Kategorie-Archiv: Michael Bauer

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Allen-esk

Vor Jahren sah ich in einer Studierendenkneipe eine Ausstellung eines Hobbymalers. Die durch und durch wenig gelungenen Bilder sollten Anarchist*innen abbilden. Ich blieb vor einem Bild, das einen Mann mit einer großen Brille zeigte, stehen und fragte: „Ist das Woody Allen?“ Der danebenstehende Maler rümpfte pikiert die Nase.

Nach längerer Betrachtung komme ich zu dem Schluss, dass eine solche Situation im Sinne des genannten Schauspielers gewesen wäre und ganz gut in einen seiner Filme passte.

 

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau'n| Inventarnummer: 23094

Vier im roten Kreis

Siddharta Gautama, der Buddha, zeichnete mit roter Kreide einen Kreis und sagte: Wenn es vorherbestimmt ist, dass Menschen einander wiedersehen sollen, was auch immer ihnen geschieht, auf welchen Wegen sie auch wandeln, am gegebenen Tag werden sie einander unvermeidlich „im roten Kreis“ begegnen. Rama Krischna[1]

Wann mein Interesse für Mädchen genau begonnen hat, weiß ich nicht. Wenn ich mich recht erinnern kann, dann hatte ich im Kindergarten eine Zeit lang eine bisexuelle Einstellung, bevor ich Gefallen an Annika fand. Diese mochte mich überhaupt nicht und sperrte mich einmal sogar in ein Gartenhäuschen ein (ähnlich ist es übrigens auch Mozart gegangen, das war 1787 in Prag). Zum Schulanfang hatte ich einen Schulranzen und den farblich dazu passenden Regenschirm bekommen. Als wir vom Kindergarten zum Schulgebäude, das uns gezeigt wurde, marschierten, regnete es.
Ich hatte den Regenschirm parat und bekam Annika zugeteilt. Auf dem Weg zur Schule hielt ich ihr den Regenschirm und merkte, dass sie nicht aggressiv zu mir war, sondern dankbar, dass ich ihr den Regenschirm hielt. Außerdem war sie schön gekleidet. Dies war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich erwachsen fühlte. Leider ging Annika in eine andere Schule und ich habe nie wieder etwas von ihr gehört.

Mein nächstes Erlebnis war Christine, die ich im Gymnasium kennenlernte. Sie war nicht nur die Klassenbeste, sondern  auch eine der wenigen Personen, die sehr freundlich zu mir waren. Wenn ich eine schlechte Note bekommen hatte, lieh sie mir ihre Lösung aus, damit ich das korrekte Ergebnis sehen konnte. Bei einer Führung durch die Schulbücherei lobte sie mich, da ich das älteste Buch, noch in Fraktur  geschrieben, gefunden hatte. Leider wechselte auch Christine früh die Schule und ich habe keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt.

Im Studium war es Nataliya, auf die ich immer wieder während des Spanischkurses einen Blick warf, als sie auf der hintersten Bank saß. Und ich war überwältigt, als sie sich einmal unvermittelt neben mich setzte und mir sogar ihre E-Mail-Adresse gab, da ich in der nächsten Stunde etwas für sie mitschreiben sollte. Leider war ich damals noch zu schüchtern und wechselte, da mir der Kurs nicht gefiel, im nächsten Semester das Fach.

Als das nächste Semester kam, lernte ich in der ersten Vorlesung Adina kennen, die eine schicke, gestreifte Hose trug. Erstaunlicherweise wusste sie, dass ich in den Semesterferien ein Auslandspraktikum absolviert hatte und das Gespräch verlief sehr anregend. Nach der ersten Einheit der Lehrveranstaltung brach sie diese aber ab und der Kontakt verflüchtigte sich.

Andere Begegnungen waren noch flüchtiger. Mir sind Frauen aufgefallen, die sehr freundlich zu mir waren, aber ich hatte merkwürdigerweise auch Frauen gern, die anfangs zu mir abweisend waren. Langsam begann sich bei mir ein bestimmter Frauengeschmack zu entwickeln.

Es gibt Gesichter, die mir gefallen, Frisuren, die schön sind. Auch Vorlieben für bestimmte Kleidungsstücke und Accessoires mag ich. Was mir jedoch keine Sicherheit gibt, ist dieses:

Wie konnte ich sicherstellen, dass Frauen, die mir gefielen, mich auch im Gegenzug mochten. Gab es eine gegenseitige Anziehungskraft? Da war ich mir nicht so sicher und vermied oft Begegnungen, da in mir eine Blockade aufkam.

Doch noch einmal zurückdenken: Es waren meistens flüchtige Begegnungen, die mir in Erinnerung geblieben sind. Seltsam, dass sich nie ein Kontakt herstellen ließ.

