Archiv der Kategorie: Bernd Remsing

Späte Erkenntnis

Spät aber doch musste Palmström begreifen
Dass die Menschen nicht lernen, dass sie nicht reifen
Diese Erkenntnis extrapolierend,
Entwarf er die Zukunft, sie war schockierend.

Wetter, ruft er, soll all mein Streben
Das Menschenglück zu mehr’n und heben
Eitler Wahn gewesen sein?
Gekränkt schließt sich Palmström im Zimmer ein.

Er beschließt in dieser Zeit,
Dass er sich von der Welt befreit
Und sollt er d’rob in besten Jahren
Geradewegs zur Hölle fahren.

Gedanklich ist er schon gesprungen
Hat Edelstahl sein Herz durchdrungen
Hat Palmström sich in alten Schwarten
Beraten über Todesarten

Schierling, Branntwein, Wagenlenken, …
Da erfasst ihn ein Bedenken:
Vielleicht, mein Zweifel unbenommen,
Gelingt‘s der Welt davonzukommen?

Besser doch mein gutes Leben,
Statt zu beenden, abzugeben.
Und dabei noch finanziell
Es zu sanieren, eventuell!

Wir kennen Palmström und wir verstehen
Er will nur nach dem Rechten seh‘n.
Man übergibt sein Leben nicht
belastet, das ist Bürgerspflicht!

Der Käufer dafür erhält doppelte Chance
Und so begrüßen wir Palmströms Annonce:

Halb unverbrauchtes Leben
Wäre günstig abzugeben.
(Leider keine Garantie
Wie in solchen Fällen nie)
Männlich, ledig, maturiert
Heeresdienst ist absolviert
Kein Ärgernis den Staatsgesetzen
Zeugungsfähig laut Attesten
Im großen Ganzen unversehrt
Kaum durch Schuldenlast beschwert
Überhaupt recht tadellos
Weltekel bloß
Noch nicht alt und nicht zu jung
Selbstabholung.

Vielleicht war’s dieses letzte Wort
Der erwünschte Selbst-Transport
Dass die Annonce nicht Antwort fand
Doch einer hat ihn am Stil erkannt:

Korf verfasst ein kurzes Schreiben:
Ich rat dir, Palmström, sei bescheiden
Wir gehör’n, liest Palmström bleich,
In ein eher geistig Reich,

Wie alles was, ich sag‘s nicht gern
Geschaffen von Christian Morgenstern.
Du bist ein Mann der Dichtung
Und trägst von daher die Verpflichtung,

Vertraglich gesichert durch deinen Verlag,
Dich zu erhalten Tag für Tag
Palmström, nachdem er die Folgen erwogen,
Hat die Annonce zurückgezogen.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

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www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques und unerHÖRT! | Inventarnummer: 16004

 

PANDORA – BÜCHSE

Wir begrüßen sie zur wahl der pandora büchse.
Doe büchse ist einfach in handhabung doch in
Vorsicht einsetzen.
Im falle des Wunschwes büchse öffnen einen
Gegenstnad wälen und einsetzen.
Nach zufriedenem gebrauch Gegenstand unbedingt
wieder in PANDORA-BÜCHSE festzuschliessen.
PANDORA_BÜCHSE nie in Reichweite von Kindern
Aufbewharen.
PANDORA-Büchse kuhl und trocjen lagern.
Freigesetztes Entsetzen kann nicht
zurückgenomen werden!
Wir wünschen viel spas und friedenbeim entsetzen
von PANDORSA-BÜCHASE:

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: dada & gaga | Inventarnummer: 15159

Palmströms Erwachen

Als dann der erste Weltkrieg begann
Geschah´s, dass Palmström sich besann
Und kurz entschlossen legt er sich nieder,
Den Krieg zu verschlafen, war ihm doch lieber.
Um sicherzugeh´n, schlief er gleich hundert Jahr,
Und erwachte grad jetzt, weil er neugierig war…
„Halt“, rufen gleich vernünftige Leute,
„Sie wagen zu sagen, er schlief bis heute?

Schloss er sich denn in ein Zeitloch ein?
Und kehrt also jetzt, wie kann das sein,
Ungealtert ins Leben zurück?
Das, mit Verlaub, ist ein starkes Stück!“
Solchen Experten in dergleichen Fragen
Zu widersprechen, werd ich nicht wagen,
In Prinzipienfragen aber ist Palmström stur
Und da bricht er schon mal das Gesetz der Natur.*

Gegenwärtig ist Palmström schon weiter,
wir versäumten ihn nur als Kaffeezubereiter.
Das Radio bringt jetzt den Nachrichtenblock
Und Palmström bekommt einen heiligen Schock.
„Ei“, ruft er gellend, „der Krieg ist aus!“
Schon tanzt er Foxtrott durchs ganze Haus.
Fröhlich lässt er die Korken krachen
Am Boden bilden sich Sektersatzlachen…

Palmström rutscht aus, und während er fällt
Folgen Berichte aus aller Welt
„Ach“, stöhnt Palmström, „ist es denn wahr,
Dass mein Frieden nur Irrtum war?
Kann es denn menschenmöglich sein
Ein Jahrhundert zu schlachten, jahraus, jahrein?“
Doch der Nachrichtensprecher spricht monoton
„Die Welt im Krieg“ ins Mikrophon.

