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Die Krise 4 – Der Reiz des Geldes

Es ging um einen Arbeiter in Escortins Kieswerk. Man fand heraus, dass jener keine Aufenthaltsbewilligung hatte. Peinlich für Escortin. In Fällen illegaler Beschäftigung wurde hart gestraft. Escortin nahm es gelassen. Man werde sich darum kümmern, versicherte er dem Beamten, dass jener einen Antrag für seinen Aufenthalt hier stellte, dann wäre vorläufig einmal wieder alles im Reinen. Das wäre immer das Gleiche mit den Ausländern, ätzte seine Gattin Anica völlig aufgebracht und blitzte giftig aus ihren Sehschlitzen heraus. Erst geben sie sich als jemand anderer aus, sind im Krankenstand einmal der Mehmed X, vor der Behörde dann wieder der Ali B. Und wer hätte das Nachsehen und die Probleme? Wir!, gab sie sich selbst die Antwort. Die tanzten einem ja doch bloß auf der Nase rum!
Man kriege keine anderen, brummte Escortin grantig und sah von seiner Zeitung kaum dabei auf. Und wenn es schon ein Einheimischer sein müsse, dann wäre der schließlich um einiges teurer als ein Dahergelaufener. Bei den Baggerfahrern sei er ohnehin Patriot. Aber Hilfsarbeiter brauchten nicht so teuer zu sein. Schließlich wolle man selbst auch noch was von dem Kuchen haben. Und einen Unterschied wird´s ja wohl noch geben dürfen, net woa? Wo käme man denn schließlich da noch hin, wenn´s keinen Unterschied mehr gäbe?

Damit schien die Debatte zwischen Anica Escortin und ihrem Gatten erledigt. Sie ging ins Badezimmer, wo sie sich eine Zeit lang aufhielt, um sich zu schminken. Er brütete über seiner Zeitung. Aber Escortin war zu unkonzentriert, um zu lesen. Er musste vielmehr an seine Geschäfte denken. Vor allem aber auch an den Erwerb des neuen Gemeindegrundstückes und die damit verbundene Parteispende, über deren Höhe er sich im Nachhinein dann doch noch geärgert hatte. Unverschämt, dieser Mirando! Und er ärgerte sich über Rembert Mirando, jenen Polit-Parvenü, der noch nie etwas Herzeigbares geleistet hatte und dessen Mundwerk größer war als seine Taten. Und solche Leut´ würden hier bei uns Politik machen, murmelte er vor sich hin.
Natürlich, da war auch noch der Bürgermeister. Bei der Jagd waren Escortin und er die besten Freunde. Aber wenn es um Grund und Boden ging, konnte es zwischen den beiden Männern schon einmal ungemütlich knistern. Mit dem Bürgermeister konnte man über beinahe alles reden, nur nicht über Grunderwerb. Und schon gar nicht, wenn es um die Ausweitung der escortin’schen Schotterpfründe ging. Die meisten Grundstücke waren Bauernland, und die Bauern legten sich schon aus Prinzip quer, wenn der Bürgermeister von ihnen ein Stück Grund brauchte, um da und dort ein Wasserreservoir oder sonst was zu errichten, oder, wie schon so oft, Escortins Schottergruben vergrößern zu helfen.
Doch eine Hand wusch die andere, und diese Maxime war ihnen im Laufe der Jahre zum Prinzip geworden. Aufgrund dieser Tatsache war der Bürgermeister nichts anderes als ein Handlanger Escortins geworden. Und Escortin wollte mehr. Vor allem aber war es seine Gattin, die immer mehr wollte.

Anica Escortin fuhr in ihrem Wagen zum Shoppen. Was hätte sie an so einem langweiligen Tag auch Besseres tun sollen? In der Nähe des Ortes gab es ein großflächiges Outlet, in dem man sich stunden-, ja tagelang aufhalten konnte. Und im Shoppen war sie eine Meisterin. Fünfzig Paar High-Heels, und ebenso viele Taschen. Das sollte ihr einmal jemand nachmachen! Wenn sie einmal die Einsamkeit plagte, setzte sie sich in eine Konditorei oder ein Kaffeehaus, um dort irgendwelche Leute anzuschwatzen und sie davon zu überzeugen, wie sympathisch sie doch eigentlich sei, trotz ihrer schlitzäugigen Visage.
Das tat sie immer, wenn ihr das Selbstbewusstsein auszugehen drohte oder sie ihre Periode hatte, während der sie oft häufig unter heftigen Gefühlsschwankungen litt. Im Verlauf solcher Gespräche wurde sie natürlich gefragt, wer sie sei und woher sie käme. Und Anica Escortin war eine Frau, die gerne konkrete Antworten gab. Sehr konkrete. Dabei ließ sie kaum ein Fettnäpfchen aus, in das sie treten konnte. Wenn man nicht ständig über sich spreche, meinte sie, würden einem eben auch keine Fehler passieren, und dann lachte sie meckernd. Aber es machte ihr nichts aus, wenn man sie hier und dort nicht ganz ernst nahm, sie hatte schließlich nichts zu verlieren.
Auf der Suche nach einem passenden Schal für ihr neues rosa Kostüm waren ihre Gedanken auf Rembert Mirando gekommen. Sie griff nach ihrem Handy und wählte seine Nummer. Rembert Mirando! Was für ein Zufall, dass sie mit einem so gutaussehenden jungen Mann wie ihm ein Verhältnis haben konnte. Dabei kniff sie ihre Sehscharten kühn zusammen.

Mirando, der eben zu diesem Zeitpunkt in einer außerordentlichen Gemeinderatssitzung völlig unbewusst an seinen ureigensten Charaktereigenschaften arbeitete, nämlich andere vom Gegenteil dessen zu überzeugen, was man von ihm so allgemein hielt. Kraft seiner neuen Funktion nahm er für sich in Anspruch, nun einer jener Menschen sein zu dürfen, die sich im Besitz ausgeprägter Tugenden wie auch moralischer Überzeugungen wähnten. Schließlich wurde das von einem erwartet. Und doch blieb es Faktum, sodass man unschwer über ihn hätte sagen dürfen, sein Privatleben, seine Handlungen, Meinungen oder Aussagen widersprächen seinen öffentlichen Äußerungen zutiefst.
Mirando griff zum Handy, als es nun doch schon etwas zu lange geläutet hatte. Früher hätte er es während einer Sitzung abgeschaltet. Aber jetzt, wo er mit einem Male so wichtig geworden war, führte er es mit jener gelangweilten Genugtuung ans Ohr, die signalisieren sollte, wie störend dieser Anruf eigentlich sei, aber man einfach nichts dagegen machen konnte. Ob er für heute Nachmittag frei wäre, flötete Anica Escortin mit Jubelstimme.
Mirando tat vorerst auf „man wüsste nicht, was heute noch auf ihn zukommen würde“. Schließlich war seine Mission erfüllt. Die Gemeinde hatte das Geld. Wozu also brauchte er die Escortin mit ihren Säulenbeinen eigentlich noch, wo es doch wesentlich attraktivere Frauen in seiner nächsten Umgebung gab, ohne Zellulitis und der rieselig bleichen Oberfläche eines kalt gewordenen Grießkochs, die er alle haben konnte, wenn er es nur gewollt hätte. Jedoch auf ihr Drängen gab er sich schließlich doch einen Ruck und stimmte einem kurzen Treffen in der Scheer-Bar zu.
Was hatte er dabei zu verlieren? Anica Escortin war entzückt über die plötzliche Fügung des Schicksals und versah ihn mit Handyküssen. Rembert Mirando hielt die Hand auf den Lautsprecher, um Anica Escortins Schmatzen zu dämpfen. Gleichzeitig fielen seine Blicke auf die Tageszeitung vor ihm auf dem Konferenztisch, da die Sitzung ohnehin schon ins Private entglitten war.
Eine Handvoll vermummter, offensichtlich schwachsinniger Jung-Neos (keine Ähnlichkeiten mit einer bestimmten politischen Partei) hatten ausländische Besucher einer Gedenkstätte mit rüpelhaften Rufen attackiert. Man sollte die Jungen doch lassen, hatte einer der Gemeindegranden vorhin gesagt, sie hätten ein natürliches Gefühl für Gerechtigkeit. Und irgendwer müsste so eine Dreckarbeit wohl auch machen, damit die Erinnerung daran, wer denn nun eigentlich die Guten und wer die Bösen waren, nicht zu sehr verblasste.
Mirando schob seine Lippen nach vorne, um ihm den Blick auf den an seinem Sakko befestigten Button mit dem Landeswappen zu erleichtern, auf den er sehr stolz war. Man hatte es, quasi auf dem Postweg, allen Gemeindebediensteten verliehen, mit einem Begleitschreiben, in dem es hieß, wer stolz auf sein Land und seine Position in der Verwaltung wäre, sollte diesen Button aus Solidarität mit der Regierung an der Kleidung anbringen. Mirando hob wieder den Kopf und brachte seine Lippen in geordnete Normalstellung. Der Bürgermeister war bereits aufgestanden, die Sitzung beendet. Hände wurden geschüttelt.

Mirando eilte die Treppen des Rathauses hinunter, riss die schwere, gusseiserne Eingangstür auf und eilte über den Platz in die Café-Bar Scheer, auf der gegenüberliegenden Seite des Rathauses. Anica Escortin war noch nicht hier. Mirando warf einen raschen Blick auf seine Armbanduhr, dann sah er aus dem Fenster auf die große Rathausuhr. Er überlegte fieberhaft. Nur wenige Schritte trennten ihn von Stefanie Raymundos Geschenkboutique. Sollte er ihr einen kurzen Besuch abstatten, bevor die Escortin hier hereinkam? Rasch kehrte er der Scheer-Bar den Rücken, als er auch schon im Geschäft Raymundos stand.

Die Türglocke war nicht zu überhören gewesen, jedoch niemand außer ihm war hier. Er rief einmal laut ihren Namen. Nichts rührte sich, als die Eingangstüre eben heftig aufgestoßen wurde und sie in der Türe stand, Stefanie, in voller Schönheit und Elegance. Sofort machte ihr Mirando ein paar übertriebene Komplimente, die sie aufs Heftigste zurückwies. Auch, wie sehr ihre engen Jeans die Figur betonen würden, und zu welchen Vorstellungen der gewagte Ausschnitt ihrer Bluse seine Fantasie beflügelte. Stefanie lachte bloß und warf den Kopf in den Nacken. Aber so gleichgültig war ihr gar nicht, was Mirando da vor sich herlaberte. Sie sah ihn von der Seite an.
Mirando schlenderte zwischen den Regalen herum und betrachtete indes scheinbar interessiert die unnötigen Nippes-Sachen, die dort überall auf den Regalen herumstanden. Stefanie ging zur Eingangstür. Sie war sich ziemlich sicher, dass Mirando nichts kaufen wollte und lehnte sich an diese, schloss mit der rechten Hand hinter ihrem Rücken von innen ab und eilte auf ihn zu. Mirando hatte zu schlucken begonnen, seine Kehle war ausgetrocknet wie eine Zisterne in der Wüste Gobi.
Sie umarmte ihn stürmisch. Er erwiderte ihre Umarmung und fasste sie unmittelbar darauf mit beiden Händen an ihrem ziemlich harten Hintern. Mit starkem Druck presste er ihr Becken an seines, an dem sich bereits eine ziemliche Beule abzuzeichnen begonnen hatte. Stefanie stöhnte leise in Erwartung, was denn nun kommen würde. Mirando schob sie vor sich her hinter das Verkaufspult und von dort hinter den Vorhang einer Umkleidekabine, die sich hier befand, obwohl es keine Kleidung zu kaufen gab. Seine Hand tastete nach dem Vorhang, hinter dem sie Schutz für ihr Treiben suchend verschwunden waren, und zog ihn völlig zu.

Inzwischen war Anica Escortin in der Scheer-Bar eingetroffen und kontrollierte ebenso nervös wie Rembert Mirando vorhin die Zeit auf ihrer goldenen Armbanduhr. Barkeeper Ferry deutete wortlos mit dem Kopf in Richtung Raymundos Boutique. Er sei eh schon da gewesen, aber jetzt sei er da drüben. Anica Escortin bestellte einen kleinen Braunen. Ihre kurzen, fetten, weißen Finger trommelten ohne Unterlass auf die Glasplatte des kleinen runden Tischchens vor ihr. Ihr hohler Blick, nach draußen auf den leeren Platz gerichtet, verriet, dass sie sich ärgerte.
Nach einer Viertelstunde betrat Mirando atemlos das Lokal und gab sich übertrieben überrascht, Anica Escortin jetzt schon vorzufinden. Das konnte er wirklich überzeugend. Sie feuerte giftige Blitze aus engen Sehöffnungen gegen ihn. Ob er nicht wüsste, wie spät es wäre? Doch, schon, aber … Sie schnitt ihm das Wort ab und begann zuckersüß zu lächeln. Rembert war verunsichert. Ob sie was ahnte? Was denn nun mit dem Hausbau sei?, fragte er rasch, um abzulenken. Das habe Zeit, meinte die Escortin gähnend, schließlich sei man ja nicht obdachlos. Und sie lachte scheppernd. Ob er nicht kurz Zeit habe für sie?
Rembert Mirando litt noch von vorhin an einem starken Brennen zwischen seinen Beinen und konnte sich alles vorstellen, alles, nur das jetzt nicht! Er habe noch einen dringenden Weg, flüchtete er sich in eine Ausrede. Sie sagte, er solle sich genau überlegen, ob es nicht besser sei, anders zu disponieren, man wisse schließlich nicht, ob man sich nicht noch gegenseitig brauchen werde. Dieser Satz machte ihn nachdenklich und er überlegte die Möglichkeit, wenn er eine gehörige Portion Vaseline auftrüge, ihrem Drängen besser nachzukommen, denn wer wüsste wirklich schon, wozu es gut sein würde? Mirando, der noch immer eine trockene Kehle hatte, hatte noch nichts bestellt, als Anica Escortin ihren Kaffee bezahlte und aufstand, um zu gehen.

Gegenüber aber, in der kleinen Boutique von Stefanie Raymundo, wurde heftig diskutiert. Es wurde gesagt, eine Person, die vorgab, über diverse Tugenden, fundierte moralische oder religiöse Überzeugungen sowie unumstößliche Grundsätze zu verfügen, Eigenschaften also, die sie in Wirklichkeit nicht besaß, seien bloß eine Maske, um vorzutäuschen, sie selbst sei so eine Person also, deren Handlungen ihrer Überzeugung jedoch widersprächen. Und eine solche Person wäre ganz einfach ein Hypokrit, ein Heuchler.
Mit dieser Erklärung versuchte Eva Vanin verzweifelt, ihrer intimsten Freundin Stefanie Raymundo klarzumachen, was für einer dieser Rembert Mirando wäre. Und Stefanie stand da, in ihrer Wohnküche in ihrem kleinen Laden, mit gesenktem Kopf, und rauchte eine Zigarette nach der anderen, während Eva langsam und umständlich den obersten Knopf ihrer Jeans aus seinem Knopfloch zu lösen begonnen hatte.
Im Gegensatz zu Mirando wäre sogar ein Paul Pedasoli zu ertragen, den sie, wenn auch ungern, hin und wieder an der Seite Stefanies gerade noch duldete.
Inzwischen hatte Rembert Mirando, seit dem erfolgreichen Coup mit Escortin und dem Grundstücksdeal sowie der Parteispende an die führende Partei der Gemeinde, seinen Karriere-Claim ein wenig weiter abgesteckt. Als er herausgefunden hatte, dass das Geld einmal erst auf einem Privatkonto zwischengelagert werden sollte, hatte er sich großzügig dafür zur Verfügung gestellt, auch auf die Gefahr hin, dass diese plötzliche und noch dazu so ungewöhnlich hohe Summe auf seinem eigenen Konto zu einer außerordentlichen Prüfung durch die Finanzbehörde führen könnte. Mirando wähnte sich in Sicherheit. Vor allem aber dachte er an die anfallenden Zinsen, die er, ohne mit der Wimper zu zucken, für sich in Anspruch zu nehmen gedachte, als kleine Entschädigung für seine Dienstleistung quasi. Und schließlich, würde er ja auch noch Mandatar, wäre er politisch immun und geschützt vor ungerechtfertigten Schnüffeleien seitens der Behörden, wie er sich zusammenreimte. Vielleicht könnte er es schaffen, das Geld ein Jahr lang auf seinem Konto zu belassen, erst dann würde man weitersehen. Je länger, desto mehr würde er davon profitieren. Und die Wahl lag noch in weiter Ferne, wie auch die Begleichung der Rechnungen für Plakate, Werbung und was sonst noch alles dazugehörte, wohl noch länger. Schließlich müsste man auch nicht sofort bezahlen. Also könnte er gar noch über ein zweites Jahr an dieser Summe partizipieren, bis zur Umbuchung eben.
Von dem Zeitpunkt an, an dem Mirando Escortins Parteispende auf seinem Konto wusste, ging er täglich zur Bank, um den unglaublichen Kontostand am Bankomaten abzulesen. Oftmals stand er sogar des Nachts zu diesem Zweck auf, und schlich unbemerkt in die Bankfiliale, um sich zu vergewissern, dass er nicht geträumt hatte. Dieses Geld war gewissermaßen sein Baby, und er wachte darüber, ob es auch ordentlich schlief. Seine Frau hingegen wusste von alldem nichts. Alles geschah heimlich. Dadurch ungemein beruhigt, manifestierte sich in ihm die Vorstellung, sich von diesem Geld unter keinen Umständen mehr trennen zu wollen. Ja, er hatte es richtig zu lieben begonnen, und überlegte fieberhaft, wie er es durch komplizierte Transaktionen auch in Zukunft würde behalten können.

Dieser Tage hatte er sich wenig um Anica Escortin gekümmert und war auch nicht bei Stefanie Raymundo gewesen, so sehr vereinnahmte ihn seine neue Aufgabe, sich seinem unerwarteten Reichtum zu widmen. Geld, dachte er, wäre ihm noch wichtiger als Frauen. Und er schloss leise die Tür zum Sekretariat wegen der permanenten Ablenkung, Fräulein Mileva nicht ständig unter den Rock schauen zu müssen, wenn sie mit leicht geöffneten Beinen hinter ihrem Schreibtisch saß.
Jeden anderen hätte das Gewissen geplagt. Aber nicht einen Rembert Mirando! Man hätte ihn allein wegen seiner Absichten schon als Wirtschaftskriminellen abtun können, etwa wegen Verdachts der Geldwäsche oder der Bestechung. Man würde sagen, er hätte Millionen bekommen und unterschlagen, aus Schmiergeldern oder Parteienfinanzierung oder untitulierten Zahlungen an Dritte. Man hätte ihm vorwerfen können, er, der Verdächtige, habe gefälschte Belege vorgelegt, was zur Festnahme geführt habe, vielleicht wegen Verdunkelungsgefahr und wegen weiterer Tatbegehungsgefahr? Das Geld sollte möglicherweise in höchst dubiose Geschäfte geflossen sein, die mit der ursprünglichen Bestimmung gar nichts zu tun gehabt hätten?
Man musste schon ein ausgekochter Bursche sein, um sich nicht von einem mehr als lästigen Gewissen dreinpfuschen zu lassen. Und Mirando ließ sich nicht dreinpfuschen. Mehr noch. Er betonte bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass er einer sei, der nicht gleich den Schwanz einziehen, sondern Stehvermögen beweisen würde, wenn einmal etwas schiefging. Er wäre keiner, der gleich zurücktreten würde. Schließlich hatte man ihn hereingeholt, um sein Können unter Beweis zu stellen. Er könne seine Förderer und Gönner schließlich doch nicht mit einem Rücktritt vor den Kopf stoßen?

In dieser Situation empfand er es als ungeheuren Vorteil, sich in einem geschützten Bereich verbergen zu können. Einem Bereich, der ihn vor den Blicken der Neider und Intriganten bewahrte. Seine nunmehrige Stellung erlaubte ihm die nötige Deckung, hinter der man ungestört agieren konnte. Man musste bloß unauffällig genug sein, nur nicht auffallen war seine Devise. Die Öffentlichkeit täuschen, uninformiert zu lassen, sie nur mit Worthülsen bedienen, ihr gerade das Notwendigste mitteilen, so wie es alle immer schon gemacht hatten. Und Rembert Mirando kostete diese Situation genussvoll aus.
Einer Beschwerde über einen Mitarbeiter aus den unteren eigenen Reihen begegnete er derart, dass er diesen zu sich rufen ließ, ihn eine halbe Stunde vor seinem Büro warten ließ, um vorerst ein privates Telefonat zu erledigen, um ihn dann vor dem Personalchef nach allen Regeln der Kunst zur Sau zu machen. Was er denn schon sei. Arbeitnehmer. Und also solcher ohnehin bloß Bittsteller. Ferner sprach er eine Verwarnung aus, dessen Dienstvertrag bei nächster Gelegenheit kürzen zu lassen, eine Bedrohung, die angesichts der prekären Wirtschaftslage und Arbeitsmarktsituation mehr als eine gefährliche Drohung war.
Das sprach sich rasch herum in der Gemeinde und die Leute hatten Angst vor Mirando, Angst vor seinem Einfluss, und auch vor dem Bisschen Macht, das er repräsentierte. Im Laufe der Wochen und Monate wurden Mirandos Anzüge immer schwärzer, straffer, strenger. Sein Gang immer steifer, der Klang seiner mit Metall beschlagenen Absätze beim Gehen immer lauter. Ansuchen, die über sein Büro liefen, blieben immer länger liegen oder wurden negativ beschieden.
Einmal bat eine Mitarbeiterin um einen Gehaltsvorschuss. Schließlich war die Krise bis in alle sozialen Schichten vorgedrungen und viele hatten bereits nicht mehr das notwendige Geld für die Dinge des täglichen Gebrauchs. Was sie sich einbilde!, entgegnete ihr Mirando forsch. In Zeiten wie diesen gäbe es für niemanden einen Gehaltsvorschuss!, donnerte er. Sie sollte sich doch umhören. Selbst die Banken würden die Kreditklemme nur schwer lösen wollen. Man wusste schließlich nicht, was kommen würde. Und überdies müsse sie es hinnehmen wie andere auch, dass die Gemeinde kein Kreditinstitut sei. Sie erwiderte, das Verhalten ihrer Hausbank habe sich ihr gegenüber seit der Krise zum Schlechteren gewandt.
Da lachte Mirando nur und meinte, dann müsse sie eben den Gürtel enger schnallen. Sie alle, auch er, müssten das. Und das sei nichts Außergewöhnliches, fügte er hinzu und wies sie an, die Türe seines Büros von außen zu schließen.

Der Glaube der Bürger an das tatsächliche Vermögen einer funktionierenden Kommunalpolitik schien unerschütterlich, wenngleich man sich in Zwicklingsau bewusst war, oder Hintertupfing, richtig, was sich gleich blieb, dass die großen Dinge dieser Welt ohnehin nur global oder EU-weit erfüllt werden konnten. Umso mehr setzte man auf die Hoffnung lokalpolitischer Potenz, mit der in gewissen Bereichen noch dies und das erreicht werden könnte, was im großen Rahmen der Zulässigkeiten sonst nicht möglich gewesen wäre.
Nach einer eingehenden Analyse der kleinbürgerlichen Seele dieses Ortes konnte man aber feststellen, dass sich allgemein sehr starke Gegenreaktionen gegen den Fortschritt abzeichneten. Dies zeigte sich in der Permanenz der Ablehnung um die Neugestaltung des Hauptplatzes ebenso wie im trotzigen Beharren gegenüber jeder Art von innerer Veränderung und manifestierte sich in pathologischen Ängsten vor dem Neuen, dem Unbekannten, dem Fremden. Immer dann aber, wenn vom langsamen aber sicher abbröckelnden Glanz längst vergangener Ehren die Rede war, setzte sich auf den unhörbaren Einsatz hin ein hervorragend eingeübter Chor kollektiver Verdrängung in Gang, einem Sangeswettbewerb gleich, als ob es darum ginge, die glücklosen Taten irritierter Väter und Väterväter vor einem unsichtbaren Tribunal immer wieder aufs Neue bejubeln zu müssen.
Die Rede ist von jenen Ehren, von denen man besser schweigen sollte, weil sie, von Blut besudelt und durch Diebstahl erworben, nicht mit denen in fairen Wettbewerben erkämpften zu vergleichen sind. Am meisten aber fürchtete man den das Leben so unflätig verachtenden Tod, der Tag und Nacht dazu imstande war, die schrecklichsten Bilder in den Köpfen der vorwiegend daseinsorientierten Zwicklingsauer (oder Hintertupfinger) entstehen zu lassen. Die unumstößliche Tatsache, nichts davon mitnehmen zu können, was man zu Lebzeiten mühsam erworben hatte und vor den neidvollen Blicken anderer zu verbergen suchte. Der Tod hatte daher, ganz abgesehen von seiner Endgültigkeit, auch etwas Entmündigendes und Enteignendes an sich.
Umso mehr ließen sich die Zwicklingsauer (wie auch die Hintertupfinger) nicht davon abhalten, wenigstens im Diesseits dynamisch, ehrgeizig und konsequent zu sein, wie es auch zum guten Ton gehörte, unbequeme Entscheidungen treffen zu müssen, natürlich für andere, versteht sich. Man durfte kein Intrigant sein, zumindest nicht nach außen, und musste wissen, woran man mit jemandem war, um sich dort, wo es die Notwendigkeit verlangte, mit den Lorbeeren anderer zu schmücken.

Eines Tages luden der Bürgermeister und die Honoratioren der Stadt zu einem Fest im Garten des Bürgermeisters. Jeder im Ort war eingeladen. Aber nur wenige kamen, weil sie wussten, dass sie unerwünscht gewesen wären. Also blieb man unter sich. Rembert Mirando hatte sich mit einigen Kanzleileitern und Wichtigen aus dem Finanzressort an einem von der Gattin des Bürgermeisters liebevoll dekorierten Gartentisch verbarrikadiert.
Hin und wieder verirrten sich ein paar verschreckte Gäste dorthin in der Meinung, sich an diesem Tisch zuallererst vorstellen zu müssen, und traten, völlig verstört, unverzüglich den Rückzug an, nachdem sie feststellen mussten, dass niemand hier ihre artig entgegengereichten Hände schütteln wollte, und jene, die eben erst Angekommenen, nicht nur keines Blickes würdigten, sondern sich in ihren Gesprächen durch lästiges Begrüßen auch nicht stören lassen wollten.
Zumindest aber Mirando holte eine ausstehende Begrüßung erst viel später durch ein „Ach, Sie wären auch da“ nach, aber auch nur, weil es sich dabei um einen kleinen Angestellten mit seiner äußerst attraktiven Gattin im Schlepptau handelte, die ihn irgendwann einmal im Amt besonders nett und ehrfürchtig gegrüßt hatte. Den übrigen Tischgesellen war der Pöbel egal. Sie nahmen ganz einfach keine Notiz von den kleinen Leuten, die sie nicht kannten, und die sich rund ums Buffet wie die Schmeißfliegen tummelten, um noch rasch ein Häppchen von dem feudalen Hummeraufstrich, der Fasanenpastete, den Garnelen in Marinade, dem Avokadoaufstrich sowie Unmengen süßer Melonen, Mehlspeisen und Torten aller Art zu ergattern. Denn wo sonst, wenn nicht hier, hätten sie noch die seltene Gelegenheit, sich gratis den Bauch mit so köstlichen Dingen vollzuschlagen?

Unter der illustren Tischrunde, der Rembert Mirando angehörte, befand sich ein gleichermaßen aalglatter geschniegelter Finanzbarrakuda, der in ausschweifender Form von mysteriösen Beteiligungen an einer Ostfirma faselte und allen, die über die Höhe der Investitionen und die zu erwartenden Renditen staunten und ihre Münder darüber nicht mehr schließen konnten, den Mund wässrig machte, sich in dieser Sache einzukaufen. In Mirando arbeitete es fieberhaft. Wenn er das Geld, das man ihm kurzfristig anvertraut hatte, hier investierte, könnte er ein Vielfaches dessen lukrieren, was ihm ohne dieses Kapital in seinem Leben allein durch Sparsamkeit nicht gelänge, und was ihm überdies gestatten würde, den geliehenen Betrag mit Leichtigkeit wieder an den eigentlichen Besitzer, die Partei, zurückzuzahlen.
Er brauchte also nur einen günstigen Moment abzuwarten, in dem er mit diesem Mann allein sein konnte, um ihm sein Interesse an der Sache darzulegen. Alles andere würde sich finden. Schließlich herrschte die Krise. Und wenn man es jetzt zu nichts brachte, wie sollte es hernach weitergehen? Und wenn es schiefginge? Wenn schon! Die Frage danach, ob man ein guter Verlierer wäre, konnte in Zeiten wie diesen an Zynismus kaum noch überboten werden und nur wenige waren in der glücklichen Lage, darauf zu antworten, dass sie dank ihres Humors sogar noch dann zu lachen pflegten, wenn sich das Blatt einmal gegen sie gewendet hatte. Und Mirando wollte nur zu gerne einer von dieser Sorte sein.
Es gab ja schließlich genügend Vorbilder, da draußen. Solchen Menschen, die es nicht nötig hatten, ums Überleben zu kämpfen, war doch bloß am Wettbewerb gelegen, am Reiz der Herausforderung und an der Lust, die sie dabei empfanden. Derartige Menschen konnten schließlich aber auch nicht immer nur gewinnen. Daher konnten jene, die stets gewannen, es sich mitnichten leisten, menschliche Größe zu demonstrieren, indem sie einem überlegenen Konkurrenten lächelnd zum Sieg gratulierten.
Der Finanzmensch trank. Er trank viel, und zwar nur Sekt, und das war gut so, dachte Mirando. Denn auch ein Finanzmensch hat nun einmal eine menschliche Blase, und die würde sehr bald zum Überlaufen voll sein, wenn er so weitertrank. Dann müsste man ihm an jenen Ort hin folgen, wo für Erleichterung gesorgt wurde. Überdies musste man ja nicht gleich die kompletten Hundertfünfzigtausend riskieren. Ein geringerer Betrag, vielleicht fünfzigtausend, würde vielleicht für den Anfang schon reichen? Wer konnte es wissen? Nur reden müsste man mit dem Menschen können. Man müsste an ihn rankommen, ihm nähere Informationen entlocken, sie ihm aus der Nase ziehen wie die Amsel den fetten Regenwurm aus dem taufeuchten Boden.

Stefanie Raymundo hatte ihren Paul mitgebracht. Mirando beobachtete die beiden schon seit Längerem. Sie naschte einmal da dann dort vom üppigen Buffet, hüpfte um ihren Lover zickig herum und zog ihn am Ärmel mal hierhin und dorthin. Eva Vanin war nicht zu sehen. Sie hatte wohl heute Stefanie-frei. Pedasoli begnügte sich mit Zigaretten und einem Glas Wein in der Hand, unberührt von der Aufgekratztheit Stefanies.
Paul Pedasoli ließ seine von den Butterseiten des Lebens verwöhnten Blicke über die Anwesenden streifen. Sie fielen auf den Bürgermeister, dessen Gattin, auf die Tischgesellschaft, der Mirando angehörte, und sie blieben schließlich an der unübersehbaren Person des auffällig mit den Armen fuchtelnden Finanzmenschen hängen. Sein untrüglicher Sinn für leicht zu erbeutendes Kapital durfte ihn nicht täuschen. Er löste sich langsam, in immer länger werdenden Intervallen von Stefanie, die inzwischen vergnügt mit Frau Bürgermeister plauderte, und näherte sich scheinbar absichtslos und sehr unauffällig dem Tisch der aufrechten Wichtigen.
Mirando behielt Pedasoli vorsichtshalber im Augenwinkel, allein schon deshalb, weil er sich ein Bild von dem Kerl machen wollte, der Stefanie Raymundo bumsen konnte, ohne offensichtlich irgendeine Gegenleistung erbringen zu müssen, und einer Frau wie Stefanie dürfte bloßes Porsche-Fahren ja doch ziemlich egal sein. Er musste irgendetwas an sich haben, sagte sich Mirando, was sie so sehr an dessen Stange hielt, und während er dies dachte, hob er langsam sein Weinglas, führte es bedächtig zum Munde, so, als täte er einen längeren Schluck daraus nehmen, während seine Augen jede Bewegung Pedasolis verfolgten.

Da plötzlich, es musste in einem von Rembert Mirando unbemerkten Augenblick geschehen sein, stand Pedasoli bereits abseits der laut diskutierenden Tischgenossen neben dem geldigen Ostinvestor. Beide machten sehr auf „am anderen interessiert“. Jetzt nahm Pedasoli den Kerl an der Schulter und schob ihn behutsam hinüber zu einer kleinen Baumgruppe einiger mit Früchten überladener Marillenbäume.
Rembert Mirando wurde unruhig, sehr unruhig und er stand auf, um seine Chancen nicht noch mehr zu verschlechtern. Man musste handeln, jetzt, sonst würde es zu spät sein! Er sei hier ganz zufällig auf Pedasoli und den Kapitalhai gestoßen, entschuldigte er sich rasch dafür, die beiden im Dickicht der Obstbäume plötzlich überrascht zu haben. Aus dieser einmaligen Situation heraus ergab es sich, dass Mirando dem Investor seine Absichten mitteilte, etwas Kapital in die vorhin von ihm erwähnte Gesellschaft zu investieren. Und wie er es anstellen sollte?, fragte er naiv. Pedasoli und der Finanzmensch schienen erheitert.
Mirando fühlte, dass er einen roten Kopf bekommen hatte. Aber der Ostinvestor überging die Sache diplomatisch und fragte Mirando nach der Summe, die er anlegen wollte. Als dieser eher fragend antwortete, so an die fünzigtausend, wurde der Kapitalmensch plötzlich ernst. Paul Pedasoli pfiff leise durch die Zähne.
Wann und wo man sich treffen könnte, fragte dieser und Mirando erfasste ein Gefühl, welches sich nur Siegern zu bemächtigen beliebte, oder solchen, die mit einem Male aus nichts etwas geschaffen hatten. Was er davon hielte, wenn er, Pedasoli, gleichfalls mit einer solchen Summe einstiege?, fragte jener den Finanzmenschen. Der Ostinvestor war sofort in seinem Element. Die drei mochten eine gute Stunde im Schutz der Marillenbäume gestanden haben, als sie mit zufriedenen Gesichtern wieder an den Tisch der wichtigen noch Aufrechten, denn der Sekt floss in Strömen, zurückgekehrt waren.
Ob sie sich gut unterhalten hätten, stürmte der Bürgermeister sogleich auf sie ein und warf Rembert Mirando einen fragenden Blick zu, dem dieser mit erhobenem Haupt standhielt. Er war sich seiner Sache ziemlich sicher, und überhaupt hatte Rembert Mirando schon sehr früh herausgefunden, dass dieses Leben nicht fair war und dass einem absolut nichts geschenkt wurde. Umso mehr schien es ihm legitim, aus seiner Situation das Beste zu machen. Aus dieser Erfahrung heraus entwickelte er seit Längerem für sich die Methode gezielten Selektierens nützlicher Freunde, investierte da und dort ein wenig in seinen mäßigen Ehrgeiz, um damit den für die Öffentlichkeit notwendigen und glaubwürdigen Willen zum beruflichen Aufstieg zu untermauern.
Darüber hinaus beanspruchte er für sich die gängige Meinung, welche über Leute aus dem Arbeitermilieu besagte, dass sie durchaus die Fähigkeit zur Entwicklung von Qualitäten besäßen, die einem auf dem Weg nach oben unbedingt dienlich wären. Und jetzt böte sich ihm eine günstige Gelegenheit dorthin. Alles, was man dazu brachte, waren günstige Karten, Stress- und Konfliktresistenz, Selbstständigkeit und ein gesundes Selbstbewusstsein. Wer über diese Eigenschaften verfügte, besaß erfahrungsgemäß die notwendigen Grundlagen eines bestimmten Anforderungsprofiles, spezifische Machtpositionen einnehmen zu können.

Nach und nach erhoben sich die Wichtigen nicht mehr ganz so Aufrechten vom großen Gartentisch, unter ihnen auch Mirando, um vereint noch einmal über das Buffet herzufallen, welches mittlerweile neu bestückt worden war, weil es der Pöbel bereits leergefressen hatte. Ein neues Fass Bier wurde angeschlagen, neue Sektflaschen eindrucksvoll, einem Flakgewitter gleich, knallend entkorkt. Ströme schäumenden Perlweines ergossen sich schwungvoll in bereitgestellte Gläser. Das gemeine Volk wagte sich nun nicht mehr näher heran und verharrte mit teilweise leeren Bechern unter fruchtschwangeren Marillenbäumen, bis wieder Entwarnung gegeben werden konnte. Dahinter leuchtete die Sonne schon tief am Horizont, unsichtbar beinah, durch die grünblättrigen Mauern dicht belaubter Obstbäume.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 15076

Der amerikanische Traum

Der Airbus 320 kreiste unaufhörlich über Manhattan, ohne bis jetzt eine Landeerlaubnis erhalten zu haben. Langsam wurden die Passagiere in ihren Sitzen unruhig. Immerhin saßen sie bereits seit neun Stunden auf ein und demselben Platz. Da und dort waren schon nervöses Öffnen und Schließen der Sicherheitsgurte aus den Sitzreihen zu hören. Es waren mehrheitlich Geschäftsleute unter ihnen, Sklaven ihrer Terminkalender, deren Eintragungen mehr Macht über sie besaßen, als sie sich je eingestanden hätten. Hier und da auch ein paar Exileuropäer, die ihre alte Heimat besucht hatten. Manche von ihnen sicherlich zum letzten Mal. Einer unter ihnen mit künstlichem Darmausgang, Uncle Ed. Neben ihm, Aunt Mary, eine Achtzigjährige mit Herzschrittmacher.

Seit mehr als zehn Minuten zog der Flieger nun schon seine konzentrischen Kreise über dem Big Apple. Der Kapitän war sehr nett. Er werde das Luftschiff ein wenig mehr in den Wind legen als üblich, damit auch die Passagiere, die in der Mitte näher zum Gang hin saßen, die Stadt durch die Fenster sehen könnten, hatte er durch die Lautsprecher verkündet.
Einen Moment lang fühlte Marcel, dass seine Reise den Beginn eines neuen Lebens bedeutete, eines Lebens, in dem der Freiheit angeblich keine Grenzen gesetzt waren. So hatte man zumindest in den Fünfzigern des vorigen Jahrhunderts gedacht. Die Schräglage des Fliegers erlaubte einen flüchtigen Blick in die Häuserschluchten von Midtown Manhattan. Hier sollte es sein, wo angeblich alles viel früher und schneller begann als anderswo, dachte Marcel. Hier also, ein paar Hundert Meter unter ihm, sollte das Epizentrum jener finanziellen und kulturellen Beben liegen, von denen aus die Welt ihre Impulse bekam. Von hier aus würde dieser wackelige Planet in seiner Entwicklung so gesteuert, wie er morgen auszusehen hätte, und von hier aus wurde der Rhythmus des globalen Atems bestimmt, weiterzuatmen oder angehalten zu werden.
Jetzt konnte man durch die schmalen Fenster das Empire State Building erkennen. Das ist Amerika! Oder auch nicht, mochten manche sagen. Mein Gott!, durchfuhr es Marcel. Ich bin in New York! Beinahe zumindest. Dabei wäre er lieber mit dem Schiff angekommen. Wie alle Emigranten damals aus Europa, mit Ellis-Island-Prozedur und so. Es ging ihm alles viel zu rasch. Acht Stunden! Was waren schon acht Stunden? Früher war man drei Wochen auf See, früher. Schlecht untergebracht, unter Deck, Tiefdeck womöglich, ohne Bullauge. Stets dem stetigen Dröhnen der Motoren ausgesetzt, dem Geruch von Öl, Diesel, nach nassen Sachen riechend, die nie trocken wurden.

