Der Airbus 320 kreiste unaufhörlich über Manhattan, ohne bis jetzt eine Landeerlaubnis erhalten zu haben. Langsam wurden die Passagiere in ihren Sitzen unruhig. Immerhin saßen sie bereits seit neun Stunden auf ein und demselben Platz. Da und dort waren schon nervöses Öffnen und Schließen der Sicherheitsgurte aus den Sitzreihen zu hören. Es waren mehrheitlich Geschäftsleute unter ihnen, Sklaven ihrer Terminkalender, deren Eintragungen mehr Macht über sie besaßen, als sie sich je eingestanden hätten. Hier und da auch ein paar Exileuropäer, die ihre alte Heimat besucht hatten. Manche von ihnen sicherlich zum letzten Mal. Einer unter ihnen mit künstlichem Darmausgang, Uncle Ed. Neben ihm, Aunt Mary, eine Achtzigjährige mit Herzschrittmacher.
Seit mehr als zehn Minuten zog der Flieger nun schon seine konzentrischen Kreise über dem Big Apple. Der Kapitän war sehr nett. Er werde das Luftschiff ein wenig mehr in den Wind legen als üblich, damit auch die Passagiere, die in der Mitte näher zum Gang hin saßen, die Stadt durch die Fenster sehen könnten, hatte er durch die Lautsprecher verkündet.
Einen Moment lang fühlte Marcel, dass seine Reise den Beginn eines neuen Lebens bedeutete, eines Lebens, in dem der Freiheit angeblich keine Grenzen gesetzt waren. So hatte man zumindest in den Fünfzigern des vorigen Jahrhunderts gedacht. Die Schräglage des Fliegers erlaubte einen flüchtigen Blick in die Häuserschluchten von Midtown Manhattan. Hier sollte es sein, wo angeblich alles viel früher und schneller begann als anderswo, dachte Marcel. Hier also, ein paar Hundert Meter unter ihm, sollte das Epizentrum jener finanziellen und kulturellen Beben liegen, von denen aus die Welt ihre Impulse bekam. Von hier aus würde dieser wackelige Planet in seiner Entwicklung so gesteuert, wie er morgen auszusehen hätte, und von hier aus wurde der Rhythmus des globalen Atems bestimmt, weiterzuatmen oder angehalten zu werden.
Jetzt konnte man durch die schmalen Fenster das Empire State Building erkennen. Das ist Amerika! Oder auch nicht, mochten manche sagen. Mein Gott!, durchfuhr es Marcel. Ich bin in New York! Beinahe zumindest. Dabei wäre er lieber mit dem Schiff angekommen. Wie alle Emigranten damals aus Europa, mit Ellis-Island-Prozedur und so. Es ging ihm alles viel zu rasch. Acht Stunden! Was waren schon acht Stunden? Früher war man drei Wochen auf See, früher. Schlecht untergebracht, unter Deck, Tiefdeck womöglich, ohne Bullauge. Stets dem stetigen Dröhnen der Motoren ausgesetzt, dem Geruch von Öl, Diesel, nach nassen Sachen riechend, die nie trocken wurden.
Im Flieger konnte es wirklich ein jeder schaffen, dachte Marcel, sogar er. Aber vielleicht würde er hier und heute gar nicht mehr vorfinden, was Generationen vor ihm an dieser Stadt so attraktiv und lebenswert gefunden hatten? Und doch, was sollte es, dachte er. Nun hatte er soviel investiert, um hierher zu kommen. Hatte all sein Tun, sein Schaffen, seine Träume darauf ausgerichtet, seine Vergangenheit hinter sich und der unüberwindbaren Mauer des Vergessens zu lassen.
Nun würde ein anderes Leben kommen, eines ohne den Drill längst überholter Dimensionen. Niemand würde ihn mehr zur Räson zwingen können, wenn ihm schon einmal danach war, zu sagen, was ihn störte. Hier konnte man alles sagen, ohne sich gleich die Hand vor den Mund zu halten oder bloß hinter schützenden Winkeln und Ecken darüber zu reden, was einem seit Langem schon so furchtbar auf den Sack gegangen war, diese ganzen Verlogenheiten eines verlorenen Idealismus, der niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken konnte.
Marcel war kein Flüchtling im herkömmlichen Sinn, und doch war er einer. Obschon - heutzutage brauchte man nicht mehr von dort zu fliehen, von wo er gekommen war. Im Gegenteil, man war heilfroh, jeden unnützen Fresser loszuwerden. Blieb den Dagebliebenen mehr. Es gab ja ohnehin keine Jobs. Nichts hielt einen hier länger, als es unbedingt notwendig gewesen wäre. Die Kinder hatten längst das Weite in Richtung Westen gesucht. Deretwegen brauchte man nicht hier zu bleiben. Es war nicht mehr erforderlich. Man war entbehrlich geworden.
Die Frage war, was war überhaupt noch notwendig? War dieses ganze Theater mit der Volksverblödung überhaupt für etwas gut gewesen? Tausende Tote für die sozialistische Idee? War hier auch nur irgendjemand noch bei Verstand gewesen?, fragte sich Marcel verärgert. Jetzt konnte ohnehin jeder gehen, wohin er wollte.