Palmström erhebt sich, voll Zittern und Bangen,
Reibt sich die blutig geschlagenen Wangen
Gefasst greift er schließlich zu einer Serviette,
Tupft sich die Lippen und geht wieder zu Bette.

*Siehe: Die unmögliche Tatsache, in der wir erfahren: Palmström wird modern überfahren, widerlegt aber seinen Unfalltod durch das Kfz-Verordnungsgebot.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

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www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques und unerHÖRT! | Inventarnummer: 15158

Es

…genauso ist mein Hiersein eigentlich völlig unmöglich, ist es ebenfalls ein Nachleben eines nicht mehr existenten Lebensmodells. Denkt Langmut – und weiter:
Sich hier hinzu zu stellen zu den Kulturbergen, das ist ja der Aberwitz am Wolfgangsee! –

Die Idee mit dem größenwahnsinnigen Namen „Strobler Literaturgespräche“ war ja nur möglich, meine Idee, ein Kulturopfer zu bringen, mich diesen Testamentsjägern auszuliefern, mich in ihr Hospiz einsperren zu lassen, um hier mit meinen fünfundsiebzig Jahren „literarische Gespräche“ zu führen, was immer das auch sein mag, konnte ja nur entstehen und gleichzeitig scheitern, an diesen ganzen sommerfrischelnden Jahrhundertwende-Geistern: dem Altenberg, dem Alban Berg, dem Broch, dem Mann, Nietzsche und Schönberg! Hofmannsthal! – an diesen ganzen Denk-Alpinisten, die mir immer nur Geröll auf den Kopf werfen, die befinden sich ja schon alle als reisende Literaten, als Denker-Größen auf dem Gipfel ihrer Anerkennung. Ich dagegen am Wolfgangseerand, wohnhaft in der Bürglburg, den Bürglberg zu Füßen, verursache mit größter Mühe bloß ein Schilfrohrrascheln im Seerandsumpf und nenne das Ganze dann „Strobler Literaturgespräche“.
Er steht vom Bett auf, reibt sich den schmerzenden Nacken.
Matratze zu weich!
Denkt er und zieht sich an und denkt weiter:
Dabei könnte es bestenfalls „Strobler Gespräche“ heißen, da unter uns sich weder echte Literaten noch echte Literatur befinden, noch wurde hier eine solche Letztere je geschrieben, gelesen oder gar verstanden.
Genaugenommen dürfte es nicht einmal „Strobler“ heißen, diese „Strobler Literaturgespräche“, wie sie jetzt überall angekündigt werden, finden ja außerhalb Strobls statt! Aber das hätte ich wissen müssen! Das hat man mir wieder vorenthalten! Aus lauter dummem Eigendünkel haben die Bürglburger sich hier gedacht: Das braucht der Langmut nicht zu wissen, das kränkt ihn dann nur. Womöglich sucht er sich sogar ein anderes Heim, wenn er hört, dass die Bürglburg nicht in Strobl ist, dass er seine „literarischen Gespräche“ nicht „Strobler Literaturgespräche“ nennen kann, das ersparen wir ihm.
Das ist sie, denkt Langmut, diese Provinzhybris mit ihrer giergetriebenen Liebenswürdigkeit, die einem das Leben kosten kann!
Und schon bei der Ankunft sah ich es ja sofort! Sofort sah ich es an der Ortstafel, dass die Bürglburg nicht zu Strobl gehört, dass also das Einflussgebiet meiner Literaturgespräche schon vor der Strobler Ortstafel endet.
Meine Gespräche finden jetzt also in einem Unland statt, das weder zu Strobl gehört, noch erhebt ein anderer Ort oder Markt Ansprüche auf die Bürglburg nebst dazugehörigem Grund. Wie ich erfahren musste, gehört die Bürglburg sich selber an, oder der Vergangenheit, oder dem Staat, was ja alles aufs selbe hinausläuft.

Langmut legt sich angezogen wieder auf das Bett und stößt sich dabei am Holzrahmen.
Viel zu hoch!, denkt Langmut, für diese rückgratlose Matratze. Rückgratlos wie eine Sumpfwiese, wie alles hier. Wie alles und alle hier. Wie das gebaut ist! Man bräuchte diesen aufgequollenen Matratzenschwamm nur herauszunehmen und schon hat man einen fertigen Sarg!
Langmut klettert aus dem Bett, legt sich auf den Boden und denkt:

