Das Totenmahl

Liebe Constance!

Da ich dich telefonisch nicht erreiche, schreibe ich dir ganz einfach. Ich muss zugeben, ein völlig neues Gefühl. Ich brauche nicht zu versuchen, mir deine Stimme vorzustellen, denn ich höre sie andauernd in mir, sie ist mir in all den Jahren zu vertraut geworden, dies solltest du wissen. Nach anfänglichem Entsetzen über deine schriftliche Nachricht, du würdest nun in Paris bleiben, es sind nun einige Tage vergangen, habe ich mich so weit gefasst, dass ich in der Lage bin, dir meine Situation zu schildern, in die du mich durch deine, eine für mich völlig neue Seite an dir, ungezügelte Triebhaftigkeit gebracht hast, oder Liebe, wie du es nennst, und möchte dir mitteilen, dass ich beabsichtige, mich von dir zu trennen, weil ich die augenblickliche Situation nicht länger ertragen kann.
Wenn ich mir vorstelle, dass dich dieser breitschultrige Affe Tag und Nacht berührt, wohl mehr noch, empfinde ich Ekel und Wut gleichzeitig und bezweifle zutiefst, dich je wieder unvorein-genommen in die Arme schließen und dich lieben zu können, wie ich es bisher getan habe. Vielleicht war ich all die Jahre auch nur ein Spielzeug für dich, welches du jetzt, dessen überdrüssig geworden, ganz einfach weggeworfen hast.

Ich kann den Sinn unserer Beziehung nicht mehr erkennen und denke, dass dies der beste Weg für uns beide sein wird. Wenn du zurückkommst, werde ich nicht mehr in unserer Wohnung sein. Meine Bücher, die Regale und den Fernseher nehme ich mit, schließlich sind sie mein Eigentum und so gut wie alles, was ich vorläufig brauche. Bezüglich der Wohnung, des Autos und all der anderen Sachen können wir uns über Klaus verständigen, den ich als Anwalt kontaktieren werde. Ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich ihn damit beauftrage. Wenn mich mein siebter Sinn nicht im Stich lässt, warst du ja einmal sehr eng mit ihm befreundet. Ich ersuche dich lediglich, unsere finanziellen Angelegenheiten mit deiner Bank so zu regeln, dass du die Hälfte unseres gemeinsamen Kredites nunmehr wieder auf dich umschreiben lässt.

Ich habe dir sonst nichts mehr zu sagen, als dass ich von ungeheurem Schmerz über das jähe Ende unserer Gemeinsamkeiten wie gelähmt bin, unfähig, jetzt noch länger darüber nachzudenken. Neunzehn Jahre sind schließlich nicht irgendwas. Ich wünsche dir nicht zuletzt, dass du das, was wir in diesen Jahren gemeinsam erlebt und genossen haben, nicht gegen minder Qualitatives eintauschen musst und dich die Wahl, die du nun getroffen hast, nicht eines Tages reut. In Liebe … Arno hatte diese Worte mit dem Tintenkiller wieder ausgelöscht und durch „In Freundschaft, Arno“ ersetzt. Er wollte eigentlich „dein Arno“ schreiben, aber plötzlich war ihm bewusst, dass er nicht mehr „ihr Arno“ war.

Merkwürdig, dachte er, es störte ihn jetzt gar nicht so sehr, dass sie ihn so plötzlich verlassen hatte. Eine Lüge? Zum Selbstschutz? Immerhin, sie war ja bereits zweimal wieder zurückgekommen, seit sie mit diesem… Lächerliches Theater! Eine Affäre eben. Käme in den besten Familien vor, versuchte er sich einzureden. Aber diesmal? Er konnte sich nicht erklären, was sie diesmal für eine Show abzuziehen gedachte. Dabei hatte er sie stets für eine kluge Frau gehalten, für eine gebildete, beinahe zu berechnende Frau. Zu berechnend! Eine mit Anstand und Moral. Nein? Und wenn schon. Einen Arno Schmidt verlässt man eben nicht, durchfuhr es ihn, obwohl er dem Wahrheitsgehalt solcher und ähnlicher Aussagen selbst kaum große Bedeutung beimaß.

