Die Krise 5 - Innere Zweifel

Allen am Gesellschaftsleben Teilnehmenden, die hier in Zwicklingsau (gleichwie Hintertupfing) lebten, war längstens klar, dass der ortsbekannte Lebemann und Nichtsnutz, Porsche 911-Fahrer von Gnaden, Paul Pedasoli, ein bereits längeres Verhältnis mit der attraktiven Geschenkboutiquebesitzerin Stefanie Raymundo aufrechthielt, trotz deren gespaltener Zuneigung zur lokalprominenten Künstlerin Eva Vanin.
Pedasoli mochte an die fünfzig sein, und war sicherlich nicht mittellos, wie man an seiner Kleidung oder seinem fahrbaren Untersatz feststellen konnte. Am hiesigen Meldeamt schien er nicht auf im Register. Unklar hingegen war auch, woher die Mittel für seinen luxuriösen Lebenswandel stammten. Klar hingegen war, dass die vereinigte Liga der Kirchenbankreserviererinnen Stefanie Raymundo zutiefst beneidete und sie längst auf die Titelseite ihrer Klatsch- und Tratschgeschichten gehievt hatte. Den Anlass für die allgemeine Ächtung bot ein sich bereits öfter wiederholendes merkwürdiges Ritual um die Geschäftszeiten von Raymundos Boutique, welches Rembert Mirando neulich bereits um eine Facette bereichert hatte.
Immer dann aber, wenn der schwarze Porsche Pedasolis vor Raymundos Geschäft parkte, hing ein kleines Kartonschild an der Eingangstüre, auf dem geschrieben stand: Komme gleich, bitte warten! Aufgeklebte Gänseblümchen und Veilchen verzierten dieses Schild rund um das Geschriebene zusätzlich. Und es hatte sich längst herumgesprochen, dass es meist den ganzen Nachmittag dort hängen blieb.
Insider wussten es besser, nämlich, dass das Geschäft in dieser Zeit stets geschlossen war. Im ersten Stock des Hauses aber, den Stefanie alleine bewohnte, waren die Gardinen am helllichten Tage zugezogen. So auch an jenem Tag, nachdem der schwarze Porsche 911 wieder einmal vor Stefanies Geschäft geparkt hatte, diesmal allerdings völlig überraschend, und das nicht nur für die Leute hinter den Gardinen gegenüber.

Paul hatte einen zweiten Schlüssel und ging erst gar nicht durchs Geschäft, sondern verschaffte sich durch die Hintertür Zutritt zum Eingang von Stefanies Refugium. Er stieg die Treppen hoch bis zu Raymundos Wohnung, steckte den Schlüssel an und wollte aufsperren, als er sofort merkte, die Türe stand ohnehin schon offen, leicht angelehnt. Paul rieb sich die Hände, wollte er doch Stefanie auf seine unvergleichlich urureigenste Art überraschen. Aber er kam nicht weiter, bloß bis vor die Küchentür, als er lautes Stöhnen zweier weiblicher Stimmen vernahm. Vorsichtig trat er hinzu und spähte durch den Spalt, den die halb offene Türe hinterlassen hatte. Eva Vanin, an die Spüle gelehnt, die Jeans hinabgelassen, das Höschen verrutscht, von Stefanie liebkost und geknetet, hielt ihre erhitzten Wangen an jene Stefanies und wiegte sich im Takte unhörbarer Melodienreigen. Pedasoli fuhr zurück. Hier war das Vieh schon an der Tränke!, durchzuckte es ihn.

