Archiv der Kategorie: Michael Bauer

Die schöne Unbekannte

Zum ersten Mal traf ich sie in der Bibliothek. Das war gleich nach Neujahr. Ich setzte mich neben sie und bemerkte, als sie ging, dass sie einen schönen gemusterten Schal trug.

Die erste Begegnung blieb folgenlos. Ich ging meinen Tagesgeschäften nach und beschäftigte mich mit anderen Dingen. Es war mir klar, dass ich nicht allein sein wollte und dass diese junge Frau mit dem gemusterten Schal eine gute Gelegenheit gewesen wäre, sich zu verlieben. Leider wusste ich über sie so gut wie nichts. Und dass ich so gut wie nichts über sie wusste, versetzte mich in einen sehr unangenehmen Zustand: Ich hoffte sehr darauf – so unwahrscheinlich es auch war – , dass ich sie wiedersehen und mich mit ihr austauschen könnte.

Eine dieser Gelegenheiten war eine Veranstaltung in einem Jugendzentrum, wo ich hoffte, sie wiedersehen zu können. Ich war schon voller Vorfreude auf dieses Treffen, aber leider war dieses Zentrum, von dem ich nie zuvor etwas gehört hatte, zu weit außerhalb der Stadt und ich kam nur bis zur Endstation der Straßenbahn. Von dort an ging ich am Abend einige Kilometer weit, aber das Jugendzentrum war, wie gesagt, nicht zu finden.

Als ich sie zum zweiten Mal traf, ging sie im Sommer mit einer Sonnenbrille die Stiegen in der Universitätsbibliothek hinauf. Ich hätte sie ansprechen können. Aber es bot sich mir keine Gelegenheit.

Ich hatte eigentlich gar nicht mehr damit gerechnet, sie wiederzusehen und war mir im ersten Moment auch noch nicht sicher, ob es sich um die selbe Person handelte, die ich schon zu Beginn des Jahres gesehen hatte.

Dieses zweite Mal des Sehens war für mich schon etwas vager. Ich verspürte nicht mehr das große Bedürfnis, dieser Person näherzukommen, aber dennoch war wieder etwas mit mir geschehen, das mich in seinen Bann zog.

Es vergingen einige Jahre und die Frau geriet in Vergessenheit. Ich weiß nicht, was es ausgelöst hat, aber eines Tages ergriff mich plötzlich die Erinnerung an diese Person sehr stark. Zwar konnte ich nur erahnen, dass sie Michaela hieß und Pädagogik studierte. Auch an ihre warmen Worte „Auf Wiedersehen und einen schönen Tag dir noch!“ erinnerte ich mich. Zu dieser Zeit lebte ich schon in einer anderen Stadt und war ihr entfernter. Entfernter noch als an diesem Tag im Jänner, als ich das Jugendzentrum suchte. Wenn es doch irgendwie möglich gewesen wäre, ihr von mir etwas zukommen zu lassen. Einen Liebesbrief oder ein Geschenk. Oder ihr einen Gefallen tun.

Mich ergriff die innere Leere. Und es gab nichts, womit diese Leere auszufüllen gewesen wäre. Ich übte mich im Zen.

Eines Tages streifte ich wieder durch die Stadt und ich hatte die vage Hoffnung auf eine ähnliche, aber neue Begegnung dieser Art. Nach einigen Minuten des Umherflanierens sah ich den Eingang eines indischen Restaurants. Da mich die exotische Speisekarte sehr reizte, trat ich ein und bestellte mir ein Curry. Die Gedanken an Michaela würden stärker, und als ich das Essen serviert bekam, merkte ich anfangs noch nicht, wie stark das Vindaloo gewürzt war. Ich nahm einen Bissen und noch einen Bissen. Dann ergriff mich die Schärfe und ich war kurz davor, in Ohnmacht zu fallen. Ich kämpfte mit mir, da es mir schwindlig wurde, und mir schnürte es die Kehle zu. Mir tränten die Augen und die Außenwelt wurde immer verschwommener.

In diesem Moment sah ich Michaela noch einmal in der Bibliothek, diesmal in einem Sommerkleid und mit einem Strohhut. Sie sah mich lange an, dann begann sie zu lächeln.
Nach einer Weile, die sich für mich wie eine Ewigkeit angefühlt hat, sagte sie:

„Schön, dass du die ganze Zeit an mich gedacht hast.“ Und verschwand.