Nicht so wie damals, als gleich geschossen wurde, wenn du deinen Arsch nur in die Nähe des Zaunes oder jener Mauer geschoben hattest, welche das Wahre vor dem Dekadenten zu trennen versucht hatte. Aber heute? Heute war alles anders. Heute war alles egal. Kein Aas scherte sich mehr darum, wenn irgendwo irgendeiner abhauen wollte. Wer hätte das jemals aus seiner Generation gedacht?, flüsterte Marcel so für sich. Der Staat pflegte seine Bürger als Gefangene zu halten, sich ihrer Fähigkeiten zu bedienen, zum Wohle aller, wie einem vorgelogen wurde, um von seinen eigenen Unfähigkeiten abzulenken. So leicht war das.
Und vom ewigen Geschwätz über Patriotismus und Solidarität war nichts als ein Haufen stinkender Scheiße geblieben, die sich über Jahrzehnte hindurch aus den Mäulern einiger hirnloser machtgeiler Parteibonzen gleichmäßig über das Land verteilt hatte, die nichts anderes zu tun hatten, als anderen Ängste aufzudrücken und sie ständig an ihre Pflichten zu erinnern, während sie selbst gut daran taten, Stillschweigen über den eigenen, illegal zusammengerafften verbotenen Besitz zu üben.
Ach, diese Welt war Millionen von Jahre alt und es war hinlänglich bekannt, dass ihre Bewohner zu allen Zeiten Schweine waren! Korrupt und gemein! Und aller Widerstand gegen das System wäre zwecklos, ja, gefährlich gewesen. Passiver Widerstand, innere Emigration, das einzige legitime Mittel, sich diesem Kasperltheater zu entziehen!
Marcel nickte triumphierend. Das Flugzeug zog unaufhörlich seine Kreise. Der Kapitän signalisierte den Stewardessen: Kling! Kling! Was mochte er wollen? Alle Augen waren auf eine Stewardess gerichtet, die nach vorne eilte. Es wurde getuschelt, gedeutet, in den Gesichtern zeichneten Falten Fragezeichen. Marcel aber war weit weg in Gedanken.
Es würde alles gut sein hier. Die alten Wunden würden verschorfen, neue hoffentlich nicht geschlagen. Er, der 45 geboren worden war, hatte früh lernen müssen, anderen etwas abzugeben, nicht Egoist zu sein, für Freunde da zu sein. Als die Panzer kamen, war er gerade acht, und er hatte Angst. Alle hatten Angst, furchtbare Angst, auch dass der Krieg wieder neu aufflammen könnte, dass man wieder nichts zu essen hätte, dass man sich wieder würde verstecken müssen, vor den Bomben, vor den Spitzeln, vorm eigenen Nachbarn, der einen denunzierte. Es war ja ohnehin alles beim Teufel, was konnte noch Schlimmeres geschehen?
Und man hätte sich gegen den Irren aus Braunau am Inn eher wehren sollen, dachte Marcel. Keiner hatte ohnehin je verstanden, wieso Millionen einem Geisteskranken gefolgt waren. Wohl ein spezielles Phänomen, Schwachsinn gepaart mit Wirtschaftskrise am richtigen Ort mit den richtigen Leuten. Eine Art Hors d`Oeuvre der Weltgeschichte, als Vorgeschmack auf die Apokalypse. Aber hinterher war man ja immer klüger. Genauso verrückt und kopflos hatten sich die anderen in den Sozialismus verrannt! Bis heute hatte er es nicht verstanden, wie so etwas möglich gewesen war. Warum sie damals nicht schon in den Westen gezogen waren, war einzig und allein Vaters Schuld gewesen. Ach was, der hätte sich ganz einfach in die Hosen gemacht, sich mit seiner Familie in so ein Abenteuer zu begeben, obrigkeitshörig, wie er war, der Herr Assessor. Beamtenseele.
Das Flugzeug begann, unruhig auf und ab zu taumeln. Turbulenzen! Die Tragflächen schwankten bedrohlich. Der ganze Rumpf schien sich zu verbiegen. Zeitweise sah man von den hinteren Reihen die vordere Cockpit-Tür nicht. Einige schrien laut auf vor Angst. Marcel wurde aus seinen Gedanken aufgeschreckt. Kam ihm allemal schon zu langsam vor, die Maschine, und das in dieser geringen Höhe! Jetzt wurde es aber wieder ruhiger.
Kling! Please fasten seatbelts, stop smoking. Haben wir doch schon, knurrte Marcel vor sich hin. Geht endlich runter, verdammt noch mal!
Vater war nie Parteigenosse. Aktiv, versteht sich. Trotzdem. Man verließ seine Heimat nicht so ohne weiteres. Und der Papa hatte an der Meinung seines Sohnes nie besonderes Interesse gezeigt. Aber für ihn selbst galt, was die da oben dachten, wäre Gesetz, und damit basta. Könnte er ihn jetzt bloß sehen! Da hatte er seine leeren Parolen, hohlen Phrasen! Wie leicht durchschaubar war das alles gewesen.