Plötzlich fiel ihm seine eigene kurze Liaison mit Clara ein, die mit dem Nitrogeschmack auf den Lippen und dem gelenkigen Körper. Armins Schwester. Und überhaupt, er hatte eine Menge zu tun gehabt, mit Schwestern von Freunden und so, überlegte er. Mochte wohl alles eine Frage der Gelegenheit sein. Und erst Lissi Radner! Aber nein, da war nichts. Wie denn auch? Wegen mangelnder Erotik. Du liebe Zeit! Wie schnell doch dieses Leben ablief. Die ist auch älter geworden, überlegte er, und dachte voll Grauen an die peinliche Szene in einem Lokal im Zuge des Totenmahls im September, wo sie ihn, so ganz ohne Vorwarnung und ohne jeglichen für ihn ersichtlichen Grund öffentlich bloßgestellt hatte. Blöde Kuh!
Er wäre ganz einfach anders geworden, überlegte er, während dieser Zeit, irgendwie anders. Jetzt wäre er nicht mehr so wie damals vor Abhängigkeit und Sehnsucht nach Constance gestorben, vor lauter Demütigung durch ihr Verhältnis mit diesem Franzosen abgestumpft, apathisch, irgendwie am Ende. Anfangs vielleicht, ja. Da hatte er noch gekämpft um sie. Aber jetzt? Sinnlos. Es wäre ihm gleichgültig, wie die Sache sich entwickeln mochte, beschloss er für sich. Und er dachte an ihre zahlreichen Briefe, die er bis jetzt von ihr bekommen hatte, und die Worte darin, die ihm wie Eisen im Fleisch steckten.

Die Briefe! Wo hab ich die Briefe nur hingeräumt, überlegte Arno fieberhaft. Ich weiß, dass du vor Sehnsucht vergehst, begannen die ersten Worte in einem davon, und … so wie ich hier vor Schmerz zerrissen bin, in Paris, zerrissen zwischen dir und ihm … ach, er war ja doch betroffen. Arno fühlte sich betroffen, ja, gleichzeitig aber auch getroffen, sich selbst einen Spiegel vorhalten zu müssen, in dem er zu erkennen glaubte, seine eigene Ehrlichkeit in Frage stellen zu müssen. War nicht ein solcher Mensch, der seine Fehler und Schwächen offen und ehrlich zugab, der bessere Mensch? War Constance in ihren Verfehlungen und ihrem Schmerz darüber nicht ehrlicher als er selbst in seinen Vorwürfen ihr gegenüber? Da waren noch seine kleinen Spielchen mit Clara, mit Marion, mit Lea und weiß Gott noch mit wem?
In diesem Augenblick hasste er sich! Er hasste sich für seine Kleinbürgerlichkeit, für seine Ängstlichkeit, für seinen Irrglauben, dieses Leben hier würde ewig dauern und würde sich ohne sein Zutun, etwas an seiner eigenen Situation ändern zu wollen, zum Besseren wenden. Lächerlich das alles!, raunte er vor sich hin.
Er würde sich dem Gespräch mit Constance stellen müssen, ob er nun wollte oder nicht. Jetzt, wenn sie bloß da wäre, dachte er. Gleich! Sofort! Er war ja doch immer bloß auf der Flucht gewesen. Oder besser mit Lea mit dem letzten Geld in den Süden fahren? Und danach? Vielleicht käme Constance inzwischen zurück? Schwachsinn!

Bald kam das neue Jahr. Und die Aussichten waren nicht gerade rosig. Schließlich war Rezession angesagt. Kurzarbeit lag in der Luft, gar keine bei ihm. Noch. Vielleicht würde es etwas mit dem Roman. Diesen Roman müsste er schreiben, sagte er zu sich ja immer. Die Idee ließ ihn nicht los. Was sei er doch für ein heilloser Träumer!, haderte er mit sich.
Ich muss es ihr sagen, dass ich für ihren persönlichen Jammer keine Zeit mehr habe. Ich verreise ganz einfach. I can’t feel her on my skin … dabei lächelte er, als er sich dabei ertappte, diese Melodie leise vor sich hin zu pfeifen, ganz von selber, unbewusst.
Größe haben, wäre gefragt. Größe. Die Größe, hinzugehen und ihr zu sagen, schön, dass du wieder da bist, wenn sie hier wäre. Wenn sie bloß hier wäre! Ist was passiert? Du musst wissen, ich verreise, mit … Vielleicht würde sie ihm schon gleich zu Beginn ins Wort fallen? Dann würde sie erzählen, wieso sie überhaupt wieder zurückgekommen wäre und so weiter. Seine Gehirnmühle mahlte und mahlte.