Insgeheim hatte er irgendwie Kenntnis von Stefanies geheimer Neigung gehabt. Bestätigung dafür hatte es bis jetzt keine gegeben. Vibrierende Neugierde trieb ihn dennoch einmal dazu, die Beobachtung fortzusetzen. Seine Fantasie geriet in Wallung, bis er ihr durch den Entschluss ein Ende setzte, leise den Rückzug anzutreten und unauffällig, wie er gekommen war, das Haus zu verlassen.
Davor jedoch verschaffte er sich über die rückwärtige Treppe des Flurs Zutritt zum Verkaufsraum. Den Nachschlüssel hatte er sich längst besorgt. Der kluge Mann baut vor. Ein kurzer Blick über die Regale fand seine Ruhestätte an einer offenen Schatulle, der Ladenkasse, welche nahe der Eingangstür auf dem Pult stand. Pedasoli trat rasch hinzu, entnahm ihr einige kleinere Scheine, eben kurz einmal illiquid, wie er war, würde er Stefanie das Geld später selbstverständlich zurückgeben, schließlich war man Ehrenmann, und verschwand unbeobachtet zur Hintertür hinaus. Er bestieg seinen Wagen und entfernte sich ohne jedes Aufsehen. In den der Boutique gegenüberliegenden Wohnungen glitten die vorsichtig beiseitegeschobenen Gardinen wieder unauffällig in ihre gewohnte Position zurück.

Durchtauchen, durchfuhr es Rembert Mirando unterdessen, geheimer Mandatar zuletzt, bis die Turbulenzen vorbei wären. Er müsste nur durchhalten, die Krise auf seine Art bewältigen. Experten und Laien rätselten gemeinsam ja längst über die Dauer derselben. Das war immer so. Zuerst war der Finanzmarkt, dann die Industrie betroffen, und dann erst der kleine Mann. In Krisenzeiten musste man einfach flexibel sein, sich auf neue Gegebenheiten einstellen können.
Seelische Gleichgewichte konnten dabei leicht ins Trudeln kommen. Er aber würde nicht in die Opferrolle fallen, hatte er sich vorgenommen. Er selbst würde nichts persönlich nehmen. Man könnte ja Mut und Rat aus der Umwelt ziehen, und dabei ausstrahlen, wie wichtig man war. Dabei konzentrierte sich die übrige Welt hoffentlich auf die Umstände, wie und wodurch alles zu guter Letzt derart zustandegekommen war, jedoch nicht auf ihn und seine geheime Transaktion.

Eines Tages erschienen in einem kurzen Artikel der regionalen Presse einige Zeilen über den Grundstückskauf der Escortins auf naturgeschütztem Gelände. Dieser Artikel rief allgemeine Empörung hervor. Die Opposition, sonst lediglich unauffällig vor sich hin schwächelnd, plusterte sich ungewöhnlich heftig auf und tat dabei, als hätte sie von der ganzen Schweinerei nichts gewusst, obwohl ihre Unterschrift ebenso auf dem Kaufvertrag prangte wie jene des Bürgermeisters, des Amtmannes und Mirandos, Finanzbeauftragter und Kulturguru.
Ganz besonders aber regte ein kurzer Nachsatz in dem Artikel auf, nämlich der, dass Geld geflossen sei in dieser Sache. An wen, stand nicht dabei. Das war wiederum Wasser auf die Mühlen der Klatsch- und Tratschgesellschaft und es wuchsen die verschiedensten Gerüchte, Wolkenkratzern gleich, bis hoch in den Himmel. Unter ihnen auch solche, in denen behauptet wurde, Rembert Mirando wäre in die Sache involviert, einer, den mittlerweile niemand so richtig leiden mochte, seit er seine Position im Gemeinderat dazu benutzte, sich unangenehm hervorzutun und Bürgerwünsche abschmetterte.

Da war plötzlich auch von gewaltigen Pyramidenspielen mit Steuergeldern die Rede. Dutzende Geldgeber wären ohne deren Wissen zu Komplizen gemacht worden. Das Gerede um geheime Transaktionen nährte Fantasien von gewinnbringenden Projekten, in die zu investieren es sich gelohnt hätte. Ein weiteres, schmuckloses Schreiben war aufgetaucht mit der Botschaft, ein schwindelerregendes Geldkarussell wäre in Gang gesetzt worden, um zu vertuschen, wo der ganze Zaster tatsächlich geblieben sei.
Das Volk war irritiert und erregt zugleich. Der Klerus donnerte sonntags von der Kanzel herunter, der seelische Müll müsse zuerst beseitigt werden! Die geistige Umweltverschmutzung sei verantwortlich für die Wirtschaftskrise. Gier und Materialismus zerstörten ihre Umwelt. Wo der Mensch nicht mehr zählte, würden fundamentale Werte schwinden. Das klang alles sehr ernst und es war keine Rede mehr davon, dass Gleichgeschlechtlichkeit heilbar wäre.

Mirando hatte den Zeitungsartikel immer wieder gelesen und er musste sich eingestehen, dieser hatte ihn, ganz gegen seine Gewohnheiten, irgendwie peinlich berührt. Schon malte er sich aus, wie bösartig die Lokalpresse reagieren würde, wenn‘s endlich einen Prominenten erwischt hätte. Und in gewisser Weise war er ein Prominenter. Zumindest hier in Zwicklingsau. (Es wäre wahrscheinlich auch in Hintertupfing nicht anders gewesen.) Vielleicht nahm man ihn in Untersuchungshaft? Sein Privatleben würde verglichen werden mit dem des angehenden Mandatars Rembert Mirando, und ob sich darin Widersinniges fände. Auch könnte man danach nicht so einfach zur Tagesordnung über- und er nicht mehr ganz einfach so zum Fleischhauer hinübergehen und sich von dessen entzückender Tochter bedienen lassen. Vielmehr bestand die Wahrscheinlichkeit, dass man ihn dort überhaupt nicht mehr bediente.
Vielleicht aber gäbe es „Wurschtbrot“ im Gefängnis, anstatt Wildbret, sicherlich. Dort würde er einen Raum mit einem Fremden teilen müssen. Und er könnte nicht in der Nacht aufstehen und zum Kühlschrank gehen, um Schinken und ein kaltes Bier herauszunehmen oder sich einen Whisky einschenken, wenn ihn die Sorgen nicht schlafen ließen. Und mit seinen Kurzbesuchen bei Stefanie wäre es auch vorbei. Und seine Gattin würde sich scheiden lassen. Mit Sicherheit!

Das alles erschreckte ihn ungemein, wie auch die Vision, den ganzen Tag über von irgendeinem kleinen Gauner oder Fixer oder Kiffer oder Wichser oder sonst irgendeinem Untermenschen, gar einem Ausländer, einem muslimischen Fanatiker oder einem vorbestraften Messerstecher beobachtet zu werden! Bestenfalls würde es ein erfahrener Mithäftling sein, der ihn in den ersten Tagen unterweisen würde, und ihm helfen sollte, den Gefängnisschock zu überwinden. Undenkbar das alles! Vielleicht könnte ihn die Escortin protegieren, wenn es so weit wäre? Dieser Mithäftling also würde auf ihn aufpassen, damit ihm nichts passierte. Dass er sich nicht am Schnürsenkel erhängte oder sich in der Klospüle ertränkte oder so ähnlich.
Denn wenn einer so in der Öffentlichkeit stand wie Mirando, dann würde man ihm eben helfen, den Haftschock zu überwinden. Mirando, der stets gerne in der Natur war, und wenn es nur der Gang zur Bank war, dürfte von nun an bloß eine Stunde im Innenhof der Justizanstalt seine Runden drehen. Einziger Luxus wäre, sein Essen aufs Zimmer serviert zu bekommen. Mirando lachte bitter. Allerdings bekäme er hier keine Gourmetmenüs! Aber was man bekam, würde zumindest in anderer Form gebracht werden als in der gewohnten, nämlich im Blechnapf mit dazupassendem Becher. Und glasierten Kalbsbraten gäbe ist es sicher auch nicht. Rehrücken schon gar nicht. Am Abend Brot und Wurst.
Zwei Mal die Woche dürfte er Besuch empfangen, der vorher angemeldet zu sein hätte. Wer würde ihn schon besuchen kommen? Seine Gattin? Nein. Stefanie? Wohl kaum. Die Escortin? Auch nicht. Sie würde sich wahrscheinlich hüten, mit ihm Kontakt zu halten, jetzt, wo er quasi ein Krimineller war, schon aus Rücksicht auf ihren Mann. Wenn das ihr Hase erfahren würde! Nicht auszudenken!
Rembert kniff die Augen zu. Er könnte sie auf der schmalen Gefängnisbank flachlegen, überlegte er. Das intakte Intimleben der Häftlinge wäre neuerdings angeblich ein wichtiges Anliegen der Gefängnisverwaltung. Rembert versuchte, seine destruktiven Gedanken zu verscheuchen, indem er einen Besuch bei der Bank machte, um einen Blick auf sein Konto zu werfen. Noch war nichts verloren! Man musste nur durchtauchen, bis das Schlimmste vorüber war.

