Archiv der Kategorie: Norbert Johannes Prenner

Durchhalten

Wenn man die Morgennachricht hört,
ist man frühzeitig verstört.
Am liebsten möchte man die Decken
sich über’n Kopf zieh’n und verstecken.

Da wird mit Zöllen rumgemacht,
die Börsen krachen, gute Nacht!
Demokratien kämpfen ums Überleben,
Gen Z bleibt auf den Straßen kleben.
Nichts als nur Probleme wälzen,
die Welt wird hin,
die Gletscher schmelzen.

Es jammern Junge, wie die Alten,
hier ist es fast nicht auszuhalten.
Liegt’s bloß am Hirn, zu fokussieren,
auf Erschreckendes zu reagieren?
Bemerken häufig, was uns fehlt.
Positives scheint gezählt.

Selbst ein Sonntag, warm und hell,
lässt uns zweifeln, gar zu schnell.
Darf das sein, in Stadt und Landel?
Ist es schon der Klimawandel?

Wenn du kannst, dann ignorieren,
lies halt keine Zeitung mehr!
Bloß nicht zu viel informieren,
muss auch so geh’n, bitte sehr!

Die Kunst scheint, informiert zu werden,
ohne Wut und ohne Zweifel.
Doch was hilft gegen die Trauer? Sterben?
Zuversicht scheint echt beim Teufel.

Ich beginn zu recherchieren,
nach Mitteln für die Leichtigkeit:
Algorithmen antrainieren?
Posts, die fluten, rasch blockieren?
Micky Maus statt Neuigkeit!

Halte News an feste Zeiten, pfeif auf trommelnden Bericht!
Nun, er tut es, wie wir wissen, gar zu oft, bis dass er bricht,
lass das Handy doch mal stecken, einmal ist pro Tag genug,
geht nicht allzu oft zum Brunnen, wie es heißt, derselbe Krug?

Die Teilnehmer der Polykrise warten zitternd
auf ein für alle rettend’ Wort.
Ohne einen Spielraum witternd,
eilt die Hoffnung weiter fort.

Das Wort, das uns vorm Schlimmsten schützt,
gilt nicht, sagst es nur du.
Wenn wir woll’n, dass es was nützt,
braucht’s vielmehr andere dazu.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at |Kategorie: think it over | Inventarnummer: 25097

Fälschung

Wie schnell ist doch die Zeit verronnen,
und die Zukunft hat begonnen.
Social Bots schleichen sich ein,
geben vor, ein Mensch zu sein.
Heimlich und verdeckt und vif,
grausam manipulativ.

Ziemlich schwer macht’s zwischen beiden,
die Wahrheit von der Lüge scheiden.
Sie gefährden, wie noch nie,
Vertrauen und Demokratie.

Unser Schicksal scheint beschieden,
die lebensgroßen Humanoiden
verdrängen uns aus dieser Welt.
Wer, fragt sich, hat die bestellt?

Blech- und Aluminium-Krieger
bleiben übrig als die Sieger,
stehlen uns die sich’ren Jobs,
mit KI geht alles hops.

Braucht den Developer nicht mehr,
und auch nicht den Ingenieur.
Stimmen, die von Menschen stammen,
schafft KI, sie nachzuahmen.

Erst hat man darum gebeten,
Humanoide fest zu treten.
Die geraten nur ins Wanken,
weil sensorische Gedanken
schnell verhindern, dass sie fallen,
und das bringt mein Blut ins Wallen.

Jede weiteren Manöver
machen die Maschinen klüger,
taumeln bloß, nie fall’n sie um,
hirngesteuert, ach, zu dumm!

Bis jetzt war gut, so wie es war,
ein Mensch sei unverwechselbar.
In der Tat!
Jeder Mensch ein Unikat.

Hilferuf! So soll es bleiben!
Nichts als fakes! Es ist zum Speiben!

Wenn dich wohl dosierte
Deepfakes treffen, generierte,
die nichts nützen, bloß verleumden,
unter Freunden wie auch Feinden.

Desinformationen kleben
fest an deinen Mails soeben,
Cybermobbing heißt der Trick,
Mist verbreiten, das ist schick.

Erstellte Deepfakes fremder Wesen,
niemand weiß, wer ist’s gewesen?
Wenn man fragt, hab ich’s erlaubt?
So wird an deinem Ruf geschraubt.

Fragt man sich, wozu das alles,
ich versteh das nicht so ganz,
Ziel ist, hört man, schlimmsten Falles,
die globale Dominanz.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 25095

Wenn …

Wenn du cool bleibst,
wo andere schon kollabieren
und ihren Kopf dabei schon fast verlieren
und dann noch meinen, das ist ganz allein dein Scheiß,
und niemand mehr dir glaubt und jeder alles besser weiß,
dann glaub an dich, vertraue dir, und hab Geduld,
du weißt genau, es ist nicht deine Schuld.

Wenn du warten kannst, hoff auf den Frieden,
Denk dir, du musst auch deine Feinde lieben, und
auch die, die dich belügen, auf dass du sie nicht hasst.
Bleibe du selbst, und bleib gefasst.

Wenn du dich nicht im Traum verlierst,
dich nicht ergehst in Spinnereien,
wenn du Sieg und Niederlage spürst,
das alles akzeptierst, und all die and’ren Quälereien.

Wenn das, was du gesagt hast,
von Ignoranten falsch verzerrt,
verdreht oder missbraucht, beinah,
du hattest dich gefügt, und dich dagegen nicht gewehrt.

Wenn du nun auf Gewinn die letzte Karte spielst,
dann sei nicht gram, wenn du verlierst.
Beginn von vorn, ein neues Blatt du siehst,
egal, was immer du dabei verspürst.

Wenn du ein Herz erstürmst und damit das Gefühl,
jetzt musst du handeln. Bleib trotzdem kühl,
wenn auch nicht mehr zu holen ist
als dein Mut, zu dem du stehst, der sagt, es geht.

Wenn dich auch alle lieben und du dich dabei nicht vergisst,
wenn du dem über und dem unter dir respektvoll bist,
wenn du unverwundbar, mehr noch als Achill,
und niemandem versagst, wenn er dich was bitten will,
wenn du vergeben kannst, dem, der dir Unrecht tat,
dann gehört sie dir, die Welt, und du bist Mensch in ihr.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at |Kategorie: think it over | Inventarnummer: 25093

Unordnung

Was kann ich mich darüber ärgern, wenn ich was nicht find und such,
immer schon am selben Platz gestanden, sei’s nur ein Häferl oder Buch!

Himmelfix, verflucht noch mal, tief im Inner’n ein Vulkan,
bricht es aus mir dann heraus, wenn ich es nicht finden kann.

Immer wieder neu geordnet, wo’s doch früher immer stand,
und ich dieses blöde Ding stets mit seinem alten Platz verband.

Neue Ordnung macht mich wütend, und da bin ich ungern still,
fühl die Zeichen neuer Macht, die plötzlich alles ändern will.

Für kollektive Sicherheit, Gemeinschaftsordnung ist gesucht,
die Müh’n um solche Streitigkeiten sind bei mir als „nervt“ verbucht.

Die Ordnung meiner Welt im Wanken, und ich fühle mich bedrängt,
andere verfolgen Ziele, konfrontativ eingeengt.

Ich bin geg’n Änderung der Ordnung, eine solche, wie sich zeigt,
verhindert eine Machtverteilung. Übrig bleibt Einseitigkeit.

Es bleibt schließlich abzuwarten, wie interne Verschiebungen
sich als Reibepunkt der Zeit erweisen, für unsere Beziehungen.

Unvermittelt einzugreifen, könnte den Erfolg gewähr’n,
während Einzelinteressen gegen die Vernunft mich stör’n.

Wie es scheint, ist Konkurrieren derzeit deutlich überbucht,
wichtig wär’ kooperieren, indem gemeinsam man nach Lösung sucht.

Gemeinschaftsdenken sucht nach neuen, treuen Gläubigern im Jetzt.
Der Zeitgeist lässt sich durch die wirren Machenschaften leicht verirren.

Global betrachtet, lässt befürchten, dass wir uns zugrunde richten,
wertvolle Ressourcen plündern und dadurch die Welt vernichten.
Zwischen Verdorren und Ersaufen liegt kein großer Unterschied,
globale Interessen brauchen Lösung, die bis jetzt man wohl vermied.

Der alten Ordnung Profiteur war man vielleicht bislang zu sehr.
Doch nun soll alles anders werden, keine Ruh soll sein auf Erden
und das gleich mit einem Ruck. Demokratien steh’n unter Druck.

Autokratie will etablieren und sich mit ihr das Recht der Macht,
doch diesen Kampf darf nicht verlieren, wer die Macht des Rechts bedacht.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 25090

Unter Verdacht

Mit welchem Flug sind Sie gekommen, werd’ ich gefragt?
Ein strenger Blick studiert mein Visum, und nehmen Sie die Brille ab!

Mein Pass, es ist schon spät, liegt zum Lesen am Gerät.
Aufmerksam wird das gelesen, was dort über mich so steht.

Der strenge Blick lastet auf mir, ein Griff zum Telefon, es wird gewählt.
Jetzt bin ich hier, ich seh, es ist genauso, wie man mir erzählt’.

Liegt etwa was geg’n  mich vor? Darf ich hinein? Und wieder raus?
Erst dacht’ ich, Stolperfallen machen mir doch gar nichts aus. Doch jetzt,
mir wird bewusst, was hier geschieht, ich bin entsetzt!

Unfreundlich wär das Land, aus dem ich komm, sagen die Leut’.
Aber viel besser ist’s  hier nicht, sag ich, um keinen Deut.

Zum Spielball gezielter Paranoia, an mir nimmt Rache das Regime.
Man stellt mir Fragen, ungeheure, indiskret und sehr intim.

Ein Vorgesetzter wird gerufen, mit Kamera, in Uniform.
Nimmt meinen Pass, schüttelt den Kopf, er macht mir Stress, und den enorm.

Mitkommen, lautet der Befehl, schneller, man zeigt auf eine Türe,
die Treppe, abwärts in den Keller, man ahnt nur bang, wohin sie führe.

Ein altes Bett, ein Aktenschrank, Sprungfedermatratze. Da hinein!
Ein Tisch, ein Stuhl, ehrlich gesagt, hier möchte ich nicht sein.
Und an der Wand  – ohnmächtiges Gekratze.

Kein Lächeln ist mir abzuringen,
Hier möcht’ ich nicht die Nacht verbringen!

Nehmen Sie Platz, dort auf dem Stuhl. Heraus damit, wo wohnen Sie?
Was machen und was wollen Sie hier, und was ist Ihre Reflexion?
Was denken Sie, und sei’n Sie ehrlich, über die Operation?

Ich denk kurz nach und sag geschwind,
dass viel zu viel gestorben sind.

Zu wem haben Sie hier Kontakte? Nervös blättert er in der Akte.
Wir schweigen. Er nickt und klappt das Notebook zu. Sie können geh’n!
Bedenken Sie, wir werden uns noch wiederseh’n.

Irgendwann, an einem Tag, da kommt Besuch, den ich nicht eingeladen hab.
Neugierig sieht der sich in der Wohnung um, er nippt am Tee,
geht etwas ‘rum, isst alle Kekse auf und auch den Zucker, und drum,
ich denk, scheint völlig harmlos, wie er tut, er stellt sich dumm.

Als ich eines Tag’s nach Hause komm, und sperr die Wohnung auf,
da komm ich drauf, und wunder’ mich, die Jacke schief am Haken hängt.
Es brennt das Licht, und eine Tüte aus Papier, nicht von mir, liegt hier.
Was mich stark ins Zweifeln bringt und mich zum Denken drängt.
Die Jacke häng ich immer g’rade hin, das liegt an meinem Ordnungssinn.

Von diesem Tag an fühl ich mich, erfüllt mit Grausen,
in meiner Wohnung nicht mehr wohl, zu hausen.

Noch schlimmer lässt es mich erahnen, dass dieses Land in den Jahrzehnten,
sicherlich auf krummen Bahnen, Schockwellen zu uns wird senden.

Auf dem Wege zur Metro hat man mich, den Humanisten, gestoppt durch Polizisten,
durch einen, dem das Lächeln schmilzt. Gepäck und Tasche werd’n  gefilzt.

Nach meiner Antwort auf die Frage, „Woher du kommen?“, war’n sie kurze Zeit benommen,
und die war, aus der EU. Und wieso, will einer wissen, sprichst dann uns’re Sprache du?

Hab ich gelernt, sag ich, ist schließlich nichts dabei, war keine Hexerei.
Das ist gut, wirst sie noch brauchen, vor allem später, wenn auch gleich.
Denn uns’re Jungs, die von der Front, die  kommen irgendwann zu euch.

Was ist? Hör ich Kanonengrollen? Muss Geschichte wiederholen
sich von Neuem immer wieder, ew’gen Mahnungen zuwider?
Knien schon wieder Millionen Patrioten bloß vor einem
durchgeknallten  Möchte-so-gern-sein-Despoten?
Zum Wohl der Welt, ihr schafft die Wende, macht ein Ende, noch ehe sie mit euch es tun!

Kein Wunder, wenn wir Aliens verschrecken, und ihnen dadurch das Vergnügen,
uns auf Erden zu entdecken, durch unser schändliches Verhalten, verstrickt in Krieg und
Hader und in Lügen, unsere Welt so missgestalten, dieses soll man ruhig erwähnen,
nachhaltig und gründlich nehmen.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 25089

 

Männerhölle

In den Unruhstand gerettet,
gleich mal seh’n, wohin man jettet,
jedoch davor noch eine Hürde.
Ob man dennoch nicht mal würde,
zur Gesundenuntersuchung geh’n?,
meint das Weib, du musst versteh’n,
ich will einen fitten Alten, am Strand,
und überhaupt,
nicht nur bloß zum Handerlhalten.

Männer sind ja, wie man kennt,
vor Beratung resistent.
Sollt’ ich meinen Stand verraten?
Lieber ins Kaffeehaus waten?
Besser noch, ins Kino geh’n?
Doch mein Hasi riecht den Braten.
Den Befund? Den will sie seh’n!

Cowboyschritt hin zum Labor.
Enge Jeans und Stiefeletten,
wie Clint Eastwood, täuscht man vor,
Unrasiert würd’ man auftreten,
hart und rau. Oui, je suis d’accord!
Da unten mal für Ordnung sorgen,
wie Kilgore, bei Coppola.
Lieutenant Colonel glaub ich?
Griff ans Gemächt, na hoppala!

Beim Blutdruck fragt die Laboröse,
was ist das denn für ein Getöse?
Jetzt sagen Sie, wos homma do?
Anwort; Nix, is immer so!
Bloß nichts zugeb’n, wär ja g’lacht,
dass man sich noch Sorgen macht!
Erleichtert geht man auf ein Bier,
Prostata! Drauf trinken wir!

Auf diesem Mail hier steht kein Kitsch,
ernstzunehmende Messitsch!
Geht recht hart an den Humor.
Roter Marker beim Tumor!
Was zum Henker steht geschrieben?
PSA, mit Nummro sieben?
Herz rutscht hurtig in die Hose.
Nur ein Griff zur off’nen Dose
bringt,
Linderung in höchster Not.
Grauenhaft, was sich hier bot!
Das zu lesen, jetzt und hier!
Prostata! Drauf trinken wir!

Die Frage ist, was kann man tun?
Hasi steht nur ratlos rum.
Vielleicht einmal paar Freunde fragen,
hören, was Erfahr’ne sagen.
Innsbruck wär der heiße Tipp!
Dorthin führt der nächste Trip.
Eastwoodgang scheint längst passé.
Schauspiel offline, waß ma eh.
Gang sieht aus nach Kreuze kriechen,
Einstellmodus Richtung Siechen.

In Innsbruck trifft ein Radiologe
schon nach kurzem Dialoge
rasch auf eine heikle Stelle,
von der er schließlich hielt,
dass sie zu beachten gilt.
Er überweist, mir vis-à-vis,
mich zu einer Biopsie,
wobei er hofft, von mir zu hören
um die Sache abzuklären.

Banges Warten im Spital,
Gleich beginnt das Infernal.
Die Position im birthing stool
is’ alles andere als cool.
Sechzehn superschnelle Pfeile
schießen, sehr zu meinem Leide,
tief in meine Eingeweide.
Stundenlang dauert der Schmerz,
noch danach, ganz ohne Scherz.
Schon seh ich meinen Stern im Sinken,
Prostata! Drauf woll’n wir trinken.

Bei Therapist in shabby chic,
hab ich leider gar kein Glück.
Unverblümt macht sie mir klar:
Gleason-Score, Wert drei sogar,
general anesthesia.
Photonendosis volles Rohr,
das kommt mir ziemlich komisch vor.
Worin frag ich, liegt hier der Sinn?
Hinterher is alles hin.
Artig sag ich: Dankeschön!
Bye, bye, bis bald, auf Wiederseh’n.
Keine Sekunde bleib ich hier.
Prostata! Drauf trinken wir!

Geht’s nicht weiter, wird’s nicht besser,
sucht man nach einem Professor.
So einer ist rasch gefunden.
Der verrechnet nach Sekunden
und der Deal wird rasch verhandelt,
Gleason drei wird nicht behandelt!
Freu mich, da gibt’s eine Chance,
nämlich, active surveillance.

Schnell vorbei ist brav und bieder,
es erwacht Clint Eastwood wieder.
Auf dem Weg hierher es gab,
wie gerufen, auch ein Pub.
Tisch und Hocker vor der Tür,
Prostata! Drauf trinken wir!

Nun sind fast zwei Jahr’ vergangen,
und Corona abgefangen.
Wieder geht man ins Labor.
Scheiße! Nun steht elf davor!
Vor der Elf steht der Professor,
seine Worte, like Kompressor.
Herz klopft wild, mein Kopf wird rot,
in zwei Jahren sind Sie tot!
Wenn wir nicht sofort was tun,
werden Sie auf ewig ruh’n.
Angst sitzt in den Eingeweiden,
sehe schon mein End’ erleiden.
Im Kopf geht’s wie im Kreis herum!
Alles umsonst? Es ist zu dumm!
Weib, Kind und Studium.
Grad jetzt, wo fern die Freiheit rief,
nun droht des Todes fieser Mief.
Wie’s weitergeht? Am End’ kein Licht!
Prostata! Wir trinken nicht.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 25077

 

 

Klavierstunde lyrisch

Ungemach steckt schon im Namen,
Bösendorfer, mit Stahlrahmen.
Schwarz und mächtig anzusehen,
für mich gebaut zum Untergeh’n.

Für die Erzeugung, als Garanten,
sterben dafür Elefanten.
Darauf ist man auch noch stolz.
Fallen Tiere wie auch Wälder,
Elfenbein und Ebenholz!
Weit geöffnet steht sein Maul.
Hast geübt oder warst faul?
Achtundachtzig Tasten gieren
nach den Fingern, die sich zieren,
sie ganz leicht nur zu berühren,
bloß jetzt keine falsche Note,
denn wer weiß, vielleicht gibt’s Tote?

Klavier, du Tier!
Wenn ich an dich denke,
zittern mir die Handgelenke,
zittern mir die Knie!
Doch auf dir spielen
wollt’ ich nie!
Ich schwör’s. Tu ich’s wieder,
wär’s  pervers.

Sitz ich auf der Folterbank,
kramt die Lehrerin im Schrank.
Sucht nach einem Lineal
aus Holz, von anno dazumal.

Rammt es mir dann voll Entzücken,
wenn ich krumm sitz, in den Rücken.
Der Deckel auf die Finger knallt,
wutentbrannt und killerkalt.
Spielt man eine falsche Note,
gibt’s was auf die kleine Pfote.

Die Träne quillt,
die Nase rinnt,
Klaviermusik erfreut das Kind.

So billig kommt man nicht davon,
die Lehrerin spielt den Talon.
Du erkennst den jähen Schmerz,
und was weh tut, ist kein Scherz.
Gleich in Wirkung, allerort,
wenn sich der Pfahl ins Fleisch reinbohrt.

Hängt die Hand zu weit nach unten,
wird dagegen was gefunden
und des Bleistifts spitzes Ende
bohrt sich in des Schülers Hände.
Flugs hebt sich das Händchen wieder,
Tasten klappern auf und nieder.
Korrekte Stellung wieder da!
Sine misericordia.

Alljährlich steh’n aus bestem Hause
Söhne wie auch Töchter an,
sich im Wettbewerb zu üben,
wer’s besser und noch schneller kann.

Erstaunlich klingt mir eine Kunde,
beim Klavierspiel zum Befunde,
es demnach nicht nötig wär,
und schon gar nicht hinterher,
einem Mädchen voller Lust,
von hinten an die Brust zu fassen,
denn das wär zu unterlassen.

Ein so bedeutendes Ergebnis
ist mitnichten ein Erlebnis.
Wenn man dafür einen bestellt,
der die Sache erst erhellt.
Einen Professor für Klavier
braucht es für die Sache hier.
Unter Eid, dass ich nicht lache,
als Verständigen der Sache.

Das Drama dieser Episode
um den Wert der Drahtkommode
endet hiermit mit dem Schluss,
dass man vieles kann, nicht muss.

Wie auch immer,
ich spiel nimmer,
nicht con brio, bloß sordino
oder tacet, mihi placet.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: unerHÖRT! | Inventarnummer: 25074

Einsam

Welch eine Gnade Gottes ist doch das Alleinsein! Niemandem Rechenschaft abgeben müssen, was man den ganzen Tag über getan oder nicht getan hat! Keine dummen Fragen beantworten müssen, keine Fragen stellen müssen. Du bist einsam! Einen Dreck, entgegne ich. Das ist was anderes, füge ich hinzu. Ich bin nicht die Miss Sophie. Du verwechselt was, sage ich verärgert. Und ich kann mir meinen Himbeersaft noch alleine eingießen, brauche keinen Butler James dazu. Ich sitze nicht an einer langen Tafel und mir gegenüber ist kein Gedeck für Gespenster aufgedeckt, mit denen zu speisen ich mir heimlich vorstelle. Ich brauch tatsächlich niemanden. Außer meiner geliebten Frau. Das muss ich zugeben. Dann bist du nicht allein. Doch, wenn ich eben allein bin. Das soll ja hin und wieder vorkommen. Ich genieße es, allein zu sein. Ohne Sir Toby, ohne Admiral von Schneider, ohne Mister Pommeroy und ohne Mister Winterbottom. Aber warte, bis du alles überlebt hast und du wirklich alleine hier sitzt, sagst du. Na und?, inszenier ich mir meine Abendessen eben selbst!, antworte ich kühn. Und Weihnachten? Silvester? Was ist an deinem Geburtstag? Das macht mich nachdenklich.

The same procedure as every year, füge ich an. Eben, allein, pah! Aber ganz wohl ist mir nicht in meiner Haut. Nun, noch ist es ja nicht so weit, denke ich. Bis dahin werde ich mir schon alles zurechtlegen. Zurechtlegen, ja. Ich sage das sicherheitshalber zweimal vor mich hin, um der ganzen Angelegenheit mehr Gewicht zu verleihen. Ich weiß nicht, ob Einsamkeit eine Strafe ist. Manche behaupten das allerdings. Einsamen fehlt ganz einfach das Gefühl, von anderen beachtet zu werden. Mir ist das egal. Lügner. Halt’s Maul! Ich suche und finde meine persönliche Anerkennung und Gebrauchtwerden in mir selbst. Ja, das sieht man. Wie viele Bücher sind von dir im Umlauf? Und wehe, wenn du nicht gelobt wirst. Da möchte ich dich sehen! Ich konversiere derzeit nicht mit dir, sage ich überheblich.

Einsamkeit, die kommt nicht einfach so auf einen Schlag. Die sickert so langsam und stetig in dein Leben, und du bemerkst es gar nicht. Irgendwo bei einer Veranstaltung, einer Ausstellung meinetwegen oder vor dem Fernseher, ehe du ihn abdrehst, bevor du allein zu Bette gehst, weil niemand hier ist. Oder denk mal nach, wenn dir der Tod einen deiner Liebsten nimmt, so mir nichts dir nichts, ohne dich zu fragen. Was ist dann? Ich räuspere mich. In meinem Gehirn arbeitet es fieberhaft. Plötzlich ist das Kinderzimmer leer. Hör auf! Doch, gewöhn dich dran. Ich denke nach. Ja, aber – ja, es ist leer. Aber doch nur für ein paar Wochen, weil das Jüngelchen zum Studieren ist. Der kommt ja wieder. Ich wünsch es dir. Sag nichts, was du später bereuen wirst, entgegne ich stur. Und das andere Bubi? Das ist verheiratet. Das ist etwas anderes. Den kann ich jederzeit sehen, wenn ich will. So möge es sein. Is’ aber so, sage ich trotzig.

Prominente sollen zuweilen auch einsam sein, wer weiß? Wenn der Star am Himmel zu verblassen beginnt, könnt ja sein, nicht? Was macht man dann ohne den ganzen Rummel? Fernsehen? Auch fad. Wenn man einsam ist, soll einem das ein Warnsignal sein, sagen die einen. Ich selbst habe immer weniger oft den Wunsch, dazuzugehören. Angeber! Darauf antworte ich nicht. Bitte, eben nicht! Kann sein, dass sich mein Leben irgendwie verändert hat. Kann aber auch nicht sein. Vielleicht hat sich da draußen was geändert, dass ich es nicht mehr so sehr begehre? Oder ich leide an Mangel an Vertrauenspersonen, an Typen, an die ich mein Herz hänge und von denen ich erhoffe, erhofft habe, dass sie es umgekehrt genauso tun würden.

Freunde! Was sind eigentlich Freunde? Ich habe sie im Dutzend während meines langen Lebens verbraucht. Sie sind mir abhandengekommen. Keine Ahnung in den meisten Fällen, wie es dazu kommen konnte. Auf einmal waren sie weg. Hab ich mich zu wenig um sie gekümmert? Sie zu wenig bewundert? Ihren Kommentaren zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt? Dem einen, der stundenlang über dies und das so völlig belanglos dozieren konnte, wenn genügend Publikum vorhanden war? Auf den könnte es zutreffen. Irgendwann habe ich es aufgegeben, durch ein paar kümmerliche gut und klug gemeinte Zwischenrufe die Zuhörer auf mich aufmerksam zu machen. Vergebens. Es war todsicher sein Publikum.
Man kann nie genug neue Freunde haben, sagen manche, vor allem deshalb, weil einen die alten auf die Dauer nicht mehr genügend bewundern würden. Auf den trifft diese Feststellung sicher zu. Wie ich es auch dreh und wende, im Laufe der Jahre sind sie mir alle irgendwie auf den Sack gegangen, mit ihren Ängsten, Nöten, mit ihrem ewigen Geprahle von irgendwelchen Neuanschaffungen und dem andauernd mies schaugespielten Postitiv-Sein, wenn ich verdammt nochmal negativ sein wollte, eben weil es eine beschissene Welt ist und eben deswegen, weil es keinen Sinn macht, sie schönreden zu wollen. Sie, diese Welt, ist eben wie sie ist, ohne Tatütata daran herumlobzuhudeln, das hab ich schon gefressen. Du alter Pessimist! Ruhe auf den billigen Plätzen. Mach die Zeitung auf, dann kapierst du, was ich meine.

Freunde! Pah! Das sind Menschen, sage ich, die dich nur dann einladen, wenn du von Nutzen bist für sie. Nicht unbedingt gleich materiell, aber potenziell, wenn sie einen Witzeerzähler brauchen, eine Lachnummer, einen billigen Star, der nix kostet, aber der seinen Beitrag für die Allgemeinheit leistet. Freunde, das sind solche, die dich nie von selbst anrufen würden, die dir aber vorwerfen, dass du sie nicht anrufst, wenn du sie eben anrufst. Freunde, das sind solche, die alles, was du machst, als selbstverständlich hinnehmen, denn selber würden sie ja noch viel tollere Sachen anstellen, das kannst du dir gleich hinter die Ohren schreiben.

Freunde sind welche, die dich klassifizieren, beurteilen, die dich genau kennen, die sofort wissen, wo deine Stärken liegen, vor allem aber deine Schwächen, die kennen sie genau. Solche sind das, die dir ins Gesicht sagen, was du besser kannst, denn die wissen das genauer als du selbst. Freunde sind solche, die schon bei Kleinigkeiten umfallen, wenn’s mal ein wenig schärfer hergeht. Selbst vertragen sie keine Kritik, aber kritisieren ständig an dir herum. Du musst eine Therapie machen, du musst dies und jenes tun, damit du … Das kennen wir ja zur Genüge. Aber selbst setzen sie keinen Schritt zur eigenen Veränderung ihrer Göttlichkeit. Eben deshalb.

Alleinsein, ach, das hat was! Befreiend! Läuternd! Wohltuend! Hoffentlich kommt heute niemand, ist ein alter Stehsatz von mir. Auf den bist du auch noch stolz, was? Geht dich nichts an! Kommt noch jemand? Nein? Dann kann ich ja ungestört in Unterhosen rumlaufen, super! So hab ich das gemeint. Der Gürtel spannt ja ohnehin bloß um die Leibesmitte. Und auf niemanden Rücksicht nehmen müssen! Ist das nicht überirdisch? Du bist emotional verflacht, sagen die! Dass ich nicht lache! Ein emotionaler Flachwurzler, der leicht umfällt. Unsinn! Pessimisten sind schon einmal anfällig für Einsamkeit.
Ich würde mich zu wenig mitteilen, sagen die. Zum Totlachen! Besonders, wenn es um tiefere Gefühle geht. So ein Schwachsinn! Wenn einer solche Persönlichkeitsstrukturen wie du aufweist, hat er Probleme mit Kontakten. So ein Schmarrn! Früher, da war ich ein ausgekochter Partytiger, das kannst du mir glauben. Da hat es kein Weibsstück gegeben, das vor mir sicher war. Sicher, ja, früher! Wir reden aber vom Jetzt. Jetzt! Jetzt! Darf ich nicht in Würde alt werden? Irgendwann ist der Zenit eben erreicht. Und dann geht’s bergab. Jetzt geht’s eben bergab. Und darum will ich auch meine wohlverdiente Ruhe haben.

Du machst es dir leicht. Hast du eine Ahnung! Viele Einsame sind auf der Suche und finden gleichsam Einsame. Danke, das fehlte mir noch. Einsam bin ich selber genug. Muss ich nicht noch auch im Doppelpack zelebrieren. Es gäbe Warnsignale, sagt man. Wer nicht darauf reagiert, fällt der chronischen Einsamkeit in die Hände. Ich bitte um eine solche! Angeber! Warte nur, bis du von einem anderen physisch abhängig bist, damit du dein Futter kriegst oder aufs Töpfchen gehen kannst. Stille.

Jetzt sachste nix mehr, gelle? Brummig. Muss ja nicht so weit kommen. Hähähä, es wird aber so weit kommen, verlass dich drauf. Da gibt’s Statistiken. Sterb ich eher vorher aus Trotz! So siehst du aus, genauso. Positiv denken ist angesagt. Positiv denken! Bei den Nachrichten? Schalte sie einfach nicht ein. Das geht nicht. Der Mensch muss wissen, was da draußen passiert. Das darf man nicht verdrängen. Dann ist dir nicht zu helfen. Die Scheiße da draußen dringt in dein Bewusstsein und macht mit dir, was sie will. Schon möglich. Dann ist es nur die Bestätigung dafür, dass es eben doch eine Scheißwelt ist. Dir ist nicht zu helfen! Eben, drum lass mich in Ruh! Gehörst du auch zu denen, die glauben, dass sie nichts ändern können? Sicher! Versuch’s mal als freiwilliger Helfer in einem Tierheim. Meine Einsamkeit ist ein ernsthaftes Thema, du solltest darüber keine Witze machen, ja? Du meinst als Vorstufe zum Altenheim? Ich brauch keine neuen Kontakte. Ich bin froh, dass ich die alten los bin.

Ein Unheilbarer! Du fürchtest die Zurückweisungen, richtig? Welche Zurückweisungen bitte? Na, bei neuen Kontakten. Ich sage dir doch, dass ich keine neuen Kontakte suche. Genau wie Miss Sophie! Ihr seid euch ähnlich, echt. Das ist eine Beleidigung. Ich bin keine neunzigjährige alte Jungfer. Das nicht, nein. Aber du solltest deine Perspektive ändern. Inwiefern? Nun, Miss Sophie hat immerhin ihren Butler James, mit dem könnte sie doch besser feiern als mit den vier nicht vorhandenen Freunden am Tisch? Ich habe aber keinen Butler James, mit wem sollte ich denn also saufen? Tja, das ist natürlich ein Problem, das seh ich ein. Trotz allem, Einsamkeit macht sonderbar. Und Sonderbare werden irgendwann entmündigt. Sind wir doch schon längst. Wie? Na, entmündigt. Wir sind ohnehin schon fast entmündigt. Schau dich um, Autos, die alleine fahren, Kühlschränke und Herdplatten machen sich bemerkbar, wenn wir ihnen zu wenig Aufmerksamkeit schenken oder unnötig ihre (oder meine?) Energie verschwenden.

Die ganze Technik will uns insgeheim, was heißt insgeheim, die will uns bevormunden, besachwaltern will die uns, als ob wir bereits alle Idioten wären! Das sind – irgendwie Methoden, die uns umerziehen wollen. Erst waren wir froh, dass wir das Autofahren erlernt haben, und selbständig entscheiden konnten, was wir damit anfangen. Jetzt sprechen die Dinger bereits mit uns, sagen uns, warum wir wo ranfahren sollen, zum Ausrasten meinetwegen. Ständig beobachtet uns irgend so ein Mikrochip, ob wir auch das Richtige für ihn tun würden. Das ist doch krank? Kann ich die Karre nicht mehr allein lenken, ohne dass sich ein ferngesteuertes Männchen einmischt? Wen geht’s was an, wenn ich müde bin, verflucht? Andauernd will uns das Handy weismachen, was wir dringend benötigen. Der Zenit ist erreicht. Das Imperium schlägt zurück! Die Geister, die wir riefen, werden wir nicht mehr los! Irgendjemand ist da immer, der alles besser weiß, was für uns richtig ist.

Ist das nicht brandgefährlich? Die machen uns an, die Dinger. Die pushen uns irgendwohin, keiner weiß wohin. Ist das die neue Moral? Ändern die unsere Gewohnheiten? Machen sie die zu den ihren? Versuch mal, dich nicht anzuschnallen, wie lange hältst du das nervige Gepiepse durch? Für deine Sicherheit – für deine Sicherheit! Ja, zum Henker, mach ich ja, aber auf meine Weise. Muss ja nicht gleich die Revolution ausbrechen, wenn ich ‘ne Minute mal nicht am „Schlauf“ baumle, nicht? Wir sollen alle brave Mitmenschen werden, die gesund essen, ordentlich Pipi gehen und alle Risiken vermeiden, die kostspielig werden, wenn’s nicht geklappt hat. Is’ auch fad, oder? Na gut, alle halten sich ja nicht an diese Ordnung.

Es gibt ja genug Junkies, Säufer, Sportler, Bergsteiger zum Beispiel oder andere Typen, Polizisten etwa, die tagtäglich ihr Leben riskieren, der eine auf diese Weise der andere eben auf ‘ne andere. Werd nicht politisch! Meinst du, da ist ein Plan dahinter? Naja, könnt ja sein. Ich sehe den entmündigten Konsumenten auf seinem ferngesteuerten Weg ins Leben. Die andere Seite bedeutet, irgendjemand sieht uns als Vollhirnis, die man ganz einfach leiten und lenken muss, weil wir unsere täglichen Risiken gar nicht oder nur unzureichend erkennen. Also, wenn ich denke, dass mich irgendein Gerät bevormundet, dann find ich das schon bedenklich, oder? Schließlich erzwingen die hernach irgendwelche Taten von uns, oder? Mittlerweile implantieren sie uns die Richtung, die wir nehmen sollen.
So weit sind wir schon! Manche finden das modern. Echt? Ich pfeif drauf, ehrlich! Dem Typen vor mir darf ich nicht mal in die Nähe kommen, wenn der mich nervt und nicht weitertut. Da kriegst du rasch ein Problem mit den Warninstanzen in deiner „Mühle“. Nicht einmal ein wenig Angst darf man dem Vordermann (der Vorderfrau) mehr machen. So weit kommt’s noch! So weit ist es schon! Vielmehr, ja. Springt nicht an, die Mistkarre, wenn sie spitzkriegt, dass du ein Bier intus hast. Bieg rechts ab, o Gott, du bist zu schnell, steig auf die Bremse, die Tür ist nicht zu, zu wenig Abstand, leg eine Pause ein, falscher Gang. Kann nicht sein, ist ja ein Automatic. Was soll denn das?

Und? Immer noch einsam? Dein Kühlschrank steht offen, pfeifpfeif! Ja ja, ich weiß, das Hühnchen wird hin! Der Stromverbrauch, vergiss das bloß nicht! Ist ja meine Stromrechnung. Wie bringe ich das Gerät zum Schweigen, lässt in mir Mordlust hochsteigen. Ich kann ohne das piepsende Mistding nicht mehr selbständig einparken, sagt mein Nachbar. Die Kerle bauen einfach alles ein, was ihnen gerade in den Kram passt. Innovativ ist das, sagen sie. Damit stehlen sie sich aus der sozialen Verantwortung, uns uns selbst zu überlassen. Die versuchen, unsere Gehirne auszuschalten, sag ich dir! Das sind Eingriffe in unsere geistige Intimsphäre. Das alles deckt das sogenannte Bedürfnis nach Freiheit. Freiheit? Stell ich mir anders vor. Wollen die mir letztendlich auch noch das Lenkrad aus der Hand nehmen? Das letzte bisschen Entscheidungsfreiheit wollen die mir nehmen, wie? Und gaukeln mir vor, wir bequem, wie verantwortungsvoll das alles sein soll.
Sie übernehmen gerne die Verantwortung für mein Fortkommen, wirklich! Dass ich nicht lache! Irgendwann werden sie uns das Selbstfahren komplett verbieten. Das war’s dann. Bubenträume (Mädchenträume nicht?) müssen umgeträumt werden. Ferrari ade, Jeep offroad aus, Ende. Matchboxmodell am Küchentisch und selbst Brumm-brummgeräusche dazu machen. Geh, mach mir keine Angst. Meinen SUV hab ich erst seit fünf Jahren. Lenkrad abgeben ist wie Löffel abgeben. Pessimist! Viel Vergnügen dabei! Sieh das wenigstens als Vorteil der Umwelt gegenüber, sich von uns verantwortungslosen Umweltsündern erholen zu können. Was jetzt? Ist doch schön. Alles so belebt. Immer noch einsam? Ach, lass mich in Ruhe!

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 17132

 

plugged

Die funkferngesteuerte Hybrid-Spray-Fogger-Nebelmaschine qualmt wie wahnsinnig vor sich hin. Was es nicht heutzutage alles gibt! Man sieht die eigene Hand nicht vor den Augen. Nur so zur Probe. Es riecht stark nach Öl. Die Bühne, die zwölf mal vier Meter misst und aus düsteren, schwarz lackierten Spanplatten zusammengebaut ist, wird mit allerlei Gerät bestückt. Die Beleuchtung ist auf Schlafmodus gestellt, man sieht schon wegen des Nebels kaum, und doch gerade noch das Notwendigste. In der hinteren linken Ecke steht ein Keyboard, ein altes Yamaha aus den Siebzigern, das schon einmal bessere Zeiten gesehen hat. In der Mitte der Bühne, nach hinten gerückt, ein noch älteres „Ludwig“-Schlagzeug. Auch in Schwarz, aus den sechziger Jahren, links und rechts von Messingbecken, deren Glanz schon längst irgendwo verloren gegangen war, auf wackeligen Ständern flankiert.

Die nicht mehr sooo ganz jungen Musiker in ihrer nostalgischen Sixty-Bühnenkleidung, mit Glockenhosen und T-Shirts, in sinnigen Sprüchen allerlei auf Brust und Rücken dokumentiert, mit Peace-Zeichen und allem was dazugehört, eine Amateurband also, versuchen mühsam, ihr Equipment einigermaßen professionell aufzubauen. An die rückwärtige Bühnenwand ist ein mächtiges Che-Guevara-Porträt etwas schief angenagelt. Schön, dass er hergefunden hat.
Den Hobbykünstlern zur Seite gestellt, ist ein trauriges Häuflein tätowierter Junkies und Ex-Motorrad-Freaks, von denen keiner unter fünfzig ist und die von der Stadtgemeinde für diese Arbeiten engagiert worden sind, Beschäftigungstherapie, damit sie nicht n u r auf dumme Gedanken kommen. Die sind die Profis, wie sie unschwer zu vermitteln wissen. Allesamt schwere Jungs mit ausgeprägter Häfen- (sprich Gefängnis)-Erfahrung, wird gemunkelt. Jeder für sich ein Unikat.

Damals noch – ja, damals waren sie Mitglieder so manch einer wilden Gang. Hatten nur Unsinn im Kopf, wie man einen langen Tag erfolglos hinter sich bringt. Zugedröhnt bis zum Geht-nicht-mehr. Man war ganz vorn. Vor der Bühne. Bei allen Events. Von den Stones bis zu den Who. Bühnenarbeiter – ganz nah bei ihren Idolen. Sie sind mit ihnen in Würde gealtert. Aber die hier, die Band, die zählt noch zu den Lebenden, beinahe zumindest. Bloß kennt sie keiner. Das ist eben Schicksal. Einer von denen hatte vor zig Jahren tatsächlich selbst einen Hit gelandet, einen einzigen. Das ließ ihn gewissermaßen irgendwie zum Profi werden. Und genau das haben die Bühnenhackler (Hackler = Arbeiter, Wienerisch) irgendwie mitbekommen. Aber es fehlt ihnen anscheinend am nötigen Respekt, denn sie gehen sehr rüde mit dem Alt-Star um. Als der Hitlander sein Bierglas auf einer der Lautsprecherboxen vergisst, kippt das Glas samt Inhalt auf einen der Hackler, als der die Box soeben mit dem Handstapler wegheben will. Du bist a Profi!, meint der Hackler emotionslos ironisch, von oben bis unten nass, den Kopf schief haltend und ihn von oben bis unten musternd, um sich anschließend, ein angewidertes Ausspucken andeutend, kopfschüttelnd vom Hitlander abzuwenden. Womit das Kapitel des Profis neu geschrieben werden muss.

Draußen vor den Toren warten, chromblitzend in der Sonne funkelnd, die Bikes der Bühnencrew, wie zurückgelassene Hunde, angekettet, geduldig auf ihre Besitzer. Unschwer zu erkennen, wer zu welchem „Ofen“ gehört. Der Dickste von denen zur fettesten Harley. Rot-métallisé, mit Windschirm und Seitenboxen. Fat Boy. Der Fahrer ist auch so einer. Sie sehen sich ähnlich.
Der Schmalspurrocker mit dem ausgemergelten Gesicht passt eher zur mageren Variante, zu der mit dem hohen Lenker, Variante Easy Rider. Man ist tätowiert.
Noch muskulöse Arme schimmern grünlich im diffusen Rampenlicht, ragen aus verwaschenen ärmellosen Jeansjacken, deren Rückenteile das Emblem ihres Motoradclubs zeigen. Von den Hosentaschen baumeln verchromte Ketten an deren Enden Geldbörsen vermutet werden. Es könnte auch das eine oder andere Messer darunter sein. Der Bühnenraum ist eigentlich ein finsteres Loch, gelinde gesagt. Es riecht stark nach Zigarettenrauch und Bier. Und die Typen dazu? Mit denen wäre nicht gut Kirschen essen, sagt man. Gegen die Ledernen nehmen sich die Bandmitglieder wie Priesterseminaristen aus.

Wo ist denn das Licht?, fragt einer der Musiker. Was für ein Licht?, antwortet einer der Rocker geistesabwesend. Er steht auf einer Leiter und schraubt eben eine Glühbirne in die leere Fassung. Sein Gesicht ist tief zerfurcht, sein Körper ausgezehrt. Die Haut scheint vertrocknet wie bei einem Klippfisch. Die Haare hängen lang und fett in Strähnen bis an die Schultern und berühren die Lederjacke. Ein Zigarettenstummel glimmt emsig wie ein Glühwürmchen in seinem Mundwinkel. Sein Oberarm zeigt die Tätowierung eines Totenkopfes, dem sein Träger irgendwie ziemlich ähnlich sieht. Die Hose des Klippfisches schlottert um die dünnen Beine. Der Musikus bemerkt dessen grimmige Miene und belässt es bei der Frage. Niemand wagt, weitere Fragen zu stellen.

Irgendwann wird es hell, die Scheinwerfer sind an, blenden, werden gedreht und neu justiert. Mikrofonprobe. Sing du für mich, sagt einer der Musiker zum anderen. Alle lachen. Aber es ist doch dein Mikro! Wurscht. Sind eben nicht alle für die Bühne geschaffen. Heute fehlt irgendwie die Motivation. Man fühlt sich beobachtet. Von Profis. Wie viele Mikrofone?, fragt einer der Höllenengel. Fünf, lautet die Antwort. Samma a G´sangsverein?, brummt der. (Ein Gesangsverein ist keine Rockband, versus „Dienst ist kein Bärenfell“, aus „Vierzig Wagen westwärts“.)
Dann geht es los. Die Band intoniert oder interpretiert, je nachdem, Satisfaction. Jeder kennt das. Die Rocker blicken skeptisch. Sehen einander schweigend an. Keiner verzieht eine Miene. Sie haben die Nummer schon x-ten Mal original gehört, haben schon unterm „Original“ gedient, haben vierzig Jahre Wiener Stadthallenerfahrung. Denen macht man nichts vor. Und dann das! Einer schüttelt den Kopf, greift nach seiner Zigarettenpackung in der Brusttasche seiner ausgefransten Jeansjacke. Das Schlagzeug scheppert penetrant nach alten Topfdeckeln. Die Basstrommel klingt nach schlecht gespannter Lederhose und die Mikrofone quietschen erbärmlich infolge einer ungewollten Rückkoppelung. Bühnenleben macht Spaß.

Der Keyboarder erzählt in der Pause, er hätte einen aus so einer Motorradgang gekannt und ihn einmal zu seinen Schwiegereltern eingeladen, die hatten einen Heurigen am Land, und er selbst half am Wochenende dort aus, als Servierkraft und auch hinter der Schank. Aber der wäre nicht alleine gekommen, nein, ganz und gar nicht. Irgendwann war ein infernalischer Lärm auf der Gasse zu hören. Man stürmte zum Tor um nachzusehen. Das gibt’s nicht! An die dreißig Motorräder, Harleys, Hondas, Kawasakis, alle aufgemotzt und mit kunstvollen Bildern versehen, luftgepinselt und verchromt, wo es nur möglich war, versuchen, in beeindruckender Phonstärke die Parklätze vor dem Lokal für sich einzunehmen. Einer fährt über den Gehsteig, dann von dort über den gepflegten beblumten Grünstreifen auf das Gässchen und zieht eine Spur der Verwüstung hinter sich her. Ein anderer hatte eine Regenpfütze entdeckt und rollt mit dem überdimensionalen dicken Hinterreifen seiner Maschine rückwärts in dieselbe, wobei sich das Rad unter entsprechendem Gasgeben immer wieder munter durchdreht und der Dreck fensterhoch heftig auf die Hausmauer des gepflegten Anwesens spritzt. Der Keyboarder ahnte längst, was ihm bevorstand und wollte wegen des unangenehmen Ereignisses schon in einem Erdloch versinken, aber noch war es nicht so weit. Die Zeit war noch nicht gekommen.

Schließlich war das ganze Geschwader samt den heißen Bräuten, den Klammeraffen – (Beifahrerinnen) abgesessen und hatte sich, die meisten in enger Lederkluft steckend, streckend und reckend, cowboybestiefelt und krummbeinig in Richtung Innenhof bewegt, als auch schon der streng blickende Hausherr erschien, der Schwiegervater höchstpersönlich in Spencer und Loden, der mit den Worten – eis (ihr) kriagt´s do nix – eine klare widerspruchslose Ansage zu deponieren gedacht hatte, woraufhin ihn die Ledernen schräg ansahen. Und sie warfen auch gleich einen zutiefst verunsicherten Blick auf ihren Obmann und Leithammel, der auf den entzückenden Namen „Baby“ hörte, in dessen Bezeichnung jedoch schon allein wegen seines athletischen Körperbaus ein Widerspruch per se zu liegen schien und der er auch aufgrund seines Auftretens in keinster Weise gerecht wurde.

Besagter „Baby“ wiederum erwartete jetzt ganz offensichtlich eine dringende Stellungnahme des Keyboarders, von dem er wohl eine Korrektur der negativen Formalitäten erwartete, die die Stimmung des Hausvaters entsprechend zu wandeln imstande gewesen wäre. Jetzt war es für diesen also höchst an der Zeit etwas zu sagen, zu intervenieren, schließlich ging es irgendwie dabei auch um sein Fell, um seine Reputation, denn so sattelfest war er in der Familie noch nicht verankert, um Folgendes eben richtigzustellen, was schiefzulaufen schien, was sich dann also ungefähr so anhörte – Öh, die – die gehören zu mir, krächzte er nervös und räusperte sich verlegen. Und, ja, jetzt allerdings schien die Zeit für das Mauseloch gekommen.
Aus den benachbarten Häusern lugten verschreckte Augenpaare aus spaltgeöffneten Toren. Kinder versteckten sich hinter den Kitteln der Mütter. Hunde winselten wegen des immer wieder aufbrüllenden Motorenlärms, und die dunklen Wolken des sich bis vor Kurzem entladenden Gewitters standen immer noch drohend am Horizont, ergiebige Pfützen auf Gehsteigen und Gasse hinterlassen habend. Aber es war nicht ganz so schlimm wie erwartet.
Ah so?, reagierte der Hausherr knochentrocken, hob kurz die Brauen, verschwand ohne ein weiteres Wort zu verlieren, außer einem wirkungsvoll kryptischen – Naaa jo! – wieder in Richtung Weinkeller. Dem Tastenbezwinger standen die Schweißperlen an der Oberlippe. Heut wäre wohl kein guter Tag, um ihn um die Hand seiner Tochter zu bitten. Morgen vielleicht auch noch nicht.

Wie auch immer. Die Begrüßung zwischen Keyboarder und Motorradclub verlief relativ nüchtern und emotionslos. Es arbeitete fieberhaft in des Klimpermaxis Gehirn. Der sogenannte berittene Freund stellte die Kumpane und deren Beifahrerinnen artig vor. Die hatten scheint‘s jede Menge Spaß dabei, so offiziell aus ihrer gewohnten Anonymität katapultiert zu werden. Dann bewegte sich der Tross lärmend über den Innenhof die Kellerstiegen hinunter. Die Schwiegermutter hinterm Tresen stand zunächst wie angewurzelt da, und – nie um ein Wort verlegen – blieb ihr jenes, welches sie eben noch auf den Lippen hatte, wohl unvermutet im Halse stecken, als sie die illustren Neuankömmlinge in ihren Nonkonformistenuniformen sah, mit mosaischen Bärten, in Lederjacken mit Nieten dran und drin, mit klirrenden Ketten wie zu Krampus und das im Mai, wo nichts, aber auch schon gar nichts auf einen Rückfall in dunkle Dezembernächte schließen ließ. Diese Art Heurigenpublikum war ihr grundsätzlich fremd. Und schließlich waren da all die Miniröckchen, oh Gott!, von denen kürzere Varianten wohl kaum noch möglich gewesen wären, wollte man dabei nicht gänzlich auf das letzte Bisschen Stoff verzichten. Die Mutter, die gute, fasste sich jedoch bald wieder und lächelte scheinbar wohlwollend über den seltsamen Kostümverein, der da dieses heiteren Samstagnach-mittags so mir nichts dir nichts über ihre Treppe in die heiligen Katakomben hereingeschneit war, und sie tuschelte irgendetwas mit der älteren weiblichen Hilfskraft an der Schank. Dann kicherten die beiden und kriegten rote Gesichter.

Die angehende Gattin des Keyboarders, Tochter des ehrbaren Winzerehepaares und ewige Studentin, zupfte dienstbeflissen ihr weißes Servier-Schürzchen über ihrem züchtigen Dirndlrock zurecht und wedelte sogleich mit Stift und Schreibblock bewaffnet an die sechs von derbem Rockervolk beschlagnahmten Tische herbei, um die Bestellung der guten Leutchen aufzunehmen, bemüht, die ätzenden Bemerkungen der kichernden Auspuffbräute wegen ihres konservativen Dresscodes tunlichst zu ignorieren. Indes ließen sich die Ledernen nicht lange lumpen, denn sie hatten ganz offensichtlich jede Menge Appetit mitgebracht und auch bezüglich ihres Durstes blieben sie den Erwartungen der Wirtsleute nichts schuldig. Neun Doppelliter und jede Menge Mineralwasser für den Anfang. Und, bloß so nebenbei – welcher biedere Landgendarm hätte es schon auf eigene Faust gewagt, diesen röhrenden und gefährlich aussehenden Pulk der oftmals nebeneinander oder sogar zu dritt nebenher Fahrenden, noch dazu mit Wiener Kennzeichen, selbständig und ohne Verstärkung angefordert zu haben, anzuhalten und nach den Papieren zu fragen? Dir Sauoasch zag i meine Papiere sicher net, soll einmal einer von denen zu einem Polizisten gesagt haben, und so was spricht sich herum. Und man hatte schließlich Familie.

Alsdann kredenzte die Serviermaid aufgekratzt und unermüdlich eine Weinhauerjause (auf dem runden Holzbrett versteht sich) nach der anderen. Darauf befand sich üblicherweise ein Potpourri aus Blunzenrädchen, dürrer Knoblauchwurst, Schinken und Käse, Radieschen, Leberpastete und Tomaten, Pfefferoni und Senf und Brot und weiß der Teufel was noch alles. Der Tastenakrobat konversierte in der Zwischenzeit mit dem hünenhaft blonden Anführer der Gang, der überdies sein Klavierschüler war und den er seit Jahren, bislang mit vergeblicher Müh´, in die Kunst des Boogie-Woogie-Spielens einzuweihen versucht hatte, was sich bei dessen rauen, rissigen und riesigen unbeweglichen Würschtelfingern zu guter Letzt ja auch als sinnloses Unterfangen erwiesen hatte. Aufgrund seiner eigenen schnellen Finger, aber leider selbst kein Biker, diese Zeit kam erst viel später, genoss er trotzdem ein Quäntchen Ansehen bei ihm, wenn auch bloß innerhalb einer geduldeten Toleranzschranke der sonst so überkritischen Benzingenossenschaft bei der Auswahl neuer Freunde, wenn es generell um bürgerliches Gehabe oder gewissermaßen um Andersgläubige ging. Schließlich war man darüber hinaus seiner Ehre und Gesinnung verpflichtet, Gesetzen und Gesetzmäßigkeiten und damit aller verdammten Bürgerlichkeit und Scheinwelt soweit es ging, aus dem Wege zu gehen, um eben anders zu sein. Dazu zählten durchaus auch chevalereske Kavaliersdelikte wie etwa in unbeobachteten Augenblicken schon mal die Freundin eines Freundes flachzulegen. Diese Art der Moral galt ihnen als dehnbarer Begriff und beschreibt eindrucksvoll und nachhaltig, deskriptiv eben, eine Handlungsregelung, die für diese Gesellschaft leitend ist oder eben die in ihrer Gemeinschaft üblichen Verhaltensregeln. Mal rein empirisch festgestellt, eine Handlung dieser Art nimmt eine gewisse moralische Qualität an, wenn und soweit sie menschliche Achtung oder Missachtung zum Ausdruck bringen soll. Öh, was auch immer damit gemeint ist.

Die übrigen Gäste kriegten also alle lange Hälse und tuschelten hinter vorgehaltener Hand, was sie da nicht alles zu sehen bekamen, aber alles hatte seine Ordnung, und jeder hatte seinen Spaß. Der Hausherr (der Wirt) himself jedoch schielte in ihm günstig scheinenden Momenten mit geübtem Jägerblick, nämlich dann, wenn sein virtuoses (wirtuoses) Ziehharmonikaspiel es zwischendurch erlaubte und seine Frau an der Vitrine beschäftigt war, wo es galt, den Kümmelbraten zu filetieren, so unauffällig wie möglich, immer wieder nach den kurzberockten Rockerbräuten und auf deren knackige halbnackte Oberschenkel und die hinaufgerutschten Miniröckchen, die im Sitzen für den Betrachter kaum mehr wahrnehmbar waren, wodurch schließlich auch er, nach seiner mehr als enttäuschenden Rolle als Empfangschef und trotz aller ursprünglicher Skepsis, auf seine Rechnung zu kommen schien.

Alles war bis dato friedlich und harmonisch verlaufen, wäre da nicht der haltlos verfressene schwarze Kater Seppl gewesen, der, weil dies seit Jahren sein Revier, gewohnt war, auf den breiten Abschlussholzleisten der Sitzbänke hinter den Rücken der Gäste herumzustolzieren und sich von dort aus mit den leckersten Abfällen verwöhnen zu lassen. So drehte er auch diesmal erfolgsgewöhnt seine kulinarischen Runden, umschwanzte den einen oder die andere Gönner/In und schnurrte zum Dank und zum Jubel aller hier katzenliebenden Anwesenden um die Gunst weiterer Nachmittagsgaben abseits der Futterschüssel und ihrer geregelten Füllzeiten.
Die Fresstour musste gezwungenermaßen und logischerweise auch an den Lehnen der Benzinbrüder und -schwestern vorbeiführen, von wo es aufgrund der üppigen Fülle an Essbarem möglicherweise ganz besonders anziehend gerochen haben mochte, als einer der am wildesten aussehenden Outlaws, er hatte ganz unspektakulär einen verchromten Stahlhelm (Zweiter Weltkrieg) vor sich liegen, was die Sache jedoch enorm dramatisierte, das hinter ihm herumstreunende Vieh bemerkte, es mit seiner Pranke am Hals ergriff und mit dem Kopf quer auf sein vor ihm liegendes Schneidebrett knallte, unter frenetischem Jubel der anderen Ledergenossinnen und -genossen. Anschließend demonstrierte er eindrucksvoll, für jeden aufmerksamen Beobachter der skurrilen Szene unschwer zu erkennen, als wolle er mit dem Brotmesser den Kopf der malträtierten Kreatur vom Leibe trennen, um ihn anschließend zusammen mit Senf, Pfefferoni und Salatgurke zu verspeisen. Ein jäher Aufschrei der Hausfrau, die just in diesem Augenblick ihre wohlwollenden Blicke über die schmatzende Gesellschaft schweifen ließ, durchbrach die allgemeine Monotonie ausgelassener Weinlaune und Jausenstimmung.
Der angehende Katzenmörder ließ mit breitem Grinsen Katze und Messer fahren und lehnte sich mit zufriedener Miene ob seiner spontanen Performance mit einem Glas in der Hand entspannt zurück. Einer der Gäste hatte vor Schreck sein Weinglas in der Hand zerbrochen und blutete leicht. Der Schwiegermutter jedenfalls zitterten noch Stunden danach die Knie, leichtgläubig wie sie war, hatte sie vielleicht wirklich angenommen, der unzivilisierte Wüstling würde tatsächlich ihren geliebten Kater verspeisen. Und es war eine Zeit, als just Jimmy Carter Präsident der Vereinigten Staaten war, und der Wüstling lachte laut und rief dem Tier nach, Kater, Jimmy Kater!, als sich Seppl nach seiner wunderbaren Befreiung mit gesträubtem Schwanz, aus Protest lautstark miauend, rasch aus dem Staube gemacht hatte. Rein optisch wäre es dem Kerl durchaus zuzutrauen gewesen, so von Mimik und Gestik her, ihn zu … Die Geschichte hatte noch lange Zeit auch unter den übrigen Gästen Bestand.

Nach diesem kleinen Exkurs in die Welt der Ledernen lasst uns wieder zurückkehren auf die Bühne, auf der soeben wie verrückt gecovert und dabei gerockt und gerollt wurde. Die röhrende Sechziger-Band zog alle Register, und das spärliche Publikum, welches so nach und nach hereingetröpfelt war, war bemüht, so gut es eben ging, in allem mitzugehen, zu schreien und zu johlen und heftig und ausgiebig das Tanzbein zu schwingen. Kaum zwei Stunden dauerte der Auftritt der provinzialen semiprofessionellen Rockathleten und schon, kaum war der letzte Ton verhallt, zückten die grimmig aussehenden Roadies ihre zweirädrigen Schubkarren, hoben die Boxen an und transportierten den ganzen Kram in Windeseile von der Bühne, um neuen Platz zu schaffen, Platz für die anderen, denn vor den Eingangstüren standen schon die nächsten musikalischen Selbstdarsteller in den Startlöchern.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: unerHÖRT! | Inventarnummer: 17093

 

Brainstorming

In meinem Gehirn summt und brummt es: Train I ride, sixteen coaches long. Train I ride, sixteen coaches long. Well, that long black train got my baby and gone. Train train, comin‘ ‚round, ‚round the bend. Train train, comin‘ ‚round the bend Well, it took my baby, but it never will again (no, not again).
Train train, comin‘ down, down the line …

Da vorne steht der Ober und späht aufmerksam zu mir herüber. Vielleicht hat er damit gerechnet, dass ich irgendwie umfalle und doch zur Milch greife? Seh ich etwa so aus? Irgendwie ist man in meinem Alter ja so ziemlich mit allem durch. Obwohl – der Gedanke daran, nicht mehr so zu können, wie man es bisher für selbstverständlich gehalten hat – na ja. Gewöhnungsbedürftig! Wenn erst einmal das Abgeben schwer errungener Lizenzen kommt? Des Führerscheins zum Beispiel. Das sind Zäsuren! Echte Zäsuren sind das! Das kommt einer Entmündigung gleich! Wenn´s nicht nur mehr bloß um einen Zahn geht, der irreparabel ausgehebelt wird. Das wäre ja noch zu verkraften. Auch ein zweiter. Vielleicht noch ein dritter.

Da! Da liegt ein Haufen Blätter vor mir, alte Urkunden, Ariernachweise und so´n Zeug. Ich versuche, darin zu lesen und mich schlau zu machen, über die Zeit vor mir. Den Großvater, den Johann Bresslar, den hab ich leider nicht mehr gekannt. Mein Bub, soll er immer voll Stolz gesagt haben, wenn er über mich gesprochen hat. Passt’s mir auf meinen Buben auf! Ach, ein männlicher Nachfolger, das war etwas! Das wusste er zu schätzen, er, der in Zeiten aufgewachsen war, in denen Männer haufenweise als Kanonenfutter verbraucht worden waren. Die Großmutter kannte ich noch. Eine sehr strenge Frau war sie. Ich erinnere mich gut. Sehr ernst. Nach dem Mittagsschläfchen hat sie immer Kaffee gekocht, damals, in der kleinen Küche. Ich habe den Geruch noch in der Nase. Wunderbar hat er gerochen, wie heutzutage keiner diesen Duft verströmt. Schwarz hat sie ihn getrunken, so wie ich jetzt, aber im emaillierten Blechhäferl, mit blauen Blümchen darauf. Wahnsinnig gern hätte ich das noch besessen! Und sie hat eine Semmelhälfte eingetaucht, und den aufgeweichten Teil abgebissen. Wieder eingetaucht, abgebissen. Dabei hat sie nicht geredet. Nur das Ticken der Pendeluhr war zu hören. Passt mir auf den Buben auf! Aber niemand hat auf mich aufgepasst, so, wie ich mir das gewünscht hätte.

Niemand hat verhindert, dass ich dorthin komme, wo ich jetzt bin. Was soll´s? Alte Leute haben auf mich seit jeher eine ungeheure Faszination ausgeübt, vielleicht durch ihre Abgeklärtheit? Durch die Ruhe, die sie ausstrahlen? Weiß nicht. Ich habe das Gefühl, mit uns wird man nicht so ehrfürchtig umgehen, wie wir es mit den Alten gehalten haben, damals eben. Die Jugend heute hat keinen Respekt vor den Alten. Sondermüll, sagen die. Steh‘n bloß im Weg herum und sind für nix gut, sagen die. Wofür sollte man etwa eine Familienchronik schreiben, für wen, frage ich mich? Die Jungen lesen das ohnehin nicht. Dieser Standesbeamte scheint sich offensichtlich bemüht zu haben, schön zu schreiben. Die schlampigen „n“ und „e“ sind trotzdem schwer zu unterscheiden!

Wenn doch mein Vater oder meine Mutter oder eigentlich beide (wieder ein Romananfang) – denn beide waren gleichmäßig dazu verpflichtet – hübsch bedacht hätten, was sie sich vornahmen, als sie mich zeugten! (Laurence Stern. Tristan Shandy) Hätten sie geziemend erwogen, wie viel von dem abhinge, was sie damals taten! Jedenfalls, dass alles Mögliche dadurch bestimmt worden war, durch das Werkzeug der Vorsehung, oder wie auch immer man es zu nennen vermag, …

Zollwachtmeister also. Großvater war k. u. k. Zollwachtmeister. Merkwürdig. Ich erinnere mich noch, Mutter hat erzählt, dass er wegen Fettleibigkeit ins Flachland versetzt worden ist, damals, unterm Kaiser. Aus Bayern, nahe dem Böhmerwald, in den Flachgau. Grenzgendarm war er. Zollwache oder so. Aber die Berge waren zu hoch für ihn. Das hat er nicht mehr geschafft, keine Luft gekriegt, der Arme. Ich hebe den Kopf. Der Glatzkopf da ist mir schon vorhin aufgefallen, als ich über den Volksgarten in die Stadt spaziert bin. Ganz in Schwarz. Uniformes, das für uneingeschränkten Erfolg bürgen soll. Städtisches Ökonomiesoldatentum! Gleichgeschaltet, mit Telefon im Ohr und Laptop am Rücken. Man sollte ihnen das Telefon gleich in die Haut implantieren, der leichteren Handhabe wegen. Ein Theater. Meinen gewohnten Spaziergang durch die Stadt habe ich heute in der Gegenrichtung begonnen, über die Stadiongasse. Gleich zu Anfang hat mich die Silhouette der Michaelertor-Kuppel im diesigen Morgenlicht begrüßt.

Ich behalte mein Ziel im Auge, denn unmittelbar daneben ist das Café Griensteidl zu finden, Schauflergasse. So bummle ich, flankiert vom Rathauspark und seinen riesigen Baumwipfeln sowie der Westfront des Parlaments – ach, da ist ja der ehemalige Finanzminister! Was macht denn der noch hier? Mit Aktenmappe? Seniorenbundagenden erledigen. Repräsentable Limousinen und Sportwagen vor dem Hohen Haus, muss man sagen. Es geht uns offenbar gut! Kein Wunder, bei den Steuern? Frau Athene in neuem Glanz. Die barockisierten Minarette im griechisch-römischen Stil – auch frisch vergoldet. Das ist nicht gegen die Bauordnung? Artfremd sagen sie heute, wenn etwas so emporragt. Halb zehn. Der Tag ist noch jung.

Langes Zugfahren ist anregend für intensives Brainstorming. Was mir da alles durch den Kopf geht, wenn ich zum Fenster hinaussehe und die Landschaft an mir vorüberrast. Vielleicht wäre alles ganz anders gekommen. Ich muss lachen. Kennst du das? Pension Schöller, Theaterstück. Der Major: Hier ist der Feind gestanden, und da wir. Wääären wir hier und der Feind dort gestanden, wäre alles ganz anders gekommen! Ja, höchst wahrscheinlich wäre alles ganz anders gekommen.