Aber einige kleinere Erfolge gelangen mir doch, und es erübrigt sich zu erwähnen, dass ich auch das Mittel der Flaschenpost eingesetzt habe.

Gerne würde ich wissen, was Annika, Christine, Nataliya und Adina heute machen. Ob es ihnen gut geht. Von Annika möchte ich gerne wissen, wie ihre Schullaufbahn war, ob sie ihre geheimnisvolle Aura bewahrt hat und ob sie nun freundlicher zu mir wäre. Von Christine möchte ich wissen, ob sie es damals schon erkannt hat, dass ich sie toll fand, es aber nur nicht hatte zeigen können. Gerne möchte ich ihr heute versichern, dass ich ihre weiblichen Reize sehr geschätzt habe, auch wenn sie von anderen Schülern verspottet wurde.

Nataliya habe ich geschrieben, leider erst Jahre später, als ich zufällig die Adresse wiederfand. Ich war mir nicht sicher, ob sie wirklich Kontakt mit mir haben wollte und ob sie sich geärgert hatte, da ich ihr Kontaktangebot nicht angemessen aufgenommen hatte.

Adina hatte ich nach langer Zeit eine Postkarte geschrieben, als ich durch Zufall auf ihre Postadresse stieß. Auch diese Karte blieb unbeantwortet. Jedoch tröstete mich der Gedanke, dass die Karte angekommen war.

All diese Begegnungen haben mein Leben beeinflusst. Und ich war es mir zum Zeitpunkt nicht immer unbedingt klar, welche Auswirkungen auf meine Zukunft das haben sollte. Es waren Weichenstellungen, und mir wurde klar, dass das Poetische sehr wohl in den Alltag hereinbrechen kann. Diese Begegnungen hatten für mich einen höheren Sinn und ich bin mir nicht sicher, ob es stimmt, wie es im anfangs erwähnten Zitat heißt, dass ein Wiedersehen vorherbestimmt sei. Wer weiß, vielleicht endet es für mich wie für Sappho:

Versunken im Meer ist Selanna, und versunken sind die Plejaden. Aber ach! Wieder ging Mitternacht vorbei, und obwohl die Zeit für die Liebe kommt – doch allein lege ich mich nieder zum Schlaf. [2]

Allen vier Frauen sei meine Erzählung gewidmet.

 

[1]     Erfundenes Zitat aus dem Film: Vier im roten Kreis (Le cercle rouge). Regie: Jean-Pierre Melville, 1970

[2]     Sappho: Und ich schlafe allein. Übersetzung von Gerda Kazakou https://gerdakazakou.com/2015/12/20/griechische-dichtung-am-sonntag-sappho/

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23082

Magie im Alltag

Ich erinnere mich jetzt – mit dem Abstand von drei Jahrzehnten – nur noch vage an sie. Zudem könnte ich nicht einmal mehr sagen, wann ich sie das erste Mal bewusst gesehen oder wahrgenommen habe. Wenn sie in meiner Umgebung war, veränderte sich etwas. Damals. Am Anfang spürte ich eine unbestimmte Art der Erregung, eher eine Art Neid oder Aggression auf sie.

Das konnte ich damals aber noch nicht recht deuten.

Als ich sie beim Baden sah oder der Tag, an dem sie mich wie Mozart in ein Gartenhäuschen sperrte. Ich konnte noch gar nicht wissen, wie ich meine Empfindungen einordnen sollte.

Mir war es, als wollte ich sie näher kennenlernen. Aber wollte ich es wirklich?

Der Tag, als ich mich zum ersten Mal verliebt in sie zeigte. Es sollte der letzte gemeinsame Tag sein.

An einen Nachmittag in meiner Schulzeit erinnere ich mich noch. Es war bereits dunkel und ich aß eine Dose Heringsfilet in Tomatensoße. Da fiel mir ein Auto ein, dessen Namen ich gelesen hatte, aber dessen Aussehen ich nicht kannte: Morris Marina von 1972. Ich dachte an einen wertvollen britischen Oldtimer, rassiges Design. Damals dachte ich, dass Autos aus dem Grund der technischen Perfektion entwickelt worden wären. Erst viel später kam die Ernüchterung. Aber der vorgestellte Morris Marina gefiel mir viel besser als die reale Entsprechung. Und das ist auch eine Art Magie im Alltag, die mehr und mehr verlorengeht: die Vorstellungskraft.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 23078

Ein Sommermärchen

Jedes Kind hatte früher einmal einen Zauberkasten. Und wenn es keinen hatte, dann hat es sich doch immer einen gewünscht. Heute scheint so etwas ja aus der Mode gekommen zu sein. Ich könnte nicht einmal genau sagen, wann das war, aber es hängt wahrscheinlich mit dem Aufkommen  des Computers und des Internets zusammen.