Und im Übrigen, was war falsch daran gewesen, neulich mit Marion ins Bett zu gehen? Schließlich lebten sie zu der Zeit sozusagen getrennt voneinander. Hätte er auf Constance warten sollen, bis sie wiederkam? Vielleicht, bis zum jüngsten Tag? Ach Quatsch!

Arno dachte an sein bereits begonnenes Manuskript, diesen kümmerlichen Versuch, sprachliche Divergenzen seiner subjektiven Wahrnehmung umzusetzen, jener tiefen Betroffenheit, den Vorgängen zwischen ihm und seiner unmittelbaren Beziehung zur Außenwelt ein sprachliches Gesicht zu geben, wie er das nannte. Ein schlechter Liebesroman würde es werden, sonst nichts. Leicht durchschaubare Mischszenen zwischen ihm und seinem eigenen Versagen, Constance das zu bieten, was sie offenbar woanders suchte.
Zielloser Aktionismus vertrackter, diametral auseinanderlaufender Lebensläufe im Visier eines psychotisch-neurotischen Blindgängers, der drauf und dran war, mit seinen ungewollten Liebesabenteuern das Chaos zu perfektionieren, wo er doch nur eines im Sinn hatte, mit Constance ein normales Leben zu führen. Er würde hineingehen zu ihr, wenn sie jetzt da wäre, sicher. Sie würden über alles reden und danach würde man dann die großen Dinge angehen. Sie die ihren, er die seinen.
Und er selbst nahm sich vor, dabei ganz locker darüberzustehen, ohne sich gleich zu fragen, was anders geworden wäre, wenn … Wir sind doch nicht so wie die andern, die sich bloß verlieben und dann weiterwandern, verhallte Udo Lindenberg in ihm.

Aber dann …. ach ja, dieses Totenmahl, durchzuckte ihn die Erinnerung zum wiederholten Mal. War doch längst Vergangenheit. Arno starrte Löcher in die Luft. Wie war das gleich noch damals? Das Rad war heute nicht zu stoppen! Er war gerade noch rechtzeitig eingetroffen, in dem kleinen Lokal am Hauptplatz, um wenigstens das „Totenmahl“ nicht zu versäumen. Der Verstorbene war längst erfolgreich in die Gruft versenkt worden, worin Stiefvater und tatsächliche Mutter schon seit geraumer Zeit ruhten, alles in allem höchst unkonventionell, mit Getute und Geblase von New-Orleans-Blues untermalt, wie ihm zu Ohren gekommen war. Arno betrat soeben das kleine Kaffeehaus, in dem die Trauergäste den Abschied ihres lieben Freunds begossen, wobei er, als Zuspätkommender, Anekdoten zu lauschen gedachte, die sich um den Verblichenen rankten, aber auch, um alte Freunde wiederzutreffen, auch Freundinnen, von denen er überzeugt war, dass sie es auch noch immer waren.
Gleich am ersten Tisch begrüßte ihn die Organisatorin dieses Himmelfahrtsevents mit einem sanften Kuss, den Arno nur zu gerne erwiderte. Caro Ass, Arnos ziemlich bester Freund und Beichtvater, wenn man so wollte, winkte aus der hintersten Ecke, der Leibesfülle halber kaum zu übersehen. Arno begann, all die zahlreichen Gesichter abzuklappern, blickte in bekannte und unbekannte Augenpaare, mit dem Gefühl, absolut nichts zu versäumen, wenn er deren Besitzer auch nicht alle gleich begrüßte, um sich diesen eventuell auch zu einem späteren Zeitpunkt widmen zu können.