Dann aber geschah das Unglaubliche. Der glatte Ostfinanzfisch war verhaftet worden. Es war von gewaltigen Pyramidenspielen mit Steuergeldern die Rede. Von Dutzenden Geldgebern, ohne deren Wissen Gutgläubige zu Komplizen gemacht worden wären. Das Gerede um geheime Transaktionen von Beteiligten aus dem Ort nährte zusehends die Fantasien von gewinnbringenden Projekten, in die zu investieren es sich gelohnt hätte. Ein drittes schmuckloses Schreiben war aufgetaucht mit der Botschaft, ein weiteres schwindelerregendes Geldkarussell wäre in Umlauf gewesen, um zu vertuschen, wo denn das viele Geld eigentlich geblieben sei. Ja, ja, das Volk, sowohl in Zwicklingsau als auch in Hintertupfing war wie immer irritiert und erregt zugleich und man flüsterte auf Gängen und in Hauseinfahrten nur mehr über einen – über Rembert Mirando.
Mirando war nicht entgangen, was hinter seinem Rücken vorging, wenn er durch die leeren Korridore des Gemeindeamtes fegte, um nur ja von niemandem aufgehalten zu werden, um sogleich rasch in seinem Zimmer zu verschwinden. Er hielt die Türe zu seiner Sekretärin geschlossen und wollte überhaupt nicht wissen, ob sie es mit ihren Beinen unter dem Schreibtisch ebenso hielt. Auch die Farbe ihres Höschens interessierte ihn mit einem Male überhaupt nicht mehr. Das hatte es noch nie gegeben und konnte als Zeichen totaler Desorientierung gewertet werden.
Von diesem Zeitpunkt an hatte Mirando sein Element verlassen, Hände zu schütteln, auf Schultern zu klopfen und Schmäh zu führen. Er versteckte sich hinter seinem Schreibtisch, ließ niemanden zu sich vordringen, erledigte alles via e-Mail und verließ das Gemeindeamt stets als Letzter, im dunklen Staubmantel, den Kragen hochgeschlagen. Seine geheimsten Befürchtungen schienen eingetreten zu sein. Er war unter den Verdacht der Geldwäsche wie auch der Bestechung geraten und dafür bekannt geworden, Millionen bekommen zu haben, für dubiose Beratungsgespräche oder so ähnlich.
Untitulierte Zahlungen wären getätigt, und, wie man festgestellt hatte, gefälschte Belege vorgelegt worden, was schließlich zur Festnahme des Finanzfisches geführt hatte, den Mirando in seiner Bedrängnis vor dem Untersuchungsrichter schwer belastete. Dem Barrakuda wurde Verdunkelungsgefahr vorgeworfen und Tatbegehungsgefahr. Geld, von dem keiner wusste, woher es stammte, soll in höchst dubiose Geschäfte geflossen sein, die mit ihrer ursprünglichen Bestimmung herzlich wenig zu tun gehabt hätten.

