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Die Nacht der grünen Sichel

Es geschah an einem warmen Abend im Mai in einem kleinen Waldstück im steirischen Hügelland.
Gustav Fiedler, ein Bauer von dreiundsechzig Jahren, ging gerade spazieren, als er in dem Wäldchen, das er auf seinem weitläufigen Grundstück hatte stehen lassen, um Lebewesen Raum zu geben, das Brechen von Zweigen hörte. Er ging ein Stück weit auf dem Weg, der zwischen den Bäumen durch den Wald führte, und dachte an einen Keiler oder Rehbock als Verursacher des Geräuschs. Angestrengt lauschte er, ob weitere folgen würden, doch es blieb still.

So ging er mit langsamen Schritten zum Wohnhaus seines Hofes und zog sich für die Nacht um. In seinem abgewetzten Schlafanzug legte er sich neben seine Ehefrau Aloisia. Sie hatte bereits geschlafen, doch die Bewegungen des Bettes und das ächzende Geräusch, das es von sich ab, als er sich darauf legte, ließen sie erwachen. Auf Nachfrage erzählte er ihr, dass er durch den Wald gegangen wäre und ein Reh oder ein Wildschwein gehört hätte, welches er in den nