Archiv der Kategorie: Robert Müller

Die Steinsuppe

Ein Märchen, das es vielen Variationen und Kulturkreisen gibt.

Eines Abends kommen ein paar arme, hungrige Fremde mit nichts als einem leeren Kochtopf in ein Dorf. Die Bewohner geben ihnen aber nichts zu essen. Da füllen die Fremden ihren Topf mit Wasser, werfen einen Stein hinein und bringen ihn am Dorfplatz zum Kochen. Das weckt die Neugier der Dorfbewohner und sie fragen die Fremden, was sie da machen.

„Steinsuppe“, erklären die Fremden, „sie ist köstlich, wie Ihr bald sehen werdet; aber sie würde noch besser schmecken, wenn Ihr irgendetwas übrig hättet, um sie zu würzen.“ Da gibt ihnen ein Dorfbewohner ein paar Stängel Petersilie. Eine Frau erinnert sich, dass sie zu Hause noch einige Kartoffel hätte, holt sie und wirft sie in den Topf. Eine andere steuert eine Zwiebel und eine große Karotte bei. Und ein weiterer Dorfbewohner bringt einen Schinkenknochen. Während es im Topf kocht, kommen immer mehr Leute vorbei, um einen Rest von diesem oder ein Stückchen von jenem hineinzuwerfen, bis sich sein Inhalt zu einer nahrhaften und wohlschmeckenden  Suppe verdickt hat. Alle – die Dorfbewohner und die Fremden – setzen sich hin und genießen zusammen ein Festmahl.

„Ihr habt uns das größte Geschenk gemacht“, erklärt einer der Dorfältesten, „das Geheimnis, wie man aus Steinen Suppe macht.“

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 16154

Der falsche Mönch

Und es begab sich Anno Domini 1991, dass der fahrende Schüler Robert eine Studienreise ins Ursprungsland unserer Kultur, nämlich nach Irland machte. Bekanntlich waren es irische Mönche, die im Spätmittelalter zu uns Barbaren kamen, um uns Lesen und Schreiben zu lehren, womit sie (ohne es zu wissen oder gar zu wollen) dem Gottseibeiuns Microsoft und verwandtem Gelichter die spätere Basis schufen. Doch nicht um diese zu erforschen, sondern in sittlicher Einsamkeit (er hatte leider kein sündhaftes Weib überreden können mitzufahren) die frommen Urväter und deren romanische Behausungen kennenzulernen war sein Begehr. Unterwegs traf er einen Gesellen aus Ostdeutschland mit derselben Absicht – und so zogen sie miteinander fürbass, denn die Zeiten waren schlecht und die um Kaugummi und Pennies bettelnden Kinder lästig und zahlreich.

Eines Tages kamen sie an ein Kloster, das schon sehr verfallen war – und kein Führer da, der sie belehrt, keine Quelle, die sie getränkt hätte. So lagerten sie in der Mitte zwischen den eingestürzten Kreuzgängen und sogen den in einer Flasche Bushmill mitgeführten Heiligen Geist zur Gänze aus. Bald fielen sie in ein angenehmes Dösen, aus dem sie von einer anrückenden westdeutschen Großfamilie aufgeschreckt wurden: „Kuck doch mal, diese faulen Gesellen liechen da am hellichten Tach rum – und besoffen sind sie auch, das ist doch eine Whisky-Flasche da, oder?“ Blitzschnell dachte Robert „Management by situation ist angesagt“, und bevor sich sein Kollege noch hochgerappelt hatte, ging er schon auf die Gruppe zu: „I’m the guide here, the admission is one pound the adults, the kids 50 pee, it will last about half an hour!“ Gewohnt, einer Autorität zu gehorchen und für alles zu bezahlen, griff der fette Wohlstandsbürger ans Herz in der hinteren Hosentasche und spendete.

Was nun die deutsche Großfamilie Erstaunliches aus der Geschichte dieses Klosters zu hören bekam, weiß Robert heute nicht mehr genau, und Gott in seiner allwissenden Einsamkeit hielt sich gewiss manchmal die Ohren zu (er liebt die Menschen bekanntlich immer noch, überhaupt wenn sie ihn zum Lachen bringen) – aber es war Erstaunliches, Düsteres und teilweise auch gänzlich Unbekanntes für die Menschheit im Allgemeinen und die Kirchengeschichte im Besonderen.

Aber zum Teufel (der sicher auch grinsend zuhörte) noch mal, wo hätten die staunenden Touristen auch reklamieren wollen, wenn sie sich die Mühe gemacht hätten, das Gehörte nachzuprüfen. Und der stolze Preis rechtfertigte eine abenteuerliche Story – überhaupt die Einlage, dass die gewisslich im Grab rotierenden Mönche einmal im Jahr mit Alkohol und Frauen sündigen mussten, um hernach eine rechte Abscheu vor diesem Treiben zu bekommen.

Wie auch immer, der Herrgott sorgt nicht nur für die Sperlinge auf dem Dach, sondern auch für die fahrenden Schüler, die sein Wort – wenn auch manchmal arg verzerrt – verkünden und dafür den unverhofften Obulus für die notleidenden Pubs in der Umgebung spendeten.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 16032

Die Zeit

Woher kommt das Universum und wohin entwickelt es sich? Hatte es wirklich einen Anfang? Und wenn ja, was geschah davor? Was ist die Zeit? Wird sie je ein Ende finden? Neuere Erkenntnisse in der Physik legen einige Antworten auf diese alten Fragen nahe. Eines Tages werden uns diese Antworten vielleicht so selbstverständlich erscheinen wie die Tatsache, daß die Erde um die Sonne kreist. Nur die Zukunft kann uns eine Antwort darauf geben.
(Stephen W. Hawking)

Woher kummt es Weltall – und wo geht’s dann hin?
Und was war dann vorher – und was hat’s für an Sinn?
Wird die Zeit einmal aufhör’n – rennt das alles im Kreis?
Dös san Frag’n, wo a d‘ Wissenschaft – net weiterweiß.
Von die g’scheitesten Leut‘ – is ka Antwort zum hör’n.
Mei Schatzerl, ich kann Dir das – einfach erklär’n:
Vor Dir war gar nix – und nach Dir ist’s passé.
Und so lang Du bei mir bist – bleibt die Zeit einfach steh’!

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: Kleinode – nicht nur an die Freude| Inventarnummer: 15084

Fragment

Der erste Absatz des Textes ist von Nobelpreisträger Patrick Modiano, den Rest habe ich ergänzt.

Oft hatte ich Angst, und um wieder Mut zu schöpfen, wäre ich gerne zu meiner Mutter gelaufen, aber ich hätte sie nur bei der Arbeit gestört. Heute weiß ich, sie hätte mich nicht ausgeschimpft, denn in jener Nacht, als sie mich vom Polizeirevier abholte, habe ich von ihr keinen Vorwurf gehört, keine Drohung, keine Moralpredigt. Wir gingen stumm nebeneinander. Mitten auf der Straße hörte ich sie mit teilnahmsloser Stimme sagen: „Meine arme Kleine!“ Ich fragte mich jedoch, ob sie zu mir sprach oder zu sich selbst. Sie hat gewartet, bis ich ausgezogen war und im Bett lag, dann kam sie zu mir ins Zimmer. Sie setzte sich ans Fußende und schwieg. Und ich ebenfalls. Schließlich lächelte sie. Sie hat gesagt: „Wir sind beide nicht sehr gesprächig!“ Und sie hat mir gerade in die Augen geblickt.

„Ich mache uns einen Kakao“, hat sie dann gesagt, „es gibt nichts Besseres zum Einschlafen.“ Ich wusste nicht, was ich sagen – wo ich beginnen sollte. Gerade weil sie mich nicht, wie früher als Volksschulkind, zum Beichten zwingen wollte, hatte ich eine Sperre im Hals. Aber vielleicht löst sie sich im warmen, süßen Kakao auf, diese Sperre im Hals? Ganz schön schlau, meine Mutter.

Aber vielleicht ist der Grund ein anderer? Vielleicht ist sie auch unsicher, verletzt, weil ihre liebevolle Erziehung solche stinkenden Früchte trägt? Enttäuscht, weil sie mich nicht mehr versteht? Ja, das ist es, sie versteht mich einfach nicht mehr – sie weiß nicht, was für mich wichtiger ist als das tägliche Geradeaus-Denken, die Pflichten, die ewige Routine, das langweilige immer gleiche harmlose „sicher“ Leben! Das kann ja nicht alles sein! Ich bin jung, ich will was erleben, andere Burschen und Mädchen kennenlernen, ohne dauernde Kontrolle, ob der oder die „in Ordnung“ ist. Wenn ich das schon höre „in Ordnung“! Nichts ist in Ordnung, außer dass es jeden Morgen hell und jeden Abend dunkel wird. Ich hasse die braven Klamotten und die langlebigen „guten“ Schuhe, ich will was Buntes, Ausgeflipptes, Aufregendes, ich will nicht immer angepasst, leise und höflich sein; wenn einer sich wie ein seniler Trottel aufführt, dann sage ich ihm das, auch wenn‘s der Schuldirektor ist.

Ja, es war Scheiße, dass ich mit dem Herbert von der Klasse über mir mitgegangen bin und mir in seiner Runde einen Joint aufdrängen hab lassen. Aber dass ich hinterher gekotzt habe wie ein Reiher, war wohl Strafe genug!
So, jetzt kommt meine Mutter mit dem Kakao, wie gut der riecht! Aber dass sie mein Kinderhäferl mit dem Elefanten genommen hat, ist echt ungeil. Ich bin doch kein Kind mehr, ich hab schon ein Jahr meine Periode.
Ja, danke Mama! Eigentlich ist es urkomisch – auf der einen Seite kotzt mich der gutbürgerliche Scheiß an, aber zu Hause im Bett mit einem Kakao ist wunderbar und urgemütlich. Wie passt das zusammen?

Wahnsinn, Mutter kann Gedanken lesen: „Ich weiß, es ist eine schwierige Zeit für dich“, sagt sie, „dein Körper wächst und die Hormone spielen verrückt, und ich wusste in deinem Alter auch oft nicht, wer ich bin und was ich will. Ich will dir nicht im Weg stehen, ich möchte, dass du deinen eigenen Weg gehst, aber zuerst musst du ihn finden.“ Sie lehnt sich zurück und trinkt einen Schluck Kakao, da sehe ich, dass ihre Augen nass sind. „Mama, was ist mit dir?“ frage ich. „Du wirst erwachsen, und das ist der Beginn unserer Trennung“, sagt sie leise, „aber ich will ja nur, dass du nur deinem eigenen Willen folgst, lass dich nie von anderen dumm machen und zu etwas überreden!“

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary| Inventarnummer: 15041

Der Krebsengang

Es war einmal ein Krebserich, – ein dicker, der verliebte sich
In eine flotte Krebsendame – Roswitha Zangerl war ihr Name
Die jung und hübsch, jedoch vor allem – dem Fortschrittsgeiste sehr verfallen
Drum war ihr ganz besonders leid – des Krebsengangs Rückschrittlichkeit

Sie grübelt‘ lang, sie dachte quer – wie das Problem zu lösen wär
Wo doch die Krebs seit ew‘gen Zeiten – Jahrmillionen rückwärts schreiten
„Und kamen immer an ihr Ziel – ob Fressen, Kampf, ob Liebesspiel“
Sagt ihr Papa, der Zangerl Kurt – wenn er über die Jugend murrt

Das stachelt ihren Ehrgeiz an – damit sie ihm beweisen kann
Dass Jugend mit dem Fortschritt geht – beginnt sie heimlich, abends spät
Zu üben, mit gar viel Beschwer‘ – ob es denn doch nicht möglich wär
Die Beine anders abzurollen – damit sie vorwärts laufen sollen

Und endlich hat sie es geschafft – mit unbeugsamer Willenskraft
Ist sie den Bach entlang ein Stück – vorwärts gelaufen, nicht zurück
Indem sie dachte, dass sie wisse – dass etwas sie von hinten bisse
Und in der Angst, die sie empfunden – hat sie den Vorwärtsgang gefunden