Aber die Literaturgespräche machten nur Sinn, wenn sie das literarische Erbe dieses Ortes aufgreifen und antreten könnten, das nun einmal mit dem Namen dieses Ortes zusammenhängt: Strobl, es ist und heißt immer noch Strobl! Und denkt: unweigerlich!
Das literarische Erbe fordert, noch einmal rücksichtslos ausgelebt zu werden, noch einmal sich tief in der Erde festzukrallen! In eine mit Namen verortete und vollkommen verrottete Erde!
Lächerlich, sie „Bürglburger Gespräche“ nennen zu wollen!
Langmut lacht laut auf. Und kichert weiter, ohne es zu merken und denkt:
Was für ein deplatzierter Vorschlag, meine lieben Kollegen!
Und denkt, dass er das jetzt laut gerufen hat und weiß nicht mehr, ob er das laut gerufen hat oder nicht und hört auf zu kichern. Er stellt fest, eine ganz trockene Kehle zu haben und befiehlt sich, ein Glas Wasser zu trinken. Seit Tagen trinkst du zu wenig, sagt er zu sich, sie sagen immer: „Sie müssen mehr trinken Herr Langmut, Ihr Körper braucht Flüssigkeit, Sie sind ja schon wieder ganz dehydriert! Langmut bleibt liegen. Kann ich die Literaturgespräche nicht Strobler nennen, ist alles sinn- und wirkungslos, denkt er.
Keine Verortung – keine Wirkung. So ist das!, denkt Langmut. Und setzt noch hinzu:
unweigerlich!

Richtig, denkt er weiter, müsste es einfach nur heißen, nachdem die Strobler Literaturgespräche weder mit Literatur noch mit Strobl etwas zu tun haben: „Gespräche“.
Stellten wir uns der Wahrheit, bliebe übrig: „Gespräche“.
„Vom vierten bis zehnten August zweitausendundfünfzehn finden in der Bürglburg die ‚Gespräche’ statt.“
Besser: „…finden die ‚Bürglburger Gespräche’ statt“, denkt Langmut und kichert wieder.
„Vom vierten bis zehnten August zweitausendundfünfzehn finden in der Bürglburg die ‚Bürglburger Gespräche’ statt.“ Langmut lacht laut auf und kichert dann weiter und denkt:
Suchte jemand die Bürglburg, um uns beim Sprechen über etwas anderes als Literatur zuzuhören, also den „Bürglburger Gesprächen“ beizuwohnen, müssten wir ihm sagen, die Bürglburg befindet sich auf einem Unort und ist daher für Besucher der Veranstaltung unerreichbar; stellte diese Auskunft nicht zufrieden, müssten wir ehrlicherweise sagen: Es ist heiß hier, es ist sumpfig, wir sind literarische Emigranten – also suchen Sie uns am besten in Florida!

In Florida… – wiederholt Langmut leise und bemerkt, dass er schon seit längerer Zeit vor sich hin kichert. Wie ein kindischer Greis!, flüstert er erschrocken, steht rasch auf, geht in den Speisesaal, nimmt ein Tablett und legt eine Semmel aus dem bereitgestellten Korb darauf. Zu weich, denkt er und steckt die Semmel in die Jackentasche, „Trinken Sie, Herr Langmut! Sie müssen mehr trinken!“, ruft ihm eine der Schwestern zu und stellt ein Glas Wasser auf sein Tablett. Langmut setzt sich an einen Tisch mit Blick aus dem Fenster, nimmt das Glas Wasser in die Hand, sieht es unverwandt an und stellt es zurück auf den Tisch.
Ich bin ja ganz alleine hier!, stellt Langmut fest. Die schlafen ja alle noch! Und sieht aus dem Fenster.
In Florida, denkt Langmut, sitzen wir am Bürglberghang, gut verpflegt in der sicheren Bürglburg und fallen über den Strobler Ort her. Jeden Tag fallen wir schon am Morgen über den Ort her. Noch mit unverdautem Kaffee im Bauch zerreden wir den Ort, zerdenken wir den Ort, versuchen wir alles zu sehen und zu denken, was dieser Ort hergibt, und wenn er nichts hergeben will, es dem Ort zu entreißen, was natürlich völlig unmöglich ist. Tatsächlich ist es so, dass dieser Ort über uns hereinbricht, bis wir begraben und betäubt sind, durch nichts mehr zu erreichen. Wir glauben, wir können den Ort überraschen, dabei werden wir vom Ort überrascht, angefallen wie von einer hungrigen Raubkatze, bevor wir noch überrascht sein können, liegen wir schon am Boden, in Fetzen gerissen.
Die Leute hier in Strobl glauben, wir fallen über den Ort her, dabei fällt der Ort über uns her, erschlägt, begräbt und erdrückt uns, unter seiner historischen Last.

Wenn ich aber Schutz brauche, denkt Langmut, flüchte ich mich hinter so eine Bleckwand, nehme ich so ein Buch und stelle eine Bleckwand hin.
Aber immer stehe ich letztendlich an derselben Stelle, ob ich sie umrunde oder vor mich hinstelle, diese Bleckwände, Sparbers und Rinnkogels. Am besten, ich gehe eine Runde um den See.
Langmut steht von seinem Tisch auf und verlässt die Bürglburg Richtung See.