Im Flieger konnte es wirklich ein jeder schaffen, dachte Marcel, sogar er. Aber vielleicht würde er hier und heute gar nicht mehr vorfinden, was Generationen vor ihm an dieser Stadt so attraktiv und lebenswert gefunden hatten? Und doch, was sollte es, dachte er. Nun hatte er soviel investiert, um hierher zu kommen. Hatte all sein Tun, sein Schaffen, seine Träume darauf ausgerichtet, seine Vergangenheit hinter sich und der unüberwindbaren Mauer des Vergessens zu lassen.
Nun würde ein anderes Leben kommen, eines ohne den Drill längst überholter Dimensionen. Niemand würde ihn mehr zur Räson zwingen können, wenn ihm schon einmal danach war, zu sagen, was ihn störte. Hier konnte man alles sagen, ohne sich gleich die Hand vor den Mund zu halten oder bloß hinter schützenden Winkeln und Ecken darüber zu reden, was einem seit Langem schon so furchtbar auf den Sack gegangen war, diese ganzen Verlogenheiten eines verlorenen Idealismus, der niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken konnte.

Marcel war kein Flüchtling im herkömmlichen Sinn, und doch war er einer. Obschon – heutzutage brauchte man nicht mehr von dort zu fliehen, von wo er gekommen war. Im Gegenteil, man war heilfroh, jeden unnützen Fresser loszuwerden. Blieb den Dagebliebenen mehr. Es gab ja ohnehin keine Jobs. Nichts hielt einen hier länger, als es unbedingt notwendig gewesen wäre. Die Kinder hatten längst das Weite in Richtung Westen gesucht. Deretwegen brauchte man nicht hier zu bleiben. Es war nicht mehr erforderlich. Man war entbehrlich geworden.
Die Frage war, was war überhaupt noch notwendig? War dieses ganze Theater mit der Volksverblödung überhaupt für etwas gut gewesen? Tausende Tote für die sozialistische Idee? War hier auch nur irgendjemand noch bei Verstand gewesen?, fragte sich Marcel verärgert. Jetzt konnte ohnehin jeder gehen, wohin er wollte.
Nicht so wie damals, als gleich geschossen wurde, wenn du deinen Arsch nur in die Nähe des Zaunes oder jener Mauer geschoben hattest, welche das Wahre vor dem Dekadenten zu trennen versucht hatte. Aber heute? Heute war alles anders. Heute war alles egal. Kein Aas scherte sich mehr darum, wenn irgendwo irgendeiner abhauen wollte. Wer hätte das jemals aus seiner Generation gedacht?, flüsterte Marcel so für sich. Der Staat pflegte seine Bürger als Gefangene zu halten, sich ihrer Fähigkeiten zu bedienen, zum Wohle aller, wie einem vorgelogen wurde, um von seinen eigenen Unfähigkeiten abzulenken. So leicht war das.
Und vom ewigen Geschwätz über Patriotismus und Solidarität war nichts als ein Haufen stinkender Scheiße geblieben, die sich über Jahrzehnte hindurch aus den Mäulern einiger hirnloser machtgeiler Parteibonzen gleichmäßig über das Land verteilt hatte, die nichts anderes zu tun hatten, als anderen Ängste aufzudrücken und sie ständig an ihre Pflichten zu erinnern, während sie selbst gut daran taten, Stillschweigen über den eigenen, illegal zusammengerafften verbotenen Besitz zu üben.

Ach, diese Welt war Millionen von Jahre alt und es war hinlänglich bekannt, dass ihre Bewohner zu allen Zeiten Schweine waren! Korrupt und gemein! Und aller Widerstand gegen das System wäre zwecklos, ja, gefährlich gewesen. Passiver Widerstand, innere Emigration, das einzige legitime Mittel, sich diesem Kasperltheater zu entziehen!
Marcel nickte triumphierend. Das Flugzeug zog unaufhörlich seine Kreise. Der Kapitän signalisierte den Stewardessen: Kling! Kling! Was mochte er wollen? Alle Augen waren auf eine Stewardess gerichtet, die nach vorne eilte. Es wurde getuschelt, gedeutet, in den Gesichtern zeichneten Falten Fragezeichen. Marcel aber war weit weg in Gedanken.

Es würde alles gut sein hier. Die alten Wunden würden verschorfen, neue hoffentlich nicht geschlagen. Er, der 45 geboren worden war, hatte früh lernen müssen, anderen etwas abzugeben, nicht Egoist zu sein, für Freunde da zu sein. Als die Panzer kamen, war er gerade acht, und er hatte Angst. Alle hatten Angst, furchtbare Angst, auch dass der Krieg wieder neu aufflammen könnte, dass man wieder nichts zu essen hätte, dass man sich wieder würde verstecken müssen, vor den Bomben, vor den Spitzeln, vorm eigenen Nachbarn, der einen denunzierte. Es war ja ohnehin alles beim Teufel, was konnte noch Schlimmeres geschehen?
Und man hätte sich gegen den Irren aus Braunau am Inn eher wehren sollen, dachte Marcel. Keiner hatte ohnehin je verstanden, wieso Millionen einem Geisteskranken gefolgt waren. Wohl ein spezielles Phänomen, Schwachsinn gepaart mit Wirtschaftskrise am richtigen Ort mit den richtigen Leuten. Eine Art Hors d`Oeuvre der Weltgeschichte, als Vorgeschmack auf die Apokalypse. Aber hinterher war man ja immer klüger. Genauso verrückt und kopflos hatten sich die anderen in den Sozialismus verrannt! Bis heute hatte er es nicht verstanden, wie so etwas möglich gewesen war. Warum sie damals nicht schon in den Westen gezogen waren, war einzig und allein Vaters Schuld gewesen. Ach was, der hätte sich ganz einfach in die Hosen gemacht, sich mit seiner Familie in so ein Abenteuer zu begeben, obrigkeitshörig, wie er war, der Herr Assessor. Beamtenseele.

Das Flugzeug begann, unruhig auf und ab zu taumeln. Turbulenzen! Die Tragflächen schwankten bedrohlich. Der ganze Rumpf schien sich zu verbiegen. Zeitweise sah man von den hinteren Reihen die vordere Cockpit-Tür nicht. Einige schrien laut auf vor Angst. Marcel wurde aus seinen Gedanken aufgeschreckt. Kam ihm allemal schon zu langsam vor, die Maschine, und das in dieser geringen Höhe! Jetzt wurde es aber wieder ruhiger.
Kling! Please fasten seatbelts, stop smoking. Haben wir doch schon, knurrte Marcel vor sich hin. Geht endlich runter, verdammt noch mal!

Vater war nie Parteigenosse. Aktiv, versteht sich. Trotzdem. Man verließ seine Heimat nicht so ohne weiteres. Und der Papa hatte an der Meinung seines Sohnes nie besonderes Interesse gezeigt. Aber für ihn selbst galt, was die da oben dachten, wäre Gesetz, und damit basta. Könnte er ihn jetzt bloß sehen! Da hatte er seine leeren Parolen, hohlen Phrasen! Wie leicht durchschaubar war das alles gewesen.
Die Herren von der Partei hatten allesamt feine Autos aus dem Westen, nicht die stinkenden Zweitakt-Plastikbomber wie wir. Mit der Mauer hatte sich dann alles geklärt. Erledigt! Basta! Ach so sind die, sagten die Leute. Ja, so sind die! Alle falsch und verlogen. Damit musste man nun leben.
Immerhin, in dieser Welt hatte er irgendwann einmal selbst denken lernen müssen, weil er es sattgehabt hatte, dass allein der Staat für ihn dachte. Maulhalten war angesagt. Stillhalten wurde zur pädagogischen Methode. Karriere fremdbestimmt. Auf jener Stufe, auf der man stand, war man festgenagelt, ohne Chancengleichheit!

Kling! Der Captain wandte sich an die Passagiere, man hätte endlich die Landeerlaubnis erhalten und würde in wenigen Minuten landen. Alles anschnallen, wer´s bis jetzt nicht war, Stewardessen hinsetzen, es konnte also losgehen.
Die Maschine machte eine letzte Ehrenrunde um Manhattan und ging in Position zum Landeanflug auf Kennedy Airport. Marcel spürte im Magen, wie rasch der Flieger sank und hoffte, dass dieses Manöver bald beendet sein würde. Das war das Letzte, was er noch bewusst gefühlt hatte. Im selben Augenblick dachte er noch einmal an die Mauer und daran, wie er sich gefreut hatte, als sie endlich gefallen war.
Das wäre ja vorauszusehen gewesen. Nun aber konnte für ihn endlich die große Freiheit beginnen! Und, allen widrigen wirtschaftlichen Umständen zum Trotz, hatte er etwas Erspartes anlegen können. Die Wohnung war verkauft, die Kinder erwachsen, versorgt und voll Erwartung, was denn der Vater da auf seine alten Tage in der Neuen Welt noch alles anstellen würde. Und er müsste sogleich schreiben, beschwor ihn seine Enkelin Jana. Ja, das hatte er versprochen, und so einem entzückenden Wesen konnte man seinen sehnlichsten Wunsch nun wirklich nicht abschlagen.

Genau heute aber war der Jahrestag jener grandiosen Abtragung des Walls, einer der furchtbarsten Barrieren gegen die Menschlichkeit. Nun würde wieder gefeiert werden, drüben im Westen genauso wie im Osten. Aber es interessierte Marcel nicht im Geringsten, die ganze Angelegenheit auch noch ritualisiert zu wissen. Alles war längst vorbei, war bereits wieder zu Geschichte geschrumpft.
Die Zeit hatte bloß Erinnerungen zurückgelassen, und vielleicht blieben diese darüber auch noch auf der Strecke. Schließlich war er, Marcel, selbst nie ein Mann des Widerstandes gewesen, überlegte er, eher einer, der sich mit der Strömung hatte treiben lassen, also waren die Vorwürfe an den Vater obsolet und er brauchte sich auch nicht mit Selbstvorwürfen herumschlagen.

Egal, das hatte hier und jetzt alles keine Bedeutung mehr. In Kürze würde er amerikanischen Boden betreten und damit ein lang gehegter Wunsch in die Tat umgesetzt. Punktum! Kein Wiederstand mehr. Und wenn Widerstand darin auch nur bestanden hatte, alle paar Jahre irgendwo an einem Wahlzettelchen ein Kreuzchen zu malen, so war dieser Widerstand für ihn genug gewesen und hätte nur seine wertvolle Zeit in Anspruch genommen, die ihn allzu lange von seinen Lieblingsbeschäftigungen weggelockt hätte.
Als gewöhnlicher Bürger war er ohnehin ohne jegliche Möglichkeiten, sich an politischen Entscheidungen zu beteiligen, außer irgendeiner Person seine Stimme zu geben. Wer wusste, wohin es jetzt mit der so gepriesenen Volksdemokratie nun ginge, wenn westliche Einflüsse sie zersetzten. Im Übrigen konnte ihm auch dieses gleichgültig sein. Aufgrund seiner Beziehungen zu einem Diplomaten hatte er ein Dauervisum in der Tasche, die Pension, wenn auch nicht allzu üppig, konnte er von jeder New Yorker Bank aus der Heimat anfordern.

Es ging rasch tiefer. Man spürte es in der Magengrube. Beinahe hätte er schon gejubelt, du Stadt meiner Träume, ich komme, als er feststellte, dass er keine Stimme hatte. Überhaupt fehlte ihm plötzlich jegliches Gefühl einer Erinnerung an das Zuletzt, wie auch daran, überhaupt je gelandet zu sein, und von den Passagieren war kein einziger zu sehen, weder der alte Ed mit dem künstlichen Darmausgang, noch Mary mit dem Herzschrittmacher, als er sich plötzlich allein an der Fifth Avenue, Ecke 42. Straße wiederfand, wo sich East Street und West Street trafen und er soeben an einem Straßenschild hochsah.
Zunächst versuchte er, den Menschen, die da so in ihrer Hast und Eile auf dem belebten Gehsteig auf ihn zuströmten, auszuweichen. Aber sie schienen ihn gar nicht wahrzunehmen, mehr noch, sie gingen ganz einfach durch ihn hindurch, so als ob er Luft für sie wäre, woraufhin er schließlich gar nicht mehr versuchte, ihnen aus dem Weg zu gehen. Merkwürdigerweise hinterfragte er seinen Zustand nicht, sondern fand sich zu seiner Verwunderung ganz einfach damit ab.
Ihm war, als hätte er irgendwie die sogenannte letzte Stufe des Seins erreicht. Immerhin, er konnte alles sehen und hören, auch wenn ihm diese neue Welt etwas seltsam vorkam. Das also wären die legendären Jellow Cabs, die an ihm vorüberfuhren, und über die er so viel gelesen hatte, staunte er.
Marcel starrte gebannt auf die Blechlawine, die sich durch die Straßen wälzte. Es war alles so wie in den Filmen, die er über New York gesehen hatte. Die zahllosen Häuserriesen und die Schluchten, die sie dazwischen hinterließen. Die nie endenwollenden Polizei-, Rettungs- und Feuerwehrsirenen und das permanente Gehupe der Autos auf den mehrspurigen Straßen. Zwischen den Autos fuhren Männer in schwarzen Anzügen auf Inlineskatern zur Arbeit in Richtung Bankenviertel.
Unvorstellbar! Was für eine Welt! Seiner eigenen, kleinen, im alten Europa noch nicht völlig entbunden, zogen Schleier einer vagen Erinnerung an ihm vorüber, im Land seiner Väter sein Leben verschwendet zu haben. Als diese schreckliche Mauer gefallen war, wurde er Zeuge dessen, wie diesem Land die Zukunft davonlief. Dort war er zu diesem „Ich-will-hier-raus-Menschen“ geworden.

Marcel starrte auf ein Graffito, dessen Sinn er nicht verstand. Rasch hingeworfen auf einer Feuermauer, an welcher der Zahn der Zeit längst den Putz hatte abbröckeln lassen. Chiffren unbekannter Wesen, mitteilungsbedürftig und aufregend, irgendeinen Zeitgeist transportierend, der ihm fremd war. Marcels Gefühle waren doch nicht vollkommen erstarrt, immerhin war er fähig, das Hier mit dem Dort zu vergleichen. Zumindest aber fühlte er keine Angst mehr vor der Sowjetunion, trotzdem konnte er über diesen Gedanken nicht lachen. Sein Mund war ihm fremd geworden, als hätte er keinen.
Marcel betrat einen Parfümerieladen, um sich zu vergewissern, dass ihm nicht auch noch sein Geruchssinn abhandengekommen war. Er schritt auf ein Regal zu, seine Hand näherte sich einem Tester. Joop, es konnte auch ein anderer gewesen sein. Seine Hände berührten die Flacons, einen nach dem anderen. Er roch an seinen Händen. Nichts. Völlig geruchlos.
Vor der Kassa eine Warteschlange. Plötzlich sprang die Kassiererin wie von der Tarantel gestochen auf. Ein baumlanger Farbiger löste sich aus der Mitte der Wartenden und stürmte auf den Ausgang zu. „This man had his hand in your pocket!“, rief sie aufgeregt einem in der Warteschlange zu, der verdutzt in seine Manteltasche griff, um seine Ein-Dollarscheine zu zählen, die er in einem kleinen Bündel bei sich trug. Dann ging sie hinter ihrer Registrierkassa in Deckung. Doch nichts geschah. Der Dieb war längst entflohen. Die ganze Zeit über hatte ein gleichfalls farbiger Security vor dem Geschäftsportal Wache gehalten. Regungslos stand er immer noch da. Was ist, er musste den Dieb doch gesehen haben? Aber der unternahm nichts, gar nichts.
Marcel verstand diese Welt nicht. Die Kassierin war aus ihrer Verschanzung aufgetaucht und setzte ihre Arbeit fort, als wäre nichts geschehen. Die Warteschlange löste sich auf. Alles ging seinen gewohnten Gang.

Marcel war sich darüber im Klaren, dass er diese Stadt bisher mit keiner anderen zu vergleichen vermochte, die er bis jetzt kannte. Er bemerkte zwar ihre diffizilen Charaktereigenschaften, die ihm im Grunde alles zu vereinen schienen, was eine Ansiedlung dieser Größe nur aufbieten konnte. Und wenn er sie aufmerksam durchkämmte, würde sie ihm wohl kaum langweilig. Nach diesem Erlebnis ahnte er, was ihn in dieser Stadt erwarten würde. Trotzdem dachte er daran, sich ohne Mühe in jener übersteuerten Immobilie ansiedeln zu können, und, auch wenn ihn hier ein gewisser Wahnsinn umgeben würde, war es für ihn klar, er würde um nichts in der Welt noch anderswo leben wollen.
Ein Gefühl sagte ihm, hier wäre Endstation. Er konnte es nur nicht begründen, aber es kam ihm vor, als ob sein Innerstes, seine Gefühlswelt, das Einzige wäre, was er von seinem vorigen Leben hierher herübergerettet hatte.

Während Marcel, völlig unberührt vom Lärm der Rushhour, durch den Madison Square Park schlenderte, war ihm, als versuchte hier ein jeder, der Erste vor dem anderen zu sein, ohne es selbst zu bemerken. Alle hatten es offensichtlich sehr eilig. Niemand spazierte nur so zum Vergnügen durch die Gegend.
Kurz danach, nachdem er den Park verlassen hatte, bemerkte er eine junge Frau, die ein Taxi für sich angehalten hatte und soeben im Begriff war, einzusteigen, als sie von einem Typen in Nadelstreif, der plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war, sanft zurückgeschubst wurde. Der bestieg selbst rasch das Taxi und tauchte darin im Sog des Verkehrs unter. „Sorry, das sollte nicht persönlich gemeint sein!“, hatte er der jungen Frau noch zugerufen.
Marcel musste diesem Schauspiel voller Empörung tatenlos zusehen. Er wollte dem Nadelstreif noch etwas nachrufen, doch seine Stimme versagte abermals. Um wenigstens in der Auslagenscheibe einen Blick seiner eigenen Mundbewegungen zu erhaschen, wandte er sich rasch dem Glas zu.
Aber er konnte sich darin nicht sehen. Marcels Hand fuhr an seinen Hals. Er fasste sich an die Kehle, versuchte, sie zu umfassen. Sein Griff ging ins Leere. Es war ihm nicht gelungen, irgendeinen Teil seines Körpers anzufassen, wie auch der Versuch, sich aus Verwunderung über sein mangelndes Körperempfinden an die Stirn zu greifen, fehlschlug. Irritiert drehte er sich um seine eigene Achse, als hätte er völlig die Orientierung verloren.
Die junge Frau konnte in kurzer Zeit ein neues Taxi zum Anhalten bringen und wurde von diesem aufgelesen. Marcel konnte auch den alles durchdringenden Gestank der Straße nicht riechen, diesen Mief aus Diesel, Pizzabrot und dem üblen Hauch des Abwassers, der aus den Kanalgittern drang, dampfend, sichtbarer Atem der Pestilenz aus den Eingeweiden des großen, faulen Big Apple.
Umso aufmerksamer aber betrachtete er den Unrat auf den Gehsteigen, zerbeulte leere Plastikflaschen, die Zeitungsfetzen und all das weggeworfene Zeug bis hin zu den zahllosen MacDonalds-Tüten, die überall herumlagen, und die Zigarettenstummel, die seinen Weg zu pflastern schienen. Dazwischen eingebettet plattgetretene Kaugummis, die sich wie runde, weiße Kiesel vom ölig schwarzen Asphalt abhoben.
Schwarze Beine ragten aus alten Kartonagen, deren Besitzer, zurückgezogen wie Schnecken, in ihren portablen Häusern schliefen, unweit von Fünf-Sterne-Hotels und den unmittelbar davor parkenden Limousinen.

Nicht, dass ihm das alles fremd gewesen wäre, er war schließlich genug in der Welt herumgekommen, aber hier, so dachte er, sähe alles noch ein wenig hoffnungsloser aus als anderswo. Vielleicht hätten die Leute, die hier lebten, bis jetzt doch einen ungeheuren Vorteil gegenüber anderen gehabt, wenn man in Erwägung zöge, dass sie in einer Gesellschaft lebten, in die sich der Staat nicht so penetrant hineindrängte, wie dies bei ihm zu Hause gewesen war.
Es befriedigte schon die Tatsache, dass die Kinder hier in der Schule nicht zu lügen brauchten, was zu Hause gesprochen wurde. Wo man Kinder im Wohnzimmer etwas fragen durfte, ohne bestehende Doktrinen zu verletzen, wo man in einen Buchladen gehen und jedes Buch erstehen konnte, das man wollte, und man Noten für gewisse Musikstücke nicht erst heimlich kopieren musste, um sie dann daheim im stillen Kämmerlein möglichst leise spielen zu dürfen.
Das alles verstand Marcel unter dem Begriff der Freiheit, das alles hatte ihm zum Glücklichsein gefehlt, das alles wollte er hier für sich neu entdecken.

Erstaunlich, wie rasch es dunkel wurde, dachte er, als er die alten Hauseingänge im langsam schon absterbenden Tageslicht betrachtete, vor denen alle möglichen Typen herumlungerten, gerade im Begriff, nervöse Laufkundschaft mit ihrem gefährlichen Zeug zu beliefern. Manche von ihnen mit stummen, hohlen Augen, dumm glotzenden Blicken. Andere, randvoll mit aufputschender Chemie bis unter die Mütze, die vor lauter Unruhe im eigenen Leib keine Sekunde stillzustehen vermochten.
Allesamt wirkten sie, als wäre jeder von ihnen sechzig Jahre und mehr. Tatsächlich mochten sie fünfundzwanzig oder dreißig sein. Auf einer Treppe lag ein Bündel Dollarscheine, unweit davon eine Einwegspritze mit verbogener Nadel. Ein dunkelhäutiger Typ saß mit verklärtem Blick daneben, der Kopf weit in den Nacken gefallen, regungslos, atemlos.
Marcel trat auf ihn zu. Er musste ihn doch bemerken, seine Augen standen weit offen. Aus seinem ausgetrockneten Mund drangen flüsternd die sich ständig wiederholenden Worte: „Ehj, Mann, ich fliege, Mann, verstehst du, ich fliege!“ Und dennoch waren seine Worte nicht an ihn gerichtet.
Einen Augenblick nur hatte Marcel sein eigenes Schicksal vergessen. Es konnte ihn ja doch keiner sehen! Ein gewisser Vorteil, so konnte er nicht überfallen werden und brauchte nicht wegzurennen vor den Totschlägern, Einbrechern, Autodieben und kriminellen Amateuren, wenn sie ihm an den Säckel wollten. Aber was hätte man ihm nehmen können? Er besaß ja nichts. Nicht einmal seine Reisetasche hatte er bei sich. Marcel gelang es wieder nicht, über diesen Gedanken zu schmunzeln.
Eine Polizeistreife fuhr vorüber. Einer der Polizisten kurbelte das Seitenfenster herunter und rief einem Mann in ballonseidener Jacke zu: „Pass auf, Mann, da vorne prügeln sich ein paar Verrückte!“, und lachte laut dabei, während der Wagen mit quietschenden Reifen und heulender Sirene um die Ecke bog.

Marcel merkte, dass er langsam aber sicher unter seinem Zustand, nicht mehr dazuzugehören, sich nicht mehr verständigen zu können, zu leiden begonnen hatte. Zwar fühlte er keinen seelischen Schmerz, jedoch blieb ihm nicht verborgen, dass ihm etwas fehlte. Er wusste aber auch, dass es in seinem Zustand nicht zulässig war, zu leiden, denn es war der Endzustand, eine Art des Seins, in der schließlich auch dem ewigen Leid ein Ende gesetzt sein sollte. Aber um ganz sicher zu gehen, dass sein Befinden endgültig sei, versuchte er ab und zu, wenigstens einen leisen Brummton zu erzeugen, mit dem er sich hätte verständigen können, im Abstand ähnlich wie Morsezeichen. Aber es gelang ihm nicht.
Was hätte es ihm auch gebracht, dachte er, damit könnte es schwerlich für eine Kommunikation reichen, es könnte kein Informationsaustausch stattfinden, das war ihm nun klar geworden. Er würde wohl seine vorhandenen Möglichkeiten als stiller Beobachter dieser Welt den neuen Gegebenheiten anpassen müssen. Die Frage war nur, ob man sich damit endgültig abfinden konnte.

Am Ende der Straße stand der Polizeiwagen mit seinen glühend roten Blitzlichtern. Rundherum eine Menge Leute, die sehr aufgebracht schienen. Marcel kam näher. „Der Nigger ist tot, Mann!“, rief einer der Umstehenden, „Da ist nichts mehr zu machen!“ Andere nickten zustimmend. Von Ferne hörte man einen Ambulanzwagen herannahen. Marcel überlegte fieberhaft, einen Zeichencode zu erfinden, um sich bemerkbar, sich damit verständlich machen zu können. Lächerlich! Er konnte sich selbst im Spiegelbild nicht sehen. Niemand konnte ihn sehen, was sollten also ein paar Zeichen? Und wenn er welche fände, in die Luft konnte man sie doch nicht blasen. Jedoch der Gedanke an die Möglichkeit eines übereinstimmenden Zeichenvorrates zwischen ihm und – nun, egal, irgendeiner anderen Person, ließ ihn nicht mehr los. Immerhin konnte er hören und sehen, er verstand sogar die Sprache mühelos, konnte sich von A nach B bewegen, obwohl ihm nicht klar war, wie dies eigentlich geschah. Zumindest aber nicht durch Gehen. Sein Wille genügte, ihn in schwebende Fortbewegung zu versetzen.

Wollte er das jemals? Marcel dachte an ein blindes, taubes Mädchen, welches in seiner Nachbarschaft gelebt hatte. Wenn sie sich bemerkbar machen wollte, strampelte sie mit den Beinen. Nicht zu strampeln hieß, sie hätte im Augenblick alles, was sie brauchte. Aber Marcel fühlte seine Beine nicht, als ob er keine hätte. Also hätte Strampeln nichts genützt, um sich verständlich zu machen.
Er versuchte, sich ihre Welt vorzustellen, die dunkel gewesen sein musste. Oder hatte ihre Fantasie die Finsternis überwunden und sie erhellt, belebt gemacht? Es musste eine Welt der Nähe gewesen sein, die dieses Mädchen erlebt hatte. Näher als jene, mit der er nun konfrontiert war.
Hätte er ein Instrument spielen können, überlegte Marcel, würde er eine Kombination aus verschiedenen Intervallen zu einem Buchstabencode erfinden und sich vielleicht mit einem Spielzeugklavier auf die Straße stellen. Er würde „He, du, kann ich mit dir reden?“ spielen oder so ähnlich. Man müsste nur jemanden dazu bringen, sein Geklimper verstehen zu machen.

Marcel stand nun ganz nah am Unfallort. Polizei und Helfer hasteten mal hierhin mal dahin. Einer sperrte das Gelände mit einem Plastikstreifen symbolisch vor dem Gedränge der Leute auf dem Trottoir ab, als sicherte er für sich und seine Mannschaft die alleinigen Nutzungsrechte auf diesem Katastrophenclaim.
Marcel trat artig hinter die Sperre, obwohl er auch davor nicht hätte gesehen werden können. Er tat, wie er es von damals gewohnt war, als die Stasi seinen Bruder auf der Flucht in den Westen, ganz knapp vor Erreichen der Mauer, erschossen hatte, und gleichfalls das Gelände ringsum absperrte, um die Gaffer nicht allzu nahe heranzulassen. Auch da war er hinter der Absperrung gestanden, kochend vor Wut, die Fäuste geballt in den Manteltaschen. Und um ein Haar wäre er damals so unvernünftig gewesen, einem Polizisten die Waffen zu entreißen und…

Die Tage vergingen. Marcel entdeckte, wenn am Morgen der Verkehr in Midtown begann, kaum angelaufen, war er auch schon nach kurzer Zeit bereits wieder zum Stillstand gekommen, dramatisch verbrämt durch den Lärm aus ohrenbetäubendem Gehupe und aufdringlichen Motorengeräuschen. Verzweifelte, die versuchten, die verlorene Zeit wieder aufzuholen, indem sie sich in waghalsige Abkürzungen stürzten, wurden in ihren aussichtslosen Bemühungen jäh gestoppt, als auch die Nebenstraßen ihr dicht geschlossenes Autochaos präsentierten.
Dieser Zustand übertrieben bienenartiger Emsigkeit spiegelte das Ergebnis einer Lebensweise der letzten Jahrzehnte, in denen man ausschließlich darum bemüht war, die linken Gehirnhälften zu trainieren, Leistung zu erbringen und es zu schaffen, in einer Gesellschaft bestehen zu können, die ausschließlich auf Erfolg ausgerichtet war, während die rechten Hirnhälften zusehends zu verkümmern drohten, welche die Emotionen bargen, wie auch die Fähigkeiten zur Empathie, Verantwortung und des moralischen Bewusstseins.
Unter diesen Bedingungen hatte der Leidensdruck der Massen ungeheuer zugenommen, Politik war an einem kaum mehr zu unterbietenden Niveau angelangt und längst nicht mehr in der Lage, den Schwächsten und Schwachen zu helfen, wie er überall feststellen musste. Ein Umschwung war nicht in naher Sicht, ein Sich-Zurückziehen aus der Überfrachtung nicht möglich.
Skrupellose Manager verschleuderten indes Milliarden, die ihnen nicht gehörten, in Projekte, die keiner brauchte. Arbeitgeber schikanierten ihre Angestellten und setzten sie unter Druck. Sie trieben sie in die Enge und damit in die innere Emigration. So war man einsam geworden unter Millionen anderen.
Und die amerikanische Mission? Frieden bringen, wenn er im eigenen Land selbst nur schwer zustande zu bringen war? Von hier aus flossen stets ungeheure Impulse westlicher Ideologie als auch eine gewisse Arroganz in die ganze Welt und bestimmten den Herzrhythmus globalen Bewusstseins. Anstelle der Arroganz wären besser Diplomatie und Verständnis für die unterschiedliche Entwicklung der Völker getreten, dachte Marcel.

Wieder einmal war Marcel als blinder Subway-Passagier ein paar Stationen weiter mit dem Menschenstrom zum Ausgang Central Park mitgeschwommen und immer noch überwältigte ihn die Skyline der Hochhäuser jenseits der Grünflächen, wenn er zu ihnen hochblickte.
„Don´t follow any street, when it turns into bad“, erinnerte er sich der Worte eines Fremdenführers. Aber sie galten nicht für ihn. Für kurze Zeit vermeinte er den Swing von Gershwin-Sound zu hören, als ob man sich in einem Woody-Allen-Film befände.
Unglaublich sanft die Grenzlinien dieses Parks im Verhältnis zur straffen, eckigen Architektur rundum. Ein paar Rollerblade-Läufer, eine junge Frau mit Kinderwagen, ein paar Dunkelhäutige, die Rugby spielten. Ein Ort zum Nachdenken, zum Durchatmen, wer sich vom Wahnsinn der Straßen hier herein absichtlich oder unabsichtlich verlaufen hatte.

Den Central-Park lieben setzte voraus, ihn in- und auswendig zu kennen. „Kevin allein in New York“ war zu wenig, dachte Marcel und erinnerte sich daran, seiner Enkelin Jana versprochen zu haben, ihr gleich nach seiner Ankunft eine Ansichtskarte zu schreiben. Nun war ihm auch das unmöglich geworden. Stattdessen verbrachte er seine Zeit im Park, im Central-Park, dieser Laube für Verliebte, Safe nervöser Dealer, Trainingslager des Volkes für Jogger, Baseball-Spieler und Rollerblade-Fahrer.
Dann wieder Mittagszeit in Manhattan. Wie auf Kommando erbrachen die Häuser Menschen aus ihren Pforten, Drehtüren und Toren, als wollten sie im Zustand überreizter Übelkeit plötzlich alle auf einmal loswerden. Mittagszeit, Zeit, Luft zu holen. Zeit, für eine knappe Stunde Mensch sein zu dürfen, akustisch dramatisiert durch das Sirenengeheul zahlloser Einsatzfahrzeuge.
An der Ecke wickelte ein Dealer seine Geschäfte ab. Niemand schien sich dafür zu interessieren. Gegenüber Latinos, die gefälschte Rolex-Uhren verkauften und unruhig nach links und rechts blickten. Einer von ihnen begann plötzlich, sein Zeug hastig zusammenzupacken. Kurz darauf rannte er die Straße hinunter. Hinter ihm zwei Cops mit dunklen Sonnenbrillen.

Wenn es wieder Abend wurde, war man vom Lichtermeer am Times Square geblendet. Wie diese Stadt dröhnte, strahlte und vor unsichtbarer Energie, die nie zu Ende gehen schien, pulsierte! Hierher hätte man kommen müssen, als man jung war, als man noch verliebt war, dachte Marcel. Mein Gott, die Liebe! „Wanna get laid?“, pflegte man hier so ganz locker zu sagen, wenn zwischen den Geschlechtern was abging. Wanna get laid! Überall klebten kleine Logos mit der Aufschrift „I love N.Y.“, an Postkästen, an Autohecks, an Auslagenscheiben und Parkbänken.

Empire State Building war verpflichtend. Marcel war schon so oft da gewesen, auch an einem Sonntag. Gut erkennbar am nichtabreißenwollenden Touristenstrom. Am Sonntag hatte King-Kong Dienst. Immer dann, wenn sich die Schiebetüren am obersten Aufzug öffneten, sprang plötzlich ein als überdimensionaler schwarzer Gorilla verkleideter Mann mit lautem Gebrüll vor die zu Tode erschrockenen Leute, die eben im Begriff waren, den Lift zu verlassen. Einmal beobachtete Marcel, wie eine zierliche Japanerin vor Schreck in Ohnmacht fiel.
Vom obersten Stockwerk aus hatte man eine umwerfende Aussicht auf Manhattan. Wandte man den Blick den dunklen Abgründen darunter zu, konnte man die aufgespannten Netze sehen, welche Selbstmörder noch in letzter Minute vor ihrem Unheil bewahren sollten. Schlimm genug, wer in diese Luftschaukel fiel, wie ein Fisch im Fangnetz strampelnd, um dann in aufwendigen Rettungsaktionen geborgen zu werden. Bestaunt von der gaffenden Menge da oben und unter dem Beschuss Hunderter Fotoapparate. Aber die Netze hielten dem jähen Fall nicht immer stand und so klatschten hin und wieder einige nach dem freien Fall von gut vierhundert Metern unten am Gehsteig auf, flachgedrückt wie Flundern. Man konnte von Glück reden, wenn dabei niemand getroffen wurde.

Seine Blicke fielen auf Fetzen einer New York Times, vor ihm am Boden liegend. Er überflog die Überschrift. Der siebte November. Er überlegte. Er war am sechsten von Frankfurt weggeflogen. Unmöglich. Konnte es sein…? Der obere Teil des Textes hatte arg gelitten, da er in einer kleinen Pfütze aus Regenwasser gelegen war. Alles, was noch zu lesen war, schien die Schlagzeile zu sein und ein paar Zeilenfragmente. Oder doch! Dort, dieses Stück konnte noch dazugehören. In völliger Ruhe, als ob es die natürlichste Sache der Welt gewesen wäre, buchstabierte Marcel den lückenhaften Text: „… die Mitternachtsmaschine aus Frankfurt a. Main, die Ortszeit um 16 Uhr in New York J. F. Kennedy hätte landen sollen, meldete um 15 Uhr 52 den Totalausfall beider Triebwerke. Im Sinkflug gelang es dem Piloten gerade noch, den Crash über dem Stadtgebiet zu verhindern, um kurz darauf im …“ Hier fehlte abermals ein Stück Papier. Die letzten Stellen des Textes lauteten: „… wobei die Notwasserung zwar geglückt war, die Maschine aber auseinandergebrochen und binnen Sekunden in den Fluten …“ Damit endete der Text. Marcel starrte ins Nichts.
Gedankenfetzen: Er müsse sogleich schreiben, hatte ihn seine Enkelin Jana beschworen. Ja, er hätte gleich schreiben sollen, flüsterte Marcel noch, für niemanden hörbar. Und es wurde noch stiller um ihn, das Licht noch schwächer. Im selben Augenblick dachte er noch einmal an die Mauer, und daran, wie er sich gefreut hatte, als sie endlich gefallen war. Das wäre ja vorauszusehen gewesen. Aber nun war alles ganz anders gekommen. Er ahnte, als hätte für ihn eine Art letzte große Freiheit begonnen!
Marcel hätte tief durchatmen wollen, aber es war physisch nicht vonnöten. Also richtete er sich auf und betrachtete lange den grünen Streifen des Central-Parks am Horizont. Es würde alles gut sein hier. Die alten Wunden würden verschorfen, neue nicht geschlagen werden.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15077

Die Krise 5 – Innere Zweifel

Allen am Gesellschaftsleben Teilnehmenden, die hier in Zwicklingsau (gleichwie Hintertupfing) lebten, war längstens klar, dass der ortsbekannte Lebemann und Nichtsnutz, Porsche 911-Fahrer von Gnaden, Paul Pedasoli, ein bereits längeres Verhältnis mit der attraktiven Geschenkboutiquebesitzerin Stefanie Raymundo aufrechthielt, trotz deren gespaltener Zuneigung zur lokalprominenten Künstlerin Eva Vanin.
Pedasoli mochte an die fünfzig sein, und war sicherlich nicht mittellos, wie man an seiner Kleidung oder seinem fahrbaren Untersatz feststellen konnte. Am hiesigen Meldeamt schien er nicht auf im Register. Unklar hingegen war auch, woher die Mittel für seinen luxuriösen Lebenswandel stammten. Klar hingegen war, dass die vereinigte Liga der Kirchenbankreserviererinnen Stefanie Raymundo zutiefst beneidete und sie längst auf die Titelseite ihrer Klatsch- und Tratschgeschichten gehievt hatte. Den Anlass für die allgemeine Ächtung bot ein sich bereits öfter wiederholendes merkwürdiges Ritual um die Geschäftszeiten von Raymundos Boutique, welches Rembert Mirando neulich bereits um eine Facette bereichert hatte.
Immer dann aber, wenn der schwarze Porsche Pedasolis vor Raymundos Geschäft parkte, hing ein kleines Kartonschild an der Eingangstüre, auf dem geschrieben stand: Komme gleich, bitte warten! Aufgeklebte Gänseblümchen und Veilchen verzierten dieses Schild rund um das Geschriebene zusätzlich. Und es hatte sich längst herumgesprochen, dass es meist den ganzen Nachmittag dort hängen blieb.
Insider wussten es besser, nämlich, dass das Geschäft in dieser Zeit stets geschlossen war. Im ersten Stock des Hauses aber, den Stefanie alleine bewohnte, waren die Gardinen am helllichten Tage zugezogen. So auch an jenem Tag, nachdem der schwarze Porsche 911 wieder einmal vor Stefanies Geschäft geparkt hatte, diesmal allerdings völlig überraschend, und das nicht nur für die Leute hinter den Gardinen gegenüber.