Das Ortsblatt berichtete von einem Unternehmer, drei Teilhabern und einem ungeschickten Anleger, der seinen Mund nicht hatte halten können, beinahe politischer Mandatar obendrein, sowie einer Firmengruppe, die aus zahlreichen Untergruppen bestünde, mit dem vielversprechenden Namen East-Finance-Cooperation Unlimited, mit Sitz in einer bis dato unbekannten südosteuropäischen Hauptstadt. Ebenso war von einer Main-Consulting GmbH zu lesen, an der jener Ostfinanzmensch mit 65 % beteiligt gewesen wäre.
Was Mirando nicht wissen konnte, dass der angebliche Finanzberater längst die Aufmerksamkeit der Staatsanwaltschaft erregt hatte. Die Rede war auch von Schmiergeldzahlungen an Politiker, mit dem Ziel, Grundstückskäufe zu ermöglichen. Dabei sollen gewaltige Summen hin- und hergeschoben worden sein. Der Name Escortin kam in dem Artikel nicht vor. Allerdings ließ der Begriff „Baumafia“ die Leser aufhorchen. Sechzehn Millionen Umsatz hätte allein die Main-Consulting gemacht, und das mit einer Firma, die lediglich aus zwei Personen bestanden hatte.

In einem Nachsatz wurde quasi nur so nebenbei angemerkt, dass Escortin auf Gemeindegrund, der im Naturschutzgebiet gelegen hätte, mit Bauarbeiten eines Hauses begonnen hätte. Dieser winzige Nachsatz regte riesig auf. Nicht nur, dass man üblicherweise monate-, wenn nicht jahrelanges Warten auf die Behörden in Kauf nehmen musste, bis die Übermittlung des Flächenwidmungsplanes an das zuständige übergeordnete Amt vorgenommen wurde. Ein Akt wurde angelegt, von einem Sachbearbeiter, wenn Zeit dazu war. Das dauerte meist drei bis sechs Monate. Dann wurde der Plan überprüft. Auch das konnte dauern! Ein Antrag musste gestellt werden, was wiederum sechs bis acht Monate in Anspruch nahm, und wenn man Glück hatte, wurde dieser in einer Sitzung nach zwei bis drei Monaten verabschiedet und schließlich dem Gemeinderat vorgelegt.
Nicht so im Falle Escortins: Beschließung der Änderung eines Flächenwidmungsplanes am Montag. Drei Tage später lag der Gemeinderatsbeschluss vor. Am Donnerstag trat die übergeordnete Behörde zusammen. Die Umwidmung wurde genehmigt und bereits am Freitag war der Bescheid an Escortin ergangen. Die Naturschutzbehörde war geschickt ausgeschaltet worden. Escortin war ein reicher Mann. Der Kaufpreis von üblicherweise 30 bis 35 Euro wurde bei diesem Kauf dabei noch unterschritten und Escortin zahlte lediglich 24 Euro pro Quadratmeter.
Das alles hatte die Zwicklingsauer Seele aufs Äußerste irritiert und sie geriet ins Trudeln. (Der hintertupfingerischen erginge es wohl nicht anders.) Die Zwicklingsauer verfluchten Rembert Mirando, den politischen „Beinahe-Mandatar“, als sie davon erfuhren, dass in der Grundstückssache mit Escortin Geld geflossen war, welches er selbst noch obendrein veruntreut hatte. Details über dieses Vermögen und woher es stammte, waren nicht bekannt.