Stolz übt sie es des Morgens neu – und schau, da kommt ihr Freund vorbei
Dem fast vor staunendem Gefallen – die Augen von den Stielen fallen
Sie ruft voll Freude: „Komm, probier‘ – und lauf ein Stückerl neben mir!“
Er stellt sich gerne Wang‘ an Wange – und fasst behutsam ihre Zange

Nun will er laufen, doch oh Schreck – sie kommen nicht von ihrem Fleck
Er setzt die Beinchen Stück für Stück – und kann nicht anders als zurück
Sie schiebt nach vor und kommt in Schweiß – sie laufen trotzdem nur im Kreis
Bis sie sich gegenüberstehen – und traurig in die Augen sehen

Ein rechtes Weibchen wird nicht schwach: – „Ich zeig dir’s vor, du machst es nach.“
Sie fassen sich an beiden Zangen – und ganz von selber, ohne Bangen
Läuft sie nach vor und er zurück – und dabei blieb es auch zum Glück
Und die Moral von der Geschicht‘ – der Fortschritt scheu‘ den Rückschritt nicht!

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: Kleinode – nicht nur an die Freude | Inventarnummer: 15039

Schleim – eine Ehrenrettung

Der Schleim ist üblicherweise negativ besetzt. Eklig, grauslich, unhygienisch, krankhaft und so weiter. Die schleimigen Tiere (Fische, Schnecken, Maden, Molche etc.) mögen wir genauso wenig wie die „schleimigen“ Menschentypen. Unangenehme Menschen „schleimen sich aus – oder ein“. Brrrr, wie ekelhaft.

Dabei ist Schleim der Ursprung unseres Lebens, ein Gottes-Geschenk, ein Labsal, etwas Herrliches und Köstliches, oft genug lange Ersehntes! Ohne Schleim wären wir alle nicht! Nur Steine haben und produzieren keinen Schleim. Ein Leben ohne Schleim kann beispielsweise  nur  ein Bergkristall schön finden. Was zu beweisen ist:
Zunächst einmal zum Lebenselixier Schleim. Wie sehen die Stoffe aus, welche menschliches Leben entstehen lassen? Der männliche Liebessaft ist schleimig, sonst könnten die Spermien nicht schwimmen. Die weibliche Empfangsgrotte ist ebenfalls rutschig, damit alles wie von der Natur vorgesehen flutscht.

Und zur Vorgeschichte des Lebens respektive zu den angenehmen Dingen auf der Welt:
Da sieht ein Mann ein angenehm aussehendes Weibchen und freut sich. Ohne die Schleimhaut der Augen, die niemals austrocknen darf, würde er sie nicht sehen können. Sollte er dann in die engere Wahl der Frau kommen, ist es ebenso natürlich wie angenehm, einander zu küssen. Mit der Schleimhaut der Lippen und womöglich noch ein bisserl tiefer. Ohne Schleim hätte Mann/Frau das Gefühl, ein Stück trockenes Leder zu reiben, oder so ähnlich – jedenfalls nichts Erstrebenswertes und Knie-erweichende Gefühle Auslösendes. Kein einziger Schmetterling würde im Bauch flattern. Trocken ist tote Hose.

Apropos Lippen und Goscherl: Sind sie nicht auch für die Aufnahme von höchst erwünschter, wohlschmeckender und gut duftender Nahrung vorgesehen? Eine Nase, die staubtrocken ist, vermöchte nicht die geringste Duftnote erkennen; sie ist freundlicherweise mit einer speziellen Schleimhaut ausgelegt, damit sich die Düfte einnisten können. Und auch der Geschmack ist vom Duft abhängig, denn ohne Riechvermögen könnte der Mensch nur süß, sauer, salzig und bitter empfinden.
Weiterhin ist der Weg der Nahrung durch den Körper stets von Schleimhäuten umgeben, bis zum dicken Ende. Gnade Gott dem Schlemmer, dessen „Output“ stecken bleibt wie ein Kolbenreiber.
Und wie sieht es mit der Nahrung selbst aus – ist sie wirklich gänzlich schleimfrei? Auch das Blut im Fleisch ist Schleim – ein bisserl dicklich, ein bisserl fettig, rutschig sowieso. Könnte es sonst durch die dünnsten Adern fließen und dabei noch jede Menge Stoffe transportieren? Und Fleisch ohne Blut gibt es nicht.