Natürlich war der letzte Teil meiner Geschichte erfunden und das Erlebnis im indischen Restaurant hat es nie gegeben. Dennoch – soweit es mir noch möglich ist – möchte ich die Erinnerung an Michaela festhalten. Ihr sei diese Erzählung gewidmet.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 24034

 

Ohne germanistisches Gespür

„Warum haben Sie nicht Theologie studiert?“, fragte der Therapeut, selbst studierter Theologe, den Germanisten. Dem Germanisten war die Herablassung des Therapeuten zuwider. Wie konnte er dessen Studienwahl nicht nur nicht würdigen, sondern als Fehler verstehen?
Aber lassen wir es, uns über einen Menschen zu ärgern, der alles andere außerhalb des eigenen Horizonts geringschätzt, und gönnen wir ihm das Gefühl, sich stolz wie der Hahn auf dem Misthaufen zu fühlen. Denn daran gibt es nichts zu rütteln: Er ist halt ein Banause.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 23191

Très chic

In der Modeabteilung eines Einkaufszentrums sah ich eine Verkäuferin. Außerordentlich elegant gekleidet, in einem braunen Blazer, einem Oberteil in Leopardenfelloptik und einer schwarzen Lederjeans. Als ich sie auf die schöne Hose ansprach, streckte sie ihr Bein aus und bedankte sich. Als sie sich wieder umgedreht hatte, wünschte ich ihr noch alles Gute.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen | Inventarnummer: 23189

Toffee für Katharina

Mir fällt noch einmal die Zeit ein, damals, als Gastschüler in einem südeuropäischen Land. Am Anfang war alles aufregend und da war das erste Erblicken von Katharina, der Schwester meines Schulkollegen, das in mir Gefallen auslöste. Am Anfang konnte ich meine Gefühle gar noch nicht so recht einordnen.

Am ersten Tag traf ich sie mit der Familie vor dem Fernseher, als sie mir ein Eis anbot.

Als wir an einem anderen Tag einen Spaziergang unternahmen, war sie wieder dabei. Sie ging natürlich an letzter Stelle hinter den Männern. Wonach wir suchten, weiß ich nicht mehr. Wir bogen in eine Seitenstraße ein und ich erinnere mich noch an den Moment, an dem ich einen alten, roten Kleinwagen am Straßenrand sah. Mein Blick blieb für ein paar Sekunden an dem Fahrzeug hängen, doch dann drehte ich mich um und sah die junge Frau hinter mir.

Ich nahm wahr, dass sie ein gemustertes Top, in das ihre Sonnenbrille geklemmt war, trug, dazu eine schöne rote Jeanshose. In diesem Moment bekam ich eine Gänsehaut. Danach drehte ich mich wieder um und alles war wieder beim Alten.

An zwei weitere Erlebnisse mit ihr erinnere ich mich: Als sie sich neben mich setzte und mit mir die Scheiben einer Wassermelone genüsslich aufaß. An einem anderen Tag am Ende des Aufenthalts feierte sie ihren 20. Geburtstag und bekam eine Halskette mit einem Herz geschenkt. Ich erinnere mich auch an ihren angenehm festen Händedruck.

Natürlich sind diese Erinnerungen wenig, und was hätte ich gegen mein Verlangen tun können, dieser jungen Frau zumindest etwas Freundliches entgegenzubringen. Rückblickend hätte ich ihr ein kleines Geschenk gekauft: ein Andenken, ein Buch, eine Süßigkeit. Wenigstens etwas.

Natürlich hätte ich niemandem verraten können, was ich in diesem Moment erlebt hatte. Damals war ich natürlich auch noch zu jung, um mich ihr nähern zu können. Und jede weitere Kontaktaufnahme konnte durch Verwandte vereitelt werden.

Jahre vergingen und ich wusste nichts mehr von ihr, außer, dass ich mich gelegentlich an sie erinnerte.

Auch dachte ich an die Süßigkeit, die ich Katharina schenken hätte wollen.

Viele Jahre danach fand ich eine gleichnamige Person im Internet, der ich den an sie adressierten Brief schickte. Wenn es schon nicht die Katharina von damals war, so doch eine andere Person und immerhin hat mein Sehnen etwas in Bewegung gesetzt. Aber ich konnte die versprochenen Süßigkeiten natürlich nicht verschicken.
Nach kurzer Überlegung baute ich eine Flaschenpost, in der ich die Süßigkeiten verstaute und auf eine weite Reise schickte.