„Bleckwand, Sparber und Rinnkogel markieren zaunpfostenähnlich die Grenze nach Norden; Beweis einer Nord-Süd Überwerfung infolge des aus dem Süden wirkenden plattentektonischen Drucks.“
So liest es Langmut auf einer Tafel am Wegrand. Wie alle Seen hier, denkt Langmut, ist der Wolfgangsee einer, der nicht sich zufrieden gab mit seinem Wasserfluss-Dasein, der vom Wasserfluss irgendwann zum See zu werden, sich in den Kopf setzte, die Transformation vom gewöhnlichen Wasserfluss zum respektablen See geschafft hat, rücksichtslos jeden auch noch so kleinen Vorteil ausnutzend, der ihm im Zuge der Plattenverschiebungen in der jüngeren Erdgeschichte entstand, alles, was vorher da war, unter sich begrabend, infolgedessen als See bedingungslos anerkannt von den ihm nachkommenden Menschen. Langmut nimmt die Semmel aus der Jackentasche. Zu weich, denkt er, und:
unmöglich, ihn zu umrunden! Und beschleunigt seinen Schritt und denkt weiter:
Erstmal Abersee geheißen, erscheint er jeder neuen sich hier an ihn und um ihn drängenden Menschenhäufung als neu. Er beißt in die Semmel.

So ein See stirbt nicht, und so wie ich ihn mir hier als persönliche Neuerscheinung aneigne, taten das vor mir die Kelten, die jetzt überall hier im Salzkammergut als Dreck auf meinen Schuhen kleben, völlig ausgeerzt, so wie ich irgendwann auf irgendjemandes Schuhen kleben werde.
Langmut kann den Bissen kaum schlucken und merkt, dass er keinen Speichel hat, dass er großen Durst hat. Du musst trinken! Sofort! Dein Körper hält das nicht aus! Er legt sich mühsam auf den Bauch und versucht, aus dem See zu trinken. Spuckt aber den ersten Schluck wieder aus. Alles verseucht!, denkt er und: Ich hätte das Glas Wasser doch trinken sollen und lässt den Rest der Semmel aus seiner vorgestreckten Hand in den See fallen. Er beobachtet, wie der Rest der Semmel im Seewasser aufquillt, sich auflöst und seine festeren Teile absinken und erinnert sich: Immer war ich ein begehrter Tänzer!

Immer war ich ein begehrter Tänzer, flüstert Langmut.
Und flüstert weiter: So zeigt sich uns dieser See, so wie auch die anderen hier ortsansässigen Seen, als sein eigenes Denkmal, als eine gewaltsame Transformation zur Größe, geboren aus dem Wunsch nach Veränderung, ermöglicht durch Verschiebungen noch wesentlich größerer Natur, Verschiebungen unterirdischer Art.
Ab einem gewissen Punkt allerdings, tut dieses See-Monster wieder so, als ob nichts gewesen wäre, plätschert dahin als unschuldiges Flüsslein, als Ache oder Ischl, ganz nach Wunsch.

Langmut richtet sich auf, geht weiter, verfällt plötzlich in den Walzerschritt, bricht ab, und eilt auf den Campingplatz zu.
Langmut wird langsamer vor der Terrasse einer Campingplatz-Raststätte.
Langmut steigt neben rohbetonierten Stufen auf die noch zaunlose Terrasse der Campingplatz-Raststätte. Er bestellt noch im Gehen Kaffee „…und ein großes Glas Wasser dazu!“, ruft er der Kellnerin nach und setzt sich mit Blick auf die Bleckwand. So sieht sie aus!, vergewissert er sich, die Bleckwand sieht aus wie eine Riesin in der Sonne kniend, wie eine gierig trinkende dicke Frau, die ihren Kopf ins Wasser steckt, eine Riesin, erstarrt beim gierigen Trinken, eine grüne Riesenfrau, die beim gierigen Trinken ihr gewaltiges Hinterteil frivol gen Himmel reckt – vielleicht, in naher Riesenzukunft, begattet wird, wenn’s der Rinnkogel oder der Rothstein nicht mehr aushält, dieses riesige Riesinnenhinterteil. Und trinkt den Kaffee in einem Zug aus.
Sie hat das Glas Wasser vergessen, denkt Langmut.

So sieht das aus, denkt Langmut, von der Terrasse der Campingplatz-Raststätte her gesehen, sieht das so aus. Ein Campingplatz im Übrigen, der voller Deutscher ist, voller abgezirkelter, dobermannbewachter Miniparzellen, eine fußbreitdichte Anhäufung von Privatgrund. Langmut fühlt das Blut im Mund pochen.
Leitungswasser würde hier leider nicht serviert, das sehe der Chef nicht gern, wird Langmut von der Servierkraft erklärt. Italienischer Akzent!, denkt Langmut. Über die Alpen geworfen, strampelt sich nun mit ihrer Identität ab. Hab Erbarmen mit dir!, denkt Langmut und starrt die Servierkraft beschwörend an.
Ja, wenn er unbedingt Leitungswasser haben wolle, erklärt sie durch sein schweigendes Starren irritiert, könne er sich ja am Campingplatzbrunnen bedienen.
Langmut steht ruckartig auf.

Eine germanische Wohnwagen-Burg zwischen grüner Riesin und St. Wolfgang am Wolfgangsee!, denkt Langmut, während er sich einen Weg zum Trinkwasserbrunnen bahnt, und: Waschechte Kimbern und Teutonen befinden sich hier! – Dieser Kaffee hat mich außerdem furchtbar durstig gemacht! Kaffee dehydriert!
Denkt er – und: wie schrecklich! Und stolpert über Zeltschnüre und Campingstühle, durch die Dobermanns und Schäfers, durch die psychisch völlig zerstörten, privatgrundschützenden Hunde, durch die schneidigen „Guten Morgens!“.