Aber auch Obst und Gemüse ist nicht ganz ohne Schleim. Wer je einen Kürbis aufgeschnitten und entkernt, wer je einen vollsaftigen Pfirsich gegessen oder die Kerne von Kirschen mit den Fingern weggeschnippt hat, weiß um die Schlüpfrigkeit dieser Dinge. Gott sei Lob und Dank dafür – es ist schon ein sinnliches Vergnügen, das die Schleimproduktion (Speichelfluss) im eigenen Mund anregt.
Und erst die Milchprodukte: Sie sind allesamt (im frischen Zustand) Schleim. Wer zum Beispiel einen mit Schlagobers (Schriftdeutsch: Sahne) gefüllten Baiser genossen hat, der hat höchst genussvoll mit Schleim (Schlagobers) gefüllten Schleim (das geschlagene und gezuckerte Eiklar) verzehrt. Wer sagt da, dass Schleim ekelhaft ist?
Nun möchte vielleicht jemand meinen, dass doch das Weizenkorn absolut schleimfrei ist – weshalb Gebäck wirklich etwas ohne Ekel Verzehrbares sei. Er hat auch unrecht. Denn die Hülle des Korns hat die Eigenschaft, Wasser auf- und damit eine schleimige Konsistenz anzunehmen. Würden sonst so viele hartleibige Menschen gerade das Vollkornbrot mit genügend Flüssigkeit zu sich nehmen? Der Verfasser kann es jedem raten – das ist besser, gesünder und zielführender als alle Pillen und Pasten der Pharma-Industrie.

Es lebe der Schleim – und wir mit ihm (und durch ihn)!

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 15024

Falsch verstanden

Balthasar hatte ein Rendezvous. Gestern nachmittags. Wie kam das? Gerade ihm, dem bis an die Grenze zur Dummheit Gutmütigen, allein fast Hilflosen, ist vor einem Jahr die Frau verstorben. Das war ein schwerer Schlag für den schlichten Menschen. „Wenn der Herrgott einen Wurstel braucht, lässt er einen Fünfziger Wittiber werden“, sagt sehr treffend ein bayrisches Sprichwort. Ja, es ist hart, wenn man nicht weiß, wie es weitergehen soll.

Ein geschiedener Freund hat ihm über die schlimmste Zeit weggeholfen und nun auch zu diesem Inserat überredet, ja ihn geradezu zwingen müssen, aus seiner wehleidigen Isolation auszubrechen. Also in Gottes Namen. Und nun diese unglaublichen zwölf Zuschriften!!
Der erfahrene Freund hat ihn beraten, für die telefonische Grobselektion praktische Ratschläge aus eigener Praxis gegeben: kein Hund, keine Raucherin, und alles abtelefonieren, was deutlich jünger/älter ist oder zu weit weg wohnt, keine Ausländerin, die meist nur einen Strohmann für die Aufenthaltsgenehmigung braucht etc.