Die Herren von der Partei hatten allesamt feine Autos aus dem Westen, nicht die stinkenden Zweitakt-Plastikbomber wie wir. Mit der Mauer hatte sich dann alles geklärt. Erledigt! Basta! Ach so sind die, sagten die Leute. Ja, so sind die! Alle falsch und verlogen. Damit musste man nun leben.
Immerhin, in dieser Welt hatte er irgendwann einmal selbst denken lernen müssen, weil er es sattgehabt hatte, dass allein der Staat für ihn dachte. Maulhalten war angesagt. Stillhalten wurde zur pädagogischen Methode. Karriere fremdbestimmt. Auf jener Stufe, auf der man stand, war man festgenagelt, ohne Chancengleichheit!
Kling! Der Captain wandte sich an die Passagiere, man hätte endlich die Landeerlaubnis erhalten und würde in wenigen Minuten landen. Alles anschnallen, wer´s bis jetzt nicht war, Stewardessen hinsetzen, es konnte also losgehen.
Die Maschine machte eine letzte Ehrenrunde um Manhattan und ging in Position zum Landeanflug auf Kennedy Airport. Marcel spürte im Magen, wie rasch der Flieger sank und hoffte, dass dieses Manöver bald beendet sein würde. Das war das Letzte, was er noch bewusst gefühlt hatte. Im selben Augenblick dachte er noch einmal an die Mauer und daran, wie er sich gefreut hatte, als sie endlich gefallen war.
Das wäre ja vorauszusehen gewesen. Nun aber konnte für ihn endlich die große Freiheit beginnen! Und, allen widrigen wirtschaftlichen Umständen zum Trotz, hatte er etwas Erspartes anlegen können. Die Wohnung war verkauft, die Kinder erwachsen, versorgt und voll Erwartung, was denn der Vater da auf seine alten Tage in der Neuen Welt noch alles anstellen würde. Und er müsste sogleich schreiben, beschwor ihn seine Enkelin Jana. Ja, das hatte er versprochen, und so einem entzückenden Wesen konnte man seinen sehnlichsten Wunsch nun wirklich nicht abschlagen.
Genau heute aber war der Jahrestag jener grandiosen Abtragung des Walls, einer der furchtbarsten Barrieren gegen die Menschlichkeit. Nun würde wieder gefeiert werden, drüben im Westen genauso wie im Osten. Aber es interessierte Marcel nicht im Geringsten, die ganze Angelegenheit auch noch ritualisiert zu wissen. Alles war längst vorbei, war bereits wieder zu Geschichte geschrumpft.
Die Zeit hatte bloß Erinnerungen zurückgelassen, und vielleicht blieben diese darüber auch noch auf der Strecke. Schließlich war er, Marcel, selbst nie ein Mann des Widerstandes gewesen, überlegte er, eher einer, der sich mit der Strömung hatte treiben lassen, also waren die Vorwürfe an den Vater obsolet und er brauchte sich auch nicht mit Selbstvorwürfen herumschlagen.
Egal, das hatte hier und jetzt alles keine Bedeutung mehr. In Kürze würde er amerikanischen Boden betreten und damit ein lang gehegter Wunsch in die Tat umgesetzt. Punktum! Kein Wiederstand mehr. Und wenn Widerstand darin auch nur bestanden hatte, alle paar Jahre irgendwo an einem Wahlzettelchen ein Kreuzchen zu malen, so war dieser Widerstand für ihn genug gewesen und hätte nur seine wertvolle Zeit in Anspruch genommen, die ihn allzu lange von seinen Lieblingsbeschäftigungen weggelockt hätte.
Als gewöhnlicher Bürger war er ohnehin ohne jegliche Möglichkeiten, sich an politischen Entscheidungen zu beteiligen, außer irgendeiner Person seine Stimme zu geben. Wer wusste, wohin es jetzt mit der so gepriesenen Volksdemokratie nun ginge, wenn westliche Einflüsse sie zersetzten. Im Übrigen konnte ihm auch dieses gleichgültig sein. Aufgrund seiner Beziehungen zu einem Diplomaten hatte er ein Dauervisum in der Tasche, die Pension, wenn auch nicht allzu üppig, konnte er von jeder New Yorker Bank aus der Heimat anfordern.
Es ging rasch tiefer. Man spürte es in der Magengrube. Beinahe hätte er schon gejubelt, du Stadt meiner Träume, ich komme, als er feststellte, dass er keine Stimme hatte. Überhaupt fehlte ihm plötzlich jegliches Gefühl einer Erinnerung an das Zuletzt, wie auch daran, überhaupt je gelandet zu sein, und von den Passagieren war kein einziger zu sehen, weder der alte Ed mit dem künstlichen Darmausgang, noch Mary mit dem Herzschrittmacher, als er sich plötzlich allein an der Fifth Avenue, Ecke 42. Straße wiederfand, wo sich East Street und West Street trafen und er soeben an einem Straßenschild hochsah.