Befestigte Wohnwagensiedlung!
Denkt er.
Und: alles durchdrungen von der verschlagenen Vorsichtigkeit der Niederlassung. Und weiter: ein völlig unwirkliches Nachleben eines längst in dieser Form nicht mehr möglichen Gesellschaftsmodells. Einem Gesellschaftsmodell leben die vorgeblich campierenden Teutonen hier nach, das schon vor zweitausend Jahren von dem römischen Druck, aus dem Süden kommend, besiegt wurde. Und immer wieder besiegt, schlägt das Alemannische, das Teutonische und das Vandalische dann doch in irgendeine Spalte der alpinen Überwerfungen zurück, verschlägt italienische Servierkräfte herüber und seine Zelte auf.

Und weiter: Eine Art Keimzelle ist das hier, und die wird weiterwachsen, so imperial groß wird das hier werden, wie die Wohnwagensiedlungen in Florida. Wohnwagen an Wohnwagen reiht sich dort in Florida. Silbrig glitzernd in der Sonne bis zum Horizont. Neben den „Retires“, den in Wohlstand und Ehren gealterten Gesellschaftsamerikanern, erwarten dort den Tod in der brühwarmen Krokodil- und Stechmückenatmosphäre, die dem Alter so gut tut, wohlhabende Deutsche mit nationalsozialistischer Vergangenheit.
Ausgerechnet in Florida, wo ich das Licht der Welt erblickte – gezwungenermaßen.
Und manchmal kommt daher dem erwarteten Tod ein gewaltsamer zuvor.
Und manchmal ist der Tod noch ein halbes Kind, denkt Langmut. Und: Schrecklich, ich fühle meinen Mund nicht mehr!
Ich muss unbedingt diesen Brunnen finden!

Dann: Das haben sie hier auch vor, denkt Langmut, dieser Campingplatz ist erst der Anfang. Sich ihres Erbes besinnend, das schließlich wieder durchschlägt im Alter, wo nichts zu tun ist als zu sterben, nehmen sie Land. Dieses Erbe fordert, noch einmal rücksichtslos ausgelebt zu werden, noch einmal tief in der Erde sich festkrallen, nie – von hier vertrieben werden. Langmut fällt über eine Zeltschnur.
„Wohnwagen an Wohnwagen reiht sich dort in Florida – bis zum Horizont! Alle glänzen silbern in der Sonne, so dass es das Auge schmerzt!“
Erschrocken bemerkt Langmut, dass er mit diesem Satz gerade einen der Camper anschreit. Langmut presst sich die Hände vor den Mund.
Wie ein Schulkind!, denkt Langmut und reißt die Augen auf. Und sieht, dass er neben dem laufenden Brunnen steht.
Der Camper und Langmut stehen sich gegenüber. Der Campingplatz endet hier in einer Sumpfwiese zum Seeufer hin. Der Trinkwasserhahn rauscht weiter. Der Camper nimmt einen Plastikkanister und hält ihn unter den Trinkwasserhahn.
Langmut lässt die Hände fallen und sieht, dass sie blutig sind.

„Wo, in Florida?“, erkundigt sich plötzlich der Camper, und beiläufig: ob Langmut denn schon mal dort gewesen wäre?
Langmut schüttelt den Kopf und wartet ungeduldig auf das Freiwerden des Wasserhahns.
Der Camper füllt einen weiteren Kanister mit Trinkwasser und bedauert Langmut, noch nicht in Florida gewesen zu sein, denn er selber sei schon in Florida gewesen, traumhaft! Drei Monate im Van unterwegs! Aber im Unterschied zu Langmut wisse er, so der Camper, nichts von solchen Wohnwagensiedlungen, da müsse Langmut sich irren und da müsse man doch was davon gehört oder gesehen haben, von solchen riesigen Siedlungen, bei drei Monaten im Van! Aber er habe, wenn er nachdenke, nichts davon gesehen oder gehört. Nie!

Schlau!, denkt Langmut und reibt sich den Nacken.
Aber das wäre ja auch schon alles so lange her, schwächt der Camper ab, Jahrzehnte sei das alles schon her. Und der Wasserhahn werde bald frei, dass man da schon durstig werden kann bei dieser Hitze, verstehe er gut, lacht der Camper und hält einen neuen Kanister unter den Hahn und der Strahl prasselt in den leeren Behälter.
Und seit er damals dieses traumhafte St. Wolfgang am Wolfgangsee entdeckt habe, käme er nur noch hierher – mit seiner ganzen Familie!
Langmut stammelt die Wörter „Notfall!“ und „Wasser!“
Der Camper, sehr laut, um den Wasserstrahl zu übertönen: „Was?“
Und: Dazu die ganze kulturelle Vergangenheit hier, das glaube man ja gar nicht! Diese ganzen Schriftsteller! Ein Nietzsche! Habe er gehört, sei hier gewesen, ja sogar der Hofmannsthal-Hugo-von! – das wäre ja auch einer von denen gewesen, man wisse ja!