Paul hatte einen zweiten Schlüssel und ging erst gar nicht durchs Geschäft, sondern verschaffte sich durch die Hintertür Zutritt zum Eingang von Stefanies Refugium. Er stieg die Treppen hoch bis zu Raymundos Wohnung, steckte den Schlüssel an und wollte aufsperren, als er sofort merkte, die Türe stand ohnehin schon offen, leicht angelehnt. Paul rieb sich die Hände, wollte er doch Stefanie auf seine unvergleichlich urureigenste Art überraschen. Aber er kam nicht weiter, bloß bis vor die Küchentür, als er lautes Stöhnen zweier weiblicher Stimmen vernahm. Vorsichtig trat er hinzu und spähte durch den Spalt, den die halb offene Türe hinterlassen hatte. Eva Vanin, an die Spüle gelehnt, die Jeans hinabgelassen, das Höschen verrutscht, von Stefanie liebkost und geknetet, hielt ihre erhitzten Wangen an jene Stefanies und wiegte sich im Takte unhörbarer Melodienreigen. Pedasoli fuhr zurück. Hier war das Vieh schon an der Tränke!, durchzuckte es ihn.

Insgeheim hatte er irgendwie Kenntnis von Stefanies geheimer Neigung gehabt. Bestätigung dafür hatte es bis jetzt keine gegeben. Vibrierende Neugierde trieb ihn dennoch einmal dazu, die Beobachtung fortzusetzen. Seine Fantasie geriet in Wallung, bis er ihr durch den Entschluss ein Ende setzte, leise den Rückzug anzutreten und unauffällig, wie er gekommen war, das Haus zu verlassen.
Davor jedoch verschaffte er sich über die rückwärtige Treppe des Flurs Zutritt zum Verkaufsraum. Den Nachschlüssel hatte er sich längst besorgt. Der kluge Mann baut vor. Ein kurzer Blick über die Regale fand seine Ruhestätte an einer offenen Schatulle, der Ladenkasse, welche nahe der Eingangstür auf dem Pult stand. Pedasoli trat rasch hinzu, entnahm ihr einige kleinere Scheine, eben kurz einmal illiquid, wie er war, würde er Stefanie das Geld später selbstverständlich zurückgeben, schließlich war man Ehrenmann, und verschwand unbeobachtet zur Hintertür hinaus. Er bestieg seinen Wagen und entfernte sich ohne jedes Aufsehen. In den der Boutique gegenüberliegenden Wohnungen glitten die vorsichtig beiseitegeschobenen Gardinen wieder unauffällig in ihre gewohnte Position zurück.

Durchtauchen, durchfuhr es Rembert Mirando unterdessen, geheimer Mandatar zuletzt, bis die Turbulenzen vorbei wären. Er müsste nur durchhalten, die Krise auf seine Art bewältigen. Experten und Laien rätselten gemeinsam ja längst über die Dauer derselben. Das war immer so. Zuerst war der Finanzmarkt, dann die Industrie betroffen, und dann erst der kleine Mann. In Krisenzeiten musste man einfach flexibel sein, sich auf neue Gegebenheiten einstellen können.
Seelische Gleichgewichte konnten dabei leicht ins Trudeln kommen. Er aber würde nicht in die Opferrolle fallen, hatte er sich vorgenommen. Er selbst würde nichts persönlich nehmen. Man könnte ja Mut und Rat aus der Umwelt ziehen, und dabei ausstrahlen, wie wichtig man war. Dabei konzentrierte sich die übrige Welt hoffentlich auf die Umstände, wie und wodurch alles zu guter Letzt derart zustandegekommen war, jedoch nicht auf ihn und seine geheime Transaktion.

Eines Tages erschienen in einem kurzen Artikel der regionalen Presse einige Zeilen über den Grundstückskauf der Escortins auf naturgeschütztem Gelände. Dieser Artikel rief allgemeine Empörung hervor. Die Opposition, sonst lediglich unauffällig vor sich hin schwächelnd, plusterte sich ungewöhnlich heftig auf und tat dabei, als hätte sie von der ganzen Schweinerei nichts gewusst, obwohl ihre Unterschrift ebenso auf dem Kaufvertrag prangte wie jene des Bürgermeisters, des Amtmannes und Mirandos, Finanzbeauftragter und Kulturguru.
Ganz besonders aber regte ein kurzer Nachsatz in dem Artikel auf, nämlich der, dass Geld geflossen sei in dieser Sache. An wen, stand nicht dabei. Das war wiederum Wasser auf die Mühlen der Klatsch- und Tratschgesellschaft und es wuchsen die verschiedensten Gerüchte, Wolkenkratzern gleich, bis hoch in den Himmel. Unter ihnen auch solche, in denen behauptet wurde, Rembert Mirando wäre in die Sache involviert, einer, den mittlerweile niemand so richtig leiden mochte, seit er seine Position im Gemeinderat dazu benutzte, sich unangenehm hervorzutun und Bürgerwünsche abschmetterte.

Da war plötzlich auch von gewaltigen Pyramidenspielen mit Steuergeldern die Rede. Dutzende Geldgeber wären ohne deren Wissen zu Komplizen gemacht worden. Das Gerede um geheime Transaktionen nährte Fantasien von gewinnbringenden Projekten, in die zu investieren es sich gelohnt hätte. Ein weiteres, schmuckloses Schreiben war aufgetaucht mit der Botschaft, ein schwindelerregendes Geldkarussell wäre in Gang gesetzt worden, um zu vertuschen, wo der ganze Zaster tatsächlich geblieben sei.
Das Volk war irritiert und erregt zugleich. Der Klerus donnerte sonntags von der Kanzel herunter, der seelische Müll müsse zuerst beseitigt werden! Die geistige Umweltverschmutzung sei verantwortlich für die Wirtschaftskrise. Gier und Materialismus zerstörten ihre Umwelt. Wo der Mensch nicht mehr zählte, würden fundamentale Werte schwinden. Das klang alles sehr ernst und es war keine Rede mehr davon, dass Gleichgeschlechtlichkeit heilbar wäre.

Mirando hatte den Zeitungsartikel immer wieder gelesen und er musste sich eingestehen, dieser hatte ihn, ganz gegen seine Gewohnheiten, irgendwie peinlich berührt. Schon malte er sich aus, wie bösartig die Lokalpresse reagieren würde, wenn‘s endlich einen Prominenten erwischt hätte. Und in gewisser Weise war er ein Prominenter. Zumindest hier in Zwicklingsau. (Es wäre wahrscheinlich auch in Hintertupfing nicht anders gewesen.) Vielleicht nahm man ihn in Untersuchungshaft? Sein Privatleben würde verglichen werden mit dem des angehenden Mandatars Rembert Mirando, und ob sich darin Widersinniges fände. Auch könnte man danach nicht so einfach zur Tagesordnung über- und er nicht mehr ganz einfach so zum Fleischhauer hinübergehen und sich von dessen entzückender Tochter bedienen lassen. Vielmehr bestand die Wahrscheinlichkeit, dass man ihn dort überhaupt nicht mehr bediente.
Vielleicht aber gäbe es „Wurschtbrot“ im Gefängnis, anstatt Wildbret, sicherlich. Dort würde er einen Raum mit einem Fremden teilen müssen. Und er könnte nicht in der Nacht aufstehen und zum Kühlschrank gehen, um Schinken und ein kaltes Bier herauszunehmen oder sich einen Whisky einschenken, wenn ihn die Sorgen nicht schlafen ließen. Und mit seinen Kurzbesuchen bei Stefanie wäre es auch vorbei. Und seine Gattin würde sich scheiden lassen. Mit Sicherheit!

Das alles erschreckte ihn ungemein, wie auch die Vision, den ganzen Tag über von irgendeinem kleinen Gauner oder Fixer oder Kiffer oder Wichser oder sonst irgendeinem Untermenschen, gar einem Ausländer, einem muslimischen Fanatiker oder einem vorbestraften Messerstecher beobachtet zu werden! Bestenfalls würde es ein erfahrener Mithäftling sein, der ihn in den ersten Tagen unterweisen würde, und ihm helfen sollte, den Gefängnisschock zu überwinden. Undenkbar das alles! Vielleicht könnte ihn die Escortin protegieren, wenn es so weit wäre? Dieser Mithäftling also würde auf ihn aufpassen, damit ihm nichts passierte. Dass er sich nicht am Schnürsenkel erhängte oder sich in der Klospüle ertränkte oder so ähnlich.
Denn wenn einer so in der Öffentlichkeit stand wie Mirando, dann würde man ihm eben helfen, den Haftschock zu überwinden. Mirando, der stets gerne in der Natur war, und wenn es nur der Gang zur Bank war, dürfte von nun an bloß eine Stunde im Innenhof der Justizanstalt seine Runden drehen. Einziger Luxus wäre, sein Essen aufs Zimmer serviert zu bekommen. Mirando lachte bitter. Allerdings bekäme er hier keine Gourmetmenüs! Aber was man bekam, würde zumindest in anderer Form gebracht werden als in der gewohnten, nämlich im Blechnapf mit dazupassendem Becher. Und glasierten Kalbsbraten gäbe ist es sicher auch nicht. Rehrücken schon gar nicht. Am Abend Brot und Wurst.
Zwei Mal die Woche dürfte er Besuch empfangen, der vorher angemeldet zu sein hätte. Wer würde ihn schon besuchen kommen? Seine Gattin? Nein. Stefanie? Wohl kaum. Die Escortin? Auch nicht. Sie würde sich wahrscheinlich hüten, mit ihm Kontakt zu halten, jetzt, wo er quasi ein Krimineller war, schon aus Rücksicht auf ihren Mann. Wenn das ihr Hase erfahren würde! Nicht auszudenken!
Rembert kniff die Augen zu. Er könnte sie auf der schmalen Gefängnisbank flachlegen, überlegte er. Das intakte Intimleben der Häftlinge wäre neuerdings angeblich ein wichtiges Anliegen der Gefängnisverwaltung. Rembert versuchte, seine destruktiven Gedanken zu verscheuchen, indem er einen Besuch bei der Bank machte, um einen Blick auf sein Konto zu werfen. Noch war nichts verloren! Man musste nur durchtauchen, bis das Schlimmste vorüber war.

Dann aber geschah das Unglaubliche. Der glatte Ostfinanzfisch war verhaftet worden. Es war von gewaltigen Pyramidenspielen mit Steuergeldern die Rede. Von Dutzenden Geldgebern, ohne deren Wissen Gutgläubige zu Komplizen gemacht worden wären. Das Gerede um geheime Transaktionen von Beteiligten aus dem Ort nährte zusehends die Fantasien von gewinnbringenden Projekten, in die zu investieren es sich gelohnt hätte. Ein drittes schmuckloses Schreiben war aufgetaucht mit der Botschaft, ein weiteres schwindelerregendes Geldkarussell wäre in Umlauf gewesen, um zu vertuschen, wo denn das viele Geld eigentlich geblieben sei. Ja, ja, das Volk, sowohl in Zwicklingsau als auch in Hintertupfing war wie immer irritiert und erregt zugleich und man flüsterte auf Gängen und in Hauseinfahrten nur mehr über einen – über Rembert Mirando.
Mirando war nicht entgangen, was hinter seinem Rücken vorging, wenn er durch die leeren Korridore des Gemeindeamtes fegte, um nur ja von niemandem aufgehalten zu werden, um sogleich rasch in seinem Zimmer zu verschwinden. Er hielt die Türe zu seiner Sekretärin geschlossen und wollte überhaupt nicht wissen, ob sie es mit ihren Beinen unter dem Schreibtisch ebenso hielt. Auch die Farbe ihres Höschens interessierte ihn mit einem Male überhaupt nicht mehr. Das hatte es noch nie gegeben und konnte als Zeichen totaler Desorientierung gewertet werden.
Von diesem Zeitpunkt an hatte Mirando sein Element verlassen, Hände zu schütteln, auf Schultern zu klopfen und Schmäh zu führen. Er versteckte sich hinter seinem Schreibtisch, ließ niemanden zu sich vordringen, erledigte alles via e-Mail und verließ das Gemeindeamt stets als Letzter, im dunklen Staubmantel, den Kragen hochgeschlagen. Seine geheimsten Befürchtungen schienen eingetreten zu sein. Er war unter den Verdacht der Geldwäsche wie auch der Bestechung geraten und dafür bekannt geworden, Millionen bekommen zu haben, für dubiose Beratungsgespräche oder so ähnlich.
Untitulierte Zahlungen wären getätigt, und, wie man festgestellt hatte, gefälschte Belege vorgelegt worden, was schließlich zur Festnahme des Finanzfisches geführt hatte, den Mirando in seiner Bedrängnis vor dem Untersuchungsrichter schwer belastete. Dem Barrakuda wurde Verdunkelungsgefahr vorgeworfen und Tatbegehungsgefahr. Geld, von dem keiner wusste, woher es stammte, soll in höchst dubiose Geschäfte geflossen sein, die mit ihrer ursprünglichen Bestimmung herzlich wenig zu tun gehabt hätten.

Das Ortsblatt berichtete von einem Unternehmer, drei Teilhabern und einem ungeschickten Anleger, der seinen Mund nicht hatte halten können, beinahe politischer Mandatar obendrein, sowie einer Firmengruppe, die aus zahlreichen Untergruppen bestünde, mit dem vielversprechenden Namen East-Finance-Cooperation Unlimited, mit Sitz in einer bis dato unbekannten südosteuropäischen Hauptstadt. Ebenso war von einer Main-Consulting GmbH zu lesen, an der jener Ostfinanzmensch mit 65 % beteiligt gewesen wäre.
Was Mirando nicht wissen konnte, dass der angebliche Finanzberater längst die Aufmerksamkeit der Staatsanwaltschaft erregt hatte. Die Rede war auch von Schmiergeldzahlungen an Politiker, mit dem Ziel, Grundstückskäufe zu ermöglichen. Dabei sollen gewaltige Summen hin- und hergeschoben worden sein. Der Name Escortin kam in dem Artikel nicht vor. Allerdings ließ der Begriff „Baumafia“ die Leser aufhorchen. Sechzehn Millionen Umsatz hätte allein die Main-Consulting gemacht, und das mit einer Firma, die lediglich aus zwei Personen bestanden hatte.

In einem Nachsatz wurde quasi nur so nebenbei angemerkt, dass Escortin auf Gemeindegrund, der im Naturschutzgebiet gelegen hätte, mit Bauarbeiten eines Hauses begonnen hätte. Dieser winzige Nachsatz regte riesig auf. Nicht nur, dass man üblicherweise monate-, wenn nicht jahrelanges Warten auf die Behörden in Kauf nehmen musste, bis die Übermittlung des Flächenwidmungsplanes an das zuständige übergeordnete Amt vorgenommen wurde. Ein Akt wurde angelegt, von einem Sachbearbeiter, wenn Zeit dazu war. Das dauerte meist drei bis sechs Monate. Dann wurde der Plan überprüft. Auch das konnte dauern! Ein Antrag musste gestellt werden, was wiederum sechs bis acht Monate in Anspruch nahm, und wenn man Glück hatte, wurde dieser in einer Sitzung nach zwei bis drei Monaten verabschiedet und schließlich dem Gemeinderat vorgelegt.
Nicht so im Falle Escortins: Beschließung der Änderung eines Flächenwidmungsplanes am Montag. Drei Tage später lag der Gemeinderatsbeschluss vor. Am Donnerstag trat die übergeordnete Behörde zusammen. Die Umwidmung wurde genehmigt und bereits am Freitag war der Bescheid an Escortin ergangen. Die Naturschutzbehörde war geschickt ausgeschaltet worden. Escortin war ein reicher Mann. Der Kaufpreis von üblicherweise 30 bis 35 Euro wurde bei diesem Kauf dabei noch unterschritten und Escortin zahlte lediglich 24 Euro pro Quadratmeter.
Das alles hatte die Zwicklingsauer Seele aufs Äußerste irritiert und sie geriet ins Trudeln. (Der hintertupfingerischen erginge es wohl nicht anders.) Die Zwicklingsauer verfluchten Rembert Mirando, den politischen „Beinahe-Mandatar“, als sie davon erfuhren, dass in der Grundstückssache mit Escortin Geld geflossen war, welches er selbst noch obendrein veruntreut hatte. Details über dieses Vermögen und woher es stammte, waren nicht bekannt.

Dabei hatten die meisten gedacht, dass ihr Mirando verlässlich wäre, konservativ, seriös. Im Grunde aber wäre er bloß ein Weiberheld, der den Umgang mit dubiosen Frauen wie dieser Stefanie Raymundo pflegte, und gleichzeitig sogar ein Verhältnis mit Anica Escortin hatte. Ein frecher Maulheld wäre er, sagten sie und ein Weiberer obendrein, der sich überall durchboxte. Wie das seine Frau aushielte, fragte man sich und man bedauerte die Arme.
Überall sei er präsent, um da und dort seine Ellbogen auszufahren, anderen Leuten unaufgefordert den Taktstock zu entreißen, sich bei höherrangigen Politkolleginnen und -kollegen einzuschleimen, immer auf Ausschau nach nützlichen Freunden, die er irgendwie um etwas bitten konnte, nach Partys, auf denen er fürs Fressen und Saufen keinen Groschen bezahlen musste oder Autos mit Prozenten einkaufte, mitschnitt, wann und wo immer es ging.
Obendrein wäre er ein arroganter, stets mit dreckigen Witzen bewaffneter Komiker, der es immer schaffte, mit seinen derben Zoten irgendwo im Mittelpunkt zu stehen und selbstzufrieden zu grinsen, wie ein satter Säugling. Die Leute sagten, man müsse als Politiker sein Publikum unterhalten, auch wenn es nur darum ginge, es mit endlosem, wiederholten Pointendreschen zu langweilen, was einerseits dazu diente, dem eigenen unbeugsamen Willen den notwendigen Nachdruck zu verleihen, andererseits um damit die eigene schwammige Unentschlossenheit zu kaschieren.

Die Leute sagten auch, Rembert Mirando gehöre zu jenen Typen, die in öffentlichen Reden Dinge versprächen, die sie gar nicht halten könnten, aber hinterher sogar noch wissen wollten, ob sie gut gewesen wären. Nun sei er endlich einmal aufs Maul gefallen, freuten sich die Zwicklingsauer und appellierten an die Gerechtigkeit und den langen Arm der Justiz. (Die Hintertupfinger täten es ihnen sicherlich gleich.)
Im Zweifel säße man hierzulande Probleme aus, meinte der Bürgermeister lakonisch, als er auf offener Straße auf seinen sogenannten besten Mann angesprochen worden war. Man folge damit lediglich den Gesetzmäßigkeiten einer Soap-Opera, und dabei lachte er hinterfotzig. Immerhin galten kleine Scherze generell stets als willkommene Interjektion in hilflosen Situationen, rettender Ausdruck aus dem Reich des Unbewussten. Damit ließen sich Konflikte verkleinern und sie lächerlicher erscheinen als sie waren. Nicht zuletzt erzeugten sie für die nähere Umgebung zusätzlich eine gewisse Sicherheit, den Fakten ihre tödliche Ausweglosigkeit zu nehmen. Auf diese Weise konnte man sich dahinter leichter vor seinem eigenen dunklen Schatten verbergen. Man würde dadurch in gewissem Sinne unverletzlicher, für einen Augenblick sogar Sieger, auch wenn man sich gerade auf Talfahrt der eigenen Karriereleiter befand. Wurde darüber gelacht, erfuhr man eine Art Seelentrost und konnte wenigstens für einen Moment die Tatsache verdrängen, in welch einer beschissenen Lage man sich eigentlich befand.

Und Mirando? Mirando dachte zunächst an Flucht. Es würde etwas weiter sein müssen, um den Auslieferungsforderungen innerhalb der EU-Länder entfliehen zu können, überlegte er fieberhaft. Die Escortin müsste her. Mochte sein, dass sie augenblicklich bitterböse auf ihn wäre. Noch lief er frei herum. Auch war noch nicht das ganze Kapital verloren. In letzter Zeit scheute Mirando davor zurück, sich allzu oft in seiner Bankfiliale sehen zu lassen. Der Wahlkampf war bereits im Gange und zeitgleich mit diesem setzten die Auseinandersetzungen mit den politischen Gegnern ein, sich mittels Plakaten auf die Führungspartei einzuschießen. Die Befürchtungen aus den Reihen von Mirandos Parteifreunden waren eingetroffen, denn nach Mirandos Nominierung zum Mandatar wurde zu Recht große Sorge geäußert, er könnte sich in dieser Finanzsache verheddern und dadurch alles in der Partei zu Fall bringen.
Mirando hatte alle Hände voll zu tun, unangenehmen Fragen auszuweichen, einerseits solchen vom Parteivorsitzenden und dem Bürgermeister, andererseits denen der Lokalpresse, die sehr bemüht war, ein möglichst konkretes Bild aller Beteiligten in dieser Sache um den Grundstückskauf der Escortins zu zeichnen.
Und immer wieder wurde in den Kolumnen der Name Rembert Mirandos genannt. Er wäre einer der Hauptbeteiligten, hieß es, obwohl jeder wusste, dass er nur ein kleiner Schleimer war und für solche Geschäfte gar keine Kompetenzen besessen hätte.
Mirando reagierte cholerisch. Im Amt fuhr er die Leute grob an, die etwas von ihm wollten. Privat lief nichts mehr. Seine Gattin hatte von den Kirchenbänklerinnen alles erfahren und sprach kein Wort mehr mit ihm. Stefanie Raymundo hatte ihren Laden geschlossen und der schwarze Porsche Pedasolis parkte schon lange nicht mehr vor ihrem Haus. Es hieß, sie wäre weggezogen und hätte in der Stadt ein neues Geschäft eröffnet. Die Parteifreunde begannen, sich an Mirando abzuputzen. Zuallererst der Bürgermeister, dann der Parteivorsitzende und dann die übrigen. Sie sagten, er würde schon allein durch seine Präsenz alles verderben, was sie aufgebaut hätten, und sie legten ihm nahe, den Abschied zu nehmen.
Es schien, als wäre Rembert Mirandos Schicksal in eine länger andauernde Pechsträhne geraten und es ärgerte ihn maßlos, dass das Glück nicht mehr an seine Tür klopfte. Aber eher würde er sich die Zunge abbeißen, als freiwillig die eigene Schuld einzugestehen, auch wenn es ihm diesmal nicht so gelungen war, wie er es sich vorgestellt hatte. Und Schuld an dem Schlamassel hätte einzig und allein der Ostfinanzfisch. Was aber erst, wenn man dahinter käme, dass es sich beim verlorenen Coup nicht zuletzt auch um die zwischengelagerte Parteienspende Escortins gehandelt hatte? Mirando wurde heiß bei dem Gedanken.

Von den hundertfünfzigtausend waren immerhin noch siebzigtausend übrig. Sollte er es jetzt noch eingestehen? Dem Bürgermeister gestehen, er hätte das Geld dringend für eine private Angelegenheit gebraucht? Zu spät! Zwei Tage später lag auf seinem Schreibtisch eine Nachricht, er möchte doch jetzt, wo ohnehin alles herauskommen würde, gleich die gesamte Summe auf das Konto der Partei überweisen. Es könnte nicht schlimmer kommen, als es schon wäre, stand zu lesen. Besser, man lege die Karten offen, als wenn die Herrschaften von der Opposition dahinterkämen, von wem das Geld geflossen wäre, obwohl das allen bekannt war, nur selbst wollte man es nicht glauben.
Mirando erstarrte. Er lief in seinem Büro hin und her wie ein gereizter Tiger. Alles schien ausweglos. Er würde zu Kreuze kriechen müssen. Dann wäre alles hin. Sein Job, seine politische Karriere, einfach alles! Mirando fuhr mit zwei Fingern zwischen Hals und Hemdkragen. Der Knopf hielt der Spannung nicht stand und sprang ab. Also doch die Escortin. Er griff zum Telefon. Nein, Schwachsinn. Sie könnte ihm nicht helfen. Niemand konnte helfen. Oder wenigstens mit ihr reden, jetzt, in dieser schweren, existenzbedrohenden Situation? Vielleicht um des Gefühls Willen, als Mensch behandelt zu werden, abgeholt zu werden, wo er gerade stünde? War nicht immer auch eine Botschaft in so einer Situation versteckt? Es führte kein Weg daran vorbei. Wie an einer schweren, ja tödlichen Krankheit.

Rembert Mirando war in einer großen psychischen Not. Er, der immer so elegant über das Parkett des Lebens getänzelt war, war an seiner eigenen Gier gestrauchelt. Möglicherweise könnte er mit Anica Escortin Strategien zur Rettung seines Ansehens und Weiterkommens entwickeln? Sie war eine kluge Frau, gewiss.
Ein Balkantief sandte weiterhin feuchte und schwülwarme Luft von Osten nach Zwicklingsau, und Gewitter waren nicht ausgeschlossen. (Hintertupfing schien diesmal davon nicht betroffen.) Ob sie ihm die verlorenen achtzigtausend liehe, die Escortin? Vielleicht verfügte sie gar nicht über eine solche Summe? Von ihrem Hasen würde sie diese wohl kaum bekommen. Wenn der ahnte, für wen das Geld bestimmt wäre, kriegte er mit Sicherheit einen Herzinfarkt! Mirando kam zu keiner Lösung. Er schloss seine Schreibtischlade ab.

Es war gerade vor Geschäftsschluss. Der Bankdirektor staunte nicht schlecht, als Rembert Mirando die restlichen Siebzigtausend von seinem Konto abheben wollte, einfach so, in bar, und das Geld in einem schwarzen Kunstlederkoffer verstaute, den er wohlweislich mitgebracht hatte. Nachdem dieser sich mit dem Geld im Koffer freundlich verabschiedet hatte, eilte der Direktor in sein Büro, um den Bürgermeister anzurufen. Aber es war schon nach vier, und niemand mehr im Gemeindeamt. Der Bürgermeister hatte bereits sein Handy abgeschaltet. Der Bankdirektor schrieb ihm eine SMS, in der Hoffnung, dieser würde sofort zurückrufen, wenn er sie gelesen hatte.
Tags darauf überbrachte der Bote einer privaten Geld-Zustellfirma hundertfünfzigtausend Euro, ließ sich die Übergabe vom mehr als erstaunten Bankdirektor mit dem Hinweis bestätigen, die Summe auf das Konto der Gemeindekasse zu verbuchen und fügte hinzu, er dürfe den Absender aus Gründen des Datenschutzes nicht nennen, punktum! Ja, geht denn das?

An diesem Tag saß Rembert Mirando wie immer in seinem Büro. Es war der Tag, an dem er selbst Parteienverkehr abzuwickeln hatte. Die Warteschlange vor seiner Türe hielt sich in Grenzen. Die Leute, die er rascher als sonst abgefertigt hatte, tuschelten hinter vorgehaltener Hand darüber, dass er ihre Angelegenheiten diesmal zumeist wortlos erledigt hätte, ohne den geringsten, sonst üblichen Zynismus, ohne jegliches cholerisches Getue, wenn einmal ein Papier fehlte, und ohne auch nur den leisesten Anflug eines unanständigen Witzes. Ja, manche hätten sogar ein leises Lächeln auf seinen Lippen bemerkt.
Am gleichen Tag wollten auch einige Dorfbewohner einen Rettungswagen mit Blaulicht und Folgetonhorn zur Villa der Escortins hochfahren gesehen haben, und tags darauf stand im Zwicklingsauer Tagblatt (davon wusste man nichts in Hintertupfing) zu lesen, dass der bekannte Bauunternehmer Denis Escortin einem Schlaganfall erlegen wäre. Die Beerdigung würde am Freitag um vierzehn Uhr am hiesigen Friedhof stattfinden. Mit zahlreichen Trauergästen sei zu rechnen.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 15075

Das Totenmahl

Liebe Constance!

Da ich dich telefonisch nicht erreiche, schreibe ich dir ganz einfach. Ich muss zugeben, ein völlig neues Gefühl. Ich brauche nicht zu versuchen, mir deine Stimme vorzustellen, denn ich höre sie andauernd in mir, sie ist mir in all den Jahren zu vertraut geworden, dies solltest du wissen. Nach anfänglichem Entsetzen über deine schriftliche Nachricht, du würdest nun in Paris bleiben, es sind nun einige Tage vergangen, habe ich mich so weit gefasst, dass ich in der Lage bin, dir meine Situation zu schildern, in die du mich durch deine, eine für mich völlig neue Seite an dir, ungezügelte Triebhaftigkeit gebracht hast, oder Liebe, wie du es nennst, und möchte dir mitteilen, dass ich beabsichtige, mich von dir zu trennen, weil ich die augenblickliche Situation nicht länger ertragen kann.
Wenn ich mir vorstelle, dass dich dieser breitschultrige Affe Tag und Nacht berührt, wohl mehr noch, empfinde ich Ekel und Wut gleichzeitig und bezweifle zutiefst, dich je wieder unvorein-genommen in die Arme schließen und dich lieben zu können, wie ich es bisher getan habe. Vielleicht war ich all die Jahre auch nur ein Spielzeug für dich, welches du jetzt, dessen überdrüssig geworden, ganz einfach weggeworfen hast.

Ich kann den Sinn unserer Beziehung nicht mehr erkennen und denke, dass dies der beste Weg für uns beide sein wird. Wenn du zurückkommst, werde ich nicht mehr in unserer Wohnung sein. Meine Bücher, die Regale und den Fernseher nehme ich mit, schließlich sind sie mein Eigentum und so gut wie alles, was ich vorläufig brauche. Bezüglich der Wohnung, des Autos und all der anderen Sachen können wir uns über Klaus verständigen, den ich als Anwalt kontaktieren werde. Ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich ihn damit beauftrage. Wenn mich mein siebter Sinn nicht im Stich lässt, warst du ja einmal sehr eng mit ihm befreundet. Ich ersuche dich lediglich, unsere finanziellen Angelegenheiten mit deiner Bank so zu regeln, dass du die Hälfte unseres gemeinsamen Kredites nunmehr wieder auf dich umschreiben lässt.

Ich habe dir sonst nichts mehr zu sagen, als dass ich von ungeheurem Schmerz über das jähe Ende unserer Gemeinsamkeiten wie gelähmt bin, unfähig, jetzt noch länger darüber nachzudenken. Neunzehn Jahre sind schließlich nicht irgendwas. Ich wünsche dir nicht zuletzt, dass du das, was wir in diesen Jahren gemeinsam erlebt und genossen haben, nicht gegen minder Qualitatives eintauschen musst und dich die Wahl, die du nun getroffen hast, nicht eines Tages reut. In Liebe … Arno hatte diese Worte mit dem Tintenkiller wieder ausgelöscht und durch „In Freundschaft, Arno“ ersetzt. Er wollte eigentlich „dein Arno“ schreiben, aber plötzlich war ihm bewusst, dass er nicht mehr „ihr Arno“ war.

Merkwürdig, dachte er, es störte ihn jetzt gar nicht so sehr, dass sie ihn so plötzlich verlassen hatte. Eine Lüge? Zum Selbstschutz? Immerhin, sie war ja bereits zweimal wieder zurückgekommen, seit sie mit diesem… Lächerliches Theater! Eine Affäre eben. Käme in den besten Familien vor, versuchte er sich einzureden. Aber diesmal? Er konnte sich nicht erklären, was sie diesmal für eine Show abzuziehen gedachte. Dabei hatte er sie stets für eine kluge Frau gehalten, für eine gebildete, beinahe zu berechnende Frau. Zu berechnend! Eine mit Anstand und Moral. Nein? Und wenn schon. Einen Arno Schmidt verlässt man eben nicht, durchfuhr es ihn, obwohl er dem Wahrheitsgehalt solcher und ähnlicher Aussagen selbst kaum große Bedeutung beimaß.

Plötzlich fiel ihm seine eigene kurze Liaison mit Clara ein, die mit dem Nitrogeschmack auf den Lippen und dem gelenkigen Körper. Armins Schwester. Und überhaupt, er hatte eine Menge zu tun gehabt, mit Schwestern von Freunden und so, überlegte er. Mochte wohl alles eine Frage der Gelegenheit sein. Und erst Lissi Radner! Aber nein, da war nichts. Wie denn auch? Wegen mangelnder Erotik. Du liebe Zeit! Wie schnell doch dieses Leben ablief. Die ist auch älter geworden, überlegte er, und dachte voll Grauen an die peinliche Szene in einem Lokal im Zuge des Totenmahls im September, wo sie ihn, so ganz ohne Vorwarnung und ohne jeglichen für ihn ersichtlichen Grund öffentlich bloßgestellt hatte. Blöde Kuh!
Er wäre ganz einfach anders geworden, überlegte er, während dieser Zeit, irgendwie anders. Jetzt wäre er nicht mehr so wie damals vor Abhängigkeit und Sehnsucht nach Constance gestorben, vor lauter Demütigung durch ihr Verhältnis mit diesem Franzosen abgestumpft, apathisch, irgendwie am Ende. Anfangs vielleicht, ja. Da hatte er noch gekämpft um sie. Aber jetzt? Sinnlos. Es wäre ihm gleichgültig, wie die Sache sich entwickeln mochte, beschloss er für sich. Und er dachte an ihre zahlreichen Briefe, die er bis jetzt von ihr bekommen hatte, und die Worte darin, die ihm wie Eisen im Fleisch steckten.

Die Briefe! Wo hab ich die Briefe nur hingeräumt, überlegte Arno fieberhaft. Ich weiß, dass du vor Sehnsucht vergehst, begannen die ersten Worte in einem davon, und … so wie ich hier vor Schmerz zerrissen bin, in Paris, zerrissen zwischen dir und ihm … ach, er war ja doch betroffen. Arno fühlte sich betroffen, ja, gleichzeitig aber auch getroffen, sich selbst einen Spiegel vorhalten zu müssen, in dem er zu erkennen glaubte, seine eigene Ehrlichkeit in Frage stellen zu müssen. War nicht ein solcher Mensch, der seine Fehler und Schwächen offen und ehrlich zugab, der bessere Mensch? War Constance in ihren Verfehlungen und ihrem Schmerz darüber nicht ehrlicher als er selbst in seinen Vorwürfen ihr gegenüber? Da waren noch seine kleinen Spielchen mit Clara, mit Marion, mit Lea und weiß Gott noch mit wem?
In diesem Augenblick hasste er sich! Er hasste sich für seine Kleinbürgerlichkeit, für seine Ängstlichkeit, für seinen Irrglauben, dieses Leben hier würde ewig dauern und würde sich ohne sein Zutun, etwas an seiner eigenen Situation ändern zu wollen, zum Besseren wenden. Lächerlich das alles!, raunte er vor sich hin.
Er würde sich dem Gespräch mit Constance stellen müssen, ob er nun wollte oder nicht. Jetzt, wenn sie bloß da wäre, dachte er. Gleich! Sofort! Er war ja doch immer bloß auf der Flucht gewesen. Oder besser mit Lea mit dem letzten Geld in den Süden fahren? Und danach? Vielleicht käme Constance inzwischen zurück? Schwachsinn!

Bald kam das neue Jahr. Und die Aussichten waren nicht gerade rosig. Schließlich war Rezession angesagt. Kurzarbeit lag in der Luft, gar keine bei ihm. Noch. Vielleicht würde es etwas mit dem Roman. Diesen Roman müsste er schreiben, sagte er zu sich ja immer. Die Idee ließ ihn nicht los. Was sei er doch für ein heilloser Träumer!, haderte er mit sich.
Ich muss es ihr sagen, dass ich für ihren persönlichen Jammer keine Zeit mehr habe. Ich verreise ganz einfach. I can’t feel her on my skin … dabei lächelte er, als er sich dabei ertappte, diese Melodie leise vor sich hin zu pfeifen, ganz von selber, unbewusst.
Größe haben, wäre gefragt. Größe. Die Größe, hinzugehen und ihr zu sagen, schön, dass du wieder da bist, wenn sie hier wäre. Wenn sie bloß hier wäre! Ist was passiert? Du musst wissen, ich verreise, mit … Vielleicht würde sie ihm schon gleich zu Beginn ins Wort fallen? Dann würde sie erzählen, wieso sie überhaupt wieder zurückgekommen wäre und so weiter. Seine Gehirnmühle mahlte und mahlte.

Und im Übrigen, was war falsch daran gewesen, neulich mit Marion ins Bett zu gehen? Schließlich lebten sie zu der Zeit sozusagen getrennt voneinander. Hätte er auf Constance warten sollen, bis sie wiederkam? Vielleicht, bis zum jüngsten Tag? Ach Quatsch!

Arno dachte an sein bereits begonnenes Manuskript, diesen kümmerlichen Versuch, sprachliche Divergenzen seiner subjektiven Wahrnehmung umzusetzen, jener tiefen Betroffenheit, den Vorgängen zwischen ihm und seiner unmittelbaren Beziehung zur Außenwelt ein sprachliches Gesicht zu geben, wie er das nannte. Ein schlechter Liebesroman würde es werden, sonst nichts. Leicht durchschaubare Mischszenen zwischen ihm und seinem eigenen Versagen, Constance das zu bieten, was sie offenbar woanders suchte.
Zielloser Aktionismus vertrackter, diametral auseinanderlaufender Lebensläufe im Visier eines psychotisch-neurotischen Blindgängers, der drauf und dran war, mit seinen ungewollten Liebesabenteuern das Chaos zu perfektionieren, wo er doch nur eines im Sinn hatte, mit Constance ein normales Leben zu führen. Er würde hineingehen zu ihr, wenn sie jetzt da wäre, sicher. Sie würden über alles reden und danach würde man dann die großen Dinge angehen. Sie die ihren, er die seinen.
Und er selbst nahm sich vor, dabei ganz locker darüberzustehen, ohne sich gleich zu fragen, was anders geworden wäre, wenn … Wir sind doch nicht so wie die andern, die sich bloß verlieben und dann weiterwandern, verhallte Udo Lindenberg in ihm.