Einige Monate erreichte mich tatsächlich eine Antwort. Darin stand, dass meine Flaschenpost bei einer unbekannten Person angelangt sei. Sie wisse natürlich nicht, warum ich die Flaschenpost verschickt hatte, war aber dennoch glücklich über das Geschenk.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 23171

Der Mann, der sein Butterbrot nicht aufaß. Ein Kurzkrimi

Schon eine Woche zuvor, als noch Licht gebrannt hat, oben, im schwarzgewordenen Betonneubau. Die Nacht rauschte und einige vergrabene Gedanken flackerten klammheimlich zum Mond, dem einen. Über dem lieben langen Tag lag nun ein Schatten und deine Wünsche auf den Lippen, die dich aus dem Innersten durchstiegen, glucksten heraus aus dem Fenster. Eulenschlau dachtest du die halbe Nacht in irgendeiner Logik, die das Ganze aber zu ernst machen würde.

Neun Stunden später krachte regennass der Briefträger in das Haus und der schlaftötende Lärm machte mir deutlich, dass auch aus diesem Morgen ein Tag werden würde. Und zeitweilig hatte es ja so ausgesehen, dass dieser ganze Mummenschanz seine Daseinsberechtigung gehabt hätte mit einer Sprache, die das Ganze noch zusammenhalten sollte: Da lag sie nun, die Papierantwort auf die letzten Briefe von mir. Meine Augen begannen sich über deinen Brief herzumachen. Ich begann, meine Butterstulle anzubeißen, nebenbei öffnete ich das Salzfass und strich eine Prise heraus:

Einen Haufen Unsinn schreiben, den ich dir zum Lesen ausborgen werde: Aus meinen Worten spricht das ichgewordene Erzählen, das Erzweifeln nach dem Sinn, das Herausgraben der Wahrheit, das Abschälen des Schönen. Ach, und was war denn mit dir?

Deine zittrige Handschrift in dem Wutbrief, der deshalb seine Adresse knapp verfehlt hat. Doch ich hatte Glück. Glück, das ein anderer in dieser Situation nicht hatte. Unsere Nachbarin hatte unmittelbar nach dessen Lektüre gestern einen Nervenzusammenbruch und ist an den Rosinen erstickt, die sie dabei geknabbert hat.

Was dich beinahe überführt hätte: Das Durchstreichen deines Namens in der Liste. Die Graphitspur deines HB-Bleistiftes, einem Kardiogramm ähnlich, das auf ebenso eindeutige Weise dir zugeordnet werden könnte wie ein Fingerabdruck der rechten Hand.

Ein Messer ist keine Kneifzange, das sollte man als Erwachsener gelernt haben. Etwas, das da war, ließ sich nicht einfach aus der Welt schaffen, indem man es wegbrüllte. Die Zeilen, die dir nicht in den Sinn gekommen wären, hättest du zu deinem Leben das hinzugenommen, was auch ohne deinen Ehrgeiz zu erreichen gewesen wäre.

Du aber, du über den Bierkrug Gebeugter, dir fehlt es. Du kannst nicht den vertagten Tag heute, der nicht blau zu werden droht, in den ersten Abendstunden mit einer Flucht retten, die genauso schön zu sein verspricht wie die stille Anwesenheit des anderen. Gierte es dich zu mir hin? Du hast es in der Hand: das schönere Leben oder das verbrauchte Irgendetwas. Du armseliger, was dir dein Alter noch versüßt, sind zerstobene Erinnerungen und der Krimskrams, ohne den das Leben nicht geht: Schmerztabletten, Ausweis, Geldbörse, Erdnüsse, Schlüsselanhänger. Was dir dein achtunddreißigjähriges Leben beschert hat. Jeden Tag die gleichen Sonnenaufgänge und -untergänge in deiner Wohnung. Die leeren Worthülsen. Der Aktenstapel und Guten-Tag-Herr-Kollege-Alltag. Genauso wie sich die anderen Gleichaltrigen in der Zwischenzeit in ihrem Leben eingerichtet haben. Ein jedes Kind hat, glaube ich zumindest, einmal in seinem Leben gut malen können. Wie der Alltag jenen Idealen standhält von außen, dass immer noch alles so unzulänglich ist, nachdem ich seit dreiundvierzig Jahre lang das Licht der Welt erblickt habe. Die Zwischenzeit unseres Sehens, unseres Daseins und das alles unter dem blaugrauen Himmel. Gäbe es keine Zeit. Hätte es doch nie eine Zeit gegeben!