Zunächst versuchte er, den Menschen, die da so in ihrer Hast und Eile auf dem belebten Gehsteig auf ihn zuströmten, auszuweichen. Aber sie schienen ihn gar nicht wahrzunehmen, mehr noch, sie gingen ganz einfach durch ihn hindurch, so als ob er Luft für sie wäre, woraufhin er schließlich gar nicht mehr versuchte, ihnen aus dem Weg zu gehen. Merkwürdigerweise hinterfragte er seinen Zustand nicht, sondern fand sich zu seiner Verwunderung ganz einfach damit ab.
Ihm war, als hätte er irgendwie die sogenannte letzte Stufe des Seins erreicht. Immerhin, er konnte alles sehen und hören, auch wenn ihm diese neue Welt etwas seltsam vorkam. Das also wären die legendären Jellow Cabs, die an ihm vorüberfuhren, und über die er so viel gelesen hatte, staunte er.
Marcel starrte gebannt auf die Blechlawine, die sich durch die Straßen wälzte. Es war alles so wie in den Filmen, die er über New York gesehen hatte. Die zahllosen Häuserriesen und die Schluchten, die sie dazwischen hinterließen. Die nie endenwollenden Polizei-, Rettungs- und Feuerwehrsirenen und das permanente Gehupe der Autos auf den mehrspurigen Straßen. Zwischen den Autos fuhren Männer in schwarzen Anzügen auf Inlineskatern zur Arbeit in Richtung Bankenviertel.
Unvorstellbar! Was für eine Welt! Seiner eigenen, kleinen, im alten Europa noch nicht völlig entbunden, zogen Schleier einer vagen Erinnerung an ihm vorüber, im Land seiner Väter sein Leben verschwendet zu haben. Als diese schreckliche Mauer gefallen war, wurde er Zeuge dessen, wie diesem Land die Zukunft davonlief. Dort war er zu diesem „Ich-will-hier-raus-Menschen“ geworden.
Marcel starrte auf ein Graffito, dessen Sinn er nicht verstand. Rasch hingeworfen auf einer Feuermauer, an welcher der Zahn der Zeit längst den Putz hatte abbröckeln lassen. Chiffren unbekannter Wesen, mitteilungsbedürftig und aufregend, irgendeinen Zeitgeist transportierend, der ihm fremd war. Marcels Gefühle waren doch nicht vollkommen erstarrt, immerhin war er fähig, das Hier mit dem Dort zu vergleichen. Zumindest aber fühlte er keine Angst mehr vor der Sowjetunion, trotzdem konnte er über diesen Gedanken nicht lachen. Sein Mund war ihm fremd geworden, als hätte er keinen.
Marcel betrat einen Parfümerieladen, um sich zu vergewissern, dass ihm nicht auch noch sein Geruchssinn abhandengekommen war. Er schritt auf ein Regal zu, seine Hand näherte sich einem Tester. Joop, es konnte auch ein anderer gewesen sein. Seine Hände berührten die Flacons, einen nach dem anderen. Er roch an seinen Händen. Nichts. Völlig geruchlos.
Vor der Kassa eine Warteschlange. Plötzlich sprang die Kassiererin wie von der Tarantel gestochen auf. Ein baumlanger Farbiger löste sich aus der Mitte der Wartenden und stürmte auf den Ausgang zu. „This man had his hand in your pocket!“, rief sie aufgeregt einem in der Warteschlange zu, der verdutzt in seine Manteltasche griff, um seine Ein-Dollarscheine zu zählen, die er in einem kleinen Bündel bei sich trug. Dann ging sie hinter ihrer Registrierkassa in Deckung. Doch nichts geschah. Der Dieb war längst entflohen. Die ganze Zeit über hatte ein gleichfalls farbiger Security vor dem Geschäftsportal Wache gehalten. Regungslos stand er immer noch da. Was ist, er musste den Dieb doch gesehen haben? Aber der unternahm nichts, gar nichts.
Marcel verstand diese Welt nicht. Die Kassierin war aus ihrer Verschanzung aufgetaucht und setzte ihre Arbeit fort, als wäre nichts geschehen. Die Warteschlange löste sich auf. Alles ging seinen gewohnten Gang.
Marcel war sich darüber im Klaren, dass er diese Stadt bisher mit keiner anderen zu vergleichen vermochte, die er bis jetzt kannte. Er bemerkte zwar ihre diffizilen Charaktereigenschaften, die ihm im Grunde alles zu vereinen schienen, was eine Ansiedlung dieser Größe nur aufbieten konnte. Und wenn er sie aufmerksam durchkämmte, würde sie ihm wohl kaum langweilig. Nach diesem Erlebnis ahnte er, was ihn in dieser Stadt erwarten würde. Trotzdem dachte er daran, sich ohne Mühe in jener übersteuerten Immobilie ansiedeln zu können, und, auch wenn ihn hier ein gewisser Wahnsinn umgeben würde, war es für ihn klar, er würde um nichts in der Welt noch anderswo leben wollen.
Ein Gefühl sagte ihm, hier wäre Endstation. Er konnte es nur nicht begründen, aber es kam ihm vor, als ob sein Innerstes, seine Gefühlswelt, das Einzige wäre, was er von seinem vorigen Leben hierher herübergerettet hatte.