Nun sind vier übrig geblieben, und eine Zuschrift ist Balthasar gleich ins Auge gestochen. Der Text war ansprechend, die Schrift schön – alles sehr harmonisch.
Das Telefonat lief gut, die Dame hatte eine warme Stimme und war nicht von nassforscher Fröhlichkeit. Balthasar hatte keine Mühe, sie zu einem Treffen zu bewegen. Am Nussdorfer Platzl, 17 Uhr 30. Er schwitzte vor freudiger Spannung.
Die Kandidatin kam, war gut anzusehen und tat auch dem scheuen Mannsbild nichts zuleide. Ob man nicht ein paar Schritte den Nussberg hinaufgehen könne, weil es so schön sei? Balthasar stimmte gerne zu.
Aber gleich in den ersten Sätzen der Unterhaltung bekam er einen Warnschuss vor den Bug mit dem Satz: „Aber dass Sie’s gleich wissen – ich bin nicht für schnellen Sex!“ Vermutlich hatte die Frau schon schlechte Erfahrungen gemacht mit einem Kavalier, der gleich zur Sache kommen wollte oder so. Nur, beim schüchternen Balthasar wäre eher eine Ermunterung angebracht gewesen als eine Abschreckung – und so blieb er geschockt stehen, um nachzudenken, die Meldung zu behirnen, was denn damit gemeint sein könnte. Aber dann kam ihm jene Erleuchtung, die seinem einfachen, vordergründigen Denkmuster entsprach.
Er strahlte die Dame an wie eine rot gewordene Hunderterbirne, sein gutmütiges breites Gesicht grinste verlegen von einem Ohr zum anderen, und er erklärte – diesen bösen Verdacht kopfschüttelnd abwehrend: „Da liegen Sie bei mir richtig, gnä‘ Frau, weil, seit ich über die Vierzig bin, lauft bei mir unter zwanzig Minuten gar nichts!“
Die Dame schnappte nach Luft: „Also, so hab’ ich das nicht gemeint, nein sowas!“ Aber sie war ihm nicht böse über diese Auslegung, sie kam nicht weiter auf das heikle Thema zurück. So hatten die beiden eine schöne Wanderung auf den Nussberg, und als – weil es schon dunkel wurde – der Kavalier Balthasar das gute Kind bis vor die Haustür begleitete, wurde er noch auf einen Kaffee eingeladen.

Ob die Dame aus weiblicher Neugier seine „20-Minuten-Meldung“ verifiziert hatte, war aus Balthasar nicht herauszukriegen, aber er hatte so ein sattes Leuchten in seiner Stimme, als er auf des Freundes Frage ausweichend antwortete. Und sein Auftreten ist jetzt irgendwie selbstbewusster.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary| Inventarnummer: 15023

Lob des Zornes

Herrlicher, heilsamer Zorn, wie gut, dass es Dich gibt. Du bläst als reinigender Sturm die dürren Blätter und den fauligen Mief des Lebens fort, Du gibst uns Kraft und Mut, das Notwendige oder Überfällige gleich herzhaft anzupacken und Entscheidungen zu treffen.

Wer sich schon lange Zeit zu nichts aufraffen konnte, wer müde/kraftlos/depressiv ist, dem verhilft der Zorn zu ungeahnter Energie – auf einmal geht einem von der Hand, was man so lange vor sich hergeschoben hat. Es wird etwas erledigt – und zwar gleich! Und siehe da, der Dreck beißt nicht, und die Bugwelle des Zorns schwemmt trübe Wehleidigkeiten und Kannichnicht und Gehtdochnicht glatt hinweg.

Wer sich wie ein Schaf aufführt, wird auch als solches behandelt und provoziert selbst seine Missachtung. Wer immer „JA“ sagt und sich anpasst, alles Unangenehme und Ungerechte hinunterschluckt, bis der Kragen platzt, der sagt im Zorn auch einmal die Wahrheit, brüllt seine Empfindungen hinaus, die von seiner Umwelt bislang nicht wahr – oder ernst genommen wurden, der stellt sich endlich auf die Hinterbeine und ist auf einmal jemand, den man nicht mehr so leicht herumschubsen kann!

Wenn etwas nicht geht, wenn man sich auf etwas verlassen hat und es platzt ohne eigenes Verschulden, was auch immer – wenn man einen Zorn bekommt, beginnt plötzlich ein alternativer Denkprozess zu laufen, da sieht man die Dinge auf einmal auch von anderen Seiten, da gibt es auf einmal auch neue Lösungen oder Wege zum Ziel, an die man vorher nicht gedacht hat, da kann es sein, dass man wie von selbst mit Leuten ins Gespräch kommt, die man vorher nicht wahrgenommen hat, da ist wieder die ganze Welt offen, da löst sich die bisherige Betriebsblindheit in Luft auf und das Problem erscheint gesamtheitlich in neuem Licht.