Aber dann …. ach ja, dieses Totenmahl, durchzuckte ihn die Erinnerung zum wiederholten Mal. War doch längst Vergangenheit. Arno starrte Löcher in die Luft. Wie war das gleich noch damals? Das Rad war heute nicht zu stoppen! Er war gerade noch rechtzeitig eingetroffen, in dem kleinen Lokal am Hauptplatz, um wenigstens das „Totenmahl“ nicht zu versäumen. Der Verstorbene war längst erfolgreich in die Gruft versenkt worden, worin Stiefvater und tatsächliche Mutter schon seit geraumer Zeit ruhten, alles in allem höchst unkonventionell, mit Getute und Geblase von New-Orleans-Blues untermalt, wie ihm zu Ohren gekommen war. Arno betrat soeben das kleine Kaffeehaus, in dem die Trauergäste den Abschied ihres lieben Freunds begossen, wobei er, als Zuspätkommender, Anekdoten zu lauschen gedachte, die sich um den Verblichenen rankten, aber auch, um alte Freunde wiederzutreffen, auch Freundinnen, von denen er überzeugt war, dass sie es auch noch immer waren.
Gleich am ersten Tisch begrüßte ihn die Organisatorin dieses Himmelfahrtsevents mit einem sanften Kuss, den Arno nur zu gerne erwiderte. Caro Ass, Arnos ziemlich bester Freund und Beichtvater, wenn man so wollte, winkte aus der hintersten Ecke, der Leibesfülle halber kaum zu übersehen. Arno begann, all die zahlreichen Gesichter abzuklappern, blickte in bekannte und unbekannte Augenpaare, mit dem Gefühl, absolut nichts zu versäumen, wenn er deren Besitzer auch nicht alle gleich begrüßte, um sich diesen eventuell auch zu einem späteren Zeitpunkt widmen zu können.

Wer aber war der frisch Verblichene? Nun, der Tote war ein Mann der ersten Stunde der aufbrechenden 68er, Theresianums-Zögling, danach erst DJ, dann Fahrlehrer, schließlich Künstler und Lebenskünstler mit wenig Geschick in beiden Disziplinen. Immerhin passiver Aktivist des aktiven Widerstandes gegen das Establishment, gegen den Konservativismus, gegen die Heuchelei, gegen die Präpotenz und die Dummheit, gegen jede Art von Verherrlichung des Krieges oder dessen Herbeireden, einer, der im Kampf in der Errichtung seiner freidenkerischen Windmühlen gefallen war, von deren sich im Winde drehenden Flügeln er sich Kühlung seines Lebens- wie auch Liebeskummers erhofft hatte.
Rein optisch gesehen scheinbarer Klon zwischen Peter Fonda und Chris Kristofferson, schlohweiße Mähne mit dazupassendem Vollbart, Ray-Ban-Brille in Gold mit großen Gläsern. Dass der Abgang dieses lieben Freundes schmerzte, der bisweilen auch unbequem sein konnte, wenn man die Finger in seine Wunden legte oder nicht damit hinterm Berg hielt, seiner immer wieder aufgewärmten Geschichten müde zu sein, war allen bewusst, wie auch die Tatsache, dass sein konsequentes Sitzenbleiben, zum Überdruss für alle Beteiligten, oftmals die Nacht zum Tag gemacht hatte.
Doch nur wenige wussten um seine wahre Leidenschaft, die Malerei. Eingeweihte hingegen schätzten ihn als wenngleich ruhmlosen, doch äußerst geheimen Rat der Pinselkunst. (In diesem Land musste man erst tot sein, um Lorbeeren in so einer Disziplin zu erlangen, oder man hatte Beziehungen.) Immerhin, er hatte einige Semester an der Akademie absolviert, doch dann hatte ihn das Schicksal mit List in die Welt des Profanen katapultiert und es sich zur Aufgabe gemacht, ihn stets mit Gewalt von dem fernzuhalten, wovon er glaubte, dass es seine Bestimmung sei.
Vielleicht war er ganz einfach zu bescheiden im Umgang mit seiner Begabung und hatte es nicht verstanden, sich zu verkaufen?

Im Gegensatz zu ihm pflegte in seinem Heimatort manch Hobbykünstler großmannsüchtig sich die Lorbeeren selbst aufs Haupt zu drücken und mit sinnigen Sprüchen wie, „Hier wohnt die Kunst“ über dem Hauseingang zu protzen, was in Vorübergehenden wiederum die Ahnung nähren mochte, dass in diesem Hause wohl eher der Kitsch als die Kunst zu Hause wäre, oder besser gesagt, nur ihr Phänomen, in Form der Verkennung ästhetischer Sinnzusammenhänge, als verwesendes Ornament sozusagen, als unverfälschter Ausdruck des Verfalls aller Kultur zur Massenkultur in der Moderne.
Denn heute, da das Bewusstsein der Herrschenden mit der Gesamttendenz der Gesellschaft zusammenzufallen beginne, zergehe die Spannung von Kultur und Kitsch, sagt Adorno zu Recht. Kunst sei nicht zuletzt das Schöne wie auch die Wahrheit. Alles andere sei Schein. Es sei schon ein Stück Wahrheit, die der Künstler einfängt, auch wenn es lediglich der Abglanz derselben und mit unterschiedlicher Akzentsetzung ein Spiel mit den letzten Dingen ist und er damit doch gewissermaßen ein Endspiel erreicht, das nicht bloß erbauen und gefällig sein will. Eine Wirklichkeit also, die in schöner Weise verschleiert, Wirklichkeit aber erst dadurch sichtbar macht, hat einen gewissen Anteil am Schönen als auch am Hässlichen.
Form und Inhalt unterscheiden sie und lassen alles an ihr sehen und erahnen, an dieser Kunst. Nichts jedoch ist wirklicher als das Unwirkliche in der Kunst. Kunst ist also konkret ein schöpferischer Prozess mit Anspruch auf das Unaussprechliche, Unendliche, Unfassbare und Unbegreifbare. Und davon abgesehen, wer könne überhaupt für mehr als eine bestimmte Gruppe bestimmen, was Kunst denn überhaupt sei?

Wie auch immer. Böse Zungen behaupteten, das dahingeschiedene verkannte Genie hätte sich zu Tode gesoffen. Mitnichten. Enteignet, ausgenützt und hintergangen, längst unter Beobachtung der Behörden, noch dazu vor den Augen einer Supermarktkassiererin gestürzt, hatte er nicht nur sich selbst, sondern auch eine daraus resultierende Embolie mühsam mit nach Hause geschleppt, vor der sein Geist und Körper schließlich endgültig kapitulierten.

Dass aber das Ableben dieses guten Freundes nicht bloß in Arnos geistiger Registratur im Kanon der Erinnerungen ausgerechnet beinahe zeitgleich mit dem spektakulär tödlichen Blechsalat eines unverwechselbaren, seit Jahrzehnten die Öffentlichkeit an der Nase herumführenden Politgurus und Spitzbuben zusammenfallen würde, einem jener Gutmenschen, die alles besser wussten, durchtrieben, verlogen und betrügerisch und der jetzt womöglich am Himmelstor flehend „Ich bidde um Einlass, hicks! Wo gibt’s hier für kleine Jungs?“, lallen mochte, stieß ihm höchst sauer auf.
Arno sah sich erst einmal um und wandte sich schließlich den anwesenden Gästen zu.

– Wo bist du denn gewesen, fragte ihn Lissi Radner, und versetzte dabei ihre blau geschatteten Basedow-Augen in gefährliche Rotationen. Arno, von dem jähen Angriff überrumpelt, murmelte irgendeine Ausrede, mit der sie sich zufriedengeben sollte. Die gute Lissi. Und er stellte sich vor, sie und seine Gattin Constance, in einer Klosterschule bei den Töchtern des göttlichen Heiland! Eigentlich unvorstellbar! Arno musste lachen. Vor fünfunddreißig Jahren! Mein Gott, wie die Zeit verging! Und sie hinterließ deutliche Spuren, nicht nur in den Gesichtern, sondern auch in den Seelen und Organen.
– Hab nicht wegkönnen, wiederholte Arno eher so für sich, Ersatz für eine deutliche hörbare Antwort. Zu viele Gesichter gleichzeitig!
Lissis Frage wäre ja ohnehin bloß rhetorischer Natur gewesen, denn, ohne Arnos Antwort abzuwarten, fuhr sie zu ihren Tischnachbarn fort:
– Was ich mitmache, mit meinen Herzrhythmusstörungen, das kann sich kein Mensch vorstellen, jammerte Lissi und zündete sich die nächste Zigarette an, um Platz für den nächsten Hustenanfall zu schaffen. An ihrer kaum zu übersehenden Art simulierter Entspanntheit las Arno den Stand ihres Alkoholpegels ab. Zumindest das fünfte Glas, diagnostizierte er so für sich. Ein rein empirischer Erfahrungswert.
– Und ihr könnt euch nicht vorstellen, wie berührend dieses Begräbnis war, fuhr Lissi fort. Es waren nur seine besten Freunde hier. Er hatte ja sonst niemanden mehr, nur uns. Und die…
Die Organisatorin fiel ihr ins Wort. Schließlich ging es um ihr Ding:
– Stimmt! Ich habe alles daran gesetzt, dass er das bekommt, was er sich gewünscht hätte, sagte sie. Und diese Band! Gott und die Welt habe ich angerufen, damit die am Grab spielen. Ein Sousaphon haben sie auch gehabt, wie in .. also, wie damals in New Orleans eben. Er war ja schließlich selbst mit, vor einigen Jahren. Wir hatten eine CD für ihn aufgenommen, die wir über einen Lautsprecher abgespielt haben. Irre, sag ich dir, einfach irre. Unser Pfarrer hat sofort den Blues gekriegt. So ein Begräbnis haben die Leute hier noch nicht erlebt!

Arno nickte ungläubig. Er wählte ein Bier und einen Schinken-Käse-Toast als Totenmahl, der allerdings nie bei ihm ankommen sollte.
Lissi nippte stetig an ihrem Weinglas. Es war laut hier drinnen und verraucht, von garantiert an die dreißig, vierzig Leuten verursacht. Ein bunter Haufen. Der Richter, der auf teure Autos stand, der Versicherungsvertreter, der gerne Jurist geworden wäre, der Lebensmittelvertreter, der besser Gartenarchitekt hätte werden sollen, der Diplomkaufmann, der nichts zu kaufen hatte, ein Fernfahrer ohne Führerschein, weil man ihm den wegen Trunkenheit am Steuer abgenommen hatte, eine Verführerin, die Arno damals nicht wirklich hatte verführen können, aber beabsichtigt hatte, dies eines Tages nachzuholen, eine pädagogisch gebildete Kampftrinkerin, die nie aufgab, anzuecken, eine Kindergärtnerin mit Migräne, ein durch die Last der Jahre aus den Fugen geratenes Möchtegernmannequin und weiß Gott wer noch alles hier anwesend war.
Arno stützte seinen Kopf in die Hand, Ellenbogen auf dem kleinen, runden Tisch vor ihm und hörte aufmerksam zu. Lissi und die Organisatorin standen plötzlich auf, sich ruhelos von einem Tisch zum anderen begebend, um nichts zu versäumen, was hier und dort gesprochen wurde. Schließlich sah man sich nicht alle Tage. Arno ging an die Bar, wo der Richter und der Vertreter saßen, um ein wenig Smalltalk zu treiben.

– Alter Freund, begrüßte ihn der Richter, lass dich küssen. Sie fielen sich in die Arme.
– Lange nicht gesehen, altes Haus, konterte Arno freudig. Der Richter, der sich die letzten Jahre so rar gemacht hatte in diesem illustren Kreis, sei es, um mit angeseheneren Leuten zu verkehren, sei es aus Bequemlichkeit, niemand wusste es so genau, bestellte eine Runde für alle. Sie plauderten über dies und das, über Aktienkurse, über Innenpolitik, über die Pension, die nach einer der ausgesprochen fiesesten und hinterhältigsten Politaktionen in diesem Lande für alle in weite Ferne gerückt schien. Hinter ihnen Lissi und die Organisatorin. Beide schon ein wenig vom Alkohol gezeichnet, letztere das rabenschwarz gefärbte Haar devastiert, dies in wilden Strähnen ins Gesicht hängend, die Zunge noch bewegungsuntüchtiger als zuvor, jedoch durch nichts zum Stillstand zu bringen. Da plötzlich brach es heraus, das lange Angestaute, Zurückgehaltene, wie ein Gewittersturm:
– Ach übrigens, das wollte ich dir schon lange sagen, dich hab ich ja ohnehin nie leiden können!, schmetterte Lissi heraus in Richtung Organisatorin, die sich völlig überrascht ihr ruckartig zuwandte und in Abwehrhaltung verharrte.
– Das beruht durchaus auf Gegenseitigkeit, konterte diese und fuhr sich mit ihren Spinnenfingern durch die wirre Mähne, von vorn nach hinten, um die glühenden Augen für den Zweikampf freizulegen.

Arno und die anderen drehten sich nach ihnen um. Was? Wie? Was sollte das denn werden?
– Nur dass du Bescheid weißt, ich habe dich stets als arrogant, präpotent und unnahbar empfunden, fügte Lissi hinzu. Und überhaupt, dass du diesen Mann bekommen hast, vergönne ich dir schon überhaupt nicht. Immerhin war er einer aus unserem Freundes- und Alterskreis. Auf den hatten wir Anspruch. Und dann bist du gekommen und hast … hast ganz einfach … aber so eine wie du, die kriegt ja immer alles, was? Betretenes Schweigen aller.

– Damit du es nur weißt, ich habe dich von Anfang an unsympathisch gefunden. Du repräsentierst für mich nichts als den Vorwurf und den Frust schlechthin!, schmetterte die Organisatorin dazwischen. Und dass ich den Mann gekriegt habe, den ich wollte, geht dich gar nichts an!, zischte sie giftig und holte rasselnd Atem, Zigarette in der einen, das Weinglas in der anderen.

Arno begann zu ahnen, was hier ablaufen würde und ging friedensengelgleich langsam auf die beiden zu.
– Was ist denn in euch gefahren? Selbstfindungstrip heute, oder was?
Genau das hätte er besser vermieden, denn kaum waren die Worte über seine Lippen gekommen, nahm ihn Lissi auch schon in die Mangel.
– Du hast es ja nötig, hier einen Auftritt zu inszenieren!, herrschte sie ihn an. Das Ex-Mannequin lachte höhnisch. Mit dir bin ich ohnehin noch nicht fertig. Könntest du überhaupt versuchen, mit uns einmal normal zu reden? Ja? Schaffst du das? Du Halbintellektueller, du … erinnerst du dich an die Geburtstagsfeier damals? Den ganzen Abend hast du damit zugebracht, uns lauthals zu signalisieren, wer du nicht jetzt bist, du… du Doktor du! Du Doktor!, wiederholte sie in einem fort.
Und sie verunglimpfte diesen akademischen Grad bewusst genussvoll mundartlich zu „Doukta“. Arno stand da wie angewurzelt. Meinte sie ihn? Meinte sie wirklich ihn? Er konnte sich an keine Geburtstagsfeier erinnern, wo sie anwesend gewesen wäre, und dass er wegen seiner erworbenen akademischen Ehren so ein Theater gemacht hätte, auch nicht.
Zugegeben, ein wenig stolz war er gewesen, schon, war ja schließlich nicht irgendwas, ein Haufen Arbeit und Stress, aber … so wie Lissi das darstellte, konnte es nicht gewesen sein. Das war einfach nicht er. Arno zuckte mit den Schultern und sagte, es täte ihm leid, wenn das ihr Eindruck gewesen sei.

Überhaupt schien es in letzter Zeit schick zu sein, ihn zu schikanieren, dachte Arno. Arrogant wäre er, sagen die einen. War ihm nicht bewusst. Leichte Beute wäre er, der Älterwerdende, für Bürokraten, die an ihm herumzunörgeln begannen, ihn hinausmobben wollten, aus Neid und Missgunst. Er war in letzter Zeit einige Male länger krank gewesen.
Kunststück, man war ja auch nicht mehr der Jüngste. In Teilkarenz wollte man ihn verbannen, ihn um seinen Vertrag prellen, ihn mit unlauteren Mitteln unter Druck setzen und Unterschriften und Zusagen von ihm erpressen. Aber da kannten sie ihn schlecht.
Auch wenn er schon etwas wackelig war, sein Kampfgeist war ungebremst und sein Widerstand gegen Ungerechtigkeiten ungebrochen. Ein „Rolling Stone“, ein „Let´s spend the night together“, ein „I can get no Satisfaction“, ein „This ist the end“ wäre er immer noch! Nicht ein „Hundertjähriger“, wie die „Migräne“ heimlich von ihm hinter seinem Rücken behauptete, weil er immer so früh nach Hause ging, müde war, erschöpft, des Lebens manchmal überdrüssig.

Insgeheim aber begann Arno irgendwie zum ersten Mal an der gesunden Wahrnehmung seiner Person in Relation durch sich selbst und im Vergleich durch Dritte zu zweifeln.
– Red ganz einfach normal mit uns!, bedrängte Lissi ihn weiter.
– Aber, was hab ich denn gesagt, um Himmels Willen?, fragte Arno beinahe hilflos.
– Du sollst nur normal mit uns reden, ganz einfach!, wiederholte sie stereotyp, sog heftig an ihrer Zigarette und goss sich Weißwein gespritzt in die Kehle.
– Aber, aber, ich sag ja gar nichts!, beteuerte Arno, was hast du bloß?
– Was ich hab? Du hättest dich hören sollen damals!, tobte sie förmlich aus lauter Lust an der augenblicklich günstigen Chance zur metaphysischen Überhöhung dieses offensichtlich lang herbeigesehnten willkommenen Konfliktes.

Damals, damals! Das war Jahre her, ärgerte sich Arno. Ich bin doch kein überheblicher Mensch, nicht jetzt, und damals auch nicht gewesen, Blödsinn, durchfuhr es Arno und er verstand die Welt nicht mehr. Möglicherweise war er noch zu tief in seinem Vokabularium gesteckt, Fachausdrücke, vielleicht ein paar zu viel, aber das wäre vorbei bitte! So normal wie er schien ihm keiner hier. Oder täuschte er sich in sich selbst?
– Das stimmt, genau! Finde ich auch!, fiel nun auch die Organisatorin über ihn her, von der er niemals gedacht hätte, dass auch sie … jetzt verstand er gar nichts mehr. Und das Küsschen von vorhin? War das bloß Routine? Macht man eben so, nicht? Aber hinterm Rücken wird schon das Messer gewetzt.
Ja, sind hier alle bescheuert!, kam es Arno über die Lippen. Was war denn mit denen los? Von Lissi war man ja gewohnt, dass sie alles schlechtredete, was andere gemacht hatten. Alles kleinzureden, das war typisch für jene, wo sie herkam. Nichts gelten lassen, was andere erreicht hatten, ein Menschenschlag, von Neid und Missgunst geprägt, verhängnisvolles Relikt geistiger Ohnmacht ihrer Vorfahren. Aber die Organisatorin? Also, das war wirklich ein starkes Stück! Von Lissi hätte er auch mehr erwartet. Aber da konnte man eben nichts dran ändern! All die Jahre der persönlichen Entwicklung und des positiven Fremdeinflusses waren offensichtlich nicht in der Lage, den krankhaften Infantilismus in ihr zu verdrängen und diesen wenigstens durch rudimentäre Ansätze einer bislang zu vermissenden Reife zu ersetzen.

Anstatt ihr jedoch zu zeigen, wie schäbig er sich vorkam, in aller Öffentlichkeit gemaßregelt worden zu sein, nahm er die besoffene Lissi strategisch berechnend in die Arme und sagte:
– Weißt du, du solltest nicht so streng mit mir sein!, und küsste sie auf den Mund, was zur Folge hatte, dass sie ein wenig unsicher wurde und zumindest lächelte, so irritiert war sie von der unerwarteten Reaktion Arnos, der sich sicherheitshalber wieder den staunenden Freunden an der Bar zuwandte, um an diesem Abend zu retten, was noch zu retten war, während er fühlte, wie seine sorgfältig für sich ausgearbeitete Scheinwelt immer mehr und mehr im Sog des Boulevards zu versinken drohte.
Warum hatte es ihn bloß hierher gezogen? Um sich ein blaues Auge zu holen? Und er beschloss, dass es für ihn kein nächstes Mal mit diesen Leuten geben würde. So bestimmt nicht mehr! Wie Caro Ass dies hier ertragen konnte, war ihm ein Rätsel. Und er musste an Constance denken und daran, dass sie mit dem französischen Gorilla, ihrem Geliebten, und damit musste er auch noch fertigwerden, vielleicht eben beim Diner saß, oder schlimmer noch …. woraufhin er fürchterlich wütend wurde, sich jedoch bezwang und diese Stätte der Demütigung eher verließ als er vorgehabt hatte, alleine.
Oder doch nicht ganz? Denn kurz vor ihm hatten Lissi und das Mannequin offensichtlich bereits denselben Gedanken gehabt, oder war es für sie eine wohlüberlegte Notwendigkeit gewesen, rechtzeitig zu verschwinden? Denn Lissi torkelte und taumelte trotz Mannequins gereichtem Arm als Henkel derart bedenklich, dass sie für zwei Meter vorwärts einen Meter links und rechts zusätzlich Raum benötigte, um überhaupt noch vorwärts zu gelangen. Alle Achtung!

Ach, diesen Roman müsste er jetzt endlich zu Ende schreiben! Und auch über all den Mist hier einen Roman schreiben!, dachte er. Schon beim Hinausgehen legte er sich im Geiste zurecht, wie er sich selbst als seine eigene Romanfigur anlegen würde, an die er sich, rasch auf dem altersschwachen Dell hineingetippt, ja längst herangewagt hatte. Diesen einen Roman, den er zügig vollenden wollte, wenn nur die Zeiten für ihn wieder besser würden. Und er, darin Hauptfigur in seiner Rolle als Erlebender. Einer, nämlich dieser seltsamen Welt, sich selbst zeichnend, einer, der zum Verfassen verklärter Biografien neigte, skurrilen Zufallsgeschichten ausgeliefert war, dem paradoxe Anekdoten nachhangen, der in melodramatische Beziehungskisten verstrickt und unausweichlichen Schicksalsschlägen ausgeliefert war. Er selbst, mittendrin, voll von Ironie und mythomanischen Tagträumereien geplagt.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 15073

Der Wohlstandstrinker

Während ich zwischendurch an einem Glas Single Malt nippe, krame ich in meinen Büchern und Manuskripten. Übrigens nicht uninteressant, der Geschmack, angenehm duftendes Bouquet … ist es Birne? Walnuss oder Eiche? Oder gar alles zusammen? Ein wirklich geschmeidiger Single Malt, zwölf Jahre im Sherryfass gelagert, atmet er weiters ein würziges Arom von Honig und frischen Pfirsichtönen aus. Im Finish vielleicht noch beerig, dazu etwas harzig getönt. Na, der Fantasie sind gottlob kaum Grenzen gesetzt.
Also, wie bereits gesagt, während ich hier bei einem Glas Whisky sitze, muss ich unweigerlich an Dichter und Schriftsteller denken, die nicht nur über den Alkoholismus geschrieben haben, sondern selbst mehr oder weniger dem Alkoholgenuss durchaus nicht abgeneigt waren, wie beispielsweise Ernest Hemingway, Edgar Allan Poe, Joseph Roth oder D. H. Lawrence, um nur einige zu nennen.
Und dreht man die Zeit ein wenig zurück, finden sich jede Menge begnadeter dichtender Schluckspechte schon in der Antike. Getrunken ist auf dieser Welt offensichtlich immer schon worden. Gedichtet auch. Wer schreibt, der trinkt auch, heißt es. Ein dichtender Chinese, Li Tai-Bo, einige Jahrhunderte vor Christi Geburt, kam im Rausch zu Tode, als er das Spiegelbild des Mondes umarmen wollte. Anakreon, griechischer Textkünstler, fand sich in der Rolle – besser betrunken am Boden als tot – bestens besetzt.

Ach ja, der Alkohol! Tröster und Mörder in einer Gestalt. Was ist nicht alles geschrieben worden im Suff? Was wurde nicht schon alles über das Trinken geschrieben? Würde man zu einer literarischen Verkostung von Trunkenheitsliteratur geladen, präsentierte sich diese wohl in einer Unmenge „alkoholhaltiger“ Leseproben. Vielleicht sollte man sich die Menükarte einer solchen Verkostung einmal genauer ansehen?
Da gibt es Bücher über die Weinkunde, über Etiketten, ja sogar Weinatlanten, die einen mit Tralala in die Welt des  vergorenen Traubensaftes führen. Wieder andere verweisen dezent auf teils verborgene Weinpfade, auf Whiskytrails oder historische Bierreisen, allesamt begehrte Pilgerstätten gepflegten Säuferdaseins. Jedes (hoch)prozentige Getränk hat mittlerweile seinen „Oskar“, wird prämiert, gepriesen und gefördert und in eigens dafür geschaffenen Seminaren wird man darüber belehrt, wie man leert.

Ist das normal? Ist die Sauferei nicht gesellschaftsgefährdend? Sind wir bereits ein Volk der weichen Birnen? Angeblich trinkt jeder Vierte unter uns professionell. Das heißt, pro Kopf und Leber zum Beispiel 256 Liter Bier im Jahresdurchschnitt. Da ist vom Wein noch gar nicht die Rede. Ganz zu schweigen vom Schnapserl.
Aber damit nicht gleich alles so schrecklich ungesund und sündhaft klingt, geben wir den Gläsern, aus denen wir ihn trinken, den verwerflichen Saft, gerne verniedlichende Namen wie Krügerl, Seiderl, Vierterl, Achterl, Glaserl oder Stamperl. Nicht zu vergessen eine beinahe völlig verschwindende Größe unter den Gläsern, die echte Profis kaum wählen, der Pfiff, oder noch kleiner, das Pfifferl. Nein nein nein nein! Das ist etwas für betagte Damen oder den älteren Herren. Ein Amateurgebinde quasi.
Der echte Trinker hat seine Halbe, seine Maß, sein Krügel, sein Seidl oder sein Viertel, alle ohne das verharmlosende „r“ vorm letzten Konsonanten. Ohnehin bloß Schnickschnack für Heimlichtrinker.
Zur Definition des Zustandes danach werden Vergleiche aus dem Tierreich herangezogen, um ihn anschaulich zu beschreiben, wie etwa einen „Affen“ haben, einen „Spitz“ oder „Bären“. Manch einer hat eine „Sau“, einen „Esel“ oder ganz einfach „Kälber“ oder „Gänse“. Wem das zu exotisch ist, kann sich ja mit „Dampf“, „Flieger“, „Fahne“ oder mit „einen in der Krone haben“ begnügen. Man gießt sich entweder „einen auf die Lampe“ oder auch „hinter die Binde“. Im Prinzip kommt es auf dasselbe heraus. Oder kurz gesagt, ganz gleich wie, das Ergebnis hinterher ist immer eindeutig. Besoffen, berauscht, fett, trunken oder schlicht und einfach voll, abgefüllt, zu.

Ich frage mich oft, was hat die Menschheit dazu gebracht, sich seit Jahrhunderten wenn nicht schon länger, Alkoholisches so mir nichts dir nichts hineinzuschütten? Liegen die Ursachen darin, die Welt nicht mehr verstanden zu haben, im Epochenwechsel etwa? Haben die politischen oder sozialen Verhältnisse dazu geführt? Waren die römischen Galeeren oder die kolumbus´schen Koggen maßgeblich an der weltweiten Verteilung von Wein- oder Rumrationen beteiligt? Ist den Menschen Guttenbergs Massendruckerei zu rasch zu Kopf gestiegen oder hat man bloß aus Jux und Tollerei gesoffen?
Vielleicht war die Erringung neuer geistiger Werteskalen ausschlaggebend, um der Trunksucht den geeigneten Teppich zu legen? Die Menschheit fühlte sich überfordert und griff zum Glas, damit sie das alles ertrug. Zugegeben, die neue Rolle des Bürgertums als Kulturträger war sicherlich auch nicht leicht zu ertragen. Worum sollte man sich nicht noch kümmern?

Dann darf man aber auch nicht den Aufschwung der Städte vergessen, den des Handels, des Gewerbes und Handwerkes und damit eng verbunden die Geldwirtschaft. Schließlich musste so ein Rausch ja auch bezahlt werden. Wie hätte denn der Wirt sonst überlebt?
Und viele drängte es vom Dorf ins Stadtleben. Dort schien die Gesellschaft in soziale Unordnung zu geraten, was wiederum dem Griff zum Becher förderlich war, wie Beispiele aus Quellen, die sich mit dem Laster der Trunksucht beschäftigten, bestätigen.
Natürlich wollte man vorerst nichts beschönigen, durchaus nicht. Die Literatur bahnte sich ihren Weg über die Satire zum Alkoholproblem, über Schriften zur Bekämpfung dieser Untugend bis hin zur Glorifizierung des alkoholischen Getränkes. Und zur neuen Geistigkeit der Reformation schienen geistige Getränke recht gut zu passen, wenn man sich ein wenig im 16. Jahrhundert umsieht. Ganz klar, der Mensch war verunsichert. Das wirkte sich auf die Lebensgewohnheiten aus, die sicher nicht nur Freude verhießen, sondern ebenso Leid und Verzweiflung zum Inhalt hatten.
Einer der Arbeitstage, die für das Gesinde, für die Lehrlinge wie auch für die Gesellen, die Bediensteten, Hilfskräfte und Lohnarbeiter frühmorgens nach der Morgensuppe begannen und sieben bis fünfzehn Stunden dauerten, hieß bezeichnenderweise „blauer Montag“, hatte aber mit „Blau-Sein“ nichts gemeinsam. Vielmehr ging er auf den alten Brauch, den Handwerksgesellen am Montag freizugeben, zurück. Ob dies aus logischer Konsequenz geschah, weil die Typen am Montag ihren Dampf vom Wochenende ausschlafen mussten, sei dahingestellt.

Daneben jedoch blühte das Leben, und diejenigen, die es sich leisten konnten, bis zum heutigen Tag kein Unterschied, frönten dem guten Essen und Trinken, der Geselligkeit, dem Spiel, der Jagd, aber auch dem Müßiggang, der Völlerei, dem Luxus wie auch der Wonne und dem Genusse bei Festen wie dem Vogelschießen und der Weinernte, ebenso wie anlässlich privater Feste, Zunftfeste oder an Reichstagen.
Wer von uns kennt den Brauch ums Zutrinken nicht aus eigener Erfahrung, um den Ruhm der Trinkfestigkeit und die Unsitte, den anderen unter den Tisch zu trinken? Besoffenheit galt durchaus nicht als diffamierend. Und es gab genug Tavernen und Schenken, in denen auf ständische Art schrankenlos gesoffen wurde.
Verdächtig derjenige, der nicht trank. Arglistig und gar von niederem Wert sei dieser. Sauf, hieß es, als allmächtiger Abgott, wer auch immer diesen Spruch in die Welt gesetzt hat. Ein Schelm, der behauptet, Martin Luther selbst hätte das verbreitet.
Das Kammergericht hatte wegen der Trunksucht jedenfalls genug zu tun. Delikte von Gotteslästerung bis hin zum Totschlag gehörten zum Alltag. Die Sauferei mündete in Ehebruch, säte Zwietracht unter die Menschen und führte zu Meuterei und Verrat.

Aber, was wäre der Mensch schon ohne Laster? Die Laster sind den Tugenden beigemischt, wie die Gifte der Arznei. Unsere Intelligenz verbindet sie und mäßigt sie, und bedient sich ihrer mit Nutzen gegen die Übel des Daseins. Schließlich erwarten uns die Laster auf dem Weg unseres Lebens wie Herbergen, bei denen wir unbedingt einkehren müssen. Man muss daher zutiefst bezweifeln, dass wir sie aus Erfahrung meiden würden, wenn uns vergönnt wäre, den Weg unseres Lebens zumindest zweimal zu gehen, steht irgendwo.

Doch was die einen gutheißen, verdammen die anderen. Im Alten Testament ist vom beseligenden Getränk des Weines die Rede. Im Neuen Testament gibt es den Vergleich vom Weinstock und der Rebe. Wir verehren Weinheilige und Schutzpatrone, etwa die Traubenmadonnen.
Sind Sie Buddhist oder Moslem, kriegen Sie mit dem Alkohol ein Problem. Aber wir Trinker haben für alles eine Erklärung, die mit dem Alkoholgenuss zu tun hat. Ist etwa Wein im Manne, ist der Verstand in der Kanne. Oder, beim Trunk geht die Zunge auf Stelzen. Denken Sie an den Dorfrichter Adam bei Kleist. Es ist der Wein, der die Zunge erst geschickt macht, den Käse zu schmecken. Ein anderer: Süß getrunken, sauer bezahlt. Klingt echt hart. Nicht zu vergessen, ein guter Trunk macht Alte jung! Und die Römer? Die alten Römer? Waren auch nicht ohne. In vino veritas, Sie erinnern sich? Verachten Sie mir die Germanen nicht! Frankenwein, Krankenwein. Na bitte! Oder Rheinwein, fein Wein! Noch so ein sinniger Spruch, Neckar Wein, schlecker Wein. Der Reim ist nicht ganz rein, hoffentlich ist es der Wein.
Und schon wieder Herr Luther, wenn´s stimmt, red, was wahr ist, iss, was gar ist, trink, was klar ist. Dazu ist nichts zu sagen.

Nun, es muss nicht immer Wein sein, wenn gereimt wird. Wie wär´s einmal mit Bier? Riecht es aus dem Schrank nach Bier, weiß der Bauer, der Knecht war hier. Kein Wunder also, wenn manche von uns schlaftrunken sind, wissensdurstig, von Rachedurst getrieben, im Liebes- oder Siegesrausch sind. Dem Kellner geben wir auf alle Fälle Trinkgeld. Jedoch, wer trunken wird, ist schuldig, nicht der Wein.
Mitunter vermögen Trinksprüche oft recht praktische Bereiche anzusprechen, wenn es da heißt, sauf, dass dir die Nase glüht, rot wie ein Furunkel, dass sie dir als Lampe dient, in des Lebens Dunkel!
Der akademische Mensch hält zuweilen sehr viel von solchen Philosophien, wie alte Studentenlieder beweisen: Um den Jammer zu vertreiben, will dir ein Rezept verschreiben, oft schon hat es zugetroffen, es wird immer fortgesoffen. Oder wie der Großvater meines lieben ungarischen Freundes zu sagen pflegte, Alkohol wäre in kleinen Mengen Medizin, in großen Mengen Medikament. Wenn da noch jemand von maßvollem Trinken spricht, kann es sich dabei nur um einen Widerspruch per se handeln. Die kalten Schauer können einem bei dem Gedanken hinunterlaufen. Wie ein bekanntes Sinngedicht auch bestätigt: Denn es frieret selbst im wärmsten Rock der Säufer und der Hurenbock!

Wenn ich es recht bedenke, ist es gar kein so großes Problem, an eine ordentliche Flasche Schnaps heranzukommen, auch wenn der Säckel noch so leer ist. Um zehn Euro bekommt man schon einen brauchbaren Obstler, Weinbrand oder Whiskey. Zugegeben, der gepflegte Trinker leistet sich natürlich teureren Stoff. Schließlich geht es um Geschmack, um Stil und Tradition. Nicht zuletzt auch um die Gesellschaftsfähigkeit. Ich mache jetzt eine kleine Schreibpause und nehme einen Schluck von meinem Glas. Nach kurzer Zeit werde ich versuchen, meinen Zustand zu analysieren. Ja, ich merke bereits, wie der Alkohol wirkt. Wohlige Wärme durchzieht meine Magengegend und entspannt meine Muskeln. Immerhin sitze ich schon eine geraume Weile vor dem Laptop und tippe. Ich gehöre noch nicht zu den Schnelltrinkern, die bereits am Morgen ihre Ration hinunterkippen müssen, um überhaupt einmal die Kaffeeschale ruhig halten zu können. Daher komme ich mit einer Flasche eine gute Woche durch. Der zweite Schluck bereits hebt mein Selbstwertgefühl in kürzester Zeit enorm. Ich setze das Glas ab. Nun werde ich versuchen, im Text fortzufahren.

Ich krame in einer alten Mitschrift aus meiner Studienzeit, die sich mit Trunkenheitsliteratur auseinandersetzte. Beim Lesen entsinne ich mich der hervorragend beschriebenen Wirtshausszenen Seyfried Helblings, Pflichtliteratur damals, einem Spielmann in der Nähe Zwettls gegen Ende des 13. Jahrhunderts. Ein geübter Schreiber, der gegen den allgemeinen Sittenverfall und aufkommende Modetorheiten wettert und versucht, dem Leser mit seinen Schriften eine Art Spiegel vorzuhalten, damit er sich darin in seinen Irrtümern erkennen und womöglich bessern möge.
Den Leuten einen Spiegel vorhalten erwies sich stets als probates Mittel, die Menschheit vor Gefahren und Dummheiten bewahren zu wollen. Damit stand er nicht allein da. Ein gewisser Berthold von Regensburg, 1272 verstorben, steht ihm um nichts nach und fordert in seinen Predigten wortgewaltig die mangelnde Besinnung der Menschen auf sich selbst. Es ist eine Zeit, in der die Moralsatire eine Blütezeit erlebt und sich höchst moralisch an den Lastern und der Liederlichkeiten der Epoche versucht.
Und Weltverbesserer gab es damals genug. Ich finde einen Hugo von Trimberg und den Meister Renauß, Meister ironischer Lehrgedichte, etwa „Des Teufels Netz“, worin es um den Wein und die Liebe geht. Die literarischen Inhalte beziehen sich oft auf opulentes Essen wie sechsgängige Menüs, Trinken aus voluminösen zinnernen Kannen, das Spiel und die Jagd. Und nicht zuletzt standen die ausgeprägtesten Leidenschaften der damaligen Zeit eng im Zusammenhang mit dem maßlosen Genuss von Alkohol. Eigentlich nicht viel anders als heutzutage, vom Zinn einmal abgesehen.

Offensichtlich waren die Folgen des Alkoholmissbrauchs den Behörden irgendwann einmal zu viel geworden, sodass man sich 1512, unter der Regentschaft von Karl dem V., dazu entschloss, ein Reichsgesetz gegen das Saufen zu verordnen, welches Trunkenbolde mit hohen Strafen belegen sollte. Nebenbei wurde auch gleich ein anderes Gesetz verschärft, nämlich der Tötungsparagraf. Wesentlich höher bestraft sollte werden, wer einen Weinbauern tötete. Für passionierte Trinker ein nachvollziehbarer Schritt der Justizbehörde, oder? Schlimm stand es auch um den Schankwirt, wenn er dabei erwischt wurde, dass sein Wein verwässert war. In diesem Falle drohte das höchst ungesunde Eingemauertwerden bei lebendigem Leibe.