Während Marcel, völlig unberührt vom Lärm der Rushhour, durch den Madison Square Park schlenderte, war ihm, als versuchte hier ein jeder, der Erste vor dem anderen zu sein, ohne es selbst zu bemerken. Alle hatten es offensichtlich sehr eilig. Niemand spazierte nur so zum Vergnügen durch die Gegend.
Kurz danach, nachdem er den Park verlassen hatte, bemerkte er eine junge Frau, die ein Taxi für sich angehalten hatte und soeben im Begriff war, einzusteigen, als sie von einem Typen in Nadelstreif, der plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war, sanft zurückgeschubst wurde. Der bestieg selbst rasch das Taxi und tauchte darin im Sog des Verkehrs unter. „Sorry, das sollte nicht persönlich gemeint sein!“, hatte er der jungen Frau noch zugerufen.
Marcel musste diesem Schauspiel voller Empörung tatenlos zusehen. Er wollte dem Nadelstreif noch etwas nachrufen, doch seine Stimme versagte abermals. Um wenigstens in der Auslagenscheibe einen Blick seiner eigenen Mundbewegungen zu erhaschen, wandte er sich rasch dem Glas zu.
Aber er konnte sich darin nicht sehen. Marcels Hand fuhr an seinen Hals. Er fasste sich an die Kehle, versuchte, sie zu umfassen. Sein Griff ging ins Leere. Es war ihm nicht gelungen, irgendeinen Teil seines Körpers anzufassen, wie auch der Versuch, sich aus Verwunderung über sein mangelndes Körperempfinden an die Stirn zu greifen, fehlschlug. Irritiert drehte er sich um seine eigene Achse, als hätte er völlig die Orientierung verloren.
Die junge Frau konnte in kurzer Zeit ein neues Taxi zum Anhalten bringen und wurde von diesem aufgelesen. Marcel konnte auch den alles durchdringenden Gestank der Straße nicht riechen, diesen Mief aus Diesel, Pizzabrot und dem üblen Hauch des Abwassers, der aus den Kanalgittern drang, dampfend, sichtbarer Atem der Pestilenz aus den Eingeweiden des großen, faulen Big Apple.
Umso aufmerksamer aber betrachtete er den Unrat auf den Gehsteigen, zerbeulte leere Plastikflaschen, die Zeitungsfetzen und all das weggeworfene Zeug bis hin zu den zahllosen MacDonalds-Tüten, die überall herumlagen, und die Zigarettenstummel, die seinen Weg zu pflastern schienen. Dazwischen eingebettet plattgetretene Kaugummis, die sich wie runde, weiße Kiesel vom ölig schwarzen Asphalt abhoben.
Schwarze Beine ragten aus alten Kartonagen, deren Besitzer, zurückgezogen wie Schnecken, in ihren portablen Häusern schliefen, unweit von Fünf-Sterne-Hotels und den unmittelbar davor parkenden Limousinen.
Nicht, dass ihm das alles fremd gewesen wäre, er war schließlich genug in der Welt herumgekommen, aber hier, so dachte er, sähe alles noch ein wenig hoffnungsloser aus als anderswo. Vielleicht hätten die Leute, die hier lebten, bis jetzt doch einen ungeheuren Vorteil gegenüber anderen gehabt, wenn man in Erwägung zöge, dass sie in einer Gesellschaft lebten, in die sich der Staat nicht so penetrant hineindrängte, wie dies bei ihm zu Hause gewesen war.
Es befriedigte schon die Tatsache, dass die Kinder hier in der Schule nicht zu lügen brauchten, was zu Hause gesprochen wurde. Wo man Kinder im Wohnzimmer etwas fragen durfte, ohne bestehende Doktrinen zu verletzen, wo man in einen Buchladen gehen und jedes Buch erstehen konnte, das man wollte, und man Noten für gewisse Musikstücke nicht erst heimlich kopieren musste, um sie dann daheim im stillen Kämmerlein möglichst leise spielen zu dürfen.
Das alles verstand Marcel unter dem Begriff der Freiheit, das alles hatte ihm zum Glücklichsein gefehlt, das alles wollte er hier für sich neu entdecken.
Erstaunlich, wie rasch es dunkel wurde, dachte er, als er die alten Hauseingänge im langsam schon absterbenden Tageslicht betrachtete, vor denen alle möglichen Typen herumlungerten, gerade im Begriff, nervöse Laufkundschaft mit ihrem gefährlichen Zeug zu beliefern. Manche von ihnen mit stummen, hohlen Augen, dumm glotzenden Blicken. Andere, randvoll mit aufputschender Chemie bis unter die Mütze, die vor lauter Unruhe im eigenen Leib keine Sekunde stillzustehen vermochten.
Allesamt wirkten sie, als wäre jeder von ihnen sechzig Jahre und mehr. Tatsächlich mochten sie fünfundzwanzig oder dreißig sein. Auf einer Treppe lag ein Bündel Dollarscheine, unweit davon eine Einwegspritze mit verbogener Nadel. Ein dunkelhäutiger Typ saß mit verklärtem Blick daneben, der Kopf weit in den Nacken gefallen, regungslos, atemlos.