Dann holt der Camper tief Luft und ruft schallend:
„Jedermann!“, und lacht und fragt „Na klingelt‘s?“
„Jedermann!“, ruft der deutsche Camper ein zweites Mal und freut sich am Echo. Dann lacht er: „Das glaubst du ja nicht!“
Langmut lässt die Hände sinken und öffnet den Mund. Jetzt könnte ich trinken!, denkt er und macht eine Bewegung auf den Wasserhahn zu.
Doch der Camper setzt einen dritten Kanister an und fährt fort: „Also am liebsten bliebe ich ja das ganze Jahr hier! Aber Sie wissen ja: die Arbeit, die Arbeit! – Das lässt einen nicht los! Wissen Sie? – Was?“
Ich weiß!, denkt Langmut und hält den Mund fest geschlossen.
„Also es ist ja nicht so, dass ich das ganze Jahr hier sein könnte?“, brüllt der Camper in fragendem Ton.

Langmut beobachtet, wie sich der Kanister füllt, sieht auf zum See, auf die Sumpfwiese.
Ich könnte zum See gehen, denkt er, – aber der Boden dorthin ist viel zu weich!
Er sieht auf seine Füße und die von Wasser satte Erde um den Trinkwasserhahn. Aufgeweicht!, denkt er, alles aufgeweicht!
Der Camper überlegt und befindet: „Also sozusagen nur temporär bin ich hier, bei diesem schönen Wolfgangsee! Sozusagen ein temporärer Wolfgangseer bin ich!“, lacht der Camper und winkt seiner Frau zu, die mit weiteren leeren Kanistern kommt. Er nimmt mit der hohlen Hand einen Schluck Wasser vom Trinkhahn.
Zwei Temporäre sind wir!“, beschließt er, nachdem er geschluckt hat und sieht Langmut erwartungsvoll an. Langmut sieht regungslos auf die feuchten Lippen des Campers. Der Camper spricht mit unvermitteltem Ernst: „Andere bleiben ja das ganze Jahr hier, also sozusagen per-ma-nent! – Das sind dann die Per-ma-nent-en!“
Und meint nachdenklich: „Aber vielleicht ziehe ich auch mal ganz hierher – wegen des gesunden Klimas!“ Seine Frau stellt die weiteren Kanister ab und der Camper freut sich:
„Das ist alles richtig gut organisiert hier – wir kennen uns alle untereinander – kannten uns schon vorher!“ Ich wusste es!, denkt Langmut und lässt den Kopf sinken.

Langmut sieht nur noch das Stück aufgeweichten Boden neben dem Trinkwasserhahn und denkt: einen Schluck Wasser, nur einen Schluck – und:
Er trinkt das ganze Wasser aus! Vielleicht zieht er ganz hierher, ist in Florida gewesen und zieht jetzt ganz hierher und weiß von nichts, nie geseh‘n, nie gehört, nie etwas gewesen. Behaupten alle: von nichts wissen! Das ist alles! Und mehr Kanister kommen! Hierher werden alle kommen und sozusagen Permanente werden und dann… ein Stückchen weiter zur Sumpfwiese hin, zur trinkenden Riesin hin, immer ein Stückchen näher auf den Riesenarsch zukrabbeln, auf die brünftige Riesin zu, die trinkt den Wolfgangsee aus! Die trinken alle den Wolfgangsee aus! Und auftaucht alles aus dem Schlamm!
Die Sumpfwiese, denkt er. Ich muss sie warnen!, denkt er, und denkt: Das ist es! Und dreht sich dorthin, wo er den Camper vermutet, denn er sieht plötzlich nichts, nimmt noch einmal seine letzte Kraft zusammen und brüllt es solange er kann und fällt in den aufgequollenen Boden und merkt, wie er fällt und merkt, wie er es brüllt, in den Boden brüllt, der so weich ist, dass er nicht weiß, ob er noch fällt oder schon in der Erde liegt. Aber er weiß, dass er es schreit, in die Erde hinein schreit, so lange er kann. Es in den Himmel schreit, dieses eine unsägliche Wort.

Der Camper und seine Frau, befragt, ob Langmut noch etwas gesagt hätte, geben nach kurzem Zögern zu Protokoll: Sie hätten wohl den Eindruck gehabt, dass der Herr Langmut noch etwas habe sagen wollen, aber richtig verständlich machen hätte er sich nicht können.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 15152

 

Wiesel und Weide

Zwischen Heide und Getreide
Stand die alte Trauerweide
Hielt sich im Stamm dramatisch krumm
Seufzt´ dann und wann und war sonst stumm

Ein Wiesel, dieses spielte gern
Im Bach, dort sah’s der Morgenstern
Doch der Weide Trübsalblasen
Stieg dem Wiesel in die Nasen

Und so verließ das tapf’re Wiesel
Eines Morgens Bach und Kiesel
Und stellt’ sich vor den Weidenbaum –
Kaum anzuschau’n im Morgengrau’n

Weide, sprach’s voll Energie,
Dein Trauerspiel ist Blasphemie!
Kann natürlich sein, du bist
Ein gottverlass’ner Atheist

Doch schon aus Gründen der Moral:
Verdirb uns nicht den Frohchoral
Denn Lobgesang auf die Natur
Ist Schöpfungspflicht der Kreatur!