Doch zurück zu meiner Geschichte: Damals war ich im Ferienlager und es gefiel mir leidlich gut. Ich mochte zwar die täglichen Wanderungen und Ausflüge, aber je mehr ich mit den anderen zusammen war, entpuppte sich ihr kindisches Gehabe. Das ging mir gehörig auf die Nerven und es trübte auch meine ansonsten durchaus schönen Erinnerungen: das frische Grün und die schattenspendenden Bäume bei den Waldwanderungen. Die Naturerlebnispfade und die eine oder andere Stadtrallye – oder besser gesagt: Städtchenrallye. Natürlich war das das erste Mal, dass ich die Schönheiten der Provinz kennenlernte. Damals war ich zehn oder elf.

Aber es tat sich noch etwas auf, was ich, wenn man es altmodisch ausdrücken wollte, durchaus als „Aufbruchstimmung“ beschreiben konnte. Ich erahnte eine schöne, erfolgversprechende Zukunft, die sich aus imaginierten Welten speist. Das Erwachen der eigenen Jugend, der Bildungshunger, das Fernweh und natürlich das erste, schüchterne Interesse am anderen Geschlecht. Dieses Gefühl tat sich in einigen Momenten auf und es machte mich auch ein bisschen stolz, wenn ich die Geschichten aus früheren Zeiten las. Ich wusste nicht, ob es heutzutage noch möglich wäre, solche Abenteuer zu erleben und irgendwie kamen mir die Gleichaltrigen, die vielleicht 15 Jahre vor mir in diesem Alter waren, viel reifer, viel „erwachsener“ vor.

Wie gesagt, fand ich das Gehabe der anderen kindisch, und als die langersehnte Nachtwanderung anstand, war ich schon vorher aufgeregt. So etwas Spannendes hatte ich davor noch nicht gekannt. Die Enttäuschung kam aber, als die anderen anfingen, Kindergartenlieder zu singen. So kann man die Stimmung auch ruinieren …

Nach einigen Tagen fiel mir aber eine Erzieherin von einer anderen Gruppe auf. Sie gefiel mir sehr gut und sie spielte abends vor ihrer Gruppe immer Gitarre. Leider wäre es für mich unmöglich gewesen, sie anzusprechen, da sie eine Autoritätsperson war und zu einer anderen Gruppe gehörte. In den nächsten Tagen plagte mich immer wieder ein ungutes Gefühl, das von einer vagen Verliebtheit, aber auch dem Schmerz der Unmöglichkeit geprägt war.

Eines Tages aber, als es besonders heiß war, gingen meine Zimmerkameraden zum Fußballspielen, ich aber blieb alleine im Zimmer und las am Schreibtisch ein Buch. Da klopfte es auf einmal an der Tür. Es war die von mir bewunderte Erzieherin und fragte, ob sie sich kurz ausruhen dürfe, da es ihr schwindlig sei und sie es nicht mehr auf ihr Zimmer schaffen würde. Ich war zunächst baff, dann bot ich ihr aber an, sich in mein Bett zu legen, und sie nahm mein Angebot an.

Sie legte sich in voller Montur auf das Bett, lediglich den Hosenknopf öffnete sie und machte ein Nickerchen. Andächtig schaute ich ihr beim Schlafen zu und überlegte, was ich zu ihr sagen oder womit ich sie beeindrucken könnte. Da entdeckte ich den Zauberkasten im Schrank, den ein früherer Gast dagelassen hatte. Eifrig las ich mich durch die Spielanleitung und entdeckte bald einen Zaubertrick, den ich lernen wollte und, sobald die Erzieherin aufgewacht wäre, ihr zeigen wollte. Es war der Trick, wie man ein Kaninchen aus dem Hut zaubert. Einen Hut hatte ich keinen und erst recht kein Kaninchen. Wie sollte das also funktionieren? Hektisch suchte ich nach einem anderen Trick. Da hörte ich eine Stimme „Du suchst wohl nach einem Zaubertrick, nicht wahr?“, sagte die Erzieherin und schaute mich verdutzt an. „Da gebe ich dir einen Rat: Mach nicht mit bei dem, was deine Gleichaltrigen als „erwachsen“ ansehen, und begib dich auf die Suche nach dem, was dich in deinem Innersten am meisten bewegt, schreib es auf und warte, vielleicht fünf, zehn Jahre und begib dich dann nochmals auf die Suche und du wirst sehen, dass du dann diese Zeit mit anderen Augen sehen wirst.“ Da mir das Herz noch zu stark klopfte, brachte ich keine Antwort heraus. In diesem Moment erkannte ich die ganze Magie dieses Moments. Dass mir so etwas Unwahrscheinliches geschah, mit dem ich nie und nimmer gerechnet hätte. Als ich versuchte zu antworten, musste ich tief Luft holen. Aber ich brachte keinen einzigen Laut heraus. Also versuchte ich es nochmal. Und nochmal. Plötzlich sprang die Tür auf und die lärmenden Zimmergenossen kamen zurück. Von der Erzieherin keine Spur. Ich merkte, dass ich eingenickt war und das Ganze eine Traumphantasie war.