Dabei hatten die meisten gedacht, dass ihr Mirando verlässlich wäre, konservativ, seriös. Im Grunde aber wäre er bloß ein Weiberheld, der den Umgang mit dubiosen Frauen wie dieser Stefanie Raymundo pflegte, und gleichzeitig sogar ein Verhältnis mit Anica Escortin hatte. Ein frecher Maulheld wäre er, sagten sie und ein Weiberer obendrein, der sich überall durchboxte. Wie das seine Frau aushielte, fragte man sich und man bedauerte die Arme.
Überall sei er präsent, um da und dort seine Ellbogen auszufahren, anderen Leuten unaufgefordert den Taktstock zu entreißen, sich bei höherrangigen Politkolleginnen und -kollegen einzuschleimen, immer auf Ausschau nach nützlichen Freunden, die er irgendwie um etwas bitten konnte, nach Partys, auf denen er fürs Fressen und Saufen keinen Groschen bezahlen musste oder Autos mit Prozenten einkaufte, mitschnitt, wann und wo immer es ging.
Obendrein wäre er ein arroganter, stets mit dreckigen Witzen bewaffneter Komiker, der es immer schaffte, mit seinen derben Zoten irgendwo im Mittelpunkt zu stehen und selbstzufrieden zu grinsen, wie ein satter Säugling. Die Leute sagten, man müsse als Politiker sein Publikum unterhalten, auch wenn es nur darum ginge, es mit endlosem, wiederholten Pointendreschen zu langweilen, was einerseits dazu diente, dem eigenen unbeugsamen Willen den notwendigen Nachdruck zu verleihen, andererseits um damit die eigene schwammige Unentschlossenheit zu kaschieren.

Die Leute sagten auch, Rembert Mirando gehöre zu jenen Typen, die in öffentlichen Reden Dinge versprächen, die sie gar nicht halten könnten, aber hinterher sogar noch wissen wollten, ob sie gut gewesen wären. Nun sei er endlich einmal aufs Maul gefallen, freuten sich die Zwicklingsauer und appellierten an die Gerechtigkeit und den langen Arm der Justiz. (Die Hintertupfinger täten es ihnen sicherlich gleich.)
Im Zweifel säße man hierzulande Probleme aus, meinte der Bürgermeister lakonisch, als er auf offener Straße auf seinen sogenannten besten Mann angesprochen worden war. Man folge damit lediglich den Gesetzmäßigkeiten einer Soap-Opera, und dabei lachte er hinterfotzig. Immerhin galten kleine Scherze generell stets als willkommene Interjektion in hilflosen Situationen, rettender Ausdruck aus dem Reich des Unbewussten. Damit ließen sich Konflikte verkleinern und sie lächerlicher erscheinen als sie waren. Nicht zuletzt erzeugten sie für die nähere Umgebung zusätzlich eine gewisse Sicherheit, den Fakten ihre tödliche Ausweglosigkeit zu nehmen. Auf diese Weise konnte man sich dahinter leichter vor seinem eigenen dunklen Schatten verbergen. Man würde dadurch in gewissem Sinne unverletzlicher, für einen Augenblick sogar Sieger, auch wenn man sich gerade auf Talfahrt der eigenen Karriereleiter befand. Wurde darüber gelacht, erfuhr man eine Art Seelentrost und konnte wenigstens für einen Moment die Tatsache verdrängen, in welch einer beschissenen Lage man sich eigentlich befand.