Sieh es dir heute noch an, zweiundzwanzig Jahre später. Das Getane einiger weniger Stunden, das über dich noch immer einen so langen Schatten wirft. Hereinbrach in unsere Welt, als ich nur aufgrund deiner Fiktionen Deutsch zu lernen begann und du eventuell meine Ergebnisse brauchtest, um ernst genommen zu werden als Mensch. Du kamst herein damals, schon nach einer Weile und meine Sinne waren mit etwas ganz anderem beschäftigt. Die vergehende, vergangene Zeit. Mir kam die Gewissheit, dass die Welt ihre ganze tausendjährige Existenz nur für diesen einen Moment ausgehalten hat. Das andere, vormals laut Niedergeschriebene: Ich gierte noch nach allem. Wie Perlen die Erfahrungen auf eine Kette reihen, ich gierte nach der Welt, nach dem Leben.

Armut, äußere, die ich als Bereicherung verstand von meinem Für-sich-Sein, und es waren immer die Nächte und das andere Sein der Nacht. Du konntest es, ich meine nicht, wofür man dir Geld in die Hand drücken konnte, du konntest dich noch frei artikulieren: Ein Baum war für dich ein Baum, ein Haus war für dich ein Haus. Manche Ziele waren noch klar und unverrückbar.

Sieh dich doch an! Dir, dem, der so oft keine Worte benötigt und dem, der doch noch einfache Worte findet, wo anderen längst Zweifel gekommen wären, dir würde ich sagen, dass das Leben mehr ist als das in seine scheinbare Ordnung Gebrachte. Wenn alles auf Deutsch gelesen werden müsste, müsste das hier ein Deutschlehrbuch sein! Man gibt seinen Fingern keine Namen, sondern ist jemand, der die in der Postmoderne abgeschnittenen Zungen sammelt. Polyphonie. Bewusstsein, dass sich auch die letzten Gewissheiten in Staub reden ließen.

Warum nicht jeder Mensch dazu verpflichtet wäre, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben? Genauso wie er Ausweis, Steuerkarten und Ähnliches besitzen würde. Nicht nur die, die es schlussendlich taten: die großen Menschen und wer sonst auch immer den ganzen Alltag gemacht hat, den stummen, den gehassten, den gewohnten.

Als der Singsang noch anderen überlassen war: Erzählgöttinnen, Zornesgöttinnen. Sprache, unsere Achillesverse imitierte tatsächlich noch Geräusche: Vögel, Donner, menschliche Stimmen. Geräusche: Schritte. Ausdruck, sprachlicher Ausdruck in irgendwelchen Farben. Du kannst es nicht beschreiben wie damals noch, 1998. Farben, die immer noch dieselben sind. Manche Wörter, die sich nicht mehr als dieselben identifizieren lassen und dazwischen das Ganze.

Wie viel Farbe das Leben heute noch lässt. Du hättest dir selbst gegenüber konsequenter sein müssen und genau das Gegenteil davon ist der Fall geworden. Du in den Erscheinungen Vertiefter. Du unter Sternenzelten Behüteter. Schon die alten Griechen pflegten ja bekanntlich zu behaupten, Rettung und Schutz für das Ganze sei demnach nur zu bekommen, wenn die Sprache auch schön sei. Was mir der heutige, zugegebene sehr warme und sonnige Tag versprochen hat am Morgen. Vergangen ist seitdem dieser Akt meines Lebens: besser für dich, besser für uns. Das innewohnende Produktive dieser Zeilen: Trost für vieles, Trost für alles!

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23125

Pfauenfeder

Du gingst vor mir
ich sah nur hinter dir

die beiden Pfauenfedern
an deinen Ohrringen

Du gingst vor mir
ich sah nur hinter dir

die grüne Hose
aus weichem Cordsamt

Du gingst vor mir
ich sah nur hinter dir

die Bewegung deiner Füße
in den Stiefeln aus Leder

Du gingst vor mir
ich sah nur hinter dir

Ich hätte dich gern angesprochen
und gesagt
dass du mir gefällst

Ich ging hinter dir
du gingst vor mir

Ich hoffe dich erreichen meine Worte
auf die ein
oder andere Weise

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 23137

Allen-esk

Vor Jahren sah ich in einer Studierendenkneipe eine Ausstellung eines Hobbymalers. Die durch und durch wenig gelungenen Bilder sollten Anarchist*innen abbilden. Ich blieb vor einem Bild, das einen Mann mit einer großen Brille zeigte, stehen und fragte: „Ist das Woody Allen?“ Der danebenstehende Maler rümpfte pikiert die Nase.