Von der Erzieherin nahm ich in der nächsten Zeit nichts mehr wahr. Es war möglich, dass sie und ihre Gruppe schon abgereist waren. Ich behielt aber die Worte aus dem Traum in Erinnerung und versuchte mich „fünf oder zehn Jahre später“ wieder daran zu erinnern. Als ich das später tat, kam mir der Ausflug fast märchenhaft vor: Welche tollen Abenteuer wir erlebt hätten und wie aufregend das Ganze doch gewesen sei. In diesem Moment wurde ich mir aber auch bewusst, dass dies nur die Arbeit der Phantasie gewesen ist, die der Realität auf die Sprünge geholfen hat ...

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques| Inventarnummer: 23079

Schulgeschichten

Der Lateinlehrer, der dem Schüler sagte, er sei ein „Radfahrer“, und bemerkte „nach oben buckeln, nach unten treten“ und ein paar Klassenstufen später war es ebenjener Lehrer, der diesen Schüler bei einem Referat bloßstellte und einem anderen Schüler, der wegen seines frechen Verhaltens bei den anderen Lehrern sehr unbeliebt war, ständig Komplimente machte („du, dein Vater ist doch Universitätsprofessor“).

Der Geschichtelehrer, der in seinem Unterricht das Prinzip der Hitlerjugend erklärte („und dann marschierten die Hitlerjungen draußen fröhlich und die restlichen Schüler/innen wurden in der Schule mit schweren Aufgaben schikaniert“). In einem Zeitungsinterview über sein Schultheaterprojekt erklärte er später, die Schüler/innen, die dieses Wahlfach gewählt hatten, durften mit ihm viele Städte in Europa besuchen, während die restlichen Schüler im Unterricht saßen.

Der Religionslehrer, der immer vor der Faszination des Nationalsozialismus und der Ideologie der Herrenrasse warnte und später ein Zitat eines modernen griechischen Schriftstellers über die angebliche Überlegenheit der griechischen Sprache verbreitete.

Und ich habe noch heute Hochachtung vor der zierlichen Französischlehrerin, die sich zu unserer Verwunderung am Wandertag im Biergarten Strammen Max bestellt hat und dann auf dem Rückweg verdächtig lange hinter dem Kriegerdenkmal verschwunden ist.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 23041

 

Schulanfang

An einem meiner letzten Kindergartentage, an dem wir das Schulgebäude gezeigt bekamen, regnete es. Ich hatte zu meinem Schulranzen den farblich passenden Regenschirm bekommen und ihn parat. Die Erzieherinnen haben mir ein anderes Kind zugeteilt, mit dem ich mir auf dem Weg zur Schule den Schirm teilen musste.

Es war ein Mädchen, für das ich mich immer interessiert habe, das mich aber nicht mochte. Als ich ihr beim Gehen den Regenschirm hielt, merkte ich, dass sie schön gekleidet war und sich dankbar fühlte, dass sie nicht nass wurde.

Zum ersten Mal merkte ich, dass ich mich in sie verliebt hatte. Leider besuchte sie eine andere Schule und ich habe nie wieder etwas von ihr gehört.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen | Inventarnummer: 22137

Ziel. Punkt.

Damals wollte ich nur noch schnell etwas einkaufen, ich weiß nicht mehr so genau was. Es muss nicht viel gewesen sein, denn damals, im März 2013, war das Geld knapp. Ich ging in die „Zielpunkt“-Filiale in der Alserbachstraße in Wien und kaufte etwas ein. Was ich auf dem Weg zum Supermarkt gedacht haben muss, weiß ich nicht mehr, vielleicht war es etwas Berufliches. Ich legte mehrere hundert Meter zu Fuß zurück und betrat das Geschäft. Da ich bereits Läden dieser Kette kannte, war es ein routinemäßiger Besuch, der mir zunächst keiner weiteren Beachtung würdig schien. Ich ging durch die gläserne Schiebetür hinein, zunächst zu den Obst- und Gemüsekisten, dann zur Milchtheke und zum Brotregal. Eine Handvoll Sachen hatte ich, denn ich benutzte keinen Einkaufswagen oder Korb. Alles, was ich in meiner Hand halten konnte.