Und Mirando? Mirando dachte zunächst an Flucht. Es würde etwas weiter sein müssen, um den Auslieferungsforderungen innerhalb der EU-Länder entfliehen zu können, überlegte er fieberhaft. Die Escortin müsste her. Mochte sein, dass sie augenblicklich bitterböse auf ihn wäre. Noch lief er frei herum. Auch war noch nicht das ganze Kapital verloren. In letzter Zeit scheute Mirando davor zurück, sich allzu oft in seiner Bankfiliale sehen zu lassen. Der Wahlkampf war bereits im Gange und zeitgleich mit diesem setzten die Auseinandersetzungen mit den politischen Gegnern ein, sich mittels Plakaten auf die Führungspartei einzuschießen. Die Befürchtungen aus den Reihen von Mirandos Parteifreunden waren eingetroffen, denn nach Mirandos Nominierung zum Mandatar wurde zu Recht große Sorge geäußert, er könnte sich in dieser Finanzsache verheddern und dadurch alles in der Partei zu Fall bringen.
Mirando hatte alle Hände voll zu tun, unangenehmen Fragen auszuweichen, einerseits solchen vom Parteivorsitzenden und dem Bürgermeister, andererseits denen der Lokalpresse, die sehr bemüht war, ein möglichst konkretes Bild aller Beteiligten in dieser Sache um den Grundstückskauf der Escortins zu zeichnen.
Und immer wieder wurde in den Kolumnen der Name Rembert Mirandos genannt. Er wäre einer der Hauptbeteiligten, hieß es, obwohl jeder wusste, dass er nur ein kleiner Schleimer war und für solche Geschäfte gar keine Kompetenzen besessen hätte.
Mirando reagierte cholerisch. Im Amt fuhr er die Leute grob an, die etwas von ihm wollten. Privat lief nichts mehr. Seine Gattin hatte von den Kirchenbänklerinnen alles erfahren und sprach kein Wort mehr mit ihm. Stefanie Raymundo hatte ihren Laden geschlossen und der schwarze Porsche Pedasolis parkte schon lange nicht mehr vor ihrem Haus. Es hieß, sie wäre weggezogen und hätte in der Stadt ein neues Geschäft eröffnet. Die Parteifreunde begannen, sich an Mirando abzuputzen. Zuallererst der Bürgermeister, dann der Parteivorsitzende und dann die übrigen. Sie sagten, er würde schon allein durch seine Präsenz alles verderben, was sie aufgebaut hätten, und sie legten ihm nahe, den Abschied zu nehmen.
Es schien, als wäre Rembert Mirandos Schicksal in eine länger andauernde Pechsträhne geraten und es ärgerte ihn maßlos, dass das Glück nicht mehr an seine Tür klopfte. Aber eher würde er sich die Zunge abbeißen, als freiwillig die eigene Schuld einzugestehen, auch wenn es ihm diesmal nicht so gelungen war, wie er es sich vorgestellt hatte. Und Schuld an dem Schlamassel hätte einzig und allein der Ostfinanzfisch. Was aber erst, wenn man dahinter käme, dass es sich beim verlorenen Coup nicht zuletzt auch um die zwischengelagerte Parteienspende Escortins gehandelt hatte? Mirando wurde heiß bei dem Gedanken.

Von den hundertfünfzigtausend waren immerhin noch siebzigtausend übrig. Sollte er es jetzt noch eingestehen? Dem Bürgermeister gestehen, er hätte das Geld dringend für eine private Angelegenheit gebraucht? Zu spät! Zwei Tage später lag auf seinem Schreibtisch eine Nachricht, er möchte doch jetzt, wo ohnehin alles herauskommen würde, gleich die gesamte Summe auf das Konto der Partei überweisen. Es könnte nicht schlimmer kommen, als es schon wäre, stand zu lesen. Besser, man lege die Karten offen, als wenn die Herrschaften von der Opposition dahinterkämen, von wem das Geld geflossen wäre, obwohl das allen bekannt war, nur selbst wollte man es nicht glauben.
Mirando erstarrte. Er lief in seinem Büro hin und her wie ein gereizter Tiger. Alles schien ausweglos. Er würde zu Kreuze kriechen müssen. Dann wäre alles hin. Sein Job, seine politische Karriere, einfach alles! Mirando fuhr mit zwei Fingern zwischen Hals und Hemdkragen. Der Knopf hielt der Spannung nicht stand und sprang ab. Also doch die Escortin. Er griff zum Telefon. Nein, Schwachsinn. Sie könnte ihm nicht helfen. Niemand konnte helfen. Oder wenigstens mit ihr reden, jetzt, in dieser schweren, existenzbedrohenden Situation? Vielleicht um des Gefühls Willen, als Mensch behandelt zu werden, abgeholt zu werden, wo er gerade stünde? War nicht immer auch eine Botschaft in so einer Situation versteckt? Es führte kein Weg daran vorbei. Wie an einer schweren, ja tödlichen Krankheit.