Wer aber war der frisch Verblichene? Nun, der Tote war ein Mann der ersten Stunde der aufbrechenden 68er, Theresianums-Zögling, danach erst DJ, dann Fahrlehrer, schließlich Künstler und Lebenskünstler mit wenig Geschick in beiden Disziplinen. Immerhin passiver Aktivist des aktiven Widerstandes gegen das Establishment, gegen den Konservativismus, gegen die Heuchelei, gegen die Präpotenz und die Dummheit, gegen jede Art von Verherrlichung des Krieges oder dessen Herbeireden, einer, der im Kampf in der Errichtung seiner freidenkerischen Windmühlen gefallen war, von deren sich im Winde drehenden Flügeln er sich Kühlung seines Lebens- wie auch Liebeskummers erhofft hatte.
Rein optisch gesehen scheinbarer Klon zwischen Peter Fonda und Chris Kristofferson, schlohweiße Mähne mit dazupassendem Vollbart, Ray-Ban-Brille in Gold mit großen Gläsern. Dass der Abgang dieses lieben Freundes schmerzte, der bisweilen auch unbequem sein konnte, wenn man die Finger in seine Wunden legte oder nicht damit hinterm Berg hielt, seiner immer wieder aufgewärmten Geschichten müde zu sein, war allen bewusst, wie auch die Tatsache, dass sein konsequentes Sitzenbleiben, zum Überdruss für alle Beteiligten, oftmals die Nacht zum Tag gemacht hatte.
Doch nur wenige wussten um seine wahre Leidenschaft, die Malerei. Eingeweihte hingegen schätzten ihn als wenngleich ruhmlosen, doch äußerst geheimen Rat der Pinselkunst. (In diesem Land musste man erst tot sein, um Lorbeeren in so einer Disziplin zu erlangen, oder man hatte Beziehungen.) Immerhin, er hatte einige Semester an der Akademie absolviert, doch dann hatte ihn das Schicksal mit List in die Welt des Profanen katapultiert und es sich zur Aufgabe gemacht, ihn stets mit Gewalt von dem fernzuhalten, wovon er glaubte, dass es seine Bestimmung sei.
Vielleicht war er ganz einfach zu bescheiden im Umgang mit seiner Begabung und hatte es nicht verstanden, sich zu verkaufen?

Im Gegensatz zu ihm pflegte in seinem Heimatort manch Hobbykünstler großmannsüchtig sich die Lorbeeren selbst aufs Haupt zu drücken und mit sinnigen Sprüchen wie, „Hier wohnt die Kunst“ über dem Hauseingang zu protzen, was in Vorübergehenden wiederum die Ahnung nähren mochte, dass in diesem Hause wohl eher der Kitsch als die Kunst zu Hause wäre, oder besser gesagt, nur ihr Phänomen, in Form der Verkennung ästhetischer Sinnzusammenhänge, als verwesendes Ornament sozusagen, als unverfälschter Ausdruck des Verfalls aller Kultur zur Massenkultur in der Moderne.
Denn heute, da das Bewusstsein der Herrschenden mit der Gesamttendenz der Gesellschaft zusammenzufallen beginne, zergehe die Spannung von Kultur und Kitsch, sagt Adorno zu Recht. Kunst sei nicht zuletzt das Schöne wie auch die Wahrheit. Alles andere sei Schein. Es sei schon ein Stück Wahrheit, die der Künstler einfängt, auch wenn es lediglich der Abglanz derselben und mit unterschiedlicher Akzentsetzung ein Spiel mit den letzten Dingen ist und er damit doch gewissermaßen ein Endspiel erreicht, das nicht bloß erbauen und gefällig sein will. Eine Wirklichkeit also, die in schöner Weise verschleiert, Wirklichkeit aber erst dadurch sichtbar macht, hat einen gewissen Anteil am Schönen als auch am Hässlichen.
Form und Inhalt unterscheiden sie und lassen alles an ihr sehen und erahnen, an dieser Kunst. Nichts jedoch ist wirklicher als das Unwirkliche in der Kunst. Kunst ist also konkret ein schöpferischer Prozess mit Anspruch auf das Unaussprechliche, Unendliche, Unfassbare und Unbegreifbare. Und davon abgesehen, wer könne überhaupt für mehr als eine bestimmte Gruppe bestimmen, was Kunst denn überhaupt sei?