Als ich zur Kasse ging, legte ich meine Sachen aufs Band, es kann sein, dass noch mehrere Kunden im Laden waren. Wann ich die Kassiererin zum ersten Mal erblickte, weiß ich nicht. Es kann sein, dass sie ihr Haar rot gefärbt hatte, aber da bin ich mir nicht so sicher. Ob ich sie schon bemerkte, als sie meine Sachen durch den Scanner zog, weiß ich nicht. Ich könnte auch nicht sagen, ob sie mir beim Bezahlen schon aufgefallen wäre. Aber kurz nachdem ich und wahrscheinlich ein anderer Kunde bezahlt hatten, verließ sie ihren Stand und betätigte mit dem Schlüssel die elektrische Türöffnung, da der Laden schon von außen verriegelt war. Ich schaute ihr in die Augen, verabschiedete mich und sie verabschiedete sich auch, dabei lächelte sie mich an. In diesem Moment war es um mich geschehen. Es war das letzte bewusste Mal, dass ich diesen Laden besucht hatte.

Auf dem Nachhauseweg war ich glücklich ob der Begegnung, aber ich wusste nicht, ob es andere Gedanken gab, die wichtiger waren. Vielleicht habe ich die junge Verkäuferin auch in meinem Tagebuch erwähnt, aber so genau weiß ich das nicht mehr. Was ich am nächsten Tag, in der nächsten Woche, im nächsten Monat tat, ist mir nicht mehr so bewusst.

Einige Jahre später, im August 2017, sah ich in einem Supermarkt eine junge Frau, die Käse aus einer Selbstbedienungstheke holte. Obwohl sie ganz anders aussah, als ich die Zielpunkt-Verkäuferin in Erinnerung hatte, erlebte ich ein Déjà-vu. Ich weiß nicht, welche Gemeinsamkeit sie mit der anderen Frau hatte, jedenfalls fühlte ich eine starke Nähe. Auch diese Erinnerung verblasste.

Erst im Sommer dieses Jahres kam mir die Erinnerung an die Zielpunktverkäuferin. Was ich nicht alles hätte tun können, den Laden häufiger besuchen, ihr ein Kompliment oder ein Geschenk machen. All dies hatte ich nicht getan, aber ich wusste nicht den Grund, warum ich es unterlassen hatte. Und warum wurde das Ganze mir erst jetzt, nach neun Jahren und einem Ortswechsel wieder bewusst? Ich versuchte, über diesen Laden zu recherchieren. Die Supermarktkette Zielpunkt hat 2016 Konkurs angemeldet und die Mitarbeiter*Innen mussten sich eine neue Arbeitsstelle suchen. Ich hatte demnach keine Chance mehr, diese Mitarbeiterin nochmals zu kontaktieren. Auch machte ich mir Sorgen wegen der Kündigung und der prekären Situation zur Zeit der Insolvenz.

Aber ich musste, da die Verkäuferin sehr charmant gewesen war, mir etwas überlegen, wie ich ihr meine Gefühle übermitteln konnte. Ich erschuf folgendes Szenario: Was hätte ich getan, wenn ich dieser Verkäuferin noch einmal begegnet wäre? Hätte ich meine große Schüchternheit überwinden können? Ich dachte zuerst, dass ich eine kleine Süßigkeit hätte kaufen können, die ich ihr nach dem Bezahlen hätte schenken können. Oder einen Zettel mit meiner Adresse. Was ich bevorzugt hätte, weiß ich nicht, aber es hätte Tage geben können, an denen diese Verkäuferin nicht an der Kasse saß und ich Pech gehabt hätte. Also hätte ich auch noch viel Geduld einplanen müssen.

Für den Fall, dass diese Verkäuferin mein Kontaktgesuch angenommen hätte, was hätte ich ihr vorschlagen können? Ein gemeinsames Gespräch, einen Spaziergang? Manche Menschen glauben daran, dass Gedanken übermittelt werden können. So dass die eigenen Gedanken nicht sinnlos um einen kreisen und den anderen doch – auf welche Art auch immer – erreichen. Es gab Versuche, die bestätigten, dass alle Menschen miteinander über ein paar Personen verbunden seien. Warum nicht einfach einmal eine Flaschenpost an die Verkäuferin schreiben? Ich tat es sogar und schickte meine Gedanken an sie an ein unbekanntes Ufer.

Als ich am Samstag, dem 24. September 2022, um 8.00 Uhr aufwachte, wurde mir der Gedanke immer klarer, dass ich diese charmante Verkäuferin in einem kleinen Text verewigen könnte. Ich fuhr meinen Laptop hoch und gab unter Google das Schlagwort „Schreibwettbewerbe“ ein. Nach einigen Klicks wurde ich auf eine Seite weitergeleitet.