Rembert Mirando war in einer großen psychischen Not. Er, der immer so elegant über das Parkett des Lebens getänzelt war, war an seiner eigenen Gier gestrauchelt. Möglicherweise könnte er mit Anica Escortin Strategien zur Rettung seines Ansehens und Weiterkommens entwickeln? Sie war eine kluge Frau, gewiss.
Ein Balkantief sandte weiterhin feuchte und schwülwarme Luft von Osten nach Zwicklingsau, und Gewitter waren nicht ausgeschlossen. (Hintertupfing schien diesmal davon nicht betroffen.) Ob sie ihm die verlorenen achtzigtausend liehe, die Escortin? Vielleicht verfügte sie gar nicht über eine solche Summe? Von ihrem Hasen würde sie diese wohl kaum bekommen. Wenn der ahnte, für wen das Geld bestimmt wäre, kriegte er mit Sicherheit einen Herzinfarkt! Mirando kam zu keiner Lösung. Er schloss seine Schreibtischlade ab.

Es war gerade vor Geschäftsschluss. Der Bankdirektor staunte nicht schlecht, als Rembert Mirando die restlichen Siebzigtausend von seinem Konto abheben wollte, einfach so, in bar, und das Geld in einem schwarzen Kunstlederkoffer verstaute, den er wohlweislich mitgebracht hatte. Nachdem dieser sich mit dem Geld im Koffer freundlich verabschiedet hatte, eilte der Direktor in sein Büro, um den Bürgermeister anzurufen. Aber es war schon nach vier, und niemand mehr im Gemeindeamt. Der Bürgermeister hatte bereits sein Handy abgeschaltet. Der Bankdirektor schrieb ihm eine SMS, in der Hoffnung, dieser würde sofort zurückrufen, wenn er sie gelesen hatte.
Tags darauf überbrachte der Bote einer privaten Geld-Zustellfirma hundertfünfzigtausend Euro, ließ sich die Übergabe vom mehr als erstaunten Bankdirektor mit dem Hinweis bestätigen, die Summe auf das Konto der Gemeindekasse zu verbuchen und fügte hinzu, er dürfe den Absender aus Gründen des Datenschutzes nicht nennen, punktum! Ja, geht denn das?

An diesem Tag saß Rembert Mirando wie immer in seinem Büro. Es war der Tag, an dem er selbst Parteienverkehr abzuwickeln hatte. Die Warteschlange vor seiner Türe hielt sich in Grenzen. Die Leute, die er rascher als sonst abgefertigt hatte, tuschelten hinter vorgehaltener Hand darüber, dass er ihre Angelegenheiten diesmal zumeist wortlos erledigt hätte, ohne den geringsten, sonst üblichen Zynismus, ohne jegliches cholerisches Getue, wenn einmal ein Papier fehlte, und ohne auch nur den leisesten Anflug eines unanständigen Witzes. Ja, manche hätten sogar ein leises Lächeln auf seinen Lippen bemerkt.
Am gleichen Tag wollten auch einige Dorfbewohner einen Rettungswagen mit Blaulicht und Folgetonhorn zur Villa der Escortins hochfahren gesehen haben, und tags darauf stand im Zwicklingsauer Tagblatt (davon wusste man nichts in Hintertupfing) zu lesen, dass der bekannte Bauunternehmer Denis Escortin einem Schlaganfall erlegen wäre. Die Beerdigung würde am Freitag um vierzehn Uhr am hiesigen Friedhof stattfinden. Mit zahlreichen Trauergästen sei zu rechnen.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 15075

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