Hätte ich neulich im Kino nicht Sportgummi gekaut, hätte ich meine Plombe am Stockzahn noch. Ich sitze mit meiner Frau in einer Hommage an das goldene Zeitalter des amerikanischen Musicals und versuche soeben, die ausgelassene Stimmung dieses Feelgoodmovies auf mich herüberzuladen, da war es auch schon passiert. Zwischen Nostalgie und Identitätskrise einer Love-Story-verdächtigen Tanzszene wandelt sich nicht bloß die Geschichte der beiden Hauptdarsteller in, wie man so schön banal sagt, in jenes verdammte Ding, wie es das Leben eben schreibt, da spüre ich schon einen Felsbrocken zwischen dem süßsauren Zuckerschmelz klirren und flugs spucke ich das Corpus Delicti in meine Hand. Ich brauche nicht nachzusehen, worum es sich handelt, denn meine geschickte, oder besser geschockte Zunge hat das Loch dieses Amalgam-Asteroiden im verdächtigen Zahn bereits geortet und voll Entsetzen über seine Ausmaße darin herumgebohrt. Hätte ich also keinen Sportgummi gekauft, wäre alles ganz anders gekommen.

Wäre ich nicht schon berufstätig gewesen, hätte ich mein Medizinstudium fertig gemacht. Hätte ich meinem besten Freund während einer Party vor dreiundvierzig Jahren nicht eine neue Bekannte ausgespannt, wäre sie heute nicht meine Frau und so weiter. Tja, wäre ich Alexander, der Sohn Philipps II. von Makedonien und der Olympia von Epirus, wäre ich auf Wunsch meines Vaters von dem berühmten Philosophen Aristoteles erzogen worden. Hätte was, nicht? Ich hätte im Alter von zwanzig Jahren den Königsthron bestiegen und, nachdem mein Vater ermordet worden wäre, das scheint mir Usus in solchen Königskreisen gewesen zu sein, hätte ich mich als Führer eines makedonisch-griechischen Heeres aufstellen lassen. Einfach so. Ohne Bewerbungsschreiben und Hearing. Klasse, oder? Aber, hätte ich das wirklich gewollt? Du kennst mich doch, ich habe nicht das Zeug zur Führernatur und auch nicht den Willen, eine solche zu sein. Ich müsste übrigens das Heer des Perserkönigs Dareios des Dritten erfolgreich, versteht sich, schlagen. Das täte mir leid, denn ich finde die Perser sind im Grunde nette Leute, als was sollte das? Und dann das viele Blut und die ganze Schweinerei drumherum. Nein, das wär nichts für mich.

Ich war einmal in eine Perserin verliebt. Sie hieß Sayeh, das heißt angeblich Schatten. Sie hatte mir erzählt, ihr Vater wollte sie so genannt haben, damit sie ihm sein Schatten in der Gluthitze der persischen Sonne sein möge. Ich habe sie vor vierzig Jahren aus den Augen verloren. Doch dann, ich hatte da einen Deutschschüler, für den habe ich im Netz etwas gesucht und bin auf einen Namen gestoßen, der mich an den ihren erinnert hat. Dort habe ich angesetzt, nach ihr zu suchen und ich entdeckte eine Bekannte aus der Vergangenheit und deren Telefonnummer. Nach einem kurzen Brief schickte sie mir eine SMS mit Sayehs Adresse. Und seither scheiben wir uns ein wenig oder telefonieren. Hast du mich gefunden, hat sie geschrieben und das klang – irgendwie überrascht, aber doch so, als hätte sie eines Tages damit gerechnet. Sie hat zwei bildhübsche erwachsene Töchter, die beide in Paris studieren.

Als ich sie bat, mir ein Selfie zu schicken, hat sie abgelehnt und gemeint, besser nicht, du wirst fürchten dich (sic!). Ich kriegte dann aber doch ein paar Fotos, und wir haben alte Erinnerungen und auch Fotos ausgetauscht, die überraschend bei uns beiden aufgetaucht sind. Und ich musste mich nicht fürchten, sie sieht immer noch gut aus und sie hat gesagt, ja, aber jetzt sind wir alt. Womit sie leider Recht hat. Nun bin ich aber froh darüber, nicht Alexander zu sein, obwohl ich billig nach Indien gekommen wäre, dort wollte ich schon als junger Mann hin, als die Hippies dorthin zogen. Doch auch dahin bin ich zu spät gekommen, wie sonst auch überall hin. Aber das Ende, also wenn du dir das anhörst, irgendwann hätte ich zu einer Massenhochzeit geladen, lese ich, und dabei zehntausend Perserinnen und Makedonier miteinander verheiratet. Damit fange ich leider nichts an. Mit derartigen Events habe ich nichts am Hut. Wie auch immer, in Babylonien jedenfalls hätte es mich erwischt, da wäre ich an Malaria gestorben. Pech gehabt, nicht? Und das hätte ich nicht gewollt, ehrlich. Aber was fange ich hier Grillen?

Der Tag ist also noch jung, bemerkte ich vorhin. Nur ich bin es nicht mehr. Sayeh hat es mir bestätigt. Ich spüre, wie die Zeit rinnt, unaufhörlich. Hier unten am Ring zähle ich jede Sekunde ein Auto, zwei sogar. Überall sitzt nur eine Person drin. Arme Umwelt. Zwei Mädchenporträts von Gustav Klimt und der Künstlercompagnie im Belvedere – und irgendwann wird mich so ein Radfahrer niederfahren, das seh ich schon kommen. Ich bin im Volksgarten – und – gerettet! Eine hochgewachsene, gelb-orange Valencia unter tausend anderen Rosen. Bildschön! Daneben, derzeit blütenlos, Ricarda. Vielleicht findet sie keinen Partner? Buchs in Fragezeichenformen. Peinlich genau zugeschnitten. Eine Kunst, so etwas. Der alte Theseustempel – stillschweigendes Relikt längst vergangener Zeiten. Die Treppen heute völlig unfrequentiert. Sie haben ihn zu Tode renoviert, mit Lack oder so einem Zeug. Ehemals war er aus Sandstein. Davon ist heute nichts mehr zu bemerken. Wahnsinnstat am Heldengrabmal. Auf den Bänken rundum sitzen Touristen und Pensionisten. Davor eine Gruppe Japaner in Tai-Chi-Trance. Haben ihre Arme hoch erhoben und lassen sie wehen wie Birkengeäst im Winde. Zwei üben Fächertanz, lassen den Fächer knallen wie die Aperschnalzer im Pongau. Die wüssten auch nicht, was unsere Älpler damit darstellen möchten. Trotzdem sieht es elegant aus! Unglaublich, was für riesige Hunde sich manche Leute halten! Wo verstecken sie die bloß in ihren engen Wohnungen? Meine Nationalbibliothek! Ach, wie lange habe ich dort beinahe schon gewohnt? Unten, im Tiefspeicher? Tonnenweise Bücher vor mir auf dem Tisch. Ein kleines Vermögen habe ich hier in Kopien investiert. Und – ich stehe auch in einem Regal, für die Ewigkeit. Also bin ich unsterblich. An manchen Tagen jedoch fühle ich mich aber eher sehr sterblich. Ich gehe über den Ballhausplatz, lasse die Hofburg rechts liegen. Wie leicht sich das sagt, hätte ich sie mitnehmen sollen? Was meinst du? Ich gehe in Richtung Schauflergasse. Gott sei Dank, jetzt ich bin am Ziel.

Aber ich bin ja da. Bin schon da! Und habe es gar nicht gemerkt. Die ganze Zeit über bin ich schon hier. Im Griensteidl. In Gedanken ziehe ich noch einmal die Glastür auf, sondiere in Sekundenschnelle das Terrain und finde meinen Tisch, lasse mich auf die kleine, von dunklen Holzwänden umgebene, mit rotem Plüsch überzogene Zweierbank fallen, an einem kleinen, runden Marmortischchen. Nun sitze ich schon seit einer Stunde hier. Immer wieder rekonstruiere ich, wie ich hergekommen bin. Meine Gedanken gehen im Kreis. Die Yuppie-Tussi, ich weiß. Jetzt könnte sie wirklich zu telefonieren aufhören. Typisch, trinkt natürlich Kaffee Latte. Modegetränk. Das passt zu ihr!

Kaffeehäuser eigenen sich auch hervorragend fürs Brainstorming. Ich denke an Papa. Der Vater hat alles weggeworfen, was von den Vorfahren stammte. Auf eine wilde Deponie gebracht, würde man heute sagen, fällt mir ein. Am nahen Bach. Mit „alles“ meine ich Großvaters Uniform, den Säbel, den Tschako. Mir kommen fast die Tränen. Ich habe so gerne mit diesen Sachen gespielt. Außerdem – der ideelle Wert von dem Zeug! So etwas ist unwiederbringlich verloren. Irgendwo hätte sich schon ein Platz gefunden für den ganzen Plunder. Vater war das egal. Alles Müll, hat er gesagt. Besonders Militärisches. Passte nicht in seine mühsam erklommene Welt. Neunzehnhundertelfer. Moderne Welt! Zeit ist immer modern. Neunzehnhundertsechzig hat er das gesagt! Lächerlich! Er war ja – irgendwie Pazifist! Zumindest bildete er sich das ein. Die Sachen rochen nach Moder, nach Mottenpulver, weiß ich noch. Der Säbel hatte Rost angesetzt, der war unglaublich schwer für mich, als Kind. Er mochte zehn Kilo gewogen haben. Aber war faszinierend. Hatte ich ihn umgeschnallt, zog ich ihn laut scheppernd hinter mir her. Es musste allen fürchterlich auf die Nerven gegangen sein. Damit spielt man nicht! Ich verstehe es ja … heute.

Die Gedanken. In Gedanken läuft alles ab wie in einem Film. Dann ist der Film zu Ende, und du bist wieder allein.

Norbert Johannes Prenner
Auszug aus dem Roman „Am Ende ist man doch allein“ – in Entstehung

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