Das Thema „Bewusstheit“ der Ausschreibung sah ich am geeignetsten an. Ziel. Punkt.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 22105

An und für sich nichts Ungewöhnliches

I.

Seit einiger Zeit wusste ich, dass ich, wenn ich etwas nicht erreichte, mir das Ziel schlechtredete und mich lieber mit etwas weniger zufriedengab. So zum Beispiel, als ich mir die langersehnte Urlaubsreise nicht leisten konnte und meinen Urlaub lieber im Schrebergarten verbrachte. „Das ist doch egal, kommt doch alles auf dasselbe raus“, sagte ich zu mir. Aber manchmal kam doch wieder dieses Unbehagen. Was, wenn ich etwas Schönes verpassen könnte, was sich jetzt, genau in diesem Zeitpunkt zutragen könnte, während ich hier saß und meine Zeit totschlug. Und sofort musste ich wieder an eine Begegnung in der Stadt denken, die sich so vor einigen Jahren zugetragen hatte und die ich an dieser Stelle gerne noch einmal erzählen möchte: Auf einem Trödelmarkt lernte ich einen älteren Herrn kennen, mit dem ich nach einiger Zeit ins Gespräch kam. Er stellte sich nicht vor und machte zunächst auf mich einen eher mürrischen Eindruck, aber nach ein paar Sätzen sagte er: „Weißt du, dass ich jetzt schon 78 Jahre alt bin und in meinem Leben nichts bereut habe. Nicht das Geringste!“ „Wie ist das möglich?“, entgegnete ich ihm. „Das ist an und für sich nichts Ungewöhnliches“, sagte er „Jetzt bin ich aber neugierig“, erwiderte ich. „Ich werde dir nicht mehr verraten, als sein muss, aber zuerst möchte ich, dass wir uns in drei Wochen wiedersehen.“ Darauf beendete er das Gespräch und ging seiner Wege.

Einige Wochen später musste ich immer wieder an seine Worte denken. „Das ist an und für sich nichts Ungewöhnliches“, ratterte es durch meinen Kopf wie ein Mantra. Kurze Zeit später hatte ich diesen Mann vergessen und ich ging wieder meinen Alltagsgeschäften nach. Ich wusste, dass ich früher gegenüber vielen Dingen des Lebens eine große Gleichgültigkeit, ja, eine erschreckende Gleichgültigkeit gezeigt hatte. Es war ja sicherlich nichts Neues, dass sich in meinem Leben eher wenig ereignete, ich aber den Grund nicht genau kannte, warum dies so war. Ich machte mir einmal eine Liste, in die ich die Dinge eintrug, die ich am meisten bereute. Zuerst sollte dies ein kurzes Brainstorming sein, aber später würde ich mich daranmachen, die Ereignisse zu nummerieren. Also nahm ich ein Blatt weißes Papier und schrieb darauf: Was ich schon immer einmal tun wollte (mich aber nicht zu tun getraut habe). Einige Minuten lang merkte ich eine gähnende Leere, mir wollte wieder und wieder nichts einfallen. Als ich kurz davor war, etwas zu schreiben, verwarf ich es, weil es mir zu albern erschien.

Nach langer Zeit besann ich mich wieder und machte den Anfang. Dieser lautete: „Mehr Bücher lesen.“ Ich war ein bisschen stolz auf mich, dass ich mich getraut hatte, dies aufzuschreiben, aber sicher würde mir – wenn ich nur lange genug nachdenken würde – noch etwas Wichtigeres einfallen. Aber hey, ‚Mehr Bücher lesen‘ war doch schon einmal ein guter Anfang. Mir fiel ein, wie sehr ich Menschen immer beneidet habe, die viele Bücher gelesen hatten. Gerne wäre ich auch so geworden, aber ich wusste Erstens nicht: Mit welchen Büchern sollte ich anfangen, wenn ich noch nichts kannte, und Zweitens: Woher sollte ich die große Disziplin nehmen, auch Bücher zu lesen, die auf den ersten Blick langweilig waren, aber doch wichtig als Einstiegslektüre. Dies frustrierte mich ein Weilchen und ich begann mich auf den nächsten Punkt zu konzentrieren.