Wie auch immer. Böse Zungen behaupteten, das dahingeschiedene verkannte Genie hätte sich zu Tode gesoffen. Mitnichten. Enteignet, ausgenützt und hintergangen, längst unter Beobachtung der Behörden, noch dazu vor den Augen einer Supermarktkassiererin gestürzt, hatte er nicht nur sich selbst, sondern auch eine daraus resultierende Embolie mühsam mit nach Hause geschleppt, vor der sein Geist und Körper schließlich endgültig kapitulierten.

Dass aber das Ableben dieses guten Freundes nicht bloß in Arnos geistiger Registratur im Kanon der Erinnerungen ausgerechnet beinahe zeitgleich mit dem spektakulär tödlichen Blechsalat eines unverwechselbaren, seit Jahrzehnten die Öffentlichkeit an der Nase herumführenden Politgurus und Spitzbuben zusammenfallen würde, einem jener Gutmenschen, die alles besser wussten, durchtrieben, verlogen und betrügerisch und der jetzt womöglich am Himmelstor flehend „Ich bidde um Einlass, hicks! Wo gibt’s hier für kleine Jungs?“, lallen mochte, stieß ihm höchst sauer auf.
Arno sah sich erst einmal um und wandte sich schließlich den anwesenden Gästen zu.

- Wo bist du denn gewesen, fragte ihn Lissi Radner, und versetzte dabei ihre blau geschatteten Basedow-Augen in gefährliche Rotationen. Arno, von dem jähen Angriff überrumpelt, murmelte irgendeine Ausrede, mit der sie sich zufriedengeben sollte. Die gute Lissi. Und er stellte sich vor, sie und seine Gattin Constance, in einer Klosterschule bei den Töchtern des göttlichen Heiland! Eigentlich unvorstellbar! Arno musste lachen. Vor fünfunddreißig Jahren! Mein Gott, wie die Zeit verging! Und sie hinterließ deutliche Spuren, nicht nur in den Gesichtern, sondern auch in den Seelen und Organen.
- Hab nicht wegkönnen, wiederholte Arno eher so für sich, Ersatz für eine deutliche hörbare Antwort. Zu viele Gesichter gleichzeitig!
Lissis Frage wäre ja ohnehin bloß rhetorischer Natur gewesen, denn, ohne Arnos Antwort abzuwarten, fuhr sie zu ihren Tischnachbarn fort:
- Was ich mitmache, mit meinen Herzrhythmusstörungen, das kann sich kein Mensch vorstellen, jammerte Lissi und zündete sich die nächste Zigarette an, um Platz für den nächsten Hustenanfall zu schaffen. An ihrer kaum zu übersehenden Art simulierter Entspanntheit las Arno den Stand ihres Alkoholpegels ab. Zumindest das fünfte Glas, diagnostizierte er so für sich. Ein rein empirischer Erfahrungswert.
- Und ihr könnt euch nicht vorstellen, wie berührend dieses Begräbnis war, fuhr Lissi fort. Es waren nur seine besten Freunde hier. Er hatte ja sonst niemanden mehr, nur uns. Und die…
Die Organisatorin fiel ihr ins Wort. Schließlich ging es um ihr Ding:
- Stimmt! Ich habe alles daran gesetzt, dass er das bekommt, was er sich gewünscht hätte, sagte sie. Und diese Band! Gott und die Welt habe ich angerufen, damit die am Grab spielen. Ein Sousaphon haben sie auch gehabt, wie in .. also, wie damals in New Orleans eben. Er war ja schließlich selbst mit, vor einigen Jahren. Wir hatten eine CD für ihn aufgenommen, die wir über einen Lautsprecher abgespielt haben. Irre, sag ich dir, einfach irre. Unser Pfarrer hat sofort den Blues gekriegt. So ein Begräbnis haben die Leute hier noch nicht erlebt!