Marcel trat auf ihn zu. Er musste ihn doch bemerken, seine Augen standen weit offen. Aus seinem ausgetrockneten Mund drangen flüsternd die sich ständig wiederholenden Worte: „Ehj, Mann, ich fliege, Mann, verstehst du, ich fliege!“ Und dennoch waren seine Worte nicht an ihn gerichtet.
Einen Augenblick nur hatte Marcel sein eigenes Schicksal vergessen. Es konnte ihn ja doch keiner sehen! Ein gewisser Vorteil, so konnte er nicht überfallen werden und brauchte nicht wegzurennen vor den Totschlägern, Einbrechern, Autodieben und kriminellen Amateuren, wenn sie ihm an den Säckel wollten. Aber was hätte man ihm nehmen können? Er besaß ja nichts. Nicht einmal seine Reisetasche hatte er bei sich. Marcel gelang es wieder nicht, über diesen Gedanken zu schmunzeln.
Eine Polizeistreife fuhr vorüber. Einer der Polizisten kurbelte das Seitenfenster herunter und rief einem Mann in ballonseidener Jacke zu: „Pass auf, Mann, da vorne prügeln sich ein paar Verrückte!“, und lachte laut dabei, während der Wagen mit quietschenden Reifen und heulender Sirene um die Ecke bog.
Marcel merkte, dass er langsam aber sicher unter seinem Zustand, nicht mehr dazuzugehören, sich nicht mehr verständigen zu können, zu leiden begonnen hatte. Zwar fühlte er keinen seelischen Schmerz, jedoch blieb ihm nicht verborgen, dass ihm etwas fehlte. Er wusste aber auch, dass es in seinem Zustand nicht zulässig war, zu leiden, denn es war der Endzustand, eine Art des Seins, in der schließlich auch dem ewigen Leid ein Ende gesetzt sein sollte. Aber um ganz sicher zu gehen, dass sein Befinden endgültig sei, versuchte er ab und zu, wenigstens einen leisen Brummton zu erzeugen, mit dem er sich hätte verständigen können, im Abstand ähnlich wie Morsezeichen. Aber es gelang ihm nicht.
Was hätte es ihm auch gebracht, dachte er, damit könnte es schwerlich für eine Kommunikation reichen, es könnte kein Informationsaustausch stattfinden, das war ihm nun klar geworden. Er würde wohl seine vorhandenen Möglichkeiten als stiller Beobachter dieser Welt den neuen Gegebenheiten anpassen müssen. Die Frage war nur, ob man sich damit endgültig abfinden konnte.
Am Ende der Straße stand der Polizeiwagen mit seinen glühend roten Blitzlichtern. Rundherum eine Menge Leute, die sehr aufgebracht schienen. Marcel kam näher. „Der Nigger ist tot, Mann!“, rief einer der Umstehenden, „Da ist nichts mehr zu machen!“ Andere nickten zustimmend. Von Ferne hörte man einen Ambulanzwagen herannahen. Marcel überlegte fieberhaft, einen Zeichencode zu erfinden, um sich bemerkbar, sich damit verständlich machen zu können. Lächerlich! Er konnte sich selbst im Spiegelbild nicht sehen. Niemand konnte ihn sehen, was sollten also ein paar Zeichen? Und wenn er welche fände, in die Luft konnte man sie doch nicht blasen. Jedoch der Gedanke an die Möglichkeit eines übereinstimmenden Zeichenvorrates zwischen ihm und – nun, egal, irgendeiner anderen Person, ließ ihn nicht mehr los. Immerhin konnte er hören und sehen, er verstand sogar die Sprache mühelos, konnte sich von A nach B bewegen, obwohl ihm nicht klar war, wie dies eigentlich geschah. Zumindest aber nicht durch Gehen. Sein Wille genügte, ihn in schwebende Fortbewegung zu versetzen.
Wollte er das jemals? Marcel dachte an ein blindes, taubes Mädchen, welches in seiner Nachbarschaft gelebt hatte. Wenn sie sich bemerkbar machen wollte, strampelte sie mit den Beinen. Nicht zu strampeln hieß, sie hätte im Augenblick alles, was sie brauchte. Aber Marcel fühlte seine Beine nicht, als ob er keine hätte. Also hätte Strampeln nichts genützt, um sich verständlich zu machen.
Er versuchte, sich ihre Welt vorzustellen, die dunkel gewesen sein musste. Oder hatte ihre Fantasie die Finsternis überwunden und sie erhellt, belebt gemacht? Es musste eine Welt der Nähe gewesen sein, die dieses Mädchen erlebt hatte. Näher als jene, mit der er nun konfrontiert war.
Hätte er ein Instrument spielen können, überlegte Marcel, würde er eine Kombination aus verschiedenen Intervallen zu einem Buchstabencode erfinden und sich vielleicht mit einem Spielzeugklavier auf die Straße stellen. Er würde „He, du, kann ich mit dir reden?“ spielen oder so ähnlich. Man müsste nur jemanden dazu bringen, sein Geklimper verstehen zu machen.