Was hätte ich als Nächstes bereut, zu tun? Ich merkte, dass ich eigentlich so vieles wüsste, mir aber nichts einfiel. Nach einiger Zeit des Überlegens nahm der zweite Punkt überraschend Gestalt an: Spontaner sein. Ich dachte, dass es sehr gut war, denn ich war es in meiner Familie gewohnt, dass Ideen, die eigentlich gut waren, immer wieder zerredet wurden. „Das kann man doch nicht machen.“ „Was ist, wenn etwas schiefgeht.“ „Man braucht doch nicht alles.“ Das hat mich früher immer frustriert. Aber von alleine fand ich keinen Ausweg. Ich brachte es einfach nicht fertig, einmal etwas außerhalb meiner vorgefertigten Routine zu unternehmen. Und manchmal wusste ich gar nicht, was das sein sollte. Sicher wusste ich, dass das schwieriger war als gedacht. Damals hielt ich mich von kulturellen Veranstaltungen fern: „Für so etwas geben wir kein Geld aus“, „Dafür haben wir keine Zeit“. So hieß es oft von meinen Eltern.

Für den nächsten Punkt nahm ich mir wieder Zeit. Diesmal dauerte es etwas länger. Was hat mich früher am unglücklichsten gemacht? Mir wurde klar, dass mich am unglücklichsten die Abwesenheit von Freunden gemacht hatte. Aber zu dieser Zeit wusste ich nicht, wie ich dies am besten ausdrücken sollte. Nun dachte ich, dass ich das Brainstorming für heute sein lassen sollte.

II.

1.
Wir befinden uns im Jahr 1998. Der Ich-Erzähler ist noch Schüler und zeigt Interesse an einer Mitschülerin, die ihm nach jeder Klausur im Fach Musik ihre eigene Lösung als Musterklausur gibt, um die Fehler verbessern zu können. Natürlich zeigte der Ich-Erzähler Interesse, wie bereits gesagt. Aber dieses Interesse ist noch zu schüchtern. Er hätte es nicht fertiggebracht, auch wenn er sie täglich sah, ihr beispielsweise einen Liebesbrief zu schreiben und ihr diesen Brief unter die Bank zu legen. Wäre ihm etwas eingefallen, was er in diesen Liebesbrief hätte schreiben können? Ein paar Jahre später versuchte er für die Schublade einen solchen Brief, den er als Dreizehnjähriger gerne geschrieben hätte. Er begann so: „Liebe C., wie Du sicher weißt, hast Du mir immer Deine Musikklausuren geliehen, und es gab auch sicher andere Momente im Schulleben, in denen ich Deine außerordentliche Freundlichkeit zu schätzen gelernt habe. Dies wollte ich Dir nur einmal schreiben und ich hoffe, dass Du mich ebenfalls als sympathisch wahrnimmst. Über einen weiteren Austausch mit Dir würde ich mich sehr freuen! Dein B.“ Leider habe ich einen solchen Brief nie geschrieben und C. wechselte sehr früh die Schule. Bis heute habe ich keinen Kontakt zu ihr.

2.
Es war schon im Studium, als ich diesen überfüllten Sprachkurs besuchte. In der letzten Bank saß N. ganz alleine, und ich begann immer wieder heimlich, zu ihr hinüberzublicken. Sie gefiel mir sehr, auch wenn ich nicht viel von ihr wusste. In einer Stunde geschah es, dass sie sich ganz unvermittelt neben mich setzte und mir sogar Ihre E-Mail-Adresse gab. Ich war ganz baff und konnte die Situation nicht zuordnen. Wegen meiner Schüchternheit kam es aber zu keinem weiteren Austausch. Auch für N. formulierte ich später ein E-Mail, das ich ihr gerne geschrieben hätte: „Hallo N., ich fand es ganz toll, dass Du Dich neben mich gesetzt hast. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Du nur die Hausübungen haben wolltest, oder ob ich Dir sympathisch bin ;-). Wenn Du Lust hast, können wir uns gerne einmal treffen. LG, B.“ Im Gegensatz zu C. war die E-Mail-Adresse von N. noch nach neun Jahren gültig. Leider habe ich von ihr keine Antwort mehr erhalten.

3.
Und die vielen beiläufigen Begegnungen. Als ich Studienkolleginnen traf, die mir sehr gefielen oder die sehr nett zu mir waren, aber es mir nicht gelang, Kontakt mit ihnen aufzubauen. Und im Nachhinein war das immer sehr schade für mich, dass sich nichts ergeben hat. Und wie bei C. und N. formulierte ich manchmal Briefe, die ich schreiben könnte. Aber das ist alles nun vergebens. Dennoch habe ich gelernt, achtsamer mit solchen Begegnungen umzugehen und mich mehr zu trauen. Auch schätze ich andere Menschen mehr als vorher.

III.