Die Weide aber rückt nur stumm
An ihrem Trauerflor herum
Das Wiesel kann das gar nicht leiden
Und springt nun wütend in die Weiden

Siehst du nicht, du toller Baum
Wie alles herrlich anzuschau’n?
Wie alles ineinander greift
Das Gras dem Rind entgegenreift?

Ja, selbst der Mensch fährt Diesel
Zu wärmen und zu nähr’n das Wiesel
Der Beweis, dass alle Leben
harmonisch ineinander weben!

Mit Gott oder ohne Gott
Es ist ein perfektibler Pott
Du findest nicht das kleinste Loch
Verstockter Baum, so rede doch!

Da, unter Ächz und Krächz und Kroch
Knarrt die Weide: noch!
Und versinkt darauf in Trauer
Ob der Schöpfung kurzer Dauer.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

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www.verdichtet.at | Kategorie: Kleinode – nicht nur an die Freude und unerHÖRT! | Inventarnummer: 15150

Magenbitter

Ich war so sehr in sie vernarrt
Dass ich von Kopf bis Fuß erstarrte
So hab ich Jahre ausgeharrt
Doch dacht’ ich: Gut, ich warte

Und als der Schmerz vergangen war
Ich bekam schon graues Haar
Ist es mir dann doch gelungen
Bin zu ihr ins Bett gesprungen

Es war des Glücks fast schon zu viel
Vom Warteplatz direkt ans Ziel
Nach all dem hungernden Verlangen
Das Feenkind doch eingefangen

Es atmeten unsere Glieder
Rosenduft und den von Flieder
Wir wogten selig auf und nieder
Und dann wieder

Ich dacht’, was ich noch nie gedacht:
Nachdem du’s schon so weit gebracht
Wird sie auch die Deine bleiben
Dann musst’ ich’s noch mal mit ihr treiben

Am nächsten Tag war sie verschwunden
Hab ein paar Zeilen von ihr gefunden
Da saß ich da – geprellter Ritter –
Sie nahm mich nur als Magenbitter

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten| Inventarnummer: 15149

Fahrradlieder 4 – Fieselotte

(frei nach Brecht)

1)
Da lachst du dazu, Fieselotte
Und bist schon wieder ganz blau:
Zum Kotzen dies Getue, diese ach so hohen Gefühle
Interessieren doch keine Sau!
Wer ist´s denn am Ende des Tags
Der dich Trunkenbold
Bei jedem Wetter nach Hause bringt,
Während du davon schwärmst, wie Columbina dir hold
Oder wie schön die kirschrote Lady dir in die Schweinsohren singt?
Nein, weich mir diesmal nicht aus, diesmal sag ich‘s im Ernst:
Was hilft denn dir deine noble, musikalisch verzärtelte Fee,
wenn‘s mal Eis regnet oder auch nur ein klein wenig Schnee?
Ach was, ich weiß, dass du ja doch nichts draus lernst.
Nein, eins noch, dann wird’s mir schon fad:
Wie lange willst du noch klagen
Über die längst verflossene Erste?
Ein zerbrochenes Rad
Wird dich ja doch nicht nach Hause tragen!
Ja, ich weiß, du begehrst sie!

2)
Doch noch eins, ein letztes noch bloß:
Es geht um den läppischen Gernegroß
Das ist´s was mich am meisten stört:
Dein mystisches Herumgetue
Um das fette Rhinozeross,
Das ja noch nicht mal dir gehört.
Hätt‘ ich abgetragene Schuhe
Ich würf‘ sie ihm auf die Kurbel
So viel auf deine Mystik und dein mystisches Rhinos-Zerros-Geschwurbel.
Sag, gibt´s in dieser Stadt irgendein anderes Rad
Das eitler noch sich gebärdet, bei jeder noch so kurzen Fahrt?
Zum Beispiel als du Bier hol‘n warst in jener langen Juninacht
mit diesem Urzeitgerippe
Da hatte dich doch ziemlich schnell die Streife an der Strippe
Das hat dir Alko-Strafe eingebracht!
Du grinst?
Was hast du noch bezahlt als Fron?
Einen ganzen Monatslohn, den du ohnehin nie
Uns unversehrt nach Hause bringst.
Doch sing nur ruhig weiter, du närrischer Tor,
Wenn‘s mal wirklich um was geht,
Ziehst du ja doch nur mich
Allen anderen Rädern vor.

3)
Schweigend sitz ich nun da in meines Fahrradschuppens Kühle
Wie hätt ich´s nicht ahnen sollen: Auch Fieselotte hat Gefühle
Und doch: Ich unbereifter Esel hab sie blindlings übersehen
Daher ihre ständigen, kleinen und fiesen Gebrechen:
Bremse, Schaltung, Politur,
Sie wollte mir nur, ganz nach Fahrradnatur,
Aufrüttelnd ins Gewissen stechen.
Doch ich, oh träf‘ mich doch der Höhenschlag,
Seh nur wie ich mich müh´und plag
An ihren Zärtlichkeitserweisen
Und bin verroht genug,
Ihr andere Räder hochzupreisen!
Ja, sie ist nicht mehr die Schönste
Und war‘s vermutlich auch nie
Ja, wirft ihr Lack schon Falten
Doch würd‘ ich mich, genau wie sie sagt,
Nie an eine and‘re halten.