Dabei fällt mir ein Satz ein, ohne zu wissen, von wem er stammt: Jugend ist Trunkenheit ohne Wein. War das von Goethe? Aus dem westöstlichen Diwan? Ich weiß es nicht mehr. Nun, da ich nicht mehr jung bin, muss ich zusehen, wodurch ich trunken werden könnte. Ab einem gewissen Alter scheidet Trunkenheit durch Liebe aus. Also gieße ich einen weiteren kleinen Schluck aus der Flasche in mein Glas und setze es an die Lippen.
Wie ich eingangs schon betonte, zähle ich mich selbst zu den sogenannten Genusstrinkern, oder bilde mir zumindest ein, es zu sein. Sollte ich mich einmal über etwas oder jemanden geärgert haben, mir etwas gegen den Strich gegangen sein, kann es schon einmal vorkommen, dass so ein Tatbestand unvorhergesehenerweise einen etwas größeren Schluck zur Folge haben kann. Überdies wage ich seit einer Begegnung mit einem Facharzt der Geriatrie, auch wenn sie schon etwas länger zurückliegt und rein zufällig bei einem Heurigen in Wien Grinzing stattgefunden hat, ohne meinen stets mit Whisky gefüllten Flachmann kaum einen Schritt mehr außer Hauses.
Hat mir nicht jener Spezialist auf eindrucksvollste Weise von seiner eigenen Erfahrung mit einem plötzlichen Herzinfarkt erzählt, den er mit einem ordentlichen Schluck aus seiner Brustflasche soweit in den Griff gebracht hatte, dass er aus diesem Grund nicht zum pathologischen Fall wurde? Unter diesem äußerst beruhigenden Eindruck erlaube ich mir, rein präventiv versteht sich, noch einen Kleinen zu genehmigen. Schließlich weiß man ja nie!

So eine Alkoholsucht hat eigentlich etwas Furchtbares und Abschreckendes. Als Kind schon hatte ich eine Heidenangst vor Betrunkenen entwickelt, wenn manchmal welche sogar am hellichten Tag vor unserem Gartenzaun vorbeitorkelten, vor sich hinlallend, singend oder lauthals herumbrüllend. Einer von ihnen, stets mit einem alten Hanfseil ausgerüstet, um damit zum Nordpol aufzubrechen, soll von einem Blitz gestreift und in der Folge um den Verstand gebracht worden sein. Dieses Erlebnis habe ihn zum Säufer gemacht.
Unbestätigten Tratschereien zufolge hatte es jedoch gar keines Blitzes bedurft, vielmehr habe der Gute immer schon gesoffen. Ein berührendes Menschenschicksal! In diesem Zusammenhang fällt dann schon einmal der Begriff Elendsalkoholismus.

Das Gegenteil davon ist wahrscheinlich der Wohlstandsalkoholismus, denke ich. Dazu zähle ich mich. Wenn mir jemand an seinem Geburtstag ein Glas anbietet, nehme ich es artig und auch noch ein zweites, wenn es sein muss. Schließlich möchte ich nicht unhöflich erscheinen. Und vielleicht noch ein drittes, wenn es der Anstand, oder besser gesagt mein Zustand, erlaubt. Man trinkt eben gemeinsam auf sein oder ihr Wohl. Natürlich auch auf mein eigenes, oder das der Anwesenden, der Nachbarn, der Menschen auf der Straße und so weiter, es findet sich immer irgendein Anlass zum Zuprosten.
Arm angewinkelt, in die Pupille geschaut und runter damit! Alles eine Frage der Tisch- oder Stehtischsitten. Lehrhafte Tischsittenliteratur, Benimmbücher oder Anstandsliteratur gibt es schließlich seit dem 12. Jahrhundert, dazu bestimmt, sie auswendig zu beherrschen und sich ihrer Anweisungen zu bedienen, wenn es der Anstand gebietet.

Unter anderen hat auch der allen bekannte Hans Sachs eine solche Anleitung verfasst. Wer hingegen mehr auf Derbes steht, sollte zu Sebastian Brants „Narrenschiff“ greifen. Dort ist man in bester Gesellschaft, so, wie sie nicht sein sollte. Brandt kürt darin seinen Starprotagonisten, den „Grobian“, zum Schutzpatron aller Säufer. Durch ihn sollte der ahnungslosen Menschheit wieder einmal der berühmte Spiegel vorgehalten und die Narren in ihrer unendlich ausgeprägten Vielfalt als Sünder bekehrt werden. Auch nicht zu verachten ist „Der Weinschwelg“, um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden. Handelt von einem Typen, der dem Suff quasi alles opfert.
Um die Liste der Saufliteratur zu vervollständigen, darf dabei „Der Weinschlund“ vom Stricker nicht fehlen, ebenso ein Werk mit dem Arbeitstitel im Genitiv, „Der Wiener Meerfahrt“, auch so um 1260 bis 80 entstanden. Nicht zu vergessen Meier Helmbrechts „Wernher der Gärtner“, oder „Der Welsche Gast“, Literatur, dazu berufen, mit ihrem mahnenden Fingerzeig auf die dringende Notwendigkeit moralischer Besserung hinzuweisen. Man weiß über die Folgen der Trunksucht Bescheid und warnt vor den Schäden an Leib und Seele, an Besitz und nicht zuletzt an der Ehre. Ludwig Uhland macht das Laster des Alkohols zum Leitmotiv in seinen Schlummer- und Trinkliedern und setzt damit dem Wein als Sorgenbrecher und Freudenspender zugleich ein literarisches Denkmal.

Ich hingegen frage mich, ob mein eigenes Wohlstandstrinken so hin und wieder nicht doch schon Konflikttrinken ist? Ein Schluck bloß, um mir psychische Erleichterung zu schaffen, wenn dir die heimische Politik so aus der Hüfte heraus plötzlich zweieinhalb Jahre mehr bis zur Pension aufbrummt oder sie dir die nächste Nulllohnrunde orakelt. Wenn sich über Nacht die Prämie meiner mühsam zusammengekratzten Bausparverträge halbiert. Ja dann … im Gegenzug ließe sich vielleicht auch bei anderen Gelegenheiten etwas mehr von dem Zeug saufen, gar anlässlich eines lustigen Festes? Man verliert bei dieser Art des Trinkens ja nicht gleich die Kontrolle über sich. Eventuell lässt man sich in so einem Fall leichter dazu hinreißen, noch in derselben Nacht eine zornige Mail an seine Interessenvertretung zu senden, in der man sich nach Herzenslust über deren Unfähigkeit auslässt und die sofortige Kündigung bei derselben in den Raum stellt, weil man sich nicht vertreten fühlt?
Wer weiß? Bin ich also jetzt seelisch und körperlich schon abhängig vom Freudenspender? Vom Sorgenbrecher? Eines kann ich vorläufig zumindest mit Sicherheit ausschließen, nämlich Spiegeltrinker zu sein. Gewohnheitsmäßig das gewisse Quantum in mich hineinzuschütten und den Alkoholgehalt gleichmäßig in mir aufrechtzuerhalten. Quartalsmäßiges Saufen, also mit periodischen totalen Umfallern und so, kann ich mir ohnehin nicht leisten. Das würde der Kreislauf nicht mehr verzeihen. Und überdies möchte ich am nächsten Tag auch noch Lust auf das Zeug haben, was nach einer totalen „Sonnenfinsternis“ nicht immer stimmig erscheint. Also belasse ich es bei Alltagssorgen bedecken, Stimmung heben oder „warum soll ich mir nicht hin und wieder was Gutes tun“.
Auch bilde ich mir ein, die vorprogrammierten Gedächtnislücken ausschließlich auf mein fortgeschrittenes Alter zurückzuführen. Schließlich muss ich ein Leben lang schon eine Menge unsinniges Zeug in meinem geplagten Gehirn speichern. Da kann schon mal die eine oder andere Info ausbleiben. Rätselhaft bleibt, warum ich mich oft an das letzte Glas des Vorabends nicht mehr erinnern kann.

Beim Blättern in meinen Aufzeichnungen stoße ich auf den Satiriker und Franziskanermönch Thomas Murner, der einen Vergleich seiner Fachkompetenz mit Martin Luther durchaus nicht zu scheuen brauchte, hatte ich damals aufgeschrieben. Murner wollte es seinem Vorbild Sebastian Brandt gerne gleichtun und auf dessen Erfolgswelle mitreiten. Aus heutiger Sicht wäre er ein Plagiateur, würde man sagen, wo er doch bereits im Vorwort von Brandt abgeschrieben haben soll. Mehrfacher Doktor der Theologie und Juristerei? Da ließe sich sicher noch was Unrechtes finden, wie die Erfahrung der jüngsten Vergangenheit gezeigt hat, nicht wahr? Nun, wollen wir es heute dabei belassen.
Wortgewaltig und als Seelsorger mit der volkstümlichen Ausdrucksweise vertraut, schreibt er in eindrucksvollen einprägsamen Redewendungen satirisch Provokantes, wobei er es sich nicht verkneifen kann, den allgemeinen Sittenverfall vom „Füllen und Prassen“ zu verdammen. Im Gegensatz zum sogenannten Spiegeltrinker also ein Spiegelschreiber.
Dagegen nimmt sich ein Werk eines Herrn Obsopeus zum Thema Alkohol, ich hoffe, dass ich den Namen richtig geschrieben habe, endlich einmal ein wenig positiver aus, wenn er über die Entfaltung des Maßhaltens schreibt und den Trinker zum Genießer werden lässt.

Nach all den Wasserpredigern tut es richtig gut, wenn endlich einer einmal nicht gegen die schädlichen Folgen des Alkoholkonsums wettert, finde ich und greife zum Glas, in dem nur noch ein trauriges Tröpfchen goldfarbenen Gerstenbrandes sein kümmerliches Dasein fristet. Diesen Zustand wollen wir sogleich bereinigen, indem ich etwas aus dieser sympathischen Flasche vor mir nachschenke. Und hast du es nicht gesehen, kann man in Grimms Märchen oftmals lesen, flöße ich mir flugs etwas von der Medizin ein, die ich manchmal benötige, um besser durch den Tag zu kommen, wenn Seele oder gar Kreislauf irritiert scheinen. Alles jedoch mit dem Vorbehalt auf Prävention. Und da es noch nicht so spät ist, dem allabendlichen Ritual zu folgen, den Dämmerschoppen zu nehmen, benenne ich diesen hier den Trunkenheitsliteraturnachmittagserinnerungsdrink, damit das Kind einen Namen hat und ich eine Entschuldigung. Hört sich an, als würde ich andauernd an Alkoholisches denken. Da kann ich nur drüber lachen!

Um noch einmal auf den Obsopeus zu kommen und sein äußerst sympathisches Werk über die Kunst des Trinkens, in welchem er Bacchus zum Schutzpatron der Säufer, den sogenannten Bacchanten, hochstilisiert, jedoch trotz allem zum Maßhalten rät wie auch zur richtigen Wahl derjenigen Menschen, mit denen man sich bei Speis und Trank umgibt. Er warnt vor raschem Trunkensein, indem man diesem mittels ausreichender Nahrung entgegenwirke. Zu allererst müsste man einmal ein Fundament schaffen, eine Grundlage, hat auch einer meiner Bekannten stets gemeint, vielleicht ergänzt durch den Verzehr von Rettich, getrockneten Feigen oder bitteren Mandeln.
Ein persischer Freund hat mir immer von Trinkgelagen an einem bestimmten See im Iran erzählt, wo man es hervorragend verstanden haben soll, professionell zu feiern. Vor der Revolution versteht sich. Bier, erzählte er, Wein und so weiter, waren nicht genug. Whisky musste es sein. Dabei schmunzelte er vielsagend. Hatte man zu viel getrunken, nahm man etwas Saft vom Granatapfel zu sich. Danach konnte man wieder hervorragend weitersaufen, hatte er hinzugefügt. Man lagerte dazu auf eigens dafür mitgebrachten Teppichen, die man am Seeufer ausgelegt hatte. Und brach dann unweigerlich einmal der Sonntagabend an, hieß es, gehen Sie nicht am Sonntag, bleiben Sie bis Montag. Ich war fasziniert und habe ihn noch Jahre später immer wieder gebeten, mir doch wieder von seinen Festen zu erzählen.

Doch noch einmal zurück zum Obsopeus. In seinem zweiten Buch erzählt er vom Garten der Mäßigkeit, von Tanz und Speisen, von mäßigem Spiel, und er warnt eindringlich vor der Unmäßigkeit beim Trunke, welche den Menschen zum Tier werden ließe, welches sich mit anderen herumprügle. Künstlich müsse man trinken, heißt es hier, sich in der Kunst des Trinkens üben, wobei er empfiehlt, dem Wein etwas Wasser beizugeben, ein Gedanke, zu dem ich mich nicht weiter äußern möchte.
Wenngleich es sich bei dieser Literatur immerhin um ein eher mäßigendes Medium im Umgang mit der Sauferei handelte, hatte der Klerus trotzdem ein scharfes Auge darauf und die Prediger wurden angewiesen, eindringlich vor den verheerenden Folgen des Alkoholmissbrauchs zu warnen. Der Bürger sollte die moralischen, sozialen und politischen Folgen der Trunksucht bedenken, welche die Menschheit zum Kriege verleiten würde, zu Bauernkriegen, zu Kriegserklärungen im Rausch, zu Diebstahl, Totschlag und Misshandlungen. Säuferleben ende am Galgen oder in der Prostitution, hieß es.
Es bedürfe sachlicher Ratschläge. Man nannte Fürsten als Vorbilder und warnte gleichzeitig vor den Folgen des Jüngsten Tages, wenn immer mehr im Glas als im Wasser ertrinken würden. Gescheh‘n in einer Zeit, als fahrende Kaufleute gerade Auerbachs Keller und Hof so über die Maßen lobten. Nun, eine zeitgemäße Predigt gegen das Laster des Alkoholmissbrauchs könnte zum aktuellen Zeitpunkt etwa so aussehen: Sie wissen, dass die regelmäßige Einnahme alkoholischer Getränke heutzutage in alle sozialen Schichten Einzug gehalten hat. Aufgrund dieser Tatsache warnen wir eindringlich vor übermäßigem Genuss geistiger Getränke hinsichtlich der drohenden Abhängigkeit von Alkoholika, welcher nicht zuletzt zu diversen neurologischen Erkrankungen führen kann. Durch regelmäßige Alkoholzufuhr erhöht sich in der Folge das Risiko für Sie, physische und psychische Schäden zu erleiden, enorm. Beachten Sie daher die Ihnen zuträgliche Tagesdosis genau, die bei Männern zwischen 20 bis 24, bei Frauen hingegen schon bei 10 bis 12 Gramm liegt. Bedenken Sie überdies, diese Menge nicht täglich zu konsumieren.
Bereits der geringste Rauschzustand hat psychopathologische wie auch neurologische Auswirkungen auf Ihren Organismus. Unterbewerten Sie nicht den bereits nach den ersten Schlucken auftretenden leichten Erregungszustand und vermeiden Sie jede weitere Trübung Ihres Bewusstseins durch die fortgesetzte Einnahme alkoholischer Substanzen, die vorerst zur Ermüdung, in weiterer Folge sogar bis zum Koma führen kann.

Nach dem Durchlesen meiner letzten Zeilen muss ich mir eingestehen, dass ich in dieser besonderen Sache äußerst wenig Talent zum Prediger zeige. Obendrein hat das viele Lesen meine Augen müde gemacht, und während ich mich einem langen Gähnen voll und ganz hingebe, prüfe ich den Pegelstand in meinem Whiskyglas über einen ganz bestimmten Augenwinkel, wobei ich feststelle, dass dieser wieder einmal mehr ziemlich stark gesunken ist. Ich überlege daher, ob ich nicht vielleicht noch etwas Medizin zugießen sollte?
In solchen Momenten habe ich auch stets mein Rauchgerät in der Nähe, denn genau dann erfasst mich zumeist der innere Wunsch, ein Trieb beinahe schon, nach meiner Pfeife italienischer Provenienz in der rechten Rocktasche zu greifen, um diese aus ihrem dumpfen Gefängnis zu befreien. Leidenschaftlich ertasten meine Finger die rustizierte Struktur des Pfeifenkopfes, geübter und durch die Jahre hindurch ritualisierter Berührungsablauf. Wenn es ums Design ging, scheint den Italienern von jeher stets das Hervorragendste zu gelingen, seien es Autos, Kleidung oder was sonst noch alles.
Ich schätze diese Pfeife ganz besonders und werde nicht müde, sie zu bewundern, sie täglich erneut zu ertasten und in ihren Konturen zu erfahren, nicht zuletzt auch ihrer anthrazitfarbenen Tönung wegen, die in mir etwas wie die Wehmut eines verlorenen und plötzlich wiedergewonnenen Horizontes auszulösen vermag. Oft schon hervorgerufen durch eine kleine, unscheinbare Farbauslassung am Ende des Holms. Die nussbraun schimmernde Lasur oder der hölzerne Urgrund, dazu angetan, in mir jene süße Ahnung zu entlocken, wenngleich auch nur auf Dauer des Bruchteils einer Sekunde. Und das allein durch einen schmalen Streifen hellen Holzes zwischen dieser Stelle und dem Rest glänzendem Dunkel wie undurchdringlicher Steinkohle.
Ich habe sie erst vor Kurzem geraucht und es ist noch genügend Tabak darin vorhanden. Geübt ziehe ich das silberne Feuerzeug aus der schmalen Öffnung meines englischen Gilets, in der hehren Absicht, das pechschwarze Kraut darin erneut zu entflammen, welches, kaum mit dem Feuer in Berührung, sich in seinem Schmerz sogleich aufbäumt, um kurz darauf rubinrot zu erglühen. Nun gilt es, die Intensität des Brandes zu bezähmen, die Rauchschwaden auf ein Minimum zu reduzieren, die Hitze auf ein erträgliches Maß einzudämmen, denn nur so kann sich die angenehme Süße, das eigenwillige Bukett seines Aromas und der vollkommene Charakter dieser Mixtur aus hellem Virginia und dunklem Perique seinen Weg durch das Labyrinth meiner vom Whisky abgehärteten Geschmackspapillen suchen.

All das geschieht stets in der Hoffnung, für stabile und zumindest für eine bestimmte Zeit nachhaltige Entwicklung der sich gleichmäßig ausbreitenden Glut zu sorgen. Diese zu bezähmen und zu hegen ist mein Ziel, des Pfeifenrauchers innigstes Bestreben allgemein. Gleichzeitig aber liegt der tiefere Sinn in der Ausprägung einer Disziplinierung, wie bereits erwähnt, die Gifte, die ja wie Laster den Tugenden beigemischt scheinen, zu mäßigen, um sich ihrer, gewissermaßen als Trost im ständigen Kampf gegen die Übel des Daseins, zu bedienen.
Ich blase schwere Rauchwolken vor mich hin und bin verzückt vom Flair des Duftes. Wenngleich selber rauchen leider auch verminderte Wahrnehmung der Raumnote bedeutet. Die Raumnote ist es, die sich dem Passivraucher wesentlich intensiver, gleichsam als der wahre Charakter des Aromas in seiner ursprünglichsten Form offenbart. Intensiver als man selbst in der Lage ist, sie zu erfahren. Eine Tatsache, wenn auch bedauerlich. Aber es stört mich nicht weiter, habe ich doch immerhin das individuelle Vergnügen warmen, wohlgeformten Holzes in meinen Händen.

Jetzt ist die Zeit gekommen, zur Flasche zu greifen und vorsichtig nachzugießen. Bei den 24 Gramm war ich heute schon einmal angelangt, durchschießt mich der Gedanke. Nichtsdestotrotz ziehe ich maßvoll an der Pfeife und nehme einen Schluck vom Glas. Die Harmonie zwischen dem Tabakrauch und dem Whiskygeschmack ist wahrhaft überwältigend. Ja, jetzt spüre ich sie, die Müdigkeit. Meine Beine fühlen sich schwer an, die Eingeweide durchzieht ein warmer Schauer. Jetzt ein Nickerchen wär´ nicht schlecht, denke ich.

Als mein Stapel Manuskriptblätter durch eine unachtsame Bewegung vom Schreibtisch auf den Boden knallt, erwache ich jäh. Der Bildschirm meines Laptops verdunkelt, in Schlafstellung wie ich selbst. Es mochten gut zwei Stunden vergangen sein, die ich in meinem Arbeitssessel dösend verbracht habe. Als ich die Blätter mühsam vom Boden auflese, fällt mein Blick auf einen Buchtitel, „Der vollen Brüder Orden“, und muss hellauf lachen.
Jetzt erinnere ich mich, ja, ich hatte einen Traum gehabt, ich wäre nach einem gewaltigen Rausch erwacht, irgendwann im Mittelalter, so kam es mir zumindest vor, und irgendwo im Gastzimmer einer Schenke. Mein Kopf brummte vom schweren Wein, den ich die Nacht über getrunken hatte. Dennoch bestellte ich eine neue Kanne roten Weines, nachdem mich der Wirt aufmunternd einen treuen Diener Bacchus‘ bezeichnet hatte.
Ich lalle irgendetwas vom Säuferlohn, von Krankheit und dem qualvollen Tod. Ich bin Bacchus, merke ich, inmitten einer illustren Gesellschaft, während mich der Teufel an einer Kette festhält. Um uns herum toben Schweine, Affen und Kälber. Unter den Tischen blöken Schafe, deren Hirten an der Schank stehen und einen Becher nach dem anderen leeren.
Ein Weinspiel ist´s. Eine irrationale Kneipenszene im Wirtshaus „Zur blauen Ente“, wie ich an einem bemalten Holzbalken zu erkennen vermag. Rings um mich all die Tiere, die frei herumlaufen. Komische Typen in merkwürdigen Gewändern, die mir mit ihren Gläsern zuprosten. Einer, der donnernd gegen das Saufen poltert. Drüben in der Ecke ein Pfaffe unter Weinbauern mit blauen Schürzen, die in heftigen Reden den Wein in Schutz nehmen möchten, indem sie seine Vorteile loben. Ich selbst, Gott Bacchus, doziere immer noch über den Säuferlohn, und wie ich mein Reich stets durch die wachsende Zahl meiner Jünger stärke. Täglich würden die Reihen meiner Diener länger.
An der Wand hinter mir hängt ein Holzschnitt, auf dem ich als Kind abgebildet bin, ein Gesetzesbuch in Händen. Soeben geleite ich meine Anhänger zum Teufel hin, eine ausgelassene Gesellschaft, mit Schweinsschädeln, Eselsohren und Gänse- als auch Bärenköpfen. Satan selbst, an dem Treiben höchst erfreut, übt sich in Ratschlägen über das Saufen, und darüber, dass der Wein mehr vermag als der Opfertod Christi. In einer anderen Szene bin ich meiner Gottschaft enthoben und zum gichtigen Alkoholiker degradiert, den Wein anklagend, der letztendlich von seiner Schuld freigesprochen wird.

Ich reibe mir die vom Schlaf noch halb geschlossenen Augen. Ab welchem Zeitpunkt ist man Alkoholiker?, beginne ich mich zu fragen. Die paar Schlucke täglich? Das kann doch nicht sein! Zugegeben, manchmal habe ich die ersten Gläser rasch geleert. Und hat es allzu lang gedauert, bis sich bei mir der gewünschte Effekt eingestellt hat, bin ich umgestiegen. Was das heißt? Nun, vom Wein zum Schnaps, ist doch ganz einfach. Sollte unter meinen Freunden einmal die Rede von der Trunksucht sein, vermeide ich es tunlichst, mich zu outen. Im Gegenteil, ich mache Witze darüber, ziehe die Sauferei ins Lächerliche oder so.

Jetzt brauche ich einen Schluck vom Glas. Ist noch genug drinnen. Ach, ich vergaß, ich hatte ja davor etwas geschlafen. Und überhaupt, was soll das? Ich benehme mich ja so, als hätte ich Schuldgefühle wegen der Sauferei. Obwohl, jeder tut es. Neulich habe ich eine Dokumentation gesehen, über Tiere in den Tropen. Es gab da einen Mangobaum. Die Mangos waren alle überreif und lagen auf dem Boden herum, bereits im Gärungsprozess. Eine Horde Affen hatte sich darüber hergemacht. Die wussten genau, was in diesen Früchten steckt. Und alle waren besoffen. Die einen schlugen Purzelbäume, die anderen bewegten sich im Zickzack oder kugelten ganz einfach auf dem Boden herum. Ziemlich menschlich haben sie ausgesehen in ihrem Dusel. Na und?
Wenn du hier zum Internisten gehst, fragt er dich, trinken Sie? Was muss man antworten, damit man seine Ruhe hat? Gelegentlich. Gut, sagt der dann, aber ihre Leberwerte sind irgendwie auffällig. Womit die Sache oft auch schon beendet ist. Gott sei Dank! Ja ja, natürlich habe ich oft dieses – dieses Verlangen nach mehr. Ich habe alles im Griff. Meine Freunde sehen mich manchmal so sonderbar an, wenn ich das fünfte Bier bestelle. Ich beobachte das immer öfter. Dann sage ich, es wäre meine Sache, nicht? Wenn ich will, höre ich einfach damit auf, verstanden?
Vor zwei Jahren habe ich von heute auf morgen drei Monate keinen Schluck getrunken. Aber derzeit will ich trinken, und es ist mir egal, versteht ihr? Ja, es ärgert mich maßlos, wenn sie sagen, dass ich zu viel trinke. Weil´s nicht stimmt, deshalb! Und dass man am Abend mit mir nichts mehr anfangen kann, sagen sie. Blödsinn. Bin eben zu müde, das ist alles. Interessiert mich eben derzeit nichts. Muss es?
Stattdessen träume ich gerne vor mich hin. Ist das vielleicht verboten? In einer Welt, die so aussieht, wie sie derzeit aussieht? Mit den verdammten Völkermorden in Afrika, am Balkan, im Nahen Osten? Und die Griechen? Die Portugiesen? Die Italiener? Ist das alles nichts? Wer weiß, was noch alles kommt? Da soll man nicht ab und zu einen zu sich nehmen dürfen, wie?

Wie soll man denn die ganze Scheiße aushalten ohne Alkohol? Ein Kiffer will ich ja schließlich nicht werden, oder? Ich schenke ganz einfach nach. Es nervt mich, mich ständig vor anderen rechtfertigen zu müssen, warum ich trinke. Ehrlich! Ich habe mir ein Lager angelegt. Lauter herrliche Dinge. Biere, Whiskies, Gin, Cognac, Port, Wodka und so weiter. Vom Feinsten. Schließlich bin ich ja kein Sozialfall. Ich lache still in mich hinein. Ich gehöre nicht zu den Tetrapack- oder Dopplertrinkern, sage ich mir.
Und meine kleinen Panikattacken zwischendurch gehen niemanden etwas an. Nehm´ ich eben einen Schluck aus dem Flachmann, dann geht´s gleich wieder besser. So ist das eben! Das nimmt mir die Angst. Die Angst vorm Leben, vor der Arbeitslosigkeit, davor, zu versagen. Ist doch gut, dass das so funktioniert, oder? Bloß die Sache mit meinen Augen stört mich etwas. Irgendwie alles verschwommen. Ich versuche, mein Manuskript zu entziffern. Etwas weiter weghalten? Ja, so ist es besser. Ein kleiner Schluck dazwischen.

Mein Traum fällt mir wieder ein. Träume ich eben noch? Keine Ahnung.

Dem Onkel haben sie auch den Alkohol verboten, nach seinem Schlaganfall. Seither lacht er nicht mehr. Sitzt nur mehr teilnahmslos rum, randvoll mit Medikamenten. Beruhigungsmittel oder so. Das macht Sinn. Die Korbflasche dort auf dem Bild zieht mich ungeheuer an, sage ich mir. Warum eigentlich? Chianti müsste drinnen sein. Wie damals, als wir auf dem Gut nahe Siena waren, Ostern neunzehnhundertund? Weiß nicht mehr. Der Gärtner stellte uns jeden Morgen eine solche Flasche, mit Bast umwickelt, vor die Treppe zum Eingang. Vierzehn Volumsprozent Alkohol! Unser Schlummertrunk. Oft kriegte ich nicht einmal das zweite Glas leer, schon war ich sanft entschlummert. Habe die Abendzeche nicht zu Ende gebracht. Was für eine Zeit! Da hat man den Wein aus Potten, aus Pinten, Kelchen, Kellen und Trinkschalen geschält.
Wie komm ich jetzt da drauf? Döse so vor mich hin. Das Manuskript rutscht langsam wieder zu Boden. He, Wirtsknecht, schenk ein! Hundesohn, verdammter! Zu meinen Zechgenossen: „Lasst uns vom Trinken parlieren! Was war zuerst?“, rufe ich, „war´s der Durst oder war´s der Trank?“ Die anderen grölen und jubeln. Nur nicht den Mut sinken lassen. So singt, dass keiner trinke! Und trinkt, dass keiner singe! So ein Schwachsinn! Wo gelöscht wird, muss es gebrannt haben, wie? Was, ein so kleines Glas? Was soll der Fingerhut, mein Freund?
Ein Film schiebt sich vor meine nebelige Erinnerung. Häuptling Fünffässer verhandelt mit dem Whiskyhändler. Er soll ihm drei Wagen Whisky geben, oder er würde ihn nicht passieren lassen. „Holt Orakeljones!“, rufen die Männer. „Ja, holt Orakel, der wird uns sagen, was wir tun sollen!“, schallt es aus der Menge. Der Mann wird geholt. Ein Typ, kahlköpfig, Vollbart, leerer Blick. „Was siehst du?“, fragt einer. „Ja, sag uns, wie der Winter wird!“, fordern ihn die anderen auf. Einer füllt ihm sein Glas mit Whisky. Orakel leert es mit einem Schluck. „Die Bisons fressen wie verrückt. Die Eichhörnchen und Biber sammeln ungewöhnlich viele Vorräte. Oben am Pass liegt bereits der erste Schnee. Wenn wir jetzt keine Wagenlieferung mehr bekommen, müssen wir den Winter über ohne Whisky auskommen!“ Er trinkt ein zweites Glas mit einem Schluck.

Blankes Entsetzen macht sich unter den Männern breit. Ich schrecke hoch. Was? Kein Whisky mehr da? Mühsam rapple ich mich hoch und schiebe meine Hand unter das Regal vorm Fenster. Alles noch da. Fünf Flaschen hier, drei andere lagern im Kleiderschrank. Kein Grund zu Panik. Es ist vorgesorgt. Ich muss mir keine Sorgen machen. Die Kiste Bier ist unten im Kühlschrank eingekühlt. Was soll mir noch passieren? Tabak ist auch genug da. Gerettet! Alles in Ordnung. Alles wird gut. Orakel nimmt jetzt die ganze Flasche. Er hebt sie zum Mund und setzt sie an. „Ich sehe eine Wagenladung Whisky kommen. Fünf, zehn“, er macht eine Pause, trinkt, „zwanzig, dreißig, vierzig Wagenladungen!“ Die Menge jubelt. Ich bin wohl etwas eingenickt. Egal.

Wie ich diese Kerle verstehe, ehrlich, ich mag sie! John Wayne, meine Güte! Ich muss einfach trinken, weil ich zu feige bin, mich auf direktem Wege ins Jenseits zu befördern, oder? Ich lache laut. Oder weil mir der Mut fehlt, mein Leben endlich selbst in die Hand zu nehmen. Alkohol ist mein Notventil. Mein Ruhekissen. Meine Flucht vor mir selbst. Beim Trinken nehme ich mich aus der Verantwortung, für alles! Und alles wird dabei relativ, nicht mehr so wichtig. Frisst mich nicht so auf wie Alltag, Arbeit, Beruf und solche Sachen. Und ich bin in prominenter Gesellschaft. Die Typen von vorhin Gottfried Keller, E. T. A. Hoffmann und so, später Joseph Roth, Maler wie van Gogh, Henry Miller zum Beispiel. Was, der auch? Oder Oscar Wilde, Churchill mit der dicken Zigarre und so weiter.
Dann kann ich ja noch was trinken, oder? Ich tu´s.

Wo war ich doch gleich? Ah, genau, beim zu kleinen Glas. Schließlich wollen wir Geschirr, bei dem man sich nicht gleich die Zunge anstößt. Ein Glas so groß wie ein Latz. Das ist die Vorstufe zum Wahnsinn, kommt mir in den diffusen Sinn. Der Wirt ist der Best´, ist voller als die Gäst´! Der Wein macht keinen stumm, oder? Holt Wein, wir sollen fröhlich sein! Wir trinken drum den guten Wein, die Sorgen zu vertreiben. Er setzt das Gläschen an den Mund und trinkt es aus bis an den Grund, rezitiere ich.
Ein wenig macht mir meine Zunge Schwierigkeiten, die Worte korrekt zu artikulieren. Aber das kommt von der Müdigkeit. Ich gähne. Da haben wir´s. Schon Zeit fürs Bett? Unmöglich!

Langsam aber sicher habe ich wohl genug, meine ich. Mein Denken fühlt sich an wie in einem dumpfen, tiefen Kanal. Links und rechts fällt mir nichts ein, keine Assoziationen, nichts. Auch gut. Beim Schlafen brauche ich nicht zu denken! Vor mir Dr. Schiwago, wie er mir einen Gummischlauch in den Mund schiebt, obendrauf ein Trichter, in den der Unmengen Wasser aus einem Krug schüttet, in den er vorher ein kleines Fläschchen entleert hatte, welches er aus seiner Instrumententasche genommen hatte. Man will mich gewaltsam ausnüchtern! Eine Magenspülung! Das ist doch alles lächerlich! Ich fühle Wut aufsteigen, gepaart mit Erschöpfungs- und Angstzuständen.
Scheiße! Mir geht´s schlecht. Ich versuche, aufzustehen. Es gelingt nicht. Ich reiße mir die Decke von den Beinen. Ich erwache. Kann mich an nichts erinnern. Wo bin ich eigentlich? Alles dreht sich um mich. Einmal von links nach rechts, dann von vorne nach unten, o Gott o Gott! Ich muss erbrechen!
Jemand ruft nach Butyrophenon. Was soll das sein? Wenn ich längere Zeit nichts trinke, also, das kommt kaum vor, oder? Wenn ich also längere Zeit nichts trinke, beginnen immer meine Hände zu zittern und ich fange an zu schwitzen. Gräulicher Zustand, das! Dann bin ich reizbar wie ein bengalischer Tiger. Ich schlafe unruhig, wenn überhaupt und seit geraumer Zeit kommt mir vor, als wäre ich mir selber fremd. Besonders dann, wenn ich an großen Plätzen stehe, von denen aus ich manchmal nicht mehr weiter weiß. Als hätte ich irgendwie die Orientierung verloren, obwohl ich jeden Tag dort vorbeikomme. So was Dummes!

Ich meine, ich werde alt. Irgendwie verwirrt. Das ist ganz normal. Aber dieses Zittern bereitet mir Sorgen. Unlängst habe ich schon vor dem Frühstück einen kleinen genommen. Danach waren meine Hände ruhig. Na also! Man muss sich nur zu behandeln wissen, sage ich immer. Trotzdem, komische Situation das, wer trinkt, gilt hierzulande gewissermaßen als normal. Trinkst du nicht, betrachten sie dich als abartig.
Ach, dann ist da noch dieses Kribbeln in den Beinen! Ich kratze und kratze schon die längste Zeit und es wird nicht besser! Jetzt werden mir die Augen wieder schwerer und schwerer. Mein Kopf sinkt nach vorne. Nur noch ein letzter kleiner Schluck, einer noch, ein allerletzter.

Wegen der argen Schmerzen in meinen Armen und Beinen fällt es mir schwer, wirklich einzuschlafen. Vielleicht eine Viertelschlaftablette? Mit einem Schluck Whisky wirkt sie viel schneller. Dann brauche ich mich um nichts mehr zu kümmern, bin weg, geh mir selber nicht mehr auf die Nerven, mache Urlaub vom Ich.
Schweißausbrüche und Herzrasen befallen mich. Durch Sehschlitze erkenne ich fahl die Umrisse Udo Lindenbergs, der sich vor mir auf dem Boden windet und in meinen Ohren verklingen seine Worte: Wieder geht ein Tag zu Ende und die Dämmerung zieht rauf, leise zittern ihm die Hände und der Säufermond geht auf … gib mir noch ein kleines Glück, meine Nerven, die sind, ach, die sind heut´ wieder‘ n bisschen schwach…mach mich bitte wieder wach … und der Whisky – der zieht runter und sein Blut wird schnell und warm, und jetzt nimmt ihn Lady Whisky ganz zärtlich in den Arm… lass uns beide, du und ich, erstmal richtig einen saufen… und die Zimmerdecke hebt sich, und die Wände brechen ein, auf dem Boden leere Flaschen, und er wieder so allein… in den Ohren ist ein Sirren und im Herzen ist ein Schlag, alle Fenster klirren, dieses Zimmer ist ein Sarg … aus dem Fenster zu den Sternen nur: Die kann er nicht mehr seh‘n, und in dunkler Wolkenferne scheint fahl der Säufermond… ein Mann lag in seinem Zimmer… mit den Nerven wurd´ es schlimmer… jede Nacht ´ne neue Qual, dieses Leben ist so arm – ferngesteuerte Quälerei, öffne die Flasche Numero drei…

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig | Inventarnummer: 15072

 

lost planet

Am fließenden Wasser war sanftes Rauschen, nichts hat die Ruhe gestört. Großblättriger Spender Schatten taucht Grün in schonendes Licht. Bachwasser sprudelt hell seit ewigen Zeiten. Im Blätterwaldreigen wiegen sich Äste zu sanftem Wind. Dort nisten Habicht und Eule und Krähe mit ihrer Brut, geschützt vor sengender Hitze im Sommer, im Winter wärmendes Nest.
Da sprossen noch Blumen ganz wundervoll, durch frisches saftiges Gras.

Noch konnte man Atem holen und brauchte ihn nicht zu erringen, ein Ort voll Glückseligkeit. Es rankten noch Hoffnung und Sehnsucht nach Liebe, die niemals versiegt. Hier eine Quelle, die längst nicht mehr sprudelt, ganz nah bei der Linde, welche längst nicht mehr steht.
Der kühle Wald, der stille, ist einem Parkplatz gewichen und nackte Fassaden ersetzen ersatzlos das Wogen der Wiesen. Das Plätschern des Bächleins ist langsam dem Lärm von Motoren erlegen, die Hoffnung durch Eile und Hast zerstört. Anstelle des Zirpens der Grille ein brummender Vogel in silbernem Alu am Himmel. Die Nacht ist zu hell, durch künstliches Licht, um heute noch Sterne zu sehen, frisst viel zu viel Energie.
Es gibt keine klaren Nächte mehr, wenn Nebel den Himmel verdecken. Und urplötzlich waren da Tröpfchen aus Wasser, die klammern sich lästig an Nasen. Genauso an Lippen und Brauen und an jedes einzelne Haar. Die Hand vor den Augen war kaum noch zu sehen, die Landschaft dahinter verschwommen. Als hätte die Luft eine dichte Gestalt wie zähes Gelee. Und ferne am Horizont vereint sich die Trübung galant mit der Erde, als schmiegte sich Honig auf Butter.