Arno nickte ungläubig. Er wählte ein Bier und einen Schinken-Käse-Toast als Totenmahl, der allerdings nie bei ihm ankommen sollte.
Lissi nippte stetig an ihrem Weinglas. Es war laut hier drinnen und verraucht, von garantiert an die dreißig, vierzig Leuten verursacht. Ein bunter Haufen. Der Richter, der auf teure Autos stand, der Versicherungsvertreter, der gerne Jurist geworden wäre, der Lebensmittelvertreter, der besser Gartenarchitekt hätte werden sollen, der Diplomkaufmann, der nichts zu kaufen hatte, ein Fernfahrer ohne Führerschein, weil man ihm den wegen Trunkenheit am Steuer abgenommen hatte, eine Verführerin, die Arno damals nicht wirklich hatte verführen können, aber beabsichtigt hatte, dies eines Tages nachzuholen, eine pädagogisch gebildete Kampftrinkerin, die nie aufgab, anzuecken, eine Kindergärtnerin mit Migräne, ein durch die Last der Jahre aus den Fugen geratenes Möchtegernmannequin und weiß Gott wer noch alles hier anwesend war.
Arno stützte seinen Kopf in die Hand, Ellenbogen auf dem kleinen, runden Tisch vor ihm und hörte aufmerksam zu. Lissi und die Organisatorin standen plötzlich auf, sich ruhelos von einem Tisch zum anderen begebend, um nichts zu versäumen, was hier und dort gesprochen wurde. Schließlich sah man sich nicht alle Tage. Arno ging an die Bar, wo der Richter und der Vertreter saßen, um ein wenig Smalltalk zu treiben.

- Alter Freund, begrüßte ihn der Richter, lass dich küssen. Sie fielen sich in die Arme.
- Lange nicht gesehen, altes Haus, konterte Arno freudig. Der Richter, der sich die letzten Jahre so rar gemacht hatte in diesem illustren Kreis, sei es, um mit angeseheneren Leuten zu verkehren, sei es aus Bequemlichkeit, niemand wusste es so genau, bestellte eine Runde für alle. Sie plauderten über dies und das, über Aktienkurse, über Innenpolitik, über die Pension, die nach einer der ausgesprochen fiesesten und hinterhältigsten Politaktionen in diesem Lande für alle in weite Ferne gerückt schien. Hinter ihnen Lissi und die Organisatorin. Beide schon ein wenig vom Alkohol gezeichnet, letztere das rabenschwarz gefärbte Haar devastiert, dies in wilden Strähnen ins Gesicht hängend, die Zunge noch bewegungsuntüchtiger als zuvor, jedoch durch nichts zum Stillstand zu bringen. Da plötzlich brach es heraus, das lange Angestaute, Zurückgehaltene, wie ein Gewittersturm:
- Ach übrigens, das wollte ich dir schon lange sagen, dich hab ich ja ohnehin nie leiden können!, schmetterte Lissi heraus in Richtung Organisatorin, die sich völlig überrascht ihr ruckartig zuwandte und in Abwehrhaltung verharrte.
- Das beruht durchaus auf Gegenseitigkeit, konterte diese und fuhr sich mit ihren Spinnenfingern durch die wirre Mähne, von vorn nach hinten, um die glühenden Augen für den Zweikampf freizulegen.

Arno und die anderen drehten sich nach ihnen um. Was? Wie? Was sollte das denn werden?
- Nur dass du Bescheid weißt, ich habe dich stets als arrogant, präpotent und unnahbar empfunden, fügte Lissi hinzu. Und überhaupt, dass du diesen Mann bekommen hast, vergönne ich dir schon überhaupt nicht. Immerhin war er einer aus unserem Freundes- und Alterskreis. Auf den hatten wir Anspruch. Und dann bist du gekommen und hast … hast ganz einfach … aber so eine wie du, die kriegt ja immer alles, was? Betretenes Schweigen aller.

- Damit du es nur weißt, ich habe dich von Anfang an unsympathisch gefunden. Du repräsentierst für mich nichts als den Vorwurf und den Frust schlechthin!, schmetterte die Organisatorin dazwischen. Und dass ich den Mann gekriegt habe, den ich wollte, geht dich gar nichts an!, zischte sie giftig und holte rasselnd Atem, Zigarette in der einen, das Weinglas in der anderen.