Da fühle ich eine Woge schmerzlichster Liebe von mir auf sie übergeh‘n
Und weiß es genau und ganz unbesehen
Noch nie fühlt‘ ich so rein und so echt
Und sag zu ihr mit bebender Stimme: Fieselotte, du hast ja so recht!
Und als ihre Augen ganz ölfeucht blinken:
Was ist, fahr‘n wir noch, an die Ecke – was trinken?

Bernd Remsing
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Fahrradlieder 3 – Rhinos-Zerross

(Eine klassische Ode nach Schiller)

Doch du, Rhinos-Zerross, woher kamst du?
Dich schufen wir in den Kellern, wo das Radvolk sich birgt, um Kräfte und Räder zu nähren. Gegen den täglichen Feind der Menschen und Räder, gegen die alleszerfressenden Autos zu wehren sollt’st du uns helfen, ein Rammbock uns werden, wie sie ihn noch nicht gesehen. Dass schon dein Anblick die blechernen Heere allen Mutes beraube und bis ins Getriebe macht zittern.

Doch was wuchs uns Verweg‘nen entgegen aus dem treibenden Brodeln der untergründigen Fahrradküchen? Wurdest du, wie viele sagen, vom prometheischen Funken des Analog-Schweißgeräts mit göttlichem Geiste beseelt? Oder ließest du selber dich, oh großer Rhinos-Zerross, schaffen durch uns, durch unsere sterblichen Hände?
Sie sagen, unsere dreisten Feinde, nur ein totgebor‘nes Reptil seist du. Ja, wahr: Du wurdest aus Fahrradurzeitgerippen errichtet – doch von Neuem zum Leben erwecktest du dich und stehst nun da, Vielfachgeborener vor uns, einem Dionysos gleich.

Ein unbegreifliches Rätsel ist deine bloße Gegenwart und nimmer wagen wir dich zu brauchen, zu den schnöden Zwecken des Krieges. Immer werden wir staunen und zaghafter Zweifel Opfer, wie deine Schweißnähte halten, verzeih, wir können‘s nicht ahnen, oder wie deine Formen den Gesetzen der gyroskopischen Kräfte hohnlachen
und doch sie nicht brechen.

Deine ehrfurchtserweckende Größe zieht alle Blicke auf sich, und du weißt es, doch bleibt dein Geheimnis in dir, ja muss es dort bleiben, gleitet doch unser armer Verstand daran ab, wie der hungrige Fuchs auf dem Eise. Und lächelst du heimlich dazu und verzeihst tatsächlich und schweigst und trägst uns noch willig und voll erhab‘ner Geduld auf deinem kräftigen Rücken, den Autofirmen zum Schrecken.

Ein göttlicher Freund der Menschen bist du, Rhinos-Zerross.
Ob geschaffen aus prometheischen Funken, ob durch dich selbst zwiefach geboren.
Doch manchmal, hab Nachsicht, macht deine Größe uns schaudern.

Bernd Remsing
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Fahrradlieder 2 – Columbina

 (frei nach Rilke)

Aus den schattigen Hallen des Händlers hab einst ich dich freigekauft
In einer auch mir dunklen Stunde
Frei nun, lehrtest du mich, was Freiheit doch ist
Lässig die tägliche Bedrängnis umspielend.
Nicht der buckligen Ölfresser eifernd sich wehren, nein!
In gelassener Ruhe spöttisch umkurven sie – nach Taubenart.

Du zeigtest mir die Wege der anderen Räder
Die in den Straßen sich finden
Und ewig dank ich dies dir.
Ach könntest du weiter mit mir
Die uns gewonnene Freiheit doch teilen
Wie bitter wird mir ums Herz
Wenn ich dich finde so grausam entseelt
Am Dachboden aufgebahrt,
Wo täuschend lebendig du liegst

Dann schreit es in mir:
Nein und nie und nimmer, sie ist nicht tot, wie kann Columbina denn sterben!
Nun reiß ich sie an mich, doch kraftlos fällt ihr
Das vordere Laufrad zu Boden.
Dass auch das Leben der Räder ewig nicht währt, wie könnt ich‘s nicht wissen,
Ich der’s so schmerzvoll erfahren. Doch hört und empört euch mit mir:
Nicht so, nicht auf die Weise,
nicht so zur Unzeit,
nicht aufgrund eines schnöden, billigen Schlampigkeitsfehlers aus Kostengründen der Produktion! Heilige Graziella,* lass mich ihn finden, den schurkischen Dämon, den schnöden Outsourcer, der solches verbrochen. An Columbinas Speichen, ich schwör‘s, werd‘ ich ihn rädern!
Tränen vergieß ich bis dahin über dich, Columbina, und dein viel zu früh
zerbrochenes
Ausfallende!

*Italienisches Klapprad

Bernd Remsing
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