Marcel stand nun ganz nah am Unfallort. Polizei und Helfer hasteten mal hierhin mal dahin. Einer sperrte das Gelände mit einem Plastikstreifen symbolisch vor dem Gedränge der Leute auf dem Trottoir ab, als sicherte er für sich und seine Mannschaft die alleinigen Nutzungsrechte auf diesem Katastrophenclaim.
Marcel trat artig hinter die Sperre, obwohl er auch davor nicht hätte gesehen werden können. Er tat, wie er es von damals gewohnt war, als die Stasi seinen Bruder auf der Flucht in den Westen, ganz knapp vor Erreichen der Mauer, erschossen hatte, und gleichfalls das Gelände ringsum absperrte, um die Gaffer nicht allzu nahe heranzulassen. Auch da war er hinter der Absperrung gestanden, kochend vor Wut, die Fäuste geballt in den Manteltaschen. Und um ein Haar wäre er damals so unvernünftig gewesen, einem Polizisten die Waffen zu entreißen und…
Die Tage vergingen. Marcel entdeckte, wenn am Morgen der Verkehr in Midtown begann, kaum angelaufen, war er auch schon nach kurzer Zeit bereits wieder zum Stillstand gekommen, dramatisch verbrämt durch den Lärm aus ohrenbetäubendem Gehupe und aufdringlichen Motorengeräuschen. Verzweifelte, die versuchten, die verlorene Zeit wieder aufzuholen, indem sie sich in waghalsige Abkürzungen stürzten, wurden in ihren aussichtslosen Bemühungen jäh gestoppt, als auch die Nebenstraßen ihr dicht geschlossenes Autochaos präsentierten.
Dieser Zustand übertrieben bienenartiger Emsigkeit spiegelte das Ergebnis einer Lebensweise der letzten Jahrzehnte, in denen man ausschließlich darum bemüht war, die linken Gehirnhälften zu trainieren, Leistung zu erbringen und es zu schaffen, in einer Gesellschaft bestehen zu können, die ausschließlich auf Erfolg ausgerichtet war, während die rechten Hirnhälften zusehends zu verkümmern drohten, welche die Emotionen bargen, wie auch die Fähigkeiten zur Empathie, Verantwortung und des moralischen Bewusstseins.
Unter diesen Bedingungen hatte der Leidensdruck der Massen ungeheuer zugenommen, Politik war an einem kaum mehr zu unterbietenden Niveau angelangt und längst nicht mehr in der Lage, den Schwächsten und Schwachen zu helfen, wie er überall feststellen musste. Ein Umschwung war nicht in naher Sicht, ein Sich-Zurückziehen aus der Überfrachtung nicht möglich.
Skrupellose Manager verschleuderten indes Milliarden, die ihnen nicht gehörten, in Projekte, die keiner brauchte. Arbeitgeber schikanierten ihre Angestellten und setzten sie unter Druck. Sie trieben sie in die Enge und damit in die innere Emigration. So war man einsam geworden unter Millionen anderen.
Und die amerikanische Mission? Frieden bringen, wenn er im eigenen Land selbst nur schwer zustande zu bringen war? Von hier aus flossen stets ungeheure Impulse westlicher Ideologie als auch eine gewisse Arroganz in die ganze Welt und bestimmten den Herzrhythmus globalen Bewusstseins. Anstelle der Arroganz wären besser Diplomatie und Verständnis für die unterschiedliche Entwicklung der Völker getreten, dachte Marcel.
Wieder einmal war Marcel als blinder Subway-Passagier ein paar Stationen weiter mit dem Menschenstrom zum Ausgang Central Park mitgeschwommen und immer noch überwältigte ihn die Skyline der Hochhäuser jenseits der Grünflächen, wenn er zu ihnen hochblickte.
„Don´t follow any street, when it turns into bad“, erinnerte er sich der Worte eines Fremdenführers. Aber sie galten nicht für ihn. Für kurze Zeit vermeinte er den Swing von Gershwin-Sound zu hören, als ob man sich in einem Woody-Allen-Film befände.
Unglaublich sanft die Grenzlinien dieses Parks im Verhältnis zur straffen, eckigen Architektur rundum. Ein paar Rollerblade-Läufer, eine junge Frau mit Kinderwagen, ein paar Dunkelhäutige, die Rugby spielten. Ein Ort zum Nachdenken, zum Durchatmen, wer sich vom Wahnsinn der Straßen hier herein absichtlich oder unabsichtlich verlaufen hatte.
Den Central-Park lieben setzte voraus, ihn in- und auswendig zu kennen. „Kevin allein in New York“ war zu wenig, dachte Marcel und erinnerte sich daran, seiner Enkelin Jana versprochen zu haben, ihr gleich nach seiner Ankunft eine Ansichtskarte zu schreiben. Nun war ihm auch das unmöglich geworden. Stattdessen verbrachte er seine Zeit im Park, im Central-Park, dieser Laube für Verliebte, Safe nervöser Dealer, Trainingslager des Volkes für Jogger, Baseball-Spieler und Rollerblade-Fahrer.