Arno begann zu ahnen, was hier ablaufen würde und ging friedensengelgleich langsam auf die beiden zu.
- Was ist denn in euch gefahren? Selbstfindungstrip heute, oder was?
Genau das hätte er besser vermieden, denn kaum waren die Worte über seine Lippen gekommen, nahm ihn Lissi auch schon in die Mangel.
- Du hast es ja nötig, hier einen Auftritt zu inszenieren!, herrschte sie ihn an. Das Ex-Mannequin lachte höhnisch. Mit dir bin ich ohnehin noch nicht fertig. Könntest du überhaupt versuchen, mit uns einmal normal zu reden? Ja? Schaffst du das? Du Halbintellektueller, du … erinnerst du dich an die Geburtstagsfeier damals? Den ganzen Abend hast du damit zugebracht, uns lauthals zu signalisieren, wer du nicht jetzt bist, du… du Doktor du! Du Doktor!, wiederholte sie in einem fort.
Und sie verunglimpfte diesen akademischen Grad bewusst genussvoll mundartlich zu „Doukta“. Arno stand da wie angewurzelt. Meinte sie ihn? Meinte sie wirklich ihn? Er konnte sich an keine Geburtstagsfeier erinnern, wo sie anwesend gewesen wäre, und dass er wegen seiner erworbenen akademischen Ehren so ein Theater gemacht hätte, auch nicht.
Zugegeben, ein wenig stolz war er gewesen, schon, war ja schließlich nicht irgendwas, ein Haufen Arbeit und Stress, aber … so wie Lissi das darstellte, konnte es nicht gewesen sein. Das war einfach nicht er. Arno zuckte mit den Schultern und sagte, es täte ihm leid, wenn das ihr Eindruck gewesen sei.

Überhaupt schien es in letzter Zeit schick zu sein, ihn zu schikanieren, dachte Arno. Arrogant wäre er, sagen die einen. War ihm nicht bewusst. Leichte Beute wäre er, der Älterwerdende, für Bürokraten, die an ihm herumzunörgeln begannen, ihn hinausmobben wollten, aus Neid und Missgunst. Er war in letzter Zeit einige Male länger krank gewesen.
Kunststück, man war ja auch nicht mehr der Jüngste. In Teilkarenz wollte man ihn verbannen, ihn um seinen Vertrag prellen, ihn mit unlauteren Mitteln unter Druck setzen und Unterschriften und Zusagen von ihm erpressen. Aber da kannten sie ihn schlecht.
Auch wenn er schon etwas wackelig war, sein Kampfgeist war ungebremst und sein Widerstand gegen Ungerechtigkeiten ungebrochen. Ein „Rolling Stone“, ein „Let´s spend the night together“, ein „I can get no Satisfaction“, ein „This ist the end“ wäre er immer noch! Nicht ein „Hundertjähriger“, wie die „Migräne“ heimlich von ihm hinter seinem Rücken behauptete, weil er immer so früh nach Hause ging, müde war, erschöpft, des Lebens manchmal überdrüssig.

Insgeheim aber begann Arno irgendwie zum ersten Mal an der gesunden Wahrnehmung seiner Person in Relation durch sich selbst und im Vergleich durch Dritte zu zweifeln.
- Red ganz einfach normal mit uns!, bedrängte Lissi ihn weiter.
- Aber, was hab ich denn gesagt, um Himmels Willen?, fragte Arno beinahe hilflos.
- Du sollst nur normal mit uns reden, ganz einfach!, wiederholte sie stereotyp, sog heftig an ihrer Zigarette und goss sich Weißwein gespritzt in die Kehle.
- Aber, aber, ich sag ja gar nichts!, beteuerte Arno, was hast du bloß?
- Was ich hab? Du hättest dich hören sollen damals!, tobte sie förmlich aus lauter Lust an der augenblicklich günstigen Chance zur metaphysischen Überhöhung dieses offensichtlich lang herbeigesehnten willkommenen Konfliktes.