In stiller Erwartung hat Leben so einfach begonnen und rundum schien alles klar, soweit das Auge nur reichte, nichts hat gestört. Rasch wird´s nun diesig, die Sehnsucht im schimmernden Glanz des Mondes verlor sich im Smog aus der Esse. Zurück blieben Träume, ungelebt, Reisende bloß, wasserschwangere Schwebepartikel, zum Platzen bereit, noch ehe ihr Sättigungsgrad ist erreicht! Ruß und Staub verstopfen die wenigen Poren, aus denen der Leib, der geplagte, stets weinte.
Zurückgeblieben ist nichts als Dreck, verantwortungslos hinterlassen. Der Mensch wird zunehmend Opfer pervers vertikaler inverser Bestimmung. Schon bilden sich Tröpfchen überall, erst nur vereinzelt und kaum zu seh‘n. Die sammeln sich stetig, in Gruppen, in Horden, Verbänden, zur Konzentration. Die Folgen sind klar zu erkennen, allein, Spezialisten schau‘n ohnmächtig zu. Und wie steigt das auf! Tropfen um Tropfen, die Luft wird feuchter, je zahlreicher, desto rascher vermehren sie sich.
Wattebauschartig steigt dunkles Gewölk sichtbar auf, schießt unaufhaltsam nach oben. Ein Schwall schwerer Wasser bricht über Köpfe herein, trifft ungeschützt hilfloses Land. Aus gift‘gen Nebeln steigt siedender Dampf, knallheißer Sümpfe wallende Brunst. Schmorend Blendwerk fetter Dünste breitet sich überall aus. Schwefelgelb kochender Saft nährt fürsorglich ausströmend dünstend Gebild´.

Auf verlorenem Posten mahnen verzweifelt Instanzen vergeblich zur Einsicht. Die, die´s angeht, wollen das Läuten, das stumme, der dunstigen Glocke nicht hören. Ätzender Smog verbietet der Sonne den fahlen Strahl, verhüllt sie in apokalyptisches Dunkel. Alarm ist orange, man bleibt in den Häusern, trotz Maske wird Atmen zur Qual. Vor stechend brennenden Augen verschwimmen Konturen, verschmelzen Wahrzeichen sinnlosen Prunks.
Der Tag wird zur Nacht, in feuchttrüben Nebeln stecken still Limousinen im dampfenden Stau, hupen verzweifelt. Zerklüftete Lungen, geplagte, brennen in dicker Morgenluft, wenn Augen in beißenden Tränen liegen, atmen den tödlichen Cocktail aus Staub und Oxyden. Der Wind will nicht weh´n, gewährt nicht den Abzug der tödlichen Gase. Ein schmieriger Schleier hängt über der Stadt, prall vor Ozon, verursacht panische Atemnot, Kopfschmerz kommt schlagartig in Mode.

Politik fordert reuig Verbote, sich wandelndes Klima wird langsam bewusst. Nasen rinnen, Augen triefen, Fremdkörper verursachen Hustenreiz. Schon hebt sich das Zwerchfell, der Brustmuskel spannt sich, Luft entweicht ruckartig, keuchender Husten. Rachen und Kehlkopf entzünden sich heftig und pfeifend entflieht, gefährlich verengt und mühsam gepresst, spärlich, der schwer errungene Atem. In Bronchien sammelt sich zähflüssig Schleim, behindert den Luftstrom, der Leben bedeutet. Pneumologische Spirometer vermessen akribisch kraftlose Lungen. Verzweifelte Ärzte rufen zum Handeln, dass man was tut.
Man setzt auf Verbote, doch Asche verdunkelt den Himmel. Ruß und Qualm in die Luft geblasen, ohne Kontrolle, jahrzehntelang! Was kann dieser blaue Planet noch verkraften? Unter tropisch feuchtem Glassturz vegetiert blasses Leben mit hängenden Köpfen. Rufe nach Zeiten der Vorindustrie verhallen im Schock der Bedeutung.
Bloß weil das Pferd zu langsam war, hat man das Dampfross erfunden, und auch den Strom und den Diesel. Zum Zweck rationalen Erringens und um den Vorteil der Produktion zerstören Eliten Balancen der Ökologie.
Jetzt wird man die Geister, die man gerufen, nicht los. Ein Flehen um Beistand der Götter erstickt im leblosen Keim um den Glauben. Wann endet letztendlich das Sengen, das Brennen, das Roden, der Raubbau, das Rennen ums Kapital?
Gefragt wären Taten, nicht endlose Worte, denn sinnlose Reden beseitigen nicht das Problem. Verdammt zum Leben raumzeitlich molekularer Verdunstung dräuen die Tage im Düstern, die endlos erscheinen in ödem Gelände verlorener Welt.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at |Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 15054

Die Krise 3 – Der Deal

Wer den Ort kannte, Zwicklingsau oder Hintertupfing, das blieb sich gleich, Kaffs wie diese gleichen einander wie ein Ei dem anderen, mochte unschwer feststellen, wie sich in den letzten Jahren eine zunehmende Rechtslastigkeit und Ausländerfeindlichkeit zu etablieren begonnen hatte. Man zeigte sich ängstlich gegenüber den wenigen muslimischen Gemeindearbeitern und gewissen unberechenbaren Einflüssen von außen.
In der Kommunalpolitik transformierten notwendige Entscheidungen oftmals zugunsten schwammiger Unentschlossenheit. Im Zweifel saß man Probleme eben aus.
Gesetzmäßigkeiten einer Soap-Opera hielten Einzug in viele Bereiche des politischen und alltäglichen Lebens. Die Grundhaltung blieb ernst. Seltene Scherze galten mitunter als rettender Ausbruch allgemeiner Bedrücktheit, häufig bemühtes geistiges Relikt aus dem Reich des Unbewussten.
Man versuchte damit, Konflikte zu verkleinern und lächerlich zu machen, um sie mit Hilfe der Zeit aus dem Gedächtnis bewusster Wahrnehmung zu drängen. Nicht zuletzt erzeugten sie nebenher einen gewissen Lustgewinn. Auf diese Weise konnte man sich auch leichter über seine eigene dunkle Vergangenheit hinwegsetzen. Man wurde dadurch sozusagen unverletzlich, in gewisser Weise auch für einen Augenblick zum Gewinner, wenn man auch sonst eine Niete war. Und wenn dann gelacht wurde, widerfuhr einem eine Art Seelentrost, über den man für einen Moment lang die Tatsache vergessen konnte, in was für einer beschissenen kleinen Welt man eigentlich lebte.

Vor allem aber durfte man hier eines nicht, nämlich leidenschaftlich und mit Hirn politisieren. Diese Tatsache war Rembert Mirando bekannt, ebenso wie ihm auch bewusst war, dass seine berufliche Doppelaktion dem Neid der Bürgerinnen und Bürger in diesem kleinen Ort ausreichend Nahrung geben würde. Aber er würde sich nicht darum kümmern, hatte er beschlossen, obwohl der Gemeinderat der Meinung war, dass Doppeleinkommen, egal welcher Art, in Krisenzeiten für den sozialen Frieden des Ortes längerfristig nicht zuträglich sein würden. Aber was für den Bürgermeister recht und billig war, schließlich saß dieser in zahllosen Aufsichtsräten und hatte mehr als vier Einkommen, sollte es doch immerhin auch für ihn sein, denn er hatte ja bloß zwei.

Ein Gespräch Rembert Mirandos mit dem Bürgermeister war relativ glimpflich, wenn auch nicht ohne dessen gewohnte Cholerik verlaufen. Wie weit er mit Escortin sei, wollte dieser wissen und wann man mit dem Geld rechnen könne? Mirando musste die ganze Zeit über an Anica Escortin denken und daran, was letzte Nacht zwischen ihr und ihm passiert war. Das stärkte ihm den Rücken, indem er den Bürgermeister zunächst ein wenig zappeln ließ, ehe er ihm eine Antwort auf seine Frage gab, dass es eben noch ein wenig Diplomatie erfordern würde, bis es so weit wäre, die Sache aber kurz vor dem Abschluss stünde.

Ob er sich nicht vorstellen könne, dass es pressierte, fragte ihn der Bürgermeister. Schließlich ginge es derzeit um jeden Cent und vor allen Dingen auch um seine Karriere, Remberts Karriere, fügte er hinzu, wenn dieser jemals Mandatar werden wolle. Niemand in der Gemeinde könne einsehen, warum man noch mehr Schulden machen solle, um eine Krise zu bekämpfen. Man müsse die Bautätigkeit ankurbeln, und zwar jetzt, wo die Auftragsvergabe erleichtert werde und die Grenzen für die freie Vergabe von Bau- und Infrastrukturaufträgen angehoben würden.
Und man müsse die Arbeitslosen endlich aus den Wirtshäusern und Deutschkursen holen. Und schließlich müsse man den einzigen Autohändler im Ort unterstützen. Daher bräuchte die Partei schließlich einen Haufen Geld, um das alles umzusetzen. Und das würde ohne einen Zuschuss so nicht gehen. Und dafür wäre Escortin eben unentbehrlich.
Rembert hob den Kopf. Den Autohändler?, fragte er. Natürlich, oder ob er wolle, dass der Betrieb zusperren solle? Rembert schüttelte den Kopf. Er, der Ortschef, könne schließlich nichts dafür, dass niemand ein neues Auto kaufe. Man könne es in Zeiten wie diesen auch niemandem übel nehmen, sein sauer verdientes Geld in ein Auto zu stecken, nicht wahr? Das sah auch Rembert ein. Er fürchte, dass niemand so recht wisse, was derzeit die richtige Wirtschaftspolitik sei, sagte dieser. Ein selten kluger Satz. Da habe er auch wieder Recht, bestätigte der Bürgermeister.

Aber wenn man schon den Autohändler unterstütze, warum nicht auch den einzigen Metzger, dem jetzt das Aus drohe, wo doch im Ort erst vor Kurzem drei Supermärkte eröffnet hatten, die so zentral lagen, dass sie von allen Bewohnern zu Fuß in der gleichen kurzen Zeit zu erreichen waren.
Und Rembert dachte an die entzückende Tochter des Metzgers, die ihn immer so freundlich bediente, auch wenn er bloß rasch nach einer Wurstsemmel verlangt hatte. Erfreuen würde man sich an ihrem Anblick wohl noch dürfen, nicht mehr. Schließlich war er verheiratet und seine Gattin im Ort wohlangesehen, nicht nur als Pädagogin. Aber die Tochter des Metzgers legte ihm auch immer, wenn er darum gebeten hatte, gerne einen Kranz Blutwurst zurück, wenn frisch geschlachtet worden war. Und dieses Privileg hatte nicht ein jeder.
Und wenn er ihr einen Witz erzählte, meist einen unanständigen, dann lachte sie ganz besonders laut und das gefiel Rembert Mirando sehr und hob sein Selbstwertgefühl. Vielleicht konnte er ja eines Tages doch noch geheim bei ihr landen? Wer konnte es wissen? Es würde ja niemand erfahren. Wenn er schon zwei Jobs hätte, warum nicht auch zwei Frauen? Alle VIPs lebten so, dachte Mirando insgeheim.

Wenn er den Metzger unterstützte, schwächte er die Fleischhändler in den Supermärkten, entgegnete der Bürgermeister heftig, wobei er im Gesicht rot anlief, als er an die hohen Schmiergelder dachte, die er damals von den Eigentümern erhalten hatte, um die geeigneten Gemeindegründe für die Flächenwidmung zu organisieren.

Dass der Autohändler im Ort bliebe, hätte Symbolcharakter, sagte er dann. An dem Zustand, wie schlecht oder gut es diesem ginge, könne die Bevölkerung die Gesundheit der heimischen Wirtschaft ablesen und würde weniger hysterisch reagieren, wenn schon der eine oder andere zusperren müsse, was ja auch bereits der Fall war. Es bliebe ihnen gar nichts anderes übrig, als so wie bisher weiterzuwursteln, das sei ihm doch klar, sagte er, und sah Mirando prüfend an. Selbstverständlich, bestätigte dieser, konnte er doch nicht anderer Meinung sein als sein Dienstgeber.

Und was er ihm schon längst sagen wollte, ganz nebenbei, dass Frauen, in der Wirtschaft oder gar Politik, zu schade wären für so einen Job. Der Bürgermeister grinste, als er das sagte. Und Mirando solle sich das merken. Führungspositionen wären ganz einfach nicht für Frauen geschaffen. Im Übrigen würde er ihm verzeihen, dass er damals Fräulein Mileva so vehement für sein eigenes Büro begehrt hatte. Der wahre Grund, warum er sich anfangs so sehr gegen diese Veränderung im Gemeindeamt ausgesprochen hatte, sei der gewesen, dass er sie gerne für sich selbst beansprucht hätte, ihres Äußeren wegen, betonte er und grinste.
Niemand würde das besser verstehen als er, meinte Mirando rasch, und er dachte an die stets leicht geöffneten Schenkel Charlotte Milevas unter ihrem Schreibtisch, obwohl man wegen ihrer stärkeren Oberschenkel eben sonst nichts zu sehen bekam. Nicht einmal die Farbe ihrer Höschen hatte er bisher erkennen können.

Damit schien das Gespräch zwischen Mirando und dem Bürgermeister beendet. Bevor dieser jedoch gehen wollte, fragte ihn der Ortschef plötzlich, ob er auch zu denen gehörte, die sich gegen eine Adaptierung des alten Gutshofes für die Sozialfälle des Ortes aussprechen werde? Gegen das Projekt gäbe es ja bereits massiven Widerstand seitens der Bevölkerung.

Mirando überlegte eine Weile. Bei so einer Frage hieß es vorsichtig sein, weil man nie wissen konnte, auf welcher Seite man sich befand, wenn man einmal seine Meinung gesagt hatte. Daher richtete er eine Gegenfrage an den Bürgermeister, ob dieser glaube, was sinnvoller sei, nämlich die ortsbekannten Alkoholiker jede Nacht aufsammeln zu lassen, oder sie sozusagen in sicherem Gewahrsam zu wissen? Und dafür wäre der Gutshof nicht nur wegen seiner strategischen Lage, er befand sich gegenüber der hiesigen Polizeistation, sondern auch wegen der geeigneten Bausubstanz ein echt großartiger Wurf. Der Bürgermeister hustete vernehmlich, gab sich aber mit einem kurzen Nicken zufrieden, ohne weitere Worte darüber zu verlieren.

In der Stadt hätten sie ganz andere Probleme, nutzte Mirando rasch die Gelegenheit, sich beim Bürgermeister Respekt für sein Wissen zu verschaffen. Was wären die paar Trunkenbolde und Inzüchtler hier schon gegen die Radler-Rowdys, die rücksichtslosen Autofahrer und Fußgänger, die stets ohne links und rechts zu schauen, plötzlich die Fahrbahnen unsicher machten? Gott sei Dank habe man hier keine U-Bahn und damit auch nicht die ganze Beschwerdeflut wegen des verbotenen Verzehrs stinkender Kebabs oder Pizzas und ständigem Handygequatsche im Personenverkehr. Und die Horden undisziplinierter Jugendlicher, die obendrein noch dazu die Füße auf den Sitzbänken hätten! So weit wäre man hier noch lange nicht und im Übrigen würde es hier nie so weit kommen.
Der Bürgermeister aber sagte nur, ja ja ja und das wäre alles für heute. Rembert hatte verstanden und verabschiedete sich.

An einem dieser zahllosen grauen Morgen, welche sich seit vergangenem Oktober beharrlich weigerten, um keinen Preis auch nur einem einzigen, wenn auch bloß zwielichtigen Sonnentag zu weichen, machte sich Rembert Mirando daran, einen unaufschiebbaren Termin mit Denis Escortin in dessen unaufhörlich florierendem Imperium wahrzunehmen. Mirando fürchtete diesen Tag, seit ihn der Bürgermeister eigens für ihn erfunden zu haben schien.
Vor allem aber fürchtete er, mit seinem Angebot bei Escortin abzublitzen, trotz seiner positiven Andeutungen damals bei der Vernissage. Und dies wäre sein eigenes politisches Ende gewesen. Jedoch so leicht gab er sich nicht geschlagen. Hatte ihm nicht dessen Gattin Anica nach einer Nacht voller Freudenspenden auf den Kopf zugesagt, sie werde die Sache mit ihrem Hasen schon für ihn einfädeln?
Schließlich hatten sie seine treuherzigen Blicke nicht kalt gelassen, als er ihrem blaugrünen Stahlblick begegnet war und ihr zartrosa Lippenstift silbern glänzende Spuren auf seinen Wangen hinterlassen hatte, wie sie Schnecken zu machen pflegten, wenn sie über die Gräser glitten.
Anica Escortin, eine Frau, die Männer um den Finger wickeln konnte wie ihren Seidenschal, oder wie Spinnen, die geschickt mit ihrem Faden zu hantieren vermochten, freilich in der Absicht, irgendwann auch zu töten. Und ihr Gatte bemerkte nichts. Vielleicht wollte er auch gar nichts bemerken, weil er klüger war als andere dachten?

Rembert parkte seinen Kleinwagen neben Escortins schwarzer, überdimensionaler Limousine. Allein die Höhe der Reifen dieses Wagens reichte ihm bis über die Knie. Als er ausgestiegen war, fühlte er sich plötzlich genauso klein und unwichtig wie sein eigenes Fahrzeug. Die Knie begannen ihm zu zittern, die Kehle trocknete aus, die Krawatte würgte ihn, die neuen Schuhe, die er nur zu besonderen Anlässen trug, drückten wie verrückt.
Aber man konnte nichts ändern und das verfluchte Schicksal musste seinen verdammten Lauf nehmen. Unsicher stieg er die Treppen zum Eingang der Luxusvilla empor. Dort fasste er sich für einen Moment lang, um kurz und heftig durchzuatmen, ehe er den messingenen Knopf der Klingel betätigte. Nicht zu lang, aber auch nicht zu kurz. Zu lang wäre schlecht, weil dies Penetranz signalisieren könnte.
Escortin neigte zu cholerischen Gefühlsausbrüchen, ähnlich wie der Bürgermeister. Und beide hatten dieselben blutroten Köpfe. Zu kurz wäre ebenso schlecht, weil sich dahinter zu viel Respekt verbergen könnte. Also galt es, eine Art Mitteldruck zu finden. Bei einer unbekannten Klingel gar nicht so leicht. Mirando war ja gelernter Musiker. Jedes Klavier reagierte anders. Warum nicht auch jede Klingel?
Der Türöffner schnarrte. Doch Escortin selbst öffnete ihm nicht. Die Türe ging von ganz alleine auf. Kein gutes Zeichen, dachte Mirando. Er trat ein und sah sich vorsichtig um. Er möge doch weiterkommen, donnerte Escortin plötzlich von irgendeinem Zimmer heraus. Mirando nahm seinen ganzen Mut zusammen. Da erschien der Hausherr höchstpersönlich im Türrahmen eines kleinen Seitenraumes. Was für eine Erscheinung! Der Mann musste gut und gern geschätzte einhundertfünzig Kilo wiegen, durchfuhr es Mirando. Es gab eine Brückenwaage im Ort, durchfuhr es ihn, auf der man die Stiere wog, ehe sie…

Da wäre er also, meinte Mirando und reichte Escortin die Hand.
Ja ja ja, es wäre schon gut und hier herein möchte er kommen und sich setzen. Mirando folgte wie ein Hund dem Herrn. Platz, sagte Escortin. Oder hatte Rembert das „Bitte-nehmen-Sie“ überhört? Es ging alles so schnell. Überbreite Ledergarnitur. An den Wänden geschmacklose nichtssagende Ölgemälde unbekannter Meister.
Wasser oder was anderes, fragte Escortin. Gar nichts, danke. Mirando hatte seine kleine schwarze Aktenmappe geöffnet. Der übertriebene Schwung seiner Bewegung, der Entschlossenheit mimen sollte, war zu heftig ausgefallen, sodass die darin befindlichen vorbereiteten Papiere herausgerutscht waren und nun verstreut vor Escortins Schreibtisch lagen. Dieser verzog bloß den Mund, sagte aber nichts.
Mirando sank auf beide Knie. In dieser Stellung las er die Blätter rasch auf, während Escortin kopfschüttelnd auf ihn herabblickte und Mirando von unten zu ihm hoch.
Alles war bloß eine Frage der Fallhöhe, wie immer im Leben.

Escortin wurde ungeduldig. Man solle endlich zur Sache kommen, meinte er. Der Bürgermeister beabsichtige, die Bautätigkeit anzuregen. Das sollte er wirklich tun, grinste Escortin, indem er ihm das Grundstück oben auf der Wasserwiese überlassen möge. Über die Auftragsvergabe für die Bebauung desselben brauche er sich dann keine Sorge mehr zu machen, dafür würde er selbst sorgen, lachte Escortin verschleimt und kehlig.
Eine Zigarre wurde fällig. Der Qualm, den Escortin beim Anzünden verursachte, ließ Mirando für Escortin beinahe unsichtbar werden. Jedoch genau diese Botschaft sollte Rembert übermitteln. Also zückte er eines der Papiere und hob es siegessicher empor, damit fächelnd, nicht zuletzt auch, um die Rauchwolke vor ihm etwas zu lichten.
Er solle ihm das Papier zeigen, befahl Escortin. Rembert reichte es artig über den Tisch. Escortin nahm es entgegen und glotzte durch seine Lesebrille, die wie ein verirrtes Insekt auf dessen Nasenspitze saß, starr auf den Text. Er atmete schwer, während er ebenso damit beschäftigt war, den sich ständig bildenden Rauch aus seinem Mund loszuwerden, in dem die Zigarre wie ein Fremdkörper steckte. Beinahe wie eine Art Bombe, mit einer unsichtbaren Zündschnur versehen, die gloste, umschlossen von seinen zerklüfteten groben Lippen und Gefahr im Verzug signalisierte. Wenn er an ihr zog, klappten die Wangen wie automatisch nach innen und wölbten sich danach wieder zu ihrem Normalzustand auf. Immer ein und aus, wie die Kontraktionen einer Seegurke auf dem Meeresgrund.
Schön schön, grunzte Escortin schließlich. Geben Sie mir die anderen Sachen! Was ist mit dem Geld? Wohin soll ich überweisen?, fragte er etwas mürrisch.
Rembert Mirando erhob sich affenartig aus seinem Folterstuhl und fuhr mit seinem Zeigefinger auf das kleinere Blatt, auf dem die Kontonummer der Gemeindekasse angegeben war. Auf dieses Konto möge er die geschätzte Summe von … äh, Rembert räusperte sich, er wagte den Betrag nicht auszusprechen, überweisen, wenn es Recht wäre.

Es wäre schon gut, und der Betrag würde heute noch überwiesen, erwiderte der zentnerschwere Unternehmer und setzte seine Unterschrift kratzend unter die bezeichnete Stelle, auf die Remberts zittriger spitzer Finger gewiesen hatte, der schon ganz rot war vom Druck, den er damit auf das Blatt Papier am Schreibtisch ausgeübt hatte. Doch noch ehe Escortin zu schreiben begonnen hatte, nahm er ihn rasch von dort weg, um nur ja nicht im Wege zu sein auf der wunderbaren Reise zu seinem eigenen fulminanten Sieg.
Das wäre ja ganz einfach gegangen, atmete Mirando erleichtert auf und nahm das nun unterzeichnete Versprechen, der Partei eine außerordentliche Zuwendung in der Höhe von huntertfünfzigtausend Euro zu gewähren, rasch an sich, welches er sogleich in seine Aktentasche schob, in der Angst, Escortin könnte es sich doch noch anders überlegen.

So, junger Freund, das hätten wir erledigt, rieb sich Escortin die fetten Hände. Ob sonst noch was wäre? Aber es war nichts und Rembert Mirando bedankte sich im Namen der Gemeinde für die überaus gütige Geste und das Wohlwollen, welches Escortin nun der Partei wie auch der Gemeinde entgegengebracht hätte.
Eine Lüge! Jene merkwürdige Form der Höflichkeit des ewigen Auf und Ab zwischen dem, was man sagen muss und eigentlich nicht sagen darf.
Mirando dachte, wie froh er sei, dass der alte Sack das Geld herausgerückt hatte und dass er endlich verschwinden konnte, denn jetzt stünde seiner eigenen Karriere als politischer Mandatar nichts mehr im Wege.
Der Bürgermeister würde ihn upgraden müssen, Fräulein Mileva dürfte nicht mehr sein Zimmer betreten, ohne vorher anzuklopfen, und wenn man ihn sprechen wollte, gäbe es eine genaue Reihung derjenigen, die vorgelassen werden wollten.
Und er würde sie warten lassen. Und wie er sie alle würde warten lassen! Alle. Dieses Gefühl kostete er jetzt schon aus. Rembert Mirando träumte im Wachen, dass sich von nun an sein ganzes Leben komplett verändern würde.

Als er bei seinem Wagen angelangt war und ihn kurz betrachtete, kam ihm dieser eigentlich gar nicht mehr so klein vor. Den Kopf in den Nacken geworfen setzte er sich ans Steuer. Er wandte seinen Blick nach rechts, zum Seitenfenster, wo das gesamte Sichtfeld aus dem linken Vorderrad von Escortins Limousine bestand. Mirando startete rasch und fuhr den Kiesweg hinab.

Die Parteispende Denis Escortins hatte zur Folge, dass sich die Spirale um die Aktivitäten zur Erschließung eines neu umzuwidmenden Grundstückes an einer Stelle, die für Normalsterbliche weder zu erwerben noch zur Erlangung der Baugenehmigung möglich gewesen wäre, zu drehen begann. Ablehnende Gutachten verschwanden in Schubladen, aus denen sie nie mehr auftauchten. Interventionen von Strom- und Gasgesellschaften wurden so hingebogen, dass man darauf verwiesen hatte, in näherer Zukunft dort ohnehin eine gemeinnützige Genossenschaftssiedlung errichten zu wollen, um so die weit außerhalb des Ortes anzulegenden Zuleitungen zu rechtfertigen.
Der Bürgermeister höchstpersönlich ordnete an, verfügte, machte denjenigen, die Einwände vorbrachten, Versprechungen, die er am Ende nicht hielt und beauftragte Mirando, obwohl jener bloß in der Kulturabteilung saß, mit der Aufgabe, sich über die Fortschritte um die Erschließung von Escortins neuem Grundstück zu erkundigen und ihn auf dem Laufenden zu halten. Mirando wuchs zu ungeahnter Größe. Jetzt könnte er auch seiner Gattin einmal Paroli bieten, die immer so wichtigtat und in gewissem Sinne auch wichtiger war als er.

Rembert Mirando war in seinem Element. Er hatte sich neu eingekleidet. Selbstverständlich hielt er Schwarz für die Repräsentation seiner Position angemessen. So uniformiert stolzierte er aufrechten Ganges, nicht zu hastig, mit entsprechender Würde durch den Ort und die Menge der KirchenbankreserviererInnen bemerkte allesamt, dass er nun etwas darstellen mochte und grüßte ihn von da an ehrfürchtiger als vorher.
Man fand bald heraus, dass man über ihn, wo er doch so gute Beziehungen zum Bürgermeister hatte, einiges erreichen konnte, was so nicht erreichbar gewesen wäre. Etwa die Genehmigung eines illegalen Zubaus, oder die Zulassung eines Brunnens für die WC-Spülung, um der hohen Wasserrechnung zu entgehen.
Und immer brachte man etwas mit, wenn man zu Mirando kam. Außer dem üblichen Sekt oder teureren Rotwein auch Rabattscheine verschiedener Betriebe oder Supermärkte, Eintrittskarten und manchmal auch Bares. Rembert Mirando ließ alles unauffällig in eine Schublade seines Schreibtisches gleiten, die versperrbar war. Schließlich konnte man nicht wissen, wer hier hereinkam, wenn er nicht da war, abgesehen vom Reinigungspersonal, welches von einer Firma in der Stadt gestellt wurde und ausschließlich aus Südost-Migrantinnen bestand.
Alles in allem Vorgänge, die überall gang und gäbe waren und zu denen auch anderswo geschwiegen und denen so der Anschein des Selbstverständlichen und der Respektabilität verliehen wurde, was zur Folge hatte, dass das Sensorium zur Wahrnehmung derartiger getarnter Gegengeschäfte nicht gerade sensibilisiert, sondern eher abgenutzt wurde. Die wenigen Prominenten im Ort, allen voran Denis Escortin samt Gattin, waren ohnehin nie um die eine oder andere Intervention verlegen, wenn es aufgrund einer Verkehrsstrafe oder eines sonstigen Delikts galt, einen Erlass oder eine Herabsetzung ihrer Strafe zu bewirken, obwohl man über die kleine finanzielle Einbuße sicherlich erhaben gewesen wäre. Es war ganz einfach die reine Lust am Prominentsein, die sie dazu bewog, Einspruch zu erheben, um sich damit noch deutlicher vom Pöbel abzuheben, der Sanktionen widerspruchslos hinnehmen musste.

Fräulein Mileva, Mirandos Sekretärin, hatte von nun an noch mehr zu tun als bisher und war darüber gar nicht glücklich. Ja, sie überlegte sogar manchmal, ob sie nicht um Teilzeit ansuchen oder gar den Job wechseln sollte. Mirando arbeitete nur noch selten in seinem Büro und delegierte so ziemlich alles an seine Sekretärin. Er war nicht erreichbar, kam und ging wann er wollte, und wenn er da war, erzählte er wie immer unanständige frauenfeindliche Witze, zu denen er meistens selber am lautesten lachte. Die Kolleginnen und Kollegen tuschelten über ihn, dass er sich in unbeobachteten Momenten angeblich seine Witze selbst erzählte und danach lauthals darüber lachte.

Als ihn der Abgeordnete Meier einmal auf die aktuelle Krise angesprochen hatte, soll Mirando gesagt haben, es sei alles halb so schlimm. Gewiss, man spräche so gemeinhin von einer solchen, jedoch deute alles darauf hin, dass man vor einer großen Herausforderung stünde und diese nutzen müsse. Er, Rembert Mirando, sehe darin überdies seine persönliche große Chance als politischer Mandatar kommen und begrüße die Krise, vor der man nicht verharren solle wie das Kaninchen vor der Schlange. Man müsse nach vorne sehen, betonte er, und dürfe sich nicht an ihrem üblen Beigeschmack stoßen, den sie mitunter zu haben schien, so, als ob einem die Hände gebunden wären. Das wäre glatter Defätismus.
Am Wirtschaftshorizont könne man bereits Anzeichen erkennen, dass es bald wieder aufwärts ginge. Bis dahin würde man der heimischen Wirtschaft unter die Arme greifen, und dabei grinste er bis zu den Ohren, weil er an Escortin dachte und daran, dass er die Sache mit dessen Grundstück auch ein wenig für sich werde nützen können, auch wenn er noch nicht genau wusste, wie. Und nach einer kleinen Pause, die er dem Abgeordneten gönnte, der bereits tief bereut hatte, Mirando jemals eine Frage gestellt zu haben, fuhr er fort, dass man nicht sinnlose Strukturen unterstützen würde, sondern punktgenaue Strategien einsetzen werde. Zack! Das hatte gesessen.

Der Abgeordnete Meier sei in Eile. Eine Frage wolle er trotzdem noch beantwortet wissen, nämlich die, ob man weiter Schulden machen werde, wo doch strenger Sparkurs angesagt sei? Ja, man werde sehr wohl Schulden machen müssen, sagte Mirando. Das machten die Privaten ja auch. Und überdies würde die Wirtschaft sonst den Bach hinuntergehen. Jedoch unterstütze man nicht nach dem Zufallsprinzip, sondern nur dort, wo es sich lohnen, wo es nachhaltig sein würde, wenn er wisse, was er meine. Und Rembert lachte abermals, so ganz für sich.
Der Abgeordnete nickte bloß. Sie sehen also keine Krise, alles im Griff? Rembert baute sich vor Meier auf. Der Abgeordnete sagte nichts. Was denn mit den Arbeitslosen geschehe?, fragte er nach einer Nachdenkpause. Er hätte von einem Sozialprojekt gehört hier im Ort.
Keine Sorge, sie ermöglichten auch das Unmögliche, antwortete Mirando flink. Sie investierten in alle Bereiche gleichzeitig, müsse er wissen, Arbeitsplätze, Wirtschaft, Infrastruktur. Davon könne man anderswo nur träumen. Der Abgeordnete schien beeindruckt. Mirando dachte an den Taktstock. Wieder einmal schwang er ihn hoch über den Köpfen der staunenden Zuhörer, Fräulein Milevas und dem des Abgeordneten Meier. Ob der Finanzchef da mitspielte, wollte Meier wissen? Das verstünde sich von selbst, erwiderte Mirando selbstbewusst, schließlich sei es ja nicht dessen eigenes Geld, und er lachte zynisch, als er dies gesagt hatte.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 15053

Das Verhör

In einer stürmischen Gewitternacht entdeckt das Stubenmädchen eines privaten Kurheimes, Fräulein Trixi, beim abendlichen Zimmerdurchgang die Leiche einer älteren Pflegebedürftigen. Wurde sie erstickt? Womöglich mit einem Polster? Während sich die übrigen Gäste im Salon des Hauses beim Bridgespiel vergnügen, ruft man unterdessen diskret Polizei und Rettung. Ein Kommissar wird noch in derselben Nacht zur Untersuchung des Falles abgestellt. Kommissar Braumüller beginnt sein Verhör konsequent und nimmt sich systematisch jeden vor, der ihm verdächtig erscheint. Sein Hauptverdacht gilt nicht zuletzt dem Gatten der Ermordeten, der überdies noch mit seiner Geliebten in ein und demselben Hause weilt, wie auch einer gewissen Frau Trinks, die er durch seine konsequenten Fragen in die Enge zu treiben versucht.

„Frau Trinks“, fragte Braumüller, „waren Sie an diesem Abend im Zimmer von Frau Rabitsch oder nicht?“ Die Trinks stockte, und flüsterte nach längerem Warten ein leises „ Ja“. „Na bitte, also drüben waren Sie bei ihr, das steht wohl jetzt eindeutig fest.“ Der Kommissar zündete sich die nächste Zigarette an. Jetzt wurde Professor Ebner wieder etwas munterer. Er konnte sich nicht mehr zurückhalten und hob zögernd die Hand, als ob er etwas sagen wollte, reine Gewohnheit, ein ewiger Schulmann eben.
Aber der Kommissar bemerkte es nicht. Er inhalierte in tiefen Zügen und rannte wieder auf und ab, stoppte jäh vor einer Topfpalme, die als Raumteiler diente und kehrte wieder um. Hin und her, wie ein Tier in seinem Käfig. „Hm! Was könnte das zu bedeuten haben“, fuhr der Kommissar fort, und diesmal fixierte er die Trinks mit stechendem Blick, „Frau Trinks, wenn eine Person, die mit einem Polster erstickt werden soll, ihre Hände nicht in Abwehrstellung gegen den Polster erhebt, sondern die Hände so hält, als wollte sie dem Täter dabei noch behilflich sein, den Polster sozusagen von oben her noch zu sich heran drückt?“
Sybilla Trinks starrte ihn lange an und sagte nichts. „Frau Trinks, ich habe Sie etwas gefragt?“ Braumüller ließ nicht locker. Professor Ebner fiel vor innerer Erregung beinahe vom Stuhl. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder, schnappte nach Luft wie ein frisch gefangener Karpfen und sein Gesicht glühte förmlich und war blutrot. „Ich bin kein Kriminalist“, sagte Sybilla Trinks plötzlich zögernd. „Sind Sie nicht, ich weiß. Aber ich bin einer. Und ich könnte daraus Verschiedenes schließen. Aber ich tue es nicht. Ich stelle es einfach in den Raum – einfach in den Raum, ja!“

Es folgte eine unerträgliche Stille, in der Professor Ebner Moll ansah, Moll den Professor. Traunstein beobachtete beide. Manon hatte die Augen geschlossen und döste so vor sich hin. Die Maar blickte beinahe siegessicher und mit hoch erhobenem Haupt zu Sybilla Trinks hinüber, während Irene Hase unentwegt in ihren kleinen, rosafarbenen Schminkspiegel starrte. Fräulein Trixi sah unruhig von einem zum anderen und verstand die Welt nicht mehr. Von draußen hörte man eine Nachtigall schlagen und von weiter her ein Käuzchen rufen. Unüberhörbar – die Pendeluhr.
Der Kommissar sah auf seine eigene Uhr und seufzte. Aber seine Gedanken waren schon wieder ganz wo anders, denn schließlich war er ja hier nicht zur Kur. Er ging auf Manon zu. „Schlafen Sie schon, junger Mann?“, fragte er. Manon, aus seinem kurzen Nickerchen gerissen, stammelte ein „Nein, nein“. „Gut. Ich möchte von Ihnen noch etwas wissen. Haben Sie jemals mit Herrn Rabitsch gesprochen? So – Belangloses, muss gar nicht wichtig gewesen sein?“ Manon fuhr sich mit den Fingern durch sein dichtes, dunkles Haar. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Dann dachte er an den Vortrag, den ihm Rabitsch gehalten hatte. Er zögerte noch. „Haben Sie, oder haben Sie nicht?“, fragte Braumüller erbarmungslos. „Herr Rabitsch hat schon …“ „Was?“, fragte der Kommissar ungeduldig. „Na, er hat mich – äh, er hat mir die Situation am Arbeitsmarkt erklärt.“
„Was waren Sie von Beruf?“, fragte der Kommissar Rabitsch. „Ich? Ich war Prokurist in einer Lebensmittelfirma.“ „Wie lange ist das her?“ „Ungefähr – zwanzig Jahre“, sagte Rabitsch. „Da sind Sie eigentlich weg vom Fenster, was?“, lachte Braumüller. „Wie kommen Sie in diese beratende Funktion, würde mich interessieren?“ Rabitsch war grantig, das sah man ihm an. „Nun, ich lese Zeitung“, sagte er, ohne seinen Ärger zu verheimlichen. „Zeitung lesen Sie? Glauben Sie, dass Ihnen das die notwendige Legitimation gewährt, Arbeitsmarktberichte abzugeben?“, grinste der Kommissar. Die anderen schmunzelten. „Was hat er noch gesagt?“, erkundigte sich Braumüller bei Manon. „Ja, irgendwie hat er gemeint, dass die jungen Leute heutzutage nichts mehr angreifen wollen, und gleich viel Geld verdienen wollen und so. Und er hat auch gesagt, dass er und Frau Maar die Sonne und das Meer lieben.