Nach längerer Betrachtung komme ich zu dem Schluss, dass eine solche Situation im Sinne des genannten Schauspielers gewesen wäre und ganz gut in einen seiner Filme passte.

 

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n| Inventarnummer: 23094

Vier im roten Kreis

Siddharta Gautama, der Buddha, zeichnete mit roter Kreide einen Kreis und sagte: Wenn es vorherbestimmt ist, dass Menschen einander wiedersehen sollen, was auch immer ihnen geschieht, auf welchen Wegen sie auch wandeln, am gegebenen Tag werden sie einander unvermeidlich „im roten Kreis“ begegnen. Rama Krischna[1]

Wann mein Interesse für Mädchen genau begonnen hat, weiß ich nicht. Wenn ich mich recht erinnern kann, dann hatte ich im Kindergarten eine Zeit lang eine bisexuelle Einstellung, bevor ich Gefallen an Annika fand. Diese mochte mich überhaupt nicht und sperrte mich einmal sogar in ein Gartenhäuschen ein (ähnlich ist es übrigens auch Mozart gegangen, das war 1787 in Prag). Zum Schulanfang hatte ich einen Schulranzen und den farblich dazu passenden Regenschirm bekommen. Als wir vom Kindergarten zum Schulgebäude, das uns gezeigt wurde, marschierten, regnete es.
Ich hatte den Regenschirm parat und bekam Annika zugeteilt. Auf dem Weg zur Schule hielt ich ihr den Regenschirm und merkte, dass sie nicht aggressiv zu mir war, sondern dankbar, dass ich ihr den Regenschirm hielt. Außerdem war sie schön gekleidet. Dies war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich erwachsen fühlte. Leider ging Annika in eine andere Schule und ich habe nie wieder etwas von ihr gehört.

Mein nächstes Erlebnis war Christine, die ich im Gymnasium kennenlernte. Sie war nicht nur die Klassenbeste, sondern  auch eine der wenigen Personen, die sehr freundlich zu mir waren. Wenn ich eine schlechte Note bekommen hatte, lieh sie mir ihre Lösung aus, damit ich das korrekte Ergebnis sehen konnte. Bei einer Führung durch die Schulbücherei lobte sie mich, da ich das älteste Buch, noch in Fraktur  geschrieben, gefunden hatte. Leider wechselte auch Christine früh die Schule und ich habe keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt.

Im Studium war es Nataliya, auf die ich immer wieder während des Spanischkurses einen Blick warf, als sie auf der hintersten Bank saß. Und ich war überwältigt, als sie sich einmal unvermittelt neben mich setzte und mir sogar ihre E-Mail-Adresse gab, da ich in der nächsten Stunde etwas für sie mitschreiben sollte. Leider war ich damals noch zu schüchtern und wechselte, da mir der Kurs nicht gefiel, im nächsten Semester das Fach.

Als das nächste Semester kam, lernte ich in der ersten Vorlesung Adina kennen, die eine schicke, gestreifte Hose trug. Erstaunlicherweise wusste sie, dass ich in den Semesterferien ein Auslandspraktikum absolviert hatte und das Gespräch verlief sehr anregend. Nach der ersten Einheit der Lehrveranstaltung brach sie diese aber ab und der Kontakt verflüchtigte sich.

Andere Begegnungen waren noch flüchtiger. Mir sind Frauen aufgefallen, die sehr freundlich zu mir waren, aber ich hatte merkwürdigerweise auch Frauen gern, die anfangs zu mir abweisend waren. Langsam begann sich bei mir ein bestimmter Frauengeschmack zu entwickeln.

Es gibt Gesichter, die mir gefallen, Frisuren, die schön sind. Auch Vorlieben für bestimmte Kleidungsstücke und Accessoires mag ich. Was mir jedoch keine Sicherheit gibt, ist dieses:

Wie konnte ich sicherstellen, dass Frauen, die mir gefielen, mich auch im Gegenzug mochten. Gab es eine gegenseitige Anziehungskraft? Da war ich mir nicht so sicher und vermied oft Begegnungen, da in mir eine Blockade aufkam.

Doch noch einmal zurückdenken: Es waren meistens flüchtige Begegnungen, die mir in Erinnerung geblieben sind. Seltsam, dass sich nie ein Kontakt herstellen ließ.

