Glück

„Manchmal passiert es ganz von allein“, sagte Reto, „ansonsten muss man sich anstrengen, sonst passiert überhaupt nichts.“ Ich erinnerte mich wieder an seine Worte, nachdem ich vor einer Weile wieder die Bilder der Italienreise ansah. „Manchmal passiert überhaupt nichts“, wiederholte ich mir vor meinem inneren Ohr und das Nachdenken über meine Reisebekanntschaft, ihr Aussehen, ihr Händedruck ergriff mich wieder für einen Augenblick.

Seitdem sind fast siebzehn Jahre vergangen. Ich öffne die Gardinen und sehe hinaus auf die Straße, wo Menschen in einen Autobus ein- und wieder aussteigen. So viele Menschen, so viele Schicksale, die dir auf den ersten Blick nichts sagen, dir völlig gleichgültig sind. Und doch kann sich so vieles ereignen, in den paar Minuten, in denen der Bus hält. Menschen schließen neue Bekanntschaften, oder es kommt zu zufälligen Begegnungen, die den Menschen erst Jahre später wieder in den Sinn kommen.

Ich entschließe mich, meine Wohnung zu verlassen und in die Stadt zu gehen. Auf dem Weg in die Stadt begegnen mir Retos Gedanken wieder: „Manchmal passiert es ganz von allein.“ Der Himmel ist heute bewölkt, aber die Sonne scheint manchmal durch die Wolken. Es ist viel Verkehr auf den Straßen, obwohl heute ein Feiertag ist. Ich komme an einem Park vorbei, überall liegt Eichenlaub und ich gehe zum Kiosk, um mir eine Zeitung zu kaufen. Nachdem ich die Zeitung bezahlt habe, setze mich auf eine Bank und beginne diese zu lesen.

Nach einigen Minuten sehe ich, wie sich eine junge Frau auf die Bank neben mir setzt. Sie trägt eine blau-weiß-karierte Bluse und rosafarbene Cordjeans. Als sie sich auf die Bank gesetzt hat, bemerkte ich, dass sie einen traurigen Eindruck macht. Während ich versuche, meine Zeitung zu Ende zu lesen, muss ich immer wieder daran denken, wie ich diese junge Frau ansprechen könnte. Ich lege meine Zeitung beiseite, wechsle die Straßenseite und setze mich neben diese junge Frau. Sie sagt nichts. Ich flüstere ihr zu: „Ich habe neulich erst einen Roman eines bekannten Schriftstellers gelesen. An einer Stelle kommt das Lied ‚Pretend you’re happy when you’re blue‘ vor.“ Ich beginne ihr das Lied vorzusingen. Wieder zeigt sie keine Reaktion.

Eine Weile bleibe ich so sitzen, dann gehe ich wieder zum Kiosk und kaufe einen Apfel. Diesen lege ich auf die Bank und verabschiede mich von der jungen Frau. „Manchmal passiert überhaupt nichts“, muss ich an Retos Worte denken. Als ich nach Hause gehen will, lässt mich aber der Gedanke an diese junge Frau nicht in Ruhe. Wer könnte sie wohl sein? Ist sie vielleicht eine Studentin? Ist sie eine Einheimische oder eine Touristin? Damals auf der Italienreise war es mir doch auch so ergangen, dass eine flüchtige Beziehung eine flüchtige Beziehung blieb.

Ich mache kehrt und gehe zum Park zurück. Da ich befürchte, dass mein Interesse der jungen Frau unangenehm sein könnte, schleiche ich mich nur leise heran. Als ich an der Bank vorbeikomme, bemerkte ich, dass die junge Frau nicht mehr dort sitzt. Stattdessen liegt ein genüsslich abgegessener Apfelbutzen auf der Bank. Ich fange an zu lachen und denke mir: „Manchmal passiert es ganz von allein.“

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 21064

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