Das war alles.“ Braumüller zog eine Zigarette aus der Packung, zündete sie an, und blies den Rauch in kleinen Wölkchen vor sich her. „Wer nicht, Herrschaften, wer nicht, was?“, meinte er. „Aber leider, heute sind wir hier, und nicht in – Bibione! Dorthin fahren Sie ja so gerne, Herr – Rabitsch?“ Braumüller hob die Brauen und sah Rabitsch scharf an. „Das soll ja nicht gerade gratis sein, wie ich immer höre. Unsereiner kann sich das nicht leisten“, sagte er mit leiser Stimme. „Mit einer kleinen Rente ist das überdies nicht möglich. Darf ich fragen, wer Ihre Reisen zu finanzieren pflegt?“
Rabitsch begann sich aufzuplustern wie ein Truthahn. „Ich glaube nicht, dass das für Sie von Belang ist“, meinte erbost. „Oh doch, lieber Herr, das ist sehr wohl von Belang für mich. Frau Maar, bezahlen Sie das, wenn ich so frei sein darf?“, wandte er sich an die Geliebte Rabitschs. Sie wurde rot wie eine Tomate. „Nein. Ja, natürlich. Also, halb halb“, stotterte sie. „Hervorragend, das war wieder eine Antwort! Darf ich es mir jetzt aussuchen, wie die Sache liegt, oder was?“
Jetzt setzte sich Rabitsch in Position. „Natürlich bezahle ich das, das ist doch selbstverständlich.“ „Sie sind ja schließlich der Gentleman, ich verstehe. Die Rechnungen hier in der Pension bezahlt alle Ihre Gattin, soweit ich das in der kurzen Zeit feststellen konnte. Sie sind also von ihr eingeladen, wenn ich das richtig verstehe, oder?“ Rabitsch zerknüllte nur sein Taschentuch mit den Buchstaben B.R. „Ich habe geerbt“, sagte er plötzlich. „Schön für Sie. Und von wem, wenn man fragen darf?“
„Dürfen Sie nicht!“, sagte Rabitsch schlagfertig. „Gut! Ich habe in Ihrem Zimmer eine Dokumentenmappe gefunden. Darin befindet sich unter anderem auch ein Testament Ihrer Gattin.“ Rabitsch wurde noch eine Stufe blasser.
Die anderen hoben ruckartig ihre Köpfe. Professor Ebner wollte schon seine Hand heben, ließ sie aber wieder sinken. „Haben Sie dazu eine Order?“, fragte Rabitsch erbost. „Ich brauche keine Order. In so einem Fall darf ich alles, beinahe alles“, brummte Braumüller. „Ich habe in dieser Mappe hochinteressante Dinge entdeckt, Herr – Rabitsch!“, fuhr der Kommissar fort. „Und welche, wenn erlaubt ist, zu fragen?“, zischte er. „Nun, Sie sind darin beispielsweise in einer Ablebensversicherung als Universalerbe eingesetzt, Herr Rabitsch!“
Dieser Satz fuhr wie ein Donnerschlag in die Runde ein. Rabitsch war aufgesprungen. „Was wollen Sie damit sagen?“, fragte er ganz langsam, gepresst. Alle anderen redeten heftig aufeinander ein. Der Kommissar schien den allgemeinen Aufruhr aufs Höchste zu genießen und sog genüsslich an seiner Zigarette, die beinahe schon bis zum Filter glühte. „Was, zum Donnerwetter, soll das? Was bezwecken Sie mit dieser Bemerkung? Wollen Sie mich hier als – Mörder bloßstellen, wie? Ich möchte sofort meinen Anwalt anrufen! Jetzt! Mitten in der Nacht! Das ist unerhört, was ich mir hier bieten lassen muss! Unerhört!“

Er ging jetzt aufgeregt auf und ab, zu aufgebracht, um seinen Platz beizubehalten. „Beruhigen Sie sich wieder, Herr Rabitsch. Ich habe doch gar nichts gesagt, außer, dass ich dieses Dokument vorgefunden habe. Sonst nichts! Was regen Sie sich denn so künstlich auf?“ „Soll ich nicht? Soll ich mich nicht aufregen? Sie legen mir ja förmlich in den Mund, dass ich es gewesen sein muss, oder etwa nicht? Jetzt haben Sie Ihr verdammtes Indiz! Jetzt haben Sie es gefunden! Darauf wollten Sie doch von Anfang an hinaus, nicht wahr?“
Braumüller dämpfte seelenruhig seine Zigarette im Aschenbecher aus. „Noch ist hier niemand schuldig gesprochen, ja? Stellen wir das einmal fest. Wie Sie sehen konnten, ist die Wirkung dieser Mitteilung nicht ganz unbemerkt geblieben“, meinte der Kommissar ostentativ. „Eine unerhörte Bloßstellung, das! In diesem Haus kann ich mich ja nicht mehr sehen lassen!“, tobte Rabitsch und zog an seiner Schalkrawatte, um sich etwas Luft zu verschaffen. „Nun verlieren Sie doch nicht gleich die Contenance“, riet ihm Graf Traunstein, „das ist ja unerträglich, welcher nervlichen Belastung man uns hier aussetzt. Schließlich sind wir allesamt nicht gesund und zur Rehabilitation hier. Ich würde sagen, man sollte dieses Verhör am Tage anberaumen, das muss man sich ja nicht gefallen lassen, nicht wahr?“
Da schien Kommissar Braumüller auf einmal etwas verunsichert, ob er nicht doch zu weit gegangen war. „Vielleicht haben Sie recht, Herr – Traunstein“, sagte er, „ich brauche nicht mehr lange. Morgen ist ja auch noch ein Tag, ja, Sie haben völlig recht.“ Er verschränkte seine Arme über dem Sakko mit den Lederflecken an den Ärmeln und schickte sich an, wieder seinen Marsch zu beginnen, hin zur Topfpalme, wieder zurück bis zum Sofa und so fort.

Die Anwesenden verdrehten enerviert die Augen. „Man bietet hier alle Arten von Massagen an, höre ich. Bäder, Moorbäder, Schönheitspackungen. Gesichts- und Körperbehandlungen oder – Vital-Pakete und so ein Zeug. Waren Sie schon einmal in der Gradieranlage?“, fragte Braumüller Rabitsch. „Was soll das jetzt? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?“, sagte dieser verunsichert. „Nur so. Ich wollte fragen, welche Art von Behandlungen Sie hier machen.“ „Keine“, antwortete Rabitsch kurz. „Warum nicht?“ „Weil ich nicht krank bin, deshalb. Ich bin mit meiner Gattin hierher gefahren, damit ich für sie …“. „Herr Rabitsch“, lächelte der Kommissar plötzlich, „Sie haben mit Ihrer Gattin doch hier gar nichts zu tun. Sie wohnen in einem anderen Zimmer, Sie gehen tagsüber ihre Wege und spielen des Nachts hier herunten Karten und geben sich dem Gesellschaftsleben hin. Wieso sind Sie nicht woanders hingefahren? Ihre Frau braucht Sie ja gar nicht?“
„Sie sind wirklich unverschämt“, sagte Rabitsch und wandte sich von ihm ab. „Ja, ja. Das ist so meine Natur. Gegenüber der Gradieranlage ist ein Reisebüro. Im Zimmer von Frau Maar liegen zwei Karten für eine Schiffsreise. Ich denke, es war eine Kreuzfahrt. So genau habe ich es nicht gelesen. Und wenn ich mich nicht getäuscht habe, dann fahren Sie morgen ab. Ist das richtig? Ihre Frau bleibt aber noch zwei Wochen. Allein, wie ich annehme? Oder?“ Rabitsch sagte nichts.

Linda Maar rieb sich die müden Augen mit den Fingern beider Hände. „Wann werden Sie fahren?“, fragte Braumüller, „es ist ziemlich weit bis Genua. Sie nehmen doch Ihr Auto, nicht wahr? Es ist noch kein Jahr alt. Hat Ihnen das Ihre Gattin zum Geburtstag geschenkt? Für das aufopfernde Verhalten ihr gegenüber?“, ätzte der Kommissar. „Pff!“, machte Rabitsch. „Also gut. Das gehört nicht hierher. Ich weise Sie allerdings darauf hin, dass Sie ab sofort den Ort nicht zu verlassen und sich alle zwei Stunden im Kommissariat zu melden haben. Ist das klar?“
Rabitsch kochte vor Wut. Aber er nickte zustimmend. Die Maar schluchzte einmal kurz auf.

Moll bemerkte ein anderes Plakat, ebenfalls in Türnähe. Die Jagd- und Naturausstellung wäre ab jetzt täglich geöffnet, oben, auf der Alm. Das könnte er morgen schaffen, nach dem Gang um den See. Wenn man doch endlich schlafen gehen könnte! Professor Ebner bat, austreten zu dürfen. Das kam dem Kommissar sehr gelegen und er ging gleich mit ihm. So trat eine Weile Ruhe ein im Salon. Rabitsch wich den Blicken der anderen unentwegt aus. Der Graf flüsterte etwas mit Frau Hase. Die Trinks gähnte gelangweilt vor sich hin. Die architektonische Pracht des postromantischen Salons begann unter der Müdigkeit seiner Betrachter immer mehr zu verblassen und die Faszination des von dunklen Holzbalken umgebenen Kamins schwand mit jedem Schlag der dominierenden Pendeluhr, die ihm den Rang abzulaufen begann.
Da betraten Ebner und der Kommissar wieder den Salon. Ebner setzte sich artig, erleichtert, als hätte er eben gebeichtet. Aber vielleicht war es auch nur wegen des Wasserlassens. Kommissar Braumüller stellte sich provozierend in die Mitte des Raumes, hüstelte ein wenig und griff dann in seine Rocktasche, um sich abermals eine Zigarette zu angeln und sie anzuzünden. „Frau – äh, Frau Trinks“, begann der Kommissar. Moll spitzte die Ohren. Hatte der Professor irgendetwas Dummes gesagt, da draußen? Das sähe ihm ähnlich, dachte er.

„Ich habe noch eine kleine Frage an Sie.“ Sybilla Trinks sah ihn erwartungsvoll an. „Finden Sie, dass es richtig ist, das Leben eines Menschen nicht um jeden Preis zu erhalten, oder sagen wir, zu verlängern, wenn beispielsweise – nehmen wir einmal an, ja? Wenn also beispielsweise der Leidenszustand des oder der Kranken nicht mehr, äh – behoben werden kann? Wenn das Leben zur Qual geworden ist, ja, nicht mehr lebenswert ist? Frau Trinks?“ Der Kommissar sah sie lange und ganz genau an. Sybilla Trinks verzog keine Miene. Sie dachte nach, was sie antworten sollte. Braumüller ließ ihr diesmal Zeit. Viel Zeit. Schließlich gab sie ihm folgende Antwort: „Wenn ich Sie recht verstehe, fragen Sie aus einer ganz bestimmten Absicht heraus?“ Der Kommissar nickte: „Ich frage stets in einer bestimmten Absicht, ja, das ist mein Beruf!“, sagte er. „Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass man ein so unlebenswertes Leben unter besonderen Umständen beenden könnte, wenn eine todkranke Person das so will, vorausgesetzt, dass sie im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte ist, so einen Schritt für sich selbst entscheiden zu können, ja!“, sagte sie entschlossen.
Moll wurde ganz schwach in den Beinen. Jetzt ist sie dran, dachte er! Sie muss verrückt geworden sein. Es gibt überhaupt keine Beweise dafür, dass sie … Wahnsinn, das alles! „Aha! Sie meinen also, Euthanasie hätte Berechtigung, lebensunwertem Leben aus Gründen des, äh, wie auch immer man es bezeichnet, nennen wir es – Mitleid – durch den Gnadentod zu – wie soll ich es ausdrücken – eben ein Ende zu bereiten. Ist das richtig?“ „Ja, durchaus. Könnte ich mir vorstellen. Wenn die Schmerzen unerträglich werden – ja ja, ich würde das für mich beanspruchen.“

Der Kommissar ging rascher auf und ab. Er kratzte sich jetzt einmal an seiner Glatze, dann wieder am Kinn. Er strich seinen Schnurrbart, um sich hinterher wieder an der Glatze zu kratzen. Seine Zigarette glimmte wie ein Hochofen. Die Anwesenden wurden unruhig. Die Augen des Professors glühten wie Kohlen und sein Mund schnitt eine Grimasse nach der anderen. Seine Zähne mahlten und er schwitzte auf seiner roten Stirn, als ob er in der Sauna säße. Graf Traunstein hatte sich aufgesetzt und vergaß beinahe, zu atmen.
Die Damen wischten ihre feuchten Hände in Servietten und Papiertaschentücher, während Manon blöde vor sich hingrinste. Fräulein Trixi aber verstand die Welt noch immer nicht und schüttelte ihr brünettes Köpfchen vor Verwunderung über das, was hier ablief. „Ist Ihnen bekannt, Frau Trinks, dass schon einmal in diesem, nein, im vorigen Jahrhundert im Zusammenhang mit unheilbar kranken Menschen von…“, er machte eine kleine Pause, „leeren Menschenhülsen und Ballastexistenzen die Rede war?“ Sybilla Trinks lachte kurz auf. „Nein, tut mir leid. So etwas hab‘ ich noch nie gehört, ehrlich!“ Dann lachte sie abermals. „Sollten Sie aber, Verehrteste, sollten Sie aber!“

„Wie meinen Sie das?“, fragte sie naiv. „Damals war davon die Rede, man müsse solche Menschen abstoßen, wie verfaulte Organismen, und das war nicht nur gegen verblödete Kinder gerichtet, oder Psychopathen, durchaus nicht. Man hatte daran gedacht, nicht nur alle möglichen Geisteskrankheiten auszurotten – durch Euthanasie –, sondern auch anderen Erbkrankheiten auf diese Weise den Garaus zu machen.“ Er blickte mit zusammengekniffenen Augen in die Runde.
„Jetzt gehen Sie aber wirklich zu weit!“, rief der Graf erbost, „was fällt Ihnen ein, solche Assoziationen zwischen diesen ekelhaften Dingen und Frau Trinks herzustellen? Wer glauben Sie, dass Sie sind?“ Der Graf war außer sich.
„Bleiben S‘ ruhig, Herr Traunstein. Ich stelle wie immer nur Dinge in den Raum, die für mich durchaus relevant sind – in meinen Überlegungen, wenn Sie verstehen, was ich meine?“ Traunstein hatte sich wieder Irene Hase zugewandt und flüsterte ihr abermals etwas ins Ohr. „Wenn Sie was zu sagen haben, Herr Traunstein, dann tun Sie es laut, damit wir alle was davon haben, ja?“, ermahnte Braumüller den Grafen. „Ist nicht von Belang für Sie!“, antwortete Traunstein trotzig. „Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, Frau Trinks, stellen Sie sich vor, das macht Schule! Die Billigung einer Art Gnadentod-Aktion, z z z , stellen Sie sich das alle einmal vor, Herrschaften. Ja, wo kämen wir denn da hin? Wer sollte denn das entscheiden, wann so etwas legitim ist? Haben Sie sich das schon einmal gefragt? Ganz zu schweigen davon, dass sich jeder Dahergelaufene dazu berufen fühlen könnte, so einem Wunsch auf eigene Faust nachzukommen, oder etwa nicht, Frau Trinks?“
Syblla Trinks legte ihre linke Hand auf die Brust und atmete schwer. „Wie reden Sie denn mit mir?“, fauchte sie den Kommissar an, „oder – halten Sie mich etwa für die…“. „Ich habe mit keinem Wort angedeutet, dass ich Sie in irgendeiner Form belasten würde. Ich habe lediglich versucht, Ihnen ein Beispiel zu nennen. Was den Tod von Frau Rabitsch betrifft, so habe ich hier meine eigene Theorie und ich werde sie Ihnen bekannt geben, sobald ich meine Befragung für beendet erklärt habe. Punktum!“
Frau Trinks lehnte sich empört zurück. „Ich werde Ihre Fragen nicht mehr beantworten!“, sagte sie entschlossen und warf ihren Kopf stolz in den Nacken. „Bitte, kann ich Ihnen nicht verübeln. Sie haben das Recht als Zeuge, die Auskunft über solche Fragen zu verweigern, wenn Sie der Auffassung sind, deren Beantwortung könnte für Sie die Gefahr einer Strafverfolgung in sich bergen. Gestehe ich Ihnen zu. Ich mache Sie aber darauf aufmerksam“, und der Kommissar hob die rechte Hand und streckte seinen Zeigefinger senkrecht empor, „dass Sie dazu verpflichtet sind, den ordnungsgemäßen Ablauf dieser Befragung hier, der für den späteren Beweis der Wahrheitsfindung erforderlich ist, nach bestem Wissen und Gewissen zu unterstützen und über Ihre konkreten Wahrnehmungen bezüglich diverser vergangener Tatbestände und Zustände, und darauf lege ich besonderen Wert, Zustände!“, er wiederholte dieses Wort langsam und mit besonderem Nachdruck, „Zeugnis ablegen. Ist Ihnen das klar, Frau Trinks?“
Sybilla Trinks sagte nichts. „Gut“, begnügte sich Braumüller vorläufig damit, „werde ich meine Gedanken eben alleine weiterspinnen und dabei hoffen, einigermaßen Ihrem Geschmack zu entsprechen“, setzte er zynisch hinzu. „Übrigens wollte ich vorhin noch ergänzen, dass sich damals Ärzte, die Kirche und vor allen Dingen die Juristen absolut dagegen ausgesprochen haben. Und, Frau Trinks, glauben Sie mir, das würde heute nicht anders sein. Es kann niemand von uns auf diese Weise über Leben und Tod entscheiden, das sollten Sie sich einprägen. Haben Sie gehört? Sich einprägen – einprägen!“

Moll war, als verhallten die Worte des Kommissars wie ein Echo. Er meinte, geschlafen zu haben, und – plötzlich erwacht zu sein, dann aber wieder – aber nein, da waren sie ja alle, der Graf, die Maar und die Hase, Manon, Fräulein Trixi, und dieser entsetzliche Kommissar, der ständig vor ihnen auf und ab lief, zum Greifen nahe, alle, wie sie lebten.
„Und noch etwas, Frau Trinks, nach dem Krieg hat es zahlreiche Prozesse gegeben, zahlreiche, sag ich Ihnen, in denen sowohl Ärzte als auch das Pflegepersonal einiger Heilanstalten, welche für die Tötungen maßgeblich beteiligt waren, zur Verantwortung gezogen worden sind. Haben Sie das gewusst?“
Doch Sybilla Trinks blickte nur demonstrativ zur Decke hoch. Als ob sie das Fries betrachtete, dachte Moll, und er bekam wieder diese Angst, eine unsägliche Angst vor dem nächsten Tag, an dem er sich wieder selbst ertragen musste, solange, bis ihn am Abend endlich der Schlaf überwältigte und in eine andere Welt hinübertrug, in eine, in der er sich nicht mehr selbst zur Last fiel und von sich erholen konnte.

Aber der Kommissar ging noch immer auf und ab und rauchte in einem fort. Professor Ebner hingegen schien gar nicht zufrieden zu sein mit dem Ergebnis der letzten Befragung von Trinks durch den Kommissar, und Moll quälten die Gedanken zu Tode, worüber dieser entsetzliche Schulmensch wohl mit ihm gesprochen haben mochte? Es musste irgendwo einen Schlüssel in die Vergangenheit geben, ja, ganz offensichtlich, die in Molls Gegenwart eine wichtige Rolle zu spielen schien, eine Art Mythologie, die sich in seinem Inneren abzuspielen anschickte, ausgehend von einem wichtigen Ereignis, dessen er sich augenblicklich nicht zu entsinnen vermochte, ob es im Zusammenhang zu seiner momentanen individuellen Entwicklung stünde, gar aus einem Bedürfnis heraus, einem unerfüllten Wunschdenken vielleicht, dessen Ursachen er sich nicht erklären konnte. Aber eines spürte er, dass es sich aus einer konflikthaften Anregung um das Tagesgeschehen handeln musste, von der er meinte, dass sie sich ihm bewusst darstellte und er all diese Verdrängungen, die damit in unmittelbarem Zusammenhang standen, auf irgendeine Weise gelöst haben wollte. Die Geschehnisse des Tages und diese – diese Reize der Vergangenheit, waren nicht identisch mit dem, was ihm hier widerfuhr, dachte er.
Er konnte mit der Person dieses Kommissars nichts anfangen. Und Moll bemühte sich, dessen Gesicht zu erkennen, was ihm nicht gelingen wollte. Einmal meinte er, kurz jenes eines guten Freundes in ihm zu sehen, dann wiederum eine Figur aus einem Film, ja, aus irgendeinem Film wahrscheinlich. Diese Schranke zur bewussten Wahrnehmung konnte und konnte er in diesem Fall nicht überschreiten, aber andererseits war ihm, als würde ihm alles Unbewusste von einer fremden Macht aus dem Bewussten entzogen. Für Moll hatte alles Wahrheitsgehalt, was hier vor sich ging, keine Frage. Nichts kam ihm dabei wirr oder unzusammenhängend vor, oder gar widersprüchlich, auch wenn die Person des Kommissars durch eine andere Person ersetzt schien, für Augenblicke zumindest.
Die Zeugeneinvernahme lief vor seinen Augen ab wie eine Art Halluzination, in der er gewissermaßen die Wunscherfüllung sah, aber wessen? Das war doch nicht sein Wunsch, dass jemand Sybilla Trinks derart belastete? Er bangte um sie, obwohl er nichts mehr für sie empfinden konnte, sie nicht mehr fühlte und merkwürdigerweise sich selbst auch nicht. Doch löste dieses Verhör des Kommissars in ihm eine weitere Angst aus, anders als jene, sich vor sich selbst zu Tode zu langweilen, nein, es war eine Angst vor dem Unbewussten, welches Gefahr lief, in seine Wahrnehmung der eigenen Wirklichkeit einzudringen.
Moll diagnostizierte eine verstärkte Gehirntätigkeit, tatsächlich, dieser Fall beschäftigte ihn unverhältnismäßig heftig, und er fühlte eine unglaubliche Aktivität seiner Augäpfel, was ihm sonderbar vorkam. Eine Halluzination – kam es ihm nochmals in den Sinn – sollte es ihm möglich sein, eine derart anschauliche Vorstellung von etwas zu haben, ohne entsprechenden Sinnesreiz, wie beim Übergang vom Wachsein in den Schlaf, oder umgekehrt, wie es von jedem erlebt werden konnte? Eine Vorstufe zum Delirium tremens etwa, oder zu manisch depressivem Irresein? Aber nein – da waren ja alle wieder – vollzählig – wie ihm vorkam.

Der Kommissar war da. Ging auf und ab, die ganze Zeit über. „Wenn ich nun zu dem Schluss kommen würde, Frau Trinks, dass Sie, als Vertraute – als einzige Vertraute hier im Hause, in einer Stellung, und ich wage zu behaupten, eine, die nicht einmal ihr Gatte Herr Rabitsch eingenommen hatte – Frau Gertrude Rabitsch einen Wunsch erfüllt hätten? Einen unerfüllbaren Wunsch – nämlich den, die unglückselige Frau Rabitsch von ihrer entsetzlichen Atemnot zu befreien – für immer, Frau Trinks! Was würden Sie mir da zur Antwort geben?“ Sybilla Trinks war blass geworden, sehr blass. Norman Moll wollte von seinem Sessel aufspringen, konnte sich aber nicht bewegen, um diesem Kommissar an die Gurgel zu fahren, es war ihm völlig unmöglich, seine Hand gegen ihn zu erheben, so als ob er gelähmt wäre.
Sybilla Trinks bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. Der Kommissar schritt hoch erhobenen Hauptes auf und ab. Er schien sich seiner Sache nun völlig sicher. Bodo Rabitsch schlug das Herz bis zum Halse. Er war in seinem Sessel die ganze Zeit tiefer und tiefer nach unten gerutscht, und saß schon mehr auf der Lendenwirbelsäule als auf seinem Gesäß. Sollte nicht Rabitsch…?

Moll verstand nichts mehr. Rabitsch war doch das Rabenaas. Wieso die Trinks? Von Anfang an spielte für ihn nur dieser aufgeblasene Kerl die Rolle des Bösewichts. Und nun sollte die Gute die Böse sein? Moll warf sich hin und her und er geriet zunehmend in einen inneren Konflikt, nicht mehr unterscheiden zu können zwischen dem, was nunmehr Ordnung war, was Traum, Chaos oder Wirklichkeit hätte sein sollen. Er war nicht mehr dazu in der Lage, sich durch die Vorstellung sinnvoller Nachfolgebeziehungen vorzustellen, was ablief. Er hatte sich erwartet, dass durch das Verhör diejenigen Personen in ihren wesentlichen Merkmalen zusammengefasst würden, die tatsächlich für die Durchführung jener schrecklichen Tat verantwortlich gemacht werden konnten.
Aber doch nicht Sybilla Trinks! Aber – so viele kämen eigentlich gar nicht infrage, kam ihm in den Sinn. Ordnung schaffen musste man! Gemeinsame Merkmale suchen, die den Täterkreis auf ein Minimum der Infragekommenden schrumpfen und dadurch selektionsfähig machen würde, und diesen an gemeinsamen Charaktereigenschaften festmachen und zuletzt eben …

Und Moll suchte verzweifelt nach den Ursachen für den furchtbaren Irrtum Braumüllers, sie dem Chaos – jenem universalen Gähnen dieser Welt – zuzuordnen, so, wie es von der griechischen Wortbedeutung abgeleitet worden war, was Martin Luther mit Wirrwarr, mit der Unordnung bezeichnet hatte, und er fand einen unermesslichen Raum um sich vor, einen Raum, der vor allen Dingen gewesen schien und vor dessen Existenz der Mythos regiert hatte, form- und gesetzloser Urzustand des Tohu-wa-bohu.
Nur der Geist wäre jetzt dazu befähigt, die Logik der Regelmäßigkeit und vor allem der Gerechtigkeit zu erkennen, jenen Punkt, an dem die Naturphilosophen die göttliche Schöpferkraft erwarteten, wenn schon die Wirklichkeit nicht erklärbar war. Und er war überzeugt davon, der Kommissar irrte, irrte deshalb, weil er die Differenz zwischen dem Subjekt Bodo Rabitsch und der unschuldigen Sybilla Trinks nicht erkennend, für ihn, Norman Moll, zumindest, verarbeiten konnte.

Doch hier ging es um mehr als nur um die naive und sentimentale Aufklärung eines dubiosen Mordfalles. Das Erstellen eines naturalistischen Täterprofils, so wie es sich Braumüller vorstellte, als Kopie einer Wirklichkeit, wie sie diesem genehm gewesen wäre, entbehrte jeglicher realistischen Gestaltung, zwar wirklichkeitstreu und den natürlichen Tatsachen eines solchen Rechnung tragend, jedoch – wo blieb die Kunst des Urteils über die gesellschaftlichen und seelischen Befindlichkeiten jener unverwechselbaren Sybilla Trinks?
Moll erschrak. Hatte er sie jetzt eben selbst kriminalisiert? War das ein unbewusstes Zugeständnis an Braumüller, diesen kriminalistischen Dilettanten? Es pochte und hämmerte in ihm wie verrückt und aus dem Stimmengewirr, das an seine Ohren drang, vernahm er die Worte: „Sie haben die Pflicht, als Zeuge in einem Verhör auszusagen und die Richtigkeit Ihrer Aussage zu beeiden. Dem kann sich niemand entziehen, auch Sie nicht, Frau Trinks!
Es ist meine Pflicht, verehrte Anwesende, hier und jetzt im Mordfall Gertrude Rabitsch die objektive Wahrheit zu ergründen und es steht mir jederzeit zu, auch Zeugen anzuhören, deren Vernehmung von niemandem sonst beantragt wurde außer von mir, und wiederum nur von mir! Ich habe bisher auf Ihre eidesstattlichen Aussagen verzichtet, und zwar aus guten Gründen, die ich hier nicht nennen möchte.“

Moll versuchte sich, dem ohrenbetäubenden Schall dieser ihm völlig unbekannten Stimme zu entziehen, da blieb es auch schon still um ihn. Nur sein Herz hörte er pochen, nicht regelmäßig, eher hinkend, eins, zwei, drei, dann nichts, dann eine doppelter Schlag, und das Atmen fiel ihm schwer, das Atmen, und er versuchte sich vorzustellen, wie Frau Rabitsch unter dem Polster, Todesängsten ausgesetzt, es konnte unmöglich ihr Wunsch gewesen sein … auf diese Weise … ums Weiterleben gekämpft haben musste.
Und unmöglich, dass Sybilla Trinks – völlig ausgeschlossen, dass eine Frau wie sie auf so entsetzliche Weise… nein und noch einmal nein! Auf der Ebene fünf des Wiener AKH hatte er selbst das Notfallspraktikum absolviert, im ersten Semester seines später abgebrochenen Medizinstudiums, als ein Assistent erschienen war, sich auf das Katheder setzte und genüsslich, so, als ob es um die Erzählung eines Rezeptes für die Herstellung eines Apfelstrudels gegangen wäre, erklärt hatte: „Herrschaften, heute lernen wir über das Erwürgen und Erdrosseln. Stellen Sie sich vor, Sie möchten jemanden erwürgen, dann kann ich Ihnen gleich sagen, das ist ein mühseliges Unterfangen. Wie würden Sie es anstellen? Mit bloßen Händen? Also, davon würde ich abraten. Sie haben nicht die Kraft dazu! Mit einer Drahtschlinge gelingt das schon eher, glauben Sie mir, ich empfehle eine Drahtschlinge! Aber, damit allein ist es noch nicht getan. Sobald Sie nämlich beginnen, diese zuzuziehen, nutzen Sie die Hebelwirkung. Man benötigt einen Gegenstand, um die Schlinge zusammenziehen zu können, einen Schraubenzieher oder was eben greifbar ist, Sie verstehen?
Also, drehen Sie das Opfer weg von sich. Es ist furchtbar, mitanzusehen, wie nach und nach die Augen aus den Höhlen quellen, ein Blutsprühregen wird sich über Sie ergießen, also, nein, das ist alles unappetitlich! Drehen Sie das Opfer von sich weg, kann ich Ihnen nur dringend empfehlen.“ Einige Studentinnen und Studenten in den ersten Reihen waren blass geworden. Der Assistent fuhr fort. „Sehen Sie, der Atmungsapparat ist die Kontaktstelle zwischen Blut und Luft. Im Inneren des Körpers ist eine Stelle vorhanden, an der die Blutgefäße engsten Kontakt zur Luft bekommen, aus der sie den Sauerstoff entnehmen.
Übrigens wird dort auch Kohlendioxyd abgegeben. Also, die Lungen besorgen den Gastransport, klar? Und die Lunge ist auch der eigentliche Ort, an dem Sauerstoff aufgenommen und Kohlendioxyd abgegeben wird. Sie werden verstehen, dass die Luftwege aus ganz bestimmten Gründen relativ starrwandig sein müssen, damit sie nicht so leicht abgedrückt werden können.“

Der Assistent lachte. „Und schließlich gibt es auch noch Verstärkungen, zum Beispiel durch die Knorpelringe der Luftröhre. Genau dort müssen Sie natürlich stärker zudrücken, wenn Sie zu einem zielführenden Ergebnis kommen wollen.“ Er lachte abermals. „Wenn Sie also entsprechend lange und fest zugedrückt haben, dann platzen die Bläschen in der Lunge. Und das gibt dann einen feinen Sprühregen, der eben durch die Nase austritt. Und wenn Sie Ihr Opfer also dummerweise nicht von sich weggedreht haben, dann schauen Sie schön aus, was?“ Einige Studenten hatten nur dumm gelacht. Die meisten anderen aber hatten das gar nicht lustig gefunden.
Auch Norman Moll nicht, und er erinnerte sich, dass er sich fürchterlich darüber geärgert hatte, über die fehlende Ethik dieses dozierenden Kurpfuschers und daran, dass man solchen Leuten irgendwann einmal völlig ausgeliefert sein würde. Und wenn es auch nur ein Polster gewesen sein sollte, ließ Moll die Vorstellung über den Erstickungstod Frau Rabitschs die kalten Schauer über den Rücken laufen.

Norman Moll suchte indessen erneut, beinahe fieberhaft, nach jenem Schlüssel in die Vergangenheit, welcher ihn in die Gegenwart zurückführen sollte, um diesen unerträglichen Zustand so rasch wie möglich zu beenden. Das Gesicht des Kommissars war jetzt wieder verschwommen, die Konturen seiner Gestalt diffus und Moll meinte, er wäre für kurze Zeit unsichtbar, aber – nein, da war er ja wieder, strich seinen Schnurrbart und kratzte sich – diesmal am Kinn. Jetzt aber kam ihm die ganze Sache doch etwas wirr und unzusammenhängend vor, ja, sogar widersprüchlich, vor allem in den Hypothesen Braumüllers, nun eine bereits abgelegte Variante erneut auszubauen und zu erhärten.
Obwohl – diese kam ihm gelegener als jene, welche Sybilla Trinks belastet hatte, richtete sie sich doch gegen Rabitsch, und damit auch gegen alles, was dieser für ihn repräsentierte, Autorität, in gewissem Sinne auch Macht und irgendwie die unterschwellige Angst, diesem Menschen, worin auch immer, unterlegen zu sein.

Frau Maar verfiel zusehends und Bodo Rabitsch versuchte verzweifelt, ihr durch übertriebene Gestik irgendwelche Botschaften zu vermitteln, die sie nicht entschlüsseln konnte. Es war für alle das Bild einer Welt entstanden, die ihre Vergänglichkeit in den verzweifelten Handlungen eines Menschen widerspiegelte, der offenbar versucht hatte, sein kümmerliches Leben, und damit auch seine Haut, auf eigene Art und Weise zu retten, indem er, in falschem Glauben gehandelt, noch einen allerletzten Vorteil für sich herauszuschinden gedachte, jenen der absoluten materiellen Unabhängigkeit etwa?
Dieser Mann hatte doch bereits alles? Mehr noch, denn er hatte sich mit der Liaison zu Linda Maar Freiräume geschaffen, die normalerweise streng tabu waren in einer Gesellschaft, die er repräsentierte, und sonst üblicherweise klammheimlich passierten. Aber so?
Rabitsch hatte sich nicht einmal bemüht, die Sache mit der Maar auch nur irgendwie zu verbergen. Mit über siebzig war an sich so ziemlich alles gelaufen, sollte man meinen. Aber es war doch nicht genug, wie hier festgestellt worden war. Immerhin bezog er eine kleine Pension, seine Gattin war nicht gerade arm, und er hatte überdies auch noch den einen oder anderen Besitz veräußert, um seinen Lebensstandard zu erhöhen.
Welche Rolle konnte da noch eine ausbezahlte Lebensversicherung spielen? Rabitschs Mercedes war neu, er konnte auch nicht mehr essen, als er vertrug, noch mehr reisen, vielleicht? Und trotzdem schien Norman Moll die ganze Angelegenheit eher unglaubwürdig. So ein Mensch war er nicht, dieser Rabitsch, dass er einen Mord begehen könnte! Anstatt seine Pension zu genießen… Moll erinnerte sich, als er ihn gefragt hatte, ob er selber schon in Pension wäre. Als ob das heutzutage so leicht ginge, ärgerte er sich.
In seinem Alter musste man mit dem Kopf unterm Arm vorweisen, dass man zu nichts mehr taugte. Die verschwenderischen Jahre des Wirtschaftswunders waren eindeutig vorüber und der konservative Flügel der letzten Legislatur hatte dem Frührentnertum ein für alle Mal das Handwerk gelegt. Was wäre überhaupt passiert, wenn Fräulein Anna noch einmal bei Gertrude Rabitsch vorbeigeschaut hätte? Sie hatte tagsüber ja auch des Öfteren nach ihr gesehen. Vielleicht könnte Frau Rabitsch noch am Leben sein? Und schließlich war Fräulein Anna auch ausgebildete Krankenschwester und Pflegerin.

Ja, dachte Moll, nachsehen hätte man sollen – einen Hilferuf loslassen – den rettenden Hilferuf – vielleicht war sie nur bewusstlos gewesen, anfangs – man hätte den Puls fühlen können, ob noch Leben in ihr war – dann hätte alles ganz rasch gehen müssen: Das Festlegen des Herzmassagepunktes – vom Sternum aus, drei bis fünf Zentimeter am Brustbein nach oben – Massagefrequenz sechzig bis achtzigmal pro Minute – ihre Rippenansätze würden gekracht haben – Serienbrüche wären in diesem Alter unvermeidbar gewesen – schmerzhaft zwar, aber wenn es der Sache diente – nein, dem Leben! Und sofort wieder Puls fühlen – zwei Atemstöße – Carotis, am besten beidseitig ertasten – Thoraxkontrolle, ob er sich hebt und senkt – nach der Carotis tasten – Zirkulation? Keine! Kreislauf weg – also los! Fünfzehn zu zwei! Fünfzehnmal Luft einblasen – zweimal Massage – Vorsicht! Nicht ruckartig – krachen tut es immer – nach dem ersten Zyklus sollte sie erwachen – dann stabile Seitenlage – der Assistent!
Mein Gott! Der Assistent fiel ihm ein! Würgen ist schlecht, hatte der gesagt, zu anstrengend! Besser erdrosseln! Das Gesicht schwillt an! Blutverblasungen! Das freut den Gerichtsmediziner, wenn der Erwürgte krampft! Im Affekt erwürgen ist nicht möglich, hat er noch gesagt! Dafür dauert es zu lange! Das sind sechs bis neun Minuten schwere Arbeit – hat er gemeint.

Moll zuckte mit den Augenlidern. Langsam wird die Hautfarbe rosiger – die Pupillen verkleinern sich – es wäre ein Fehler, den Thorax auf zu weicher Unterlage zu betten – man hätte sie aus dem Bett nehmen müssen – auf den harten Boden legen – hätte, hätte! Und wenn es nun doch ein Asthmaanfall gewesen war? Hervorgerufen durch eine plötzliche Schwellung der Bronchialschleimhaut – in Verbindung mit einem Spasmus der Bronchialmuskulatur? Einhergehend mit Sekreteindickung? Grund genug hätte sie ja gehabt, für eine psychische Aufregung, wegen ihrem Mann und der Maar natürlich! Das konnte ihm niemand weismachen, dass sie die ganze Situation kalt gelassen hätte!
Niemanden lässt so etwas kalt, dachte Moll. Und in der Angst ihrer Hyperaktivität hatte sie vielleicht selbst einen Polster über ihr Gesicht gelegt, zu sich her gedrückt – vor Verzweiflung gar? Und ist erstickt? Aber sicher nicht am Gewicht des Polsters! Er könnte nicht mehr an diesem Zimmer vorbeigehen, sagte er sich. Zu schwer lastete der Tod Gertrude Rabitschs auf seiner Brust. Norman Moll war irgendwie unruhig geworden.
Er war davon überzeugt, dass Getrude Rabitsch auferstehen würde, oder zumindest nicht ganz verschwunden war. Die Tote war gegenwärtig, das spürte er, und sie würde es auch sein, wenn ihr Bodo sich des Nachts der drallen Linda näherte, oder auch in den Träumen ihres Gatten. In diesen Augenblicken zweifelte Norman Moll nicht an der Existenz des Jenseits und er war davon überzeugt, dass nichts aufhörte, so plötzlich, was jemals am Leben war, und dass es sich in alle Ewigkeit fortsetzte, irgendwie. Die Erwartung des Weltendes, Bestandteil irdischen Seins, fixe Vision in Molls Denken, würde Klarheit darüber bringen und ein Tag würde der letzte sein, dann würde eine unvorstellbare, eine ewige und unendliche Zeit anbrechen.

