Abschied

Wieder einmal geht was Schönes vorbei, und obwohl ich genau wusste, dass es so kommen musste, bin ich nicht frei,
hänge in einer Zeitschleife, noch eh ich begreife, dass ich mit meiner Seele um die Wette schrei,
spüre, wie ich im Nacken versteife, weil sich alle Muskeln und Sehnen dagegen wehren
im Hier und Jetzt zu sein und mit allen Sinnen neu zu beginnen, weiterzuspinnen
und eine Zeitblase zu schließen, fall wider alle Vernunft ins Begehren,
das Glitzern im Gestern mit Goldstaub zu verzieren, einzufolieren und binnen
kurzer Zeit mich darin zu verlieren. Weil es so verdammt schwer ist,
da weiterzumachen, wo es aufgehört hat. Auch wenn’s noch nicht so lang her ist.

Jeder Tag ist ein Abschied, jede Stunde, jede Minute verlässt mein Leben, kommt nicht wieder, denn nichts bleibt, wie es war.
Und meistens hab ich gar nicht die Zeit, darüber nachzudenken, weil das Vergehen so schnell geschah,
und ich, ins Leben vertieft, kann nur noch die Staubwolken sehen von all den Ereignissen,
die schwinden, sich zu meiner Vergangenheit verbinden, und nur, wenn ich mal innehalte, so wie jetzt, kann ich sie wirklich vermissen.
Dann werd ich traurig, wenn der Baum vor meinem Fenster seine Blätter verliert,
weil wieder einmal ein Sommer vergeht und in meiner Erinnerung steht,
dass er so, wie er war, nie wieder passiert. Und mit ihm im Schlepptau zieht die Illusion dahin,
dass ich noch mittendrin im Beginn meines Lebens bin, dass alles noch vor mir liegt und ich resistent gegen das Altern bin.

Jeder Abschied ist ein bisschen wie Sterben, sagt man
und egal, ob er groß ist oder klein, wird er nie ohne Schmerz und Wehmut sein,
zieht ungeschminkt in deinem Herzen ein, ob du es willst oder nicht,
um es zu stempeln und dich für dein Leben zu prägen.

Es gibt viel mehr Abschiede im Leben, als ich denke, und mir war nicht bewusst,
dass ich mich nicht nur von Herzensmenschen, sondern auch von Träumen, Hoffnungen und Glaubenssätzen verabschieden muss,
von einer Blüte, die mich bis zum November erfreute, von einer Prüfung, die ich scheute,
von Gedanken, die man mir als Kind einbläute, dass eine Liebe ein Leben lang hält,
dass das, was ich tue, mir jeden Tag gefällt, ein Schiff niemals an den Klippen zerschellt
und eine Freundschaft jede Belastung aushält, dass mein Lieblingskäse irgendwann verfällt
und von der Vorstellung, man bräuchte kein Geld, um glücklich zu sein.
Von dem Glauben daran, dass es keine Kriege mehr gibt auf der Welt, von meinem Papa als Held, und dass auch die Zeit nicht immer
alle Wunden heilt, und manchmal macht auch ein Sonnenstrahl alles nur noch schlimmer.

Und ich ertapp mich dabei, wie ich mich in meinen Zimmern einschließe
mit meinem Erinnern, es nicht rauslassen will, meine Zeitschleife genieße
darin döse, in Selbstmitleid zerfließe und so tue, als ob es das Jetzt wäre.
Versuche, in diesem Schein, es mit aller Kraft zu halten, den Lauf der Zeit aufzuhalten,
alle Uhren abzuschalten, es an den Wänden festzunageln, vor den Türen aufzustapeln
und sehe, wie ich die Fähre, die in meinen Adern zirkuliert, damit beschwere,
die mein Herz befüllt, bis es überquillt, weil ich alles aufbewahren will, damit der Abschied bloß nicht endgültig wird.
Sehe, wie das Erinnern wie ein Flimmern durch meine Zellen schwirrt.
Und mein Herz dann, völlig überfüllt, sich in Schweigen hüllt, still steht,
ich an der Erinnerung kleb, und mein Leben kopfnickend an mir vorübergeht.

Jeder Abschied ist ein bisschen wie Sterben, sagt man
und egal, ob er groß ist oder klein, wird er nie ohne Schmerz und Wehmut sein,
zieht ungeschminkt in deinem Herzen ein, ob du es willst oder nicht,
um es zu stempeln und dich für dein Leben zu prägen,
der dich neu formt und zu dem macht, der du bist, sich durch deine Gänge frisst,
um dich dann von Scherben umrahmt zurückzulassen, Narben zu hinterlassen,
die dich, tief in deinem Innern, für immer an ihn erinnern.
Und vielleicht wird ein Teil von dir in seinen Trümmern niemals ruhen,
weil er in längst verschlissenen Schuhen in dir umherirrt.
Und du setzt deine Scheuklappen auf, obwohl er nicht aufgibt, dir nicht gut zu tun,
bist ein Gewohnheitstier, durch und durch, geblendet von dem Schimmern
der unstillbaren Sehnsucht danach, wie es einmal war.

Wissenschaftlich betrachtet, müssen wir ein schlechtes Gefühl nur 90 Sekunden aushalten, bevor es ganz von allein wieder abfällt.

Wenn ich also meinen Abschiedsschmerz für eine Weile ertrage, ihn nicht blockiere und mit giftigen Pfeilen torpediere,
mich nicht ständig frage und studiere, wie es vorher war, mich darin verliere und nicht kapiere,
dass ich loslassen muss, damit ich den Schmerz überwinde, auch wenn der sichere Boden wackelt,
weil die Veränderung an meinen Toren rackelt und rumpelt, verzweifelt um Einlass fleht
und mir nur die Kraft ausgeht, weil ich so lange gegen sie angekämpft habe,
anstatt mit dem Herzen den neuen Weg zu fühlen, den alten dankbar zu verlassen,
ohne Ungewolltes auszusortieren und die Edelsteine, die ich dort fand, zu verlieren und als besondere Gabe
zu verstehen, als Geschenk des Lebens, das ich mir bewahre, um es dann
in das Neue zu flechten …
Dann geht es voran, weil mein Herz endlich tanzen kann.

Jeder Abschied ist ein bisschen wie Sterben, sagt man
und egal, ob er groß ist oder klein, wird er nie ohne Schmerz und Wehmut sein,
zieht ungeschminkt in deinem Herzen ein, ob du es willst oder nicht,
um es zu stempeln und dich für dein Leben zu prägen.
Doch wenn Schmerz und Trauer verblassen, offenbart die Liebe
ihre eigene Tiefe, die sie bis dahin nicht kannte und unentdeckt bliebe.
Die dir die Kraft gibt, weiterzugehen, Samen im Neuen zu säen und den Segen
der Blüte weiterzugeben, in neuen Farben zu strahlen und für das Leben ein funkelndes Fest zu geben.

Claudia Lüer

Diesen Text können Sie hier auch hören, gelesen von der Autorin.

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