Aber einige kleinere Erfolge gelangen mir doch, und es erübrigt sich zu erwähnen, dass ich auch das Mittel der Flaschenpost eingesetzt habe.

Gerne würde ich wissen, was Annika, Christine, Nataliya und Adina heute machen. Ob es ihnen gut geht. Von Annika möchte ich gerne wissen, wie ihre Schullaufbahn war, ob sie ihre geheimnisvolle Aura bewahrt hat und ob sie nun freundlicher zu mir wäre. Von Christine möchte ich wissen, ob sie es damals schon erkannt hat, dass ich sie toll fand, es aber nur nicht hatte zeigen können. Gerne möchte ich ihr heute versichern, dass ich ihre weiblichen Reize sehr geschätzt habe, auch wenn sie von anderen Schülern verspottet wurde.

Nataliya habe ich geschrieben, leider erst Jahre später, als ich zufällig die Adresse wiederfand. Ich war mir nicht sicher, ob sie wirklich Kontakt mit mir haben wollte und ob sie sich geärgert hatte, da ich ihr Kontaktangebot nicht angemessen aufgenommen hatte.

Adina hatte ich nach langer Zeit eine Postkarte geschrieben, als ich durch Zufall auf ihre Postadresse stieß. Auch diese Karte blieb unbeantwortet. Jedoch tröstete mich der Gedanke, dass die Karte angekommen war.

All diese Begegnungen haben mein Leben beeinflusst. Und ich war es mir zum Zeitpunkt nicht immer unbedingt klar, welche Auswirkungen auf meine Zukunft das haben sollte. Es waren Weichenstellungen, und mir wurde klar, dass das Poetische sehr wohl in den Alltag hereinbrechen kann. Diese Begegnungen hatten für mich einen höheren Sinn und ich bin mir nicht sicher, ob es stimmt, wie es im anfangs erwähnten Zitat heißt, dass ein Wiedersehen vorherbestimmt sei. Wer weiß, vielleicht endet es für mich wie für Sappho:

Versunken im Meer ist Selanna, und versunken sind die Plejaden. Aber ach! Wieder ging Mitternacht vorbei, und obwohl die Zeit für die Liebe kommt – doch allein lege ich mich nieder zum Schlaf. [2]

Allen vier Frauen sei meine Erzählung gewidmet.

 

[1]     Erfundenes Zitat aus dem Film: Vier im roten Kreis (Le cercle rouge). Regie: Jean-Pierre Melville, 1970

[2]     Sappho: Und ich schlafe allein. Übersetzung von Gerda Kazakou https://gerdakazakou.com/2015/12/20/griechische-dichtung-am-sonntag-sappho/

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23082

Magie im Alltag

Ich erinnere mich jetzt – mit dem Abstand von drei Jahrzehnten – nur noch vage an sie. Zudem könnte ich nicht einmal mehr sagen, wann ich sie das erste Mal bewusst gesehen oder wahrgenommen habe. Wenn sie in meiner Umgebung war, veränderte sich etwas. Damals. Am Anfang spürte ich eine unbestimmte Art der Erregung, eher eine Art Neid oder Aggression auf sie.

Das konnte ich damals aber noch nicht recht deuten.

Als ich sie beim Baden sah oder der Tag, an dem sie mich wie Mozart in ein Gartenhäuschen sperrte. Ich konnte noch gar nicht wissen, wie ich meine Empfindungen einordnen sollte.

Mir war es, als wollte ich sie näher kennenlernen. Aber wollte ich es wirklich?

Der Tag, als ich mich zum ersten Mal verliebt in sie zeigte. Es sollte der letzte gemeinsame Tag sein.

An einen Nachmittag in meiner Schulzeit erinnere ich mich noch. Es war bereits dunkel und ich aß eine Dose Heringsfilet in Tomatensoße. Da fiel mir ein Auto ein, dessen Namen ich gelesen hatte, aber dessen Aussehen ich nicht kannte: Morris Marina von 1972. Ich dachte an einen wertvollen britischen Oldtimer, rassiges Design. Damals dachte ich, dass Autos aus dem Grund der technischen Perfektion entwickelt worden wären. Erst viel später kam die Ernüchterung. Aber der vorgestellte Morris Marina gefiel mir viel besser als die reale Entsprechung. Und das ist auch eine Art Magie im Alltag, die mehr und mehr verlorengeht: die Vorstellungskraft.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 23078