Und es käme zum Gericht, so hatte der Kaplan es damals erklärt, und diese Erklärung war aus seinem kindlichen Gemüt nicht mehr auszulöschen gewesen. Dann würde die Wahrheit ans Licht kommen mit diesem Rabitsch, und schon malte er sich die Höllenqualen aus, die jenem erwachsen müssten, verschlungen vom weit aufgerissenen Schlund der ewigen Verdammnis, durch den Kamin des Kraters Ätna zum Beispiel, in dessen Innerem er von den ewigen Flammen gepeinigt und mit unvorstellbaren Folterinstrumenten misshandelt werden würde. Aber was, wenn Frau Rabitsch nun doch eines natürlichen Todes gestorben war?
Moll erlebte ganz plötzlich das Versetztwerden auf irgendwie außernatürliche Weise in einen anderen Raum, der ihm unbekannt war, den er hätte beschreiben können, dessen Inhalt er erleben konnte, als ob in ihm eine außerirdische Macht agierte. Ein Zustand der Ekstase, des Traumes, der Vision extra corpus, wie er meinte, denn er konnte sich selbst dabei beobachten. Ein Erlebnis, in dem er den normalen Bewusstseinsstrom unterbrochen, unterbunden glaubte, quasi den Sinnen entschritten!
Er durchwandelte das Stiegenhaus der Villa Langstein, am roten Sisal, einen irdischen Raum, durchaus nicht eschatologischer Natur, nein, ganz profan. Sogar die Bilder am Stiegenaufgang waren dieselben wie er sie schon einmal gesehen hatte, im vollen Bewusstsein des Tages, wie er meinte. Frau Rabitsch, die er nie zuvor gesehen hatte, stand an der obersten Treppe und winkte ihm zu, durchsichtig, blass, von wehendem Seidenstoff umhüllt.

Moll warf sich herum. Die letzten Zweifel an der Existenz des Jenseits schienen für ihn beseitigt und er fühlte Gänsehaut am ganzen Körper, die Härchen an Armen und Beinen stellten sich ihm steil auf und er wurde von einem heftigen Schüttelfrost geplagt. Der Tod, dachte er, ist nur ein Übergang, obwohl störend, weil bedrohlich. Er versuchte, sich gegen diese Vision zu wehren und in dem krampfhaften Suchen nach einer Welt des goldenen Moments, in dem die Triebkraft des Augenblicks dominierte, flüchtete er in wirren Gedanken wieder zurück ins Leben, aus den Albträumen von gestern in eine Welt, zurück zur Sinnlichkeit der „Lust auf mehr“, in eine Gastronomie des Herzens, um rasch im Geiste all die kultigen Treffpunkte, die ihm in der Eile einfielen, zu frequentieren, die angesagtesten Hotspots seiner Lieblingsstadt zu durchstreifen, um so schnell wie möglich diesem Horror zu entfliehen. Nur noch peripher, am Rande dieser Kulisse dieses Schauspiels des Todes, empfand er Gertrude Rabitschs Tod als Überschreitung, die ihn dem Alltagsleben und seiner verstandesgeprägten Gemeinschaft, wie auch seinen Erinnerungen und Phantasien, jäh entrissen, und den Banalitäten Kommissars Braumüllers, wie auch dessen endlosen und höchst peinlichen Verhören, hoffnungslos ausgeliefert hatte.

Ist Sterben denn eine Belohnung?, fragte er sich benommen. War der Tod das Glück?, als er mit seinen Beinen an etwas Hartes stieß. Instinktiv zog er die Füße zu sich heran. Irgendetwas drückte ihn im Bereich seines Bauchnabels, etwas wie ein Gürtel. Er wälzte sich unruhig hin und her und öffnete plötzlich die Augen. Es war mit einem Male Tag geworden. Ja, er konnte die Sonnenstrahlen auf seinem Bett sehen. Und er lag da, im dunklen Sakko, samt den Stiefletten, die er am Abend noch getragen hatte.
Entsetzt setzte er sich auf und rieb seine Augen. Wie war er hierhergekommen, aus dem Salon so plötzlich…? Er sprang aus dem Bett, vergaß seine entsetzlichen Rückenschmerzen, eilte zur Tür und riss sie auf. Sie war nicht versperrt gewesen.
Auf dem Flur stand Fräulein Trixi, eben im Begriff, den Staubsauger zu betätigen, um den roten Sisalteppich zu saugen. „Einen schönen guten Morgen“, lächelte sie, als ob nichts … „Morgen! Wo ist Frau Rabitsch?“, stotterte Moll. „Behandlungen! Schon seit sieben, wie immer“, wunderte sich Fräulein Trixi. Moll traten die Schweißperlen auf die Stirn. „Haben Sie vielleicht schlecht geschlafen?“, fragte sie mitleidig. Moll sah sie lange an. „Nein. Nein nein“, hauchte er, und schloss langsam die Tür zu seinem Zimmer, ganz langsam, völlig geräuschlos.

Norbert Johannes Prenner

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Die Krise 2 – Der Bürokrat

Ja, in Krisenzeiten hätte kritische Kunst vielleicht wieder so etwas wie Konjunktur erlangt. Vielleicht, könnte sein, meinte der Bürgermeister. Jedenfalls müsste man schon froh sein, wenn einmal etwas in Farbe wäre, meinte der Bürgermeister zu Stefanie Raymundo, die ihm am nächsten stand, und das müsse man der Künstlerin zugutehalten. Raymundo hob erstaunt ihren Kopf, als wäre sie von dieser Frage plötzlich überrascht worden. Mirando packte die Gelegenheit sofort beim Schopf. Schließlich war man hier in Zwicklingsau und nicht irgendwo! Das musste man doch klären. Seht doch, wie sie gleich erschrocken sei! Wer wüsste schon, woran sie gerade gedacht hätte?, sagte er. Und er, Mirando, setzte sein unverschämtestes Grinsen auf, das er in seinem Repertoire hatte, an welchem unschwer abzulesen war, woran er eben gedacht hatte.

Ob er sie zum Buffet begleiten dürfe?, nutzte Mirando sofort die kurze Ohnmacht Stefanie Raymundos aus, die, völlig perplex über dessen mehrdeutige Anspielung, kein Wort herausbrachte. Beinahe ferngelenkt willigte sie doch ein und ärgerte sich gleich darauf maßlos darüber, wie blöd sie eigentlich sei, diesem Idioten auch noch zu folgen. Sie ließen den Bürgermeister und Escortin ganz einfach stehen und gingen zum Buffet hinüber. Die Front der Gattinnen hatte sich vorübergehend in ein lockeres Gemenge aufgelöst, welches gut verteilt im Raum herumstand und vor allem den beiden keine Beachtung schenkte. Und das war vorläufig auch gut so. Mirando bat die Buffetkraft um zwei Gläser Sekt, schließlich war alles hier gratis. Ob sie Orangensaft dazu möchte, fragte er Stefanie. Ja bitte, aber nicht zu viel. Rembert Mirando goss etwas gepressten Orangensaft aus der gläsernen Karaffe in ihr Glas. Sie sahen sich in die Augen. Man prostete sich zu. Die Gläser stießen klirrend zusammen. So übel war er vielleicht gar nicht, durchfuhr es Stefanie, bis auf seine blöden Witze vielleicht, na, und das dämlich Grinsen. Aber sonst? Vielleicht ließe sie sich eines Tages zu einer Dummheit überreden, wer konnte es wissen? Schließlich war Rembert Mirando ein attraktiver Mann, und begehrenswert, zumindest wenn er den Mund hielt.
Kurze Zeit später wandelten Stefanie und Rembert mit ihren Sektgläsern interessiert von Bild zu Bild. Als sie an der Künstlerin Eva Vanin vorbeikamen, löste sich diese vom Kreise ihrer Bewunderer und streifte wie zufällig mit ihrem Handrücken der rechten Hand an jenen der linken Stefanies. Niemand der Anwesenden könnte etwas bemerkt haben, so zart, so unauffällig, so zufällig war dies geschehen. Wer denn der schmucke Amigo an ihrer Seite wäre?, fragte Eva, deren Tonfall man beinahe etwas Zynismus entnehmen konnte, neugierig. Oder sollte man Eifersucht sagen? Stefanie zeigte ihr makelloses Gebiss. Es sollte ein Lächeln darstellen. Der hier hieße Rembert Mirando. Ein aufdringlicher Bursche, wie sie nach kurzer Überprüfung sofort festgestellt habe. Solcher Menschen könne man sich in Gesellschaft unschwer rasch entledigen, ohne dabei nicht gleich einen Skandal nach sich zu ziehen. Aber Eva sollte sich keine Sorgen machen, wenn sie ginge, bliebe er noch hier! Diese Aussage schien die Künstlerin zu beruhigen, denn sie versuchte sich in einem gütigen Lächeln, hinter dem sich gelbe Eifersucht verborgen hielt.
Stefanie Raymundo ließ sie keinen Augenblick unbeobachtet, als sie sagte, man sollte vom Staat ein Konjunkturprojekt für Künstler einfordern, etwa in der Höhe von einigen Hunderttausend Euro und endlich von den Unsinnigkeiten des Deficit Spending für Autohäuser und Verkehrswege absehen. Etwas mehr Kultur hätte der Menschheit noch nie geschadet. Daraufhin meinte Mirando, er verstünde, dass man heutzutage von der Kunst allein nicht leben könne. Andererseits jedoch führte, wie man weiß, eine angemessene Enthaltsamkeit bei Künstlern zu einem gewissen Zweck. Dann fügte er noch rasch hinzu, sie wisse doch, nur ein hungriger Künstler sei ein guter Künstler. Stefanie verdrehte höchst gelangweilt ihre Augen und versuchte, Eva Vanin in Schutz vor Mirandos bösem Mundwerk zu nehmen, indem sie meinte, Gott sei Dank gäbe es zwischen den unzähligen Langweilern in diesem Ort auch solche, die sich nicht bloß mit Fernsehen und Fußball zufriedengeben würden. Eva Vanin, zu Stefanie gewandt, flüsterte, sie stünde zwar immer noch unter ihrem eigenen Geburtsschock, und es wäre überhaupt ein Wunder gewesen, diesen überlebt zu haben, aber der Kerl hier wäre geeignet, sie erneut an die Gräuel des ungewollt In-die-Welt-geworfen-Seins zu erinnern.
Rembert Mirando lächelte sicherheitshalber trotzdem, obwohl er etwas verunsichert war und fügte hinzu, dass man der Wahrheit ins Auge sehen müsse und den Tod nicht verdrängen dürfe. Dies würde helfen, bewusster zu leben. Und er bewundere trotz allem ihre Streich- und Pinselarbeiten, als er Eva Vanin tief in die Augen blickte, um sie ein wenig aus der Reserve zu locken. Allerdings nur ihm, als Einzigem, war der zarte Berührungsaustausch zwischen ihr und Stefanie vorhin, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen Evas, aufgefallen, als seine Blicke die beiden zufällig gestreift hatten. Zwei Lesben treffen sich, begann er plötzlich, und grinste dämlich, sagt die eine … Stefanie, die jetzt ganz nahe vor ihm stand, hob reflexartig ihr rechtes Knie in Richtung Mirandos Gemächt und traf. Dieser, kurz in leicht gebückte Haltung zusammenknickend, beendete seinen vermutlich gezielt beabsichtigten und höchstwahrscheinlich anzüglichen Scherz damit, indem er schmerzverzerrt stöhnte, sie solle sich nichts daraus machen, dieser Zustand wäre heilbar. Das hätte ihnen der Klerus neulich offiziell bestätigt. Dann lachte er nur noch gequält und verabschiedete sich in Richtung Herrentoilette, in der er für eine ganze Weile verschwunden blieb.

Stefanie schob Eva beiseite, um mit ihr kurz allein zu sein. Die Gatten hatten sich indes ein wenig zerstreut. Mochte sein, dass sie den auf ihren Häuptern lastenden Druck ihrer Gattinnen nicht länger ertrugen. Schließlich war man ja gemeinsam hierhergekommen. Es schien also angebracht, mit diesen hin und wieder auch ein paar Worte austauschen zu wollen und so trank man eben ausreichend Sekt und genoss die bereitgestellten Brötchen. Was das Buffet anlangte, war von einer Krise nichts zu bemerken. Wie überhaupt man diesen Menschen nicht ansehen konnte, dass sie auch nur im Geringsten mit einer solchen zu tun hätten. In der Krise lässt sich eine große Verunsicherung der Bevölkerung beobachten. Gängige Trends nehmen oft unerwartete Wendungen. Man beginnt, sich mehr an der Meinung von Leuten zu orientieren, von denen man glaubt, dass sie eine Ahnung haben. Und es kommt zu einem vermehrten Auftreten von Depressionen. Von alledem war hier nichts zu spüren. Vernünftigerweise hatte man sich in früheren Zeiten näher zusammengerottet, sagte man, aber heute wäre man isoliert, säße paralysiert vor der Glotze und warte auf bessere Zeiten. Auch davon war hier nichts zu bemerken.

Rembert Mirando war von der Toilette zurückgekommen und sah sich um. Stefanie und Eva standen jetzt drüben, zusammen mit dem Bürgermeister und Escortin, jenem Mann also, der hier das Geld hatte und daher auch die Macht. Und Macht bedeutete, zu wissen, was für das Land gut ist und vor allem galt hier wie auch anderswo, wer Geld hatte, schaffte an. Besonders das, was für einen selbst gut war. Aber trotzdem war Temperament gefragt. Übervorsichtige wären von vornherein verdächtig. Man müsse dynamisch, ehrgeizig und konsequent sein. Auch unbequeme Entscheidungen treffen können. Kein Intrigant sein, wissen, woran man mit jemandem war. Und so einer wollte Mirando werden. Und es war höchst an der Zeit, sich endlich an Escortin heranzumachen, ihn weichzukriegen, sodass er etwas Geld ausließe, mit dem die Partei für den kommenden Wahlkampf finanziert werden könnte. Im Laufe des Abends gewann Rembert Mirando bei Escortin nun schließlich doch etwas Boden unter den Füßen. Escortin, anfangs ein wenig brummig, aber doch stolz auf seine Position, lauschte irgendwann etwas aufmerksamer als sonst den gezielten Ausführungen des Bittstellers, als ihn dieser in einer schwer zugänglichen Nische des Ausstellungsraumes förmlich festgenagelt hatte und ihm den Ausgang verstellte.
Würde er, Escortin, sich bereit erklären, der Gemeinde einen Betrag von einhundertfünfzigtausend Euro zur Verfügung stellen, könne man über das bislang noch nicht umgewidmete Bauland, auf dem Escortin seine neue Villa zu bauen beabsichtigte, ernsthaft reden. Bauland, welches sich so ganz nebenbei in einem Natur- und Wasserschutzgebiet befand. So jedenfalls lautete der Auftrag des Bürgermeisters an Mirando. Ins Boot holen, hatte er es genannt, der Bürgermeister. Escortin kratzte sich an seiner schwitzenden Glatze und steckte sich sofort wieder eine neue Zigarre an. Es würde ihm zwar gerade jetzt sehr gut passen, meinte er, denn es gäbe bereits Pläne eines bekannten Architekten, der für ihn eben auch nur jetzt Zeit haben würde, ein Konzept zu erstellen. Und er werde sich die Sache mit der Finanzierung bis morgen Abend überlegen, aber, na ja, mal sehen. Schließlich sei dieser Betrag selbst für einen Escortin keine Kleinigkeit und es galt, so eine schwerwiegende Entscheidung sorgfältig zu überlegen. Überdies war da noch seine ehrgeizige Gattin, die längst in ein neues Haus zu ziehen gedachte und es läge an dir, Hase, hatte sie schon vor längerer Zeit geäußert, mich ganz glücklich zu machen. Da war Escortin klar geworden, dass es wahrscheinlich kein Zurück in dieser Angelegenheit mehr gab. Was sein musste, musste eben sein!

 

Auf sein heftiges Drängen hin hatte Rembert Mirando vor längerer Zeit eine Sekretärin zugeteilt bekommen. Der Bürgermeister hatte nachgegeben. Erst war Harald Rahmani für diese Tätigkeit vorgeschlagen worden. Ein stiller, junger Bürolehrling. Etwas blutarm, aber fleißig und nicht allzu klug, sodass Mirando sich als Vorgesetzter ihm gegenüber an Know-How und Wissen doch immer noch überlegen hätte fühlen können. Aber Mirando wollte partout eine weibliche Hilfskraft haben. Und er hatte sie ganz gegen den Willen des Bürgermeisters durchgesetzt, wobei er sich bereits im Geheimen der Hoffnung hingab, alle unangenehmen Arbeiten leichter an eine Frau delegieren zu können als an Rahmani, der trotz seines stillen Wesens ein wenig aufmüpfig sein konnte, wie man schon öfter aus der Kanzlei gehört hatte. Da saß sie nun, seine Sekretärin, Fräulein Charlotte Mileva. Blond, vollschlank, hätte man vor dreißig Jahren gesagt, mit aufgesetzten Fingernägeln, die beim Tippen in die Tastatur des PC vernehmlich klapperten. Sie trug stets einen kurzen Rock. Und wenn Mirandos Zimmertüre offen stand, konnte er, wenn er mit seinem Bürosessel etwas zurücksetzte, ganz leicht bis zu ihren Schenkeln hoch sehen. Mehr wäre nicht möglich gewesen, da ihre kräftigen Oberschenkel alles andere, was es sonst noch zu entdecken gegeben hätte, verdeckt hielten. Neulich, als gerade ein junger Techniker dabei war, die Jalousien im Büro zu reparieren, machte Mirando so eine Bemerkung, dass jener aufpassen müsse, denn Fräulein Mileva hätte eine perverse Neigung jungen Männern gegenüber und er solle sie nicht von ihrer Arbeit ablenken. Aber Fräulein Mileva hielt das gar nicht für einen gelungenen Scherz. Ohne darüber zu lachen, verharrte sie tippend mit gesenktem Kopf über ihrer PC-Tastatur.

Fräulein Mileva hatte immer viel zu tun. Ihre eigentliche Aufgabe bestand primär darin, den dichten Veranstaltungskalender der Kulturabteilung zu aktualisieren, Einladungen zu schreiben, diese zu kuvertieren und mit Hunderten von Adressen aus der Adressatenkartei zu bekleben. Zwischendurch hielt sie Nagelpflege und legte zahllose Kaffeepausen ein, in denen sie manchmal mitgebrachte Cremeschnitten mit Heißhunger verspeiste. Sekundär, aber ebenso wichtig, oblag ihr die Pflicht, unangenehme Telefonanrufe an ihren Vorgesetzten Mirando abzufangen und nicht weiterzuleiten, wenn er es signalisierte.

Mirando hingegen hatte schließlich Wichtigeres zu tun, als sich mit dem gemeinen Volk herumzuschlagen. Er war für die PR verantwortlich, bastelte stunden- und tagelang an Plakaten herum, deren Schriftteile er abwechselnd vergrößerte, dann wieder verkleinerte, neu formatierte, verschob und alles wieder rückgängig machte. Zwischendurch betrachtete er sein Werk mittels Gesamtansichtstaste solange, bis es ihm angemessen schien, es auszudrucken. Dann wurde kopiert. Mirandos Zeitaufwand, dafür das geeignete Papier zu wählen, vor allem, welche Farbe wohl für das jeweilige Plakat am besten geeignet wäre, war enorm. Seiner Gattin, die Professorin am hiesigen Gymnasium war, teilte er stets mit, wie wichtig er sei und wie überfordert von der Fülle seiner Aufträge und dass er keine Zeit nebenher für nichts hätte, weder fürs Staubsaugen noch für sonst unnötige Tätigkeiten im Haushalt. Und er trug die Zeiten, die er in seinem Büro verbrachte, minutiös in sein Stundenbuch ein, um bei einer eventuellen Recherche über seine Anwesenheit allenfalls gerüstet zu sein.
Überhaupt führte er über alles Buch, was nur irgendwie mit Zahlen zu tun hatte, und sei es der Kilometerstand seines Autos, den er stets ins Tankbuch eintrug, immer dann, wenn er tankte. So füllte er bereits seit Jahren Büchlein um Büchlein mit diesen Eintragungen und dachte insgeheim daran, dieselben eines Tages drucken zu lassen, damit man ersehen konnte, was für ein pünktlicher, gewissenhafter und umsichtiger Mann er im Grunde doch sei. In dieser Zufriedenheit wähnte er sich zu Recht als einen vom Schicksal Auserwählten für das Amt eines politischen Mandatars, wie auch sein Inneres ihm bestätigte, dass man mit seiner Wahl sicherlich einen guten Griff getan hatte.
Und er war auch Musiker, aus tiefster Überzeugung, und hatte es als Klarinettist zumindest in die Blasmusik des Ortes geschafft, wenn es schon zur Philharmonie nicht gereicht hatte, und er war Dirigent, wenn man ihn dirigieren ließ. Erst kürzlich durfte er zum Dirigentenstab greifen, als die neue Kulturhalle eingeweiht worden war. Zuvor hatte ihm der Bürgermeister gestattet, ein paar Worte an die zahlreichen Anwesenden zu richten, was er dazu benutzt hatte, den sich darunter auch befindenden Bediensteten des hiesigen Gemeindeamtes budgetäre Zugeständnisse für ihre Ressorts zu machen. Mirando hatte in irgendeiner Sitzung der letzten Wochen nicht aufgepasst und überhört, dass in dieser Angelegenheit genau das Gegenteil eintreffen würde, nämlich dass man Posten streichen und Budgets kürzen werde.

Kurzum, die Sache war ziemlich peinlich, denn der Bürgermeister, der diesen Entschluss höchstpersönlich mitgetragen hatte, saß mit hochrotem Kopf selbst in der ersten Reihe. Er starrte abwechselnd beschämt zu Boden, dann wieder auf Mirando. Als dieser geendet hatte, eilte der oberste Musikmeister auf ihn zu, um ihn zu bitten, den nun folgenden Marsch der Stadtkapelle zu dirigieren. Und Rembert Mirando ließ sich nicht zweimal bitten. Fest entschlossen, seinen Auftritt zu einem kulturellen Erlebnis für alle hier zu machen, gab er mit hocherhobenen Händen den zackigen Auftakt. Die Musik setzte auf sein Kommando ein. Was für ein erhebender Augenblick, wenn plötzlich zweiunddreißig Menschen, darunter auch zahlreiche junge Mädchen, seinen Bewegungen Folge leisteten. Mirando genoss diesen Augenblick ganz ungemein, in dem er sich so voll und ganz in Szene zu setzen wusste, während sein Inneres nach mehr verlangte. Er wollte diesen Ort dirigieren. Warum nicht gar die ganze Welt? Ein ungemein erhebendes Gefühl bemächtigte sich seiner, nämlich jenes, als würden alle hier im Saal nach seiner Pfeife tanzen, wenn und wann er es wollte. Alle, bis auf den Bürgermeister, der ohnmächtig vor Zorn vor sich hinstarrte.

Nach seinem gelungenen Auftritt begab sich Mirando hinter die Bühne, wo der Finanzsekretär sich eben anschickte, für seine Rede nach draußen zu gehen. Ob er gut gewesen sei, fragte ihn Mirando. Doch dieser sah Mirando nur scharf an, bevor er sich entschloss, die Bühne zu betreten, um ihn rasch noch ganz diskret zu fragen, ob er denn verrückt geworden sei und wie er es wagen könne, so einen Unsinn zu verbreiten? Mit diesen Worten stieg der Finanzsekretär die Treppen zur Festbühne hinauf. Das hatten einige der Anwesenden gehört. Mirando suchte nach einem Mauseloch, in das er sich hätte verkriechen können. Aber was geschehen war, war nun einmal geschehen. Nach Beendigung dieser Veranstaltung, und nachdem ihm letztendlich auch noch der Bürgermeister den Kopf gewaschen hatte, zog sich Rembert Mirando in die heiligen Räume seiner kleinen Wohnung zurück und dachte erst einmal nach, wann seine Gattin denn wieder von der Exkursion zurückkäme, die sie mit ihrer Klasse seit mehr als einer halben Woche machte, als das Telefon läutete. Rembert klappte das Handy auf. Anica Escortin! Er erstarrte. Wo er denn geblieben sei? Und warum er so rasch entschwunden sei? Und ob er sie nicht im Saal hätte sitzen sehen, in der zweiten Reihe?

Ja, Herrgott, er hätte sie bemerken müssen! Schließlich war sie ja nicht zu übersehen. Schon wegen ihrer imposanten Erscheinung nicht und schon gar nicht wegen dieses affigen gelben Seidenschals, den sie locker um ihren fetten Hals geschlungen hatte, knallgelb! Ja, da war sie gesessen, inmitten der Loden- und Leinenensembles der übrigen Anwesenden! Ob man sich heute noch sehen würde. Rembert wand sich wie immer wurmartig, sein einziger Sport. Irgendwie hatte er heute genug von Gesellschaft und dem Posierenmüssen. Morgen wäre schließlich auch noch ein Tag. Aber Anica Escortin gab nicht auf. Gut, also, wenn es sein müsste, sie könne ja herkommen. Er hätte noch etwas Huhn im Kühlschrank und Mayonnaise. Essiggurken wären auch da.

Die Escortin warf einen Blick ins Wohnzimmer, in dem ihr Hase tief und fest vor laufendem Fernseher eingeschlafen war. Und es konnte geschehen, dass Denis Escortin in dieser Stellung dort oftmals bis zum nächsten Morgen ohne aufzuwachen verharrte. Anica Escortin nahm ihre Handtasche, steckte ein Päckchen Zigaretten ein und ließ die Autoschlüssel zu ihrem A3 in die Manteltasche gleiten. Dann eilte sie die Holztreppen hinunter. Sie überquerte den mit weißem Kies geschotterten Weg zur Doppelgarage.

Rembert Mirando hatte alle Hände voll zu tun. Es war nicht aufgeräumt, das Geschirr war nicht abgewaschen und die Toilette schon lange nicht geputzt worden. Wie denn auch, wenn er jeden Tag bis zwanzig Uhr und oft auch später im Büro oder auswärts zu tun hatte und die Frau Professor verreist war. Sie ist sicher eine verwöhnte Frau, dachte er, und er strengte sich mächtig an, in dieser kurzen Zeit alles so gut wie möglich in Ordnung zu bringen. Und kaum dass er mit dem Quickputz fertig war, läutete es auch schon unten an der Tür.

Himmelherrgott, fluchte Mirando erneut und ausführlicher, ich komme ja schon! Er öffnete. Da stand sie nun, die First Lady, mit Mantel, Hut und Seidenschal. Diesmal in Grün, aber genauso scheußlich wie der gelbe, den sie am Nachmittag in der Kulturhalle getragen hatte.

Da sind Sie ja, Sie Schlawiner, begrüßte sie ihn und drängte ihn ins Innere seiner Wohnung. Mirando hatte von Anfang an durchschaut, warum sie so rasch bei ihm aufgetaucht war und so ersparte er sich für dieses Mal die kleinen Lügen, die er für solche Fälle stets bereithielt. Vielmehr gab er ihrem Drängen eine bestimmte Richtung vor, sodass sie, scheinbar völlig unbeabsichtigt, plötzlich vor der breiten Couch im Wohnzimmer gelandet waren. Anica riss ihm förmlich die Kleider vom Leib, so wie er es mit den ihren tat. Beide fielen sie schwer auf das überbreite Lager hin, keuchend und stöhnend und nahmen sich kaum Zeit, sich völlig zu entkleiden, bis auf das Notwendigste, als es auch schon zum Äußersten gekommen war. Ihr delliger, großer weißer Hintern sauste ohne Unterlass wie wahnsinnig auf Mirando auf und nieder. Das Läuten seines Handys just zu diesem Zeitpunkt drängte irgendwie, die Sache so rasch wie möglich zu beenden.
Es mochten fünf Minuten vergangen sein, damit war der erste Akt vorbei. Schwer atmend lagen beide auf dem Rücken, so, als ob ihre letzte Stunde gekommen wäre. In Remberts Gehirn drehte sich alles wie ein Karussell. Mein Gott, wenn der alte Escortin etwas erfuhr! Wo doch jetzt die Sache mit dem Grundstück und der Finanzierung der Partei über die Bühne gehen sollte. Schon morgen war ein Termin fällig. Der Bürgermeister würde ihn fristlos hinausschmeißen, wenn der Deal nicht zustande käme! Die Escortin, immer noch nach Luft ringend, schwitzte, während ihr die Schweißperlen in kleinen Tropfen übers Gesicht liefen, den Hals hinunter, wo sie in den dunklen Tiefen ihrer rasierten Achselhöhlen versickerten. Sie verlangte nach einer Zigarette. Rembert musste eine aus ihrem Handtäschchen holen. Einen Aschenbecher auch, und Streichhölzer natürlich! Gierig sog sie den Rauch der Marlborough Light in sich hinein. Rembert war zum Schrank hinübergegangen, in dem die Hausbar integriert war und entnahm dieser eine Flasche Martini, extra trocken. Sie tranken aus flachen Cocktailgläsern. Ob er nicht noch eine Olive für sie hätte, fragte sie? Diesmal brachte er gleich das ganze Glas mit aus dem Kühlschrank. Er saß, sein Glas in der Hand, mit dem Rücken ihr zugewandt und starrte aus dem Fenster, während Anica Escortin seine Schultern ab und zu mit sanften Küssen bedeckte, aus spitzen Lippen fahle Rauchwölkchen auf seine pickelige Haut absetzend.

Nachdem Mirando nun in Sekundenschnelle fieberhaft seine Situation überdacht hatte, resümierte er, dass diese Frau zum derzeitigen Augenblick offensichtlich unentbehrlich für ihn sein würde. Wenn sie ihrem Gatten gezielt solange zusetzte, dass er die Parteispende ausspuckte, wäre sein Leben als Mandatar und Referent gerettet. Der Bürgermeister hätte keinen Grund, an seinen Fähigkeiten zu zweifeln, vergaß man die Sache neulich mit den Budgetversprechungen. Aber wer von ihnen war schon ohne Makel? Ja, es stimmte. Dieser Escortin war wohlhabend. Er hingegen eher wohl nichtshabend. Aber die kleine Summe von hundertfünfzigtausend stellte ja doch bloß einen Kratzer auf dessen Bankkonto dar und mit dieser Summe ließe sich ein Wahlkampf hier in Hintertupfing, oder wie der Ort in Wirklichkeit auch heißen mochte, organisieren, der seinesgleichen würde suchen müssen.

Dann kriegte Escortin sein aufgeschlossenes Grundstück und er selber würde zusätzlich zu seinem Beamtengehalt eine Politikergage bekommen. Es gab viel zu tun. Also musste man mit Anica Escortin auch jenseits der Bettkante kooperieren.

Ob sie nicht noch einen Martini möchte, fragte er beflissen. Das sei sehr aufmerksam, sagte sie, vielleicht einen kleinen, denn schließlich müsse sie noch mit dem Wagen fahren. Oder ob sie nicht vielleicht … ihr Hase wäre ohnedies bereits hinüber, wie sie das beschrieb, und ob sie nicht etwa hier, bei ihm übernachten könne? Sie würde diese Nacht niemandem abgehen, lachte sie. Rembert Mirando wurde etwas schwach bei dem Gedanken, seine heilige Ruhe einbüßen zu müssen, und überdies würde sie mit Garantie noch einmal über ihn herfallen wollen, wurde ihm dabei klar. Aber was sollte er tun? Er brauchte sie. Also willigte er ein. Die Escortin tat einen Freudenschrei und drückte ihn an sich, fasste ihn mit ihren kräftigen Händen am Hintern und zog ihn zu sich auf die Couch. Die Zweite, durchzuckte es Mirando, der mit Sorge an seine geröteten Hautirritationen dachte. Aber es sollte noch nicht so weit sein. Darling, flötete Anica Escortin zuckersüß, du hast vorhin am Telefon etwas von Kartoffelsalat und Hühnchen erzählt. Ist da was Wahres dran?

Norbert Johannes Prenner

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Alleshaber und Vielkrieger

Was ist? Was ist? Weiß nicht wozu, will aber haben. Muss mir gehören. Muss besitzen. Ding, Mensch, Tier, erstrebenswerten Zustand. Will, will, will! Begehren! Mehr, mehr, mehr von allem. Mehr von dem, was glänzt, was Lust spendet, was Freude macht. So viel davon haben, wie nur kann. Raffen. Alles zusammenraffen, was herumliegt. Sucht nach mehr, nach allem. Besitzen. Besitz haben. In Besitz nehmen wollen. Alles besitzen wollen. Niemals wieder hergeben. Mit hineinnehmen, ins Grab. Festkrallen daran. Nichts mehr auslassen. Nicht kümmern um die Moral. Moral egal. Weiß nicht wofür. Muss trotzdem haben. Selbst anhäufen. Alles bunkern, was zu kriegen ist. Alles berühren und zu Gold werden lassen.
Nach dem Neuen schauen. Ausschau halten. Erster sein beim Neuen. Neues befriedigt. Besitz befriedigt. Nur kurz. Befriedigt nur kurz. Nur für ein Weilchen. Dann. Dann aber. Dann aber wieder: begierig nach Neuem. Begierig nach Haben, Haben, Haben. Wissen, wissen, wissen. Fühlen, fühlen, fühlen. Leben, leben, leben um jeden Preis. Dürsten, dürsten, dürsten nach Werden. Sehnen, sehnen, sehnen nach mehr. Nach noch mehr. Nach allem.
Zufriedenheit langweilt. Wünschen, wünschen, wünschen, was es noch nicht gibt. Dann aber haben, haben, haben. Nie wunschlos, wunschlos, wunschlos sein. Stets begehren. Nachgeben, nachgeben, immer nachgeben dem Wünschen, Wünschen, Wünschen. Nie, nie nie! Es ist nie genug! Darf nie enden! Nie aufhören. Ohne Unterlass. Niemals ohne Boni, Boni, Boni. Besser als Maroni. Grenzenloses Wollen. Will Macht! Macht! Macht! Der Säckel ist voll. Die Kammern sind voll. Die Garagen sind voll. Die Schränke sind voll. Zu wenig. Zu wenig. Mehr. Noch mehr. Noch viel mehr. Habenwollen. Nichts davon hergeben ist geil. Erotisch.

Million ist zu wenig. Million ist gar nichts. Million mal Million. Klingt besser. Klingt nach mehr. Exklusiv, exklusiv. Genuss, Genuss. Reichtum beruhigt ungemein. Anhäufen, anhäufen. Werte anhäufen. Macht attraktiv. Besitzen lenkt ab. Vom Elend anderer. Vom eigenen Schicksal. Lenkt ab von der Leere.
Günstling sein. Vor allen. Vor Gott. Überall Rabatt kriegen. Sonderkonditionen einfordern. VIP sein. VIPer sein. Vor den andern da sein. Nicht hinten anstellen müssen. Vor den andern hinein dürfen. Nimmersatt sein. Ein Upgegradeter sein. Ein „Den Hals nicht voll genug kriegen“ sein. Günstig. Stets alles günstig kriegen. Begünstigt sein. Ein Günstling sein. Alles geschenkt bekommen. Ein „Seiner des Herren“ sein. Alles im Schlaf kriegen. Alles gratis genießen können. Schnorren. Nichts hergeben. Eingeladen sein. Bevorzugt sein. Fußfrei haben. Fußfrei sein. Ein „Von nichts etwas abgeben“ Seiender.
Niemals was rausrücken. Rational sein. Pseudorational sein. Knausrig sein. Knickrig. Eitel, eitel, eitel sein. Vornehm tun. Vornehm sprechen und trotzdem ein Schwein sein können. Ein „Auf andere herabsehen“ Seiender werden. Privilegien haben. Habenmüssen zur Hauptsache machen. Zur Staatsaktion machen. Begehren spornt an. Macht heutig. Ist nichts für Gestrige.
Nichtswollen ist Stillstand. Sattsein ist Leere. Ist der Tod. Gewinn, Gewinn, Gewinn. Gewinn machen. Plus haben. Im Haben sein. Alleskrieger sein. Alleskrieger und Vielhaber sein. Alleskrieger und Alleshaber sein. Zum Alleskrieger, Alleshaber und Allesbesitzer werden. Alles erwerben. Erwerben im Übermaß. Nehmen, nehmen, nehmen. Niemals nach dem Nutzen fragen. Habenmüssen zum Selbstzweck machen. Habenwollen zum Lebenszweck machen. Streben, streben, streben. Danach streben. Maßlos sein. Güter an sich reißen.

Leidenschaftlich besitzen. Alles hineinstopfen. Anfüllen. Gelten wollen. Anerkannt sein. Das Ego verwöhnen, verhätscheln, anbeten, vor sich hertragen. Sich selbst sehen. Seinen Vorteil sehen. Seinen Vorteil immer bedenken. Süchtig nach sich sein. Auf Kosten anderer da sein. Zum Nichtsnutz werden. Zum Abzocker werden. Haben als Selbstzweck. Durch Besitz unabhängig sein. Vermögen macht frei. Mehr haben als andere. Mehr sein als andere sind. Besser sein als die Konkurrenz. Besser abschneiden als die Konkurrenz. Überhaupt ein Besserer sein. Vorteile genießen. Vorteile vor anderen haben wollen. Alles herausziehen. Mehr herausziehen als drinnen ist. Horten, horten, horten. Spekulationen wagen. Der Kick! Den Kick erleben. Endorphine ausschütten. Dopamin erzeugen. Den Kitzel spüren.
Das Füllhorn wollen. Es über einen ausgeschüttet haben wollen. Das „Tischlein-deck-dich“ beanspruchen. Aus dem Vollen schöpfen können. Prallgefüllt sein. Einen prallen Sack sein Eigen nennen können. Drall im Auftreten und im Erscheinen. Niemanden vorbeilassen. Den Sitzplatz beanspruchen. Eineinhalb Sitzplätze vereinnahmen. Eine ganze Sitzreihe okkupieren. Rücksichtslos werden. Andere zu Bittstellern degradieren. Anlaufen lassen. Auflaufen lassen. Spaß am Darben anderer haben.
Sich selbst bedienen. Am Kuchen teilhaben wollen. Sich eine Scheibe davon abschneiden. Das größte Stück vom Kuchen nehmen. Es hinunterwürgen. Hineinschlingen. In den Rachen stecken. Reinstopfen. Bis zum Ersticken.

Norbert Johannes Prenner
(Textbeitrag zum Thema „Gier“, etcetera Heft, 59, 2015 LitGes St. Pölten)

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