Und ganz wesentlich: In zorniger Unterhaltung sagt man nicht nur mit wünschenswerter Deutlichkeit etwas, sondern da bekommt man ebenso deutlich Tatsachen und Umstände zu hören, die man bisher nicht wusste, nicht wahrgenommen oder deren Gewicht und Zusammenhang man als unwesentlich weggewischt hat. Da werden auch die eigenen Fehler, Versäumnisse und falschen Einschätzungen besprochen und klargelegt, und dass zu vielen Sachen zwei oder mehr gehören, und dass nicht alles selbstverständlich und ausreichend ist, was man bisher dafür gehalten hat. Und dass man auch die zarten Pflänzchen „Rücksicht, Verständnis und Entgegenkommen“ fallweise zu gießen vergessen hat. Zorn ist oft genug ein heilsamer Tritt in den eigenen Hintern, im wahrsten Sinn des Wortes ein Anstoß nicht nur zum Tun, sondern auch zur eigenen Erkenntnis!

Überdies: Fallweise ein erfrischendes Gewitter ist auch für die Partnerschaft ein Segen – da wird einmal „ausgemistet“, da werden gestaute Missverständnisse aus­geräumt, dann ist die Luft wieder rein, man fühlt sich erleichtert. Und wenn das Blut in Wallung ist und kleine Flämmchen aus den Augen sprühen, wird der/die PartnerIn attraktiver gesehen und intensiver gespürt. Die schönsten Versöhnungen sind doch die im … (oder sonstwo). Und beim vertraulichen Duett danach kann auf einmal ohne Vorbehalte und gutwillig über wirklich alles gesprochen werden.

q.e.d.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt| Inventarnummer: 15013

Wider den Stachel löcken

„Wider den Stachel löcken“ … eine kaum mehr verwendete Phrase

Der Stachel, wider gelöckt
Hat dem Löcker kaum jemals geschmeckt.
Doch er musste es wagen – die „Wahrheit“ zu sagen
Damit man ihn endlich entdeckt

Wer oder was ist der Stachel? Warum ist er spitz?
Wer ist der Löcker? Und warum löckt er (was weh tut) wider den Stachel?

Biologisch ist der Stachel (im Gegensatz zum Dorn = eigenes Pflanzenorgan) ein Zubehör und Produkt der Rinde, dem Haar auf der Haut vergleichbar. Er hat nur eine einzige Funktion, nämlich seinen Träger zu schützen, dessen Überleben zu sichern. Ganz und gar nicht ist er (der Stachel) ein wohlschmeckend abzulöckendes Genussmittel. Süß ist er auch nicht! Also warum wird er gelöckt, noch dazu wider, das heißt gegen den Strich. Und von wem? Und was soll dieser für den Löcker sehr schmerzhafte Prozess?

Diese schon ziemlich in Vergessenheit geratende Redewendung besagt, dass jemand beispielsweise: gegen die Parteidisziplin handelt, indem er einem Bonzen in aller Öffentlichkeit blöde (weil peinliche) Fragen stellt, und/oder dem Strom der Zeit entgegenschwimmt, d.h. das Gegenteil von dem tut, was von ihm erwartet wird. Auch das kindliche Rütteln am Watschenbaum kommt in die Nähe des Stachellöckens (= auffälliges, kontraproduktives Verhalten bzw. soziologisch(es) Fehl-/unangepasstes Verhalten in der Gruppe).

Den Stachellöcker zeichnen Rechthaberei, Aggression und Mut zum Risiko aus – es ist ja meist sehr ungesund, den Stachel unter Druck einzuspeicheln. Also warum dieser peinliche Masochismus?

Es gibt nur zwei Motive:
Entweder: Der Löcker will bekannt werden, sich von den anderen abheben und den Rest der Herde davon überzeugen, wie gut er ist.
Oder: Er glaubt eine Wahrheit entdeckt zu haben, er will die Menschheit, die Partei oder wenigstens die Abteilung retten.

Und dazu ist ihm jedes Mittel recht bzw. nimmt er die vom gelöckten Stachel aufgerissene Zunge in Kauf, noch dazu, wo er dafür vielleicht einen kleinen Märtyrerbonus erhält oder gar in den Ruch der Kühnheit kommt.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 15012