach meinem ersten Arbeitstag nach der Geburt bzw. nach dem Papamonat und die Art, wie mich der Kleine danach ansah, klar war, dass dies nun das Ende meines bisherigen Berufs bedeuten würde.

Dass die neue Kollegin, als sie sich von ihrem zukünftigen Arbeitsalltag ein Bild machen konnte, gleich wieder gekündigt hatte und mir ungefragt vom Abteilungsleiter deren Termine weitergeleitet wurden inkl. dem Mail an alle Fachbereiche, dass ab jetzt ich für all das zuständig sei, zusätzlich zu meinen aktuellen Tätigkeiten und der Info, dass meine Chefin nicht mehr zu uns zurückkommen würde, waren nur eine zusätzliche Bestätigung meines Entschlusses.

Fazit: Der 31.10.2020 war mein letzter offizieller Arbeitstag und seitdem stehe ich um die gleiche Zeit auf wie früher, setze mich aber, statt zu einem Ort zu fahren, für den ich ausnahmslos Hass und Verzweiflung empfinde, in unser ehemaliges Abstellkammerl und schreibe an meinem Roman und spüre, wie mir jede Seite, jeder Satz, jedes Wort, jeder Buchstabe, jedes Satzzeichen und sogar jedes Leerzeichen guttut, auch wenn ich die Folgen der letzten sieben Jahre immer noch mehrmals täglich spüre. Endlich fühlt sich wieder etwas sinnvoll, gut und richtig an, und vielleicht schaffe ich es ja, dass mein Roman, wenn er fertig ist, verlegt wird und ich davon einigermaßen leben kann, weil es dann genug Leute gibt, die damit eine Freude haben.

Ich würde jeden Tag schreiend vor Glück durch die Straßen rennen. Natürlich besteht auch die Möglichkeit, dass ich das nicht schaffen werde, aber dann habe ich zumindest die Gewissheit, einen Roman fertiggestellt zu haben, auf den ich stolz bin, und mit dem wenigstens Verwandte und Bekannte eine Freude haben. So lange aber nicht alle Verlage dieser Welt den Roman abgelehnt haben, werde ich es probieren, und selbst wenn das passiert ist, schreibe ich einen neuen, der durch die gemachten Erfahrungen mit dem aktuellen Projekt noch besser werden wird.

Ich weiß jetzt was ich für mein Leben brauch. Schreiben. Einfach schreiben und spüren, wie ich mich Zeile für Zeile wieder gesünder fühle, um wieder Kraft zu haben für all die wunderbaren Dinge und Menschen auf dieser Welt, und ja, die gibt es. Es sieht nur so aus, als wären die Idioten mehr, weil die guten Leute meistens einfühlsam und ruhig sind. Schon all das in diesem Text aufzuschreiben, hat sich so unendlich wohltuend und gesund angefühlt. Allein dieses Kribbeln im Bauch, das ich gerade spüre, weil ich weiß, kurz davor zu sein, mit dem Text fertig zu werden, hat mich schon wieder ein Stück gesünder werden lassen, und wenn Sie bei diesem Text jetzt gerade zum ersten Mal kurz milde lächeln müssen, habe ich mein Ziel schon mehr als erreicht. Sowohl für den Text, als auch für mich selbst.

Abschließend muss ich sagen, dass der Schluss natürlich ein bisschen kitschig ist, aber wenn die Wahrheit einmal kitschig klingt, dann habe ich wohl endlich die richtige Entscheidung für mein Leben getroffen.

Lukas Lachnit

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer:  22108

 

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