Zurück zu meinem Brief: Den dritten Punkt ließ ich aus und verstaute den Brief in einer Schublade. Nach einiger Zeit hatte ich sogar vergessen, dass ich ihn geschrieben hatte. Ich erinnerte mich aber wieder an den alten Mann, der mir sagte, das sei ja „an und für sich nichts Ungewöhnliches“. Was ich ihn wohl diesmal fragen sollte? Den ersten Schritt mit der Liste hatte ich ja gemacht und mir fiel doch ein, wie viel mir in meinem Leben entgangen ist. Ich habe mir auch eine zweite Liste mit meinen häufigsten Ausreden erstellt. „Das wird doch nie etwas“, „Das kommt alles noch von allein“, „Du schaffst es nicht“, die ich dem alten Herrn zeigen wollte. Aber zuerst war ich auf die erneute Begegnung mit dem Mann gespannt.

IV.

An einem Freitag traf ich ihn tatsächlich, zuerst hatte er mich gar nicht erkannt und dann nicht kennen wollen. „Ach so, haben wir uns wirklich schon einmal gesehen?“, fragte er misstrauisch. „Ich denke doch. Und ich habe das letzte Gespräch sehr ernst genommen. Aber leider weiß ich immer noch nicht, was Ihr Geheimrezept ist, dass Sie im Leben nichts bereuen. Ich habe mir sogar zwei Listen gemacht“, sagte ich. Er erwiderte: „Das ist doch fürs Erste schon einmal ein guter Anfang. Und was hast du in die beiden Listen denn geschrieben?“, fragte er. „In der ersten Liste steht, was ich am meisten bereue, und in der zweiten stehen meine häufigsten Ausreden.“

Er zögerte einen Moment. Dann fuhr er fort: „Und weißt du schon, was du in deinem Leben ändern möchtest. Ich denke, dass du damit sofort anfangen musst, sonst hast du später keine Zeit mehr.“ Ich entgegnete, dass ich sofort in eine Bücherei gehen werde und mit dem Lesen anfange und auch mein großes Zögern beim Besuch kultureller Veranstaltungen einstellen möchte. Zum dritten Punkt fällt mir allerdings nichts mehr ein. „Was war dein dritter Punkt?“ „Die verpassten Gelegenheiten, Mitschülerinnen oder Mitstudentinnen Briefe oder E-Mails zu schreiben.“ „Und was könntest du aus deinem Fehler lernen?“ „Das weiß ich nicht.“ Der alte Mann entgegnete mir: „Ich gebe dir mal einen Rat, aber nur einen kleinen, auf den Rest musst du leider selbst draufkommen: Wozu hat man denn das Internet erfunden?“

Dann nahm er aus seiner Tasche ein Smartphone und tippte eine App an. „Diese App habe ich selbst programmiert. Sieh mir zu, was passiert, wenn ich sie öffne!“ Gespannt sah ich ihm zu, und ehe ich genau realisieren konnte, was geschehen war, tat es einen lauten Schlag und der alte Herr explodierte. Vor lauter Qualm konnte ich zunächst nichts sehen, aber dean nahm ich eine junge Frauenstimme wahr, die zu mir sagte: „Hallo B., es ist schön zu hören, dass du dich damals so sehr für mich interessiertest. Vielen Dank dafür!“ Als sich der Qualm lichtete, merkte ich, dass es sich um C. handelte, die mich noch schüchtern auf die Wange küsste und dann von dannen schritt. In diesem Moment piepte mein Handy, und als ich nachschaute, sah ich, dass ich ein SMS von N. bekommen hatte, das ebenfalls sehr freundlich formuliert war. Vor meinem inneren Ohr hörte ich noch einmal die Stimme das alten Mannes: „An und für sich nichts Ungewöhnliches.“ Dabei musste ich laut und herzhaft lachen.

V.

Wie die oder der geneigte Lesende es richtigermaßen schon bemerkt haben dürfte: Diese Geschichte war natürlich von Anfang bis Ende erstunken und erlogen. Und am Anfang habe ich es doch noch ein bisschen glaubwürdiger formuliert, um den Lesenden auf eine falsche Fährte zu locken. Was ich aber dennoch mit der Liste ausdrücken wollte: Es ist nichts Schlechtes daran, sich seine Versäumnisse und Ausreden noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Und gelegentlich bietet sich doch noch die Chance auf Veränderung. Wenn sich diese Chance nicht zeigt, sollte man auf eine weitere warten, sich aber gut darauf vorbereiten, so widersprüchlich es klingt. Es geschehen manchmal Wunder, auch wenn diese auf den ersten Blick nicht so spektakulär aussehen wollen wie in der Geschichte, aber der Alltag kennt viele Überraschungen. Nicht umsonst sagt ein altes Sprichwort (sofern ich es mir nicht selbst ausgedacht habe), die erste Liebe sei doch immer die wahre Liebe ...

Michael Bauer

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