Damals, damals! Das war Jahre her, ärgerte sich Arno. Ich bin doch kein überheblicher Mensch, nicht jetzt, und damals auch nicht gewesen, Blödsinn, durchfuhr es Arno und er verstand die Welt nicht mehr. Möglicherweise war er noch zu tief in seinem Vokabularium gesteckt, Fachausdrücke, vielleicht ein paar zu viel, aber das wäre vorbei bitte! So normal wie er schien ihm keiner hier. Oder täuschte er sich in sich selbst?
- Das stimmt, genau! Finde ich auch!, fiel nun auch die Organisatorin über ihn her, von der er niemals gedacht hätte, dass auch sie ... jetzt verstand er gar nichts mehr. Und das Küsschen von vorhin? War das bloß Routine? Macht man eben so, nicht? Aber hinterm Rücken wird schon das Messer gewetzt.
Ja, sind hier alle bescheuert!, kam es Arno über die Lippen. Was war denn mit denen los? Von Lissi war man ja gewohnt, dass sie alles schlechtredete, was andere gemacht hatten. Alles kleinzureden, das war typisch für jene, wo sie herkam. Nichts gelten lassen, was andere erreicht hatten, ein Menschenschlag, von Neid und Missgunst geprägt, verhängnisvolles Relikt geistiger Ohnmacht ihrer Vorfahren. Aber die Organisatorin? Also, das war wirklich ein starkes Stück! Von Lissi hätte er auch mehr erwartet. Aber da konnte man eben nichts dran ändern! All die Jahre der persönlichen Entwicklung und des positiven Fremdeinflusses waren offensichtlich nicht in der Lage, den krankhaften Infantilismus in ihr zu verdrängen und diesen wenigstens durch rudimentäre Ansätze einer bislang zu vermissenden Reife zu ersetzen.

Anstatt ihr jedoch zu zeigen, wie schäbig er sich vorkam, in aller Öffentlichkeit gemaßregelt worden zu sein, nahm er die besoffene Lissi strategisch berechnend in die Arme und sagte:
- Weißt du, du solltest nicht so streng mit mir sein!, und küsste sie auf den Mund, was zur Folge hatte, dass sie ein wenig unsicher wurde und zumindest lächelte, so irritiert war sie von der unerwarteten Reaktion Arnos, der sich sicherheitshalber wieder den staunenden Freunden an der Bar zuwandte, um an diesem Abend zu retten, was noch zu retten war, während er fühlte, wie seine sorgfältig für sich ausgearbeitete Scheinwelt immer mehr und mehr im Sog des Boulevards zu versinken drohte.
Warum hatte es ihn bloß hierher gezogen? Um sich ein blaues Auge zu holen? Und er beschloss, dass es für ihn kein nächstes Mal mit diesen Leuten geben würde. So bestimmt nicht mehr! Wie Caro Ass dies hier ertragen konnte, war ihm ein Rätsel. Und er musste an Constance denken und daran, dass sie mit dem französischen Gorilla, ihrem Geliebten, und damit musste er auch noch fertigwerden, vielleicht eben beim Diner saß, oder schlimmer noch …. woraufhin er fürchterlich wütend wurde, sich jedoch bezwang und diese Stätte der Demütigung eher verließ als er vorgehabt hatte, alleine.
Oder doch nicht ganz? Denn kurz vor ihm hatten Lissi und das Mannequin offensichtlich bereits denselben Gedanken gehabt, oder war es für sie eine wohlüberlegte Notwendigkeit gewesen, rechtzeitig zu verschwinden? Denn Lissi torkelte und taumelte trotz Mannequins gereichtem Arm als Henkel derart bedenklich, dass sie für zwei Meter vorwärts einen Meter links und rechts zusätzlich Raum benötigte, um überhaupt noch vorwärts zu gelangen. Alle Achtung!

Ach, diesen Roman müsste er jetzt endlich zu Ende schreiben! Und auch über all den Mist hier einen Roman schreiben!, dachte er. Schon beim Hinausgehen legte er sich im Geiste zurecht, wie er sich selbst als seine eigene Romanfigur anlegen würde, an die er sich, rasch auf dem altersschwachen Dell hineingetippt, ja längst herangewagt hatte. Diesen einen Roman, den er zügig vollenden wollte, wenn nur die Zeiten für ihn wieder besser würden. Und er, darin Hauptfigur in seiner Rolle als Erlebender. Einer, nämlich dieser seltsamen Welt, sich selbst zeichnend, einer, der zum Verfassen verklärter Biografien neigte, skurrilen Zufallsgeschichten ausgeliefert war, dem paradoxe Anekdoten nachhangen, der in melodramatische Beziehungskisten verstrickt und unausweichlichen Schicksalsschlägen ausgeliefert war. Er selbst, mittendrin, voll von Ironie und mythomanischen Tagträumereien geplagt.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 15073

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Ein Gedanke zu „Das Totenmahl

  1. Regina P.

    Schonungslos, rührend ehrlich, gesellschaftskritisch und äußerst selbstkritisch.
    Wie tief blicke ich in die Seele des Mannes.

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