Dann wieder Mittagszeit in Manhattan. Wie auf Kommando erbrachen die Häuser Menschen aus ihren Pforten, Drehtüren und Toren, als wollten sie im Zustand überreizter Übelkeit plötzlich alle auf einmal loswerden. Mittagszeit, Zeit, Luft zu holen. Zeit, für eine knappe Stunde Mensch sein zu dürfen, akustisch dramatisiert durch das Sirenengeheul zahlloser Einsatzfahrzeuge.
An der Ecke wickelte ein Dealer seine Geschäfte ab. Niemand schien sich dafür zu interessieren. Gegenüber Latinos, die gefälschte Rolex-Uhren verkauften und unruhig nach links und rechts blickten. Einer von ihnen begann plötzlich, sein Zeug hastig zusammenzupacken. Kurz darauf rannte er die Straße hinunter. Hinter ihm zwei Cops mit dunklen Sonnenbrillen.
Wenn es wieder Abend wurde, war man vom Lichtermeer am Times Square geblendet. Wie diese Stadt dröhnte, strahlte und vor unsichtbarer Energie, die nie zu Ende gehen schien, pulsierte! Hierher hätte man kommen müssen, als man jung war, als man noch verliebt war, dachte Marcel. Mein Gott, die Liebe! „Wanna get laid?“, pflegte man hier so ganz locker zu sagen, wenn zwischen den Geschlechtern was abging. Wanna get laid! Überall klebten kleine Logos mit der Aufschrift „I love N.Y.“, an Postkästen, an Autohecks, an Auslagenscheiben und Parkbänken.
Empire State Building war verpflichtend. Marcel war schon so oft da gewesen, auch an einem Sonntag. Gut erkennbar am nichtabreißenwollenden Touristenstrom. Am Sonntag hatte King-Kong Dienst. Immer dann, wenn sich die Schiebetüren am obersten Aufzug öffneten, sprang plötzlich ein als überdimensionaler schwarzer Gorilla verkleideter Mann mit lautem Gebrüll vor die zu Tode erschrockenen Leute, die eben im Begriff waren, den Lift zu verlassen. Einmal beobachtete Marcel, wie eine zierliche Japanerin vor Schreck in Ohnmacht fiel.
Vom obersten Stockwerk aus hatte man eine umwerfende Aussicht auf Manhattan. Wandte man den Blick den dunklen Abgründen darunter zu, konnte man die aufgespannten Netze sehen, welche Selbstmörder noch in letzter Minute vor ihrem Unheil bewahren sollten. Schlimm genug, wer in diese Luftschaukel fiel, wie ein Fisch im Fangnetz strampelnd, um dann in aufwendigen Rettungsaktionen geborgen zu werden. Bestaunt von der gaffenden Menge da oben und unter dem Beschuss Hunderter Fotoapparate. Aber die Netze hielten dem jähen Fall nicht immer stand und so klatschten hin und wieder einige nach dem freien Fall von gut vierhundert Metern unten am Gehsteig auf, flachgedrückt wie Flundern. Man konnte von Glück reden, wenn dabei niemand getroffen wurde.
Seine Blicke fielen auf Fetzen einer New York Times, vor ihm am Boden liegend. Er überflog die Überschrift. Der siebte November. Er überlegte. Er war am sechsten von Frankfurt weggeflogen. Unmöglich. Konnte es sein…? Der obere Teil des Textes hatte arg gelitten, da er in einer kleinen Pfütze aus Regenwasser gelegen war. Alles, was noch zu lesen war, schien die Schlagzeile zu sein und ein paar Zeilenfragmente. Oder doch! Dort, dieses Stück konnte noch dazugehören. In völliger Ruhe, als ob es die natürlichste Sache der Welt gewesen wäre, buchstabierte Marcel den lückenhaften Text: „… die Mitternachtsmaschine aus Frankfurt a. Main, die Ortszeit um 16 Uhr in New York J. F. Kennedy hätte landen sollen, meldete um 15 Uhr 52 den Totalausfall beider Triebwerke. Im Sinkflug gelang es dem Piloten gerade noch, den Crash über dem Stadtgebiet zu verhindern, um kurz darauf im …“ Hier fehlte abermals ein Stück Papier. Die letzten Stellen des Textes lauteten: „… wobei die Notwasserung zwar geglückt war, die Maschine aber auseinandergebrochen und binnen Sekunden in den Fluten …“ Damit endete der Text. Marcel starrte ins Nichts.
Gedankenfetzen: Er müsse sogleich schreiben, hatte ihn seine Enkelin Jana beschworen. Ja, er hätte gleich schreiben sollen, flüsterte Marcel noch, für niemanden hörbar. Und es wurde noch stiller um ihn, das Licht noch schwächer. Im selben Augenblick dachte er noch einmal an die Mauer, und daran, wie er sich gefreut hatte, als sie endlich gefallen war. Das wäre ja vorauszusehen gewesen. Aber nun war alles ganz anders gekommen. Er ahnte, als hätte für ihn eine Art letzte große Freiheit begonnen!
Marcel hätte tief durchatmen wollen, aber es war physisch nicht vonnöten. Also richtete er sich auf und betrachtete lange den grünen Streifen des Central-Parks am Horizont. Es würde alles gut sein hier. Die alten Wunden würden verschorfen, neue nicht geschlagen werden.
Norbert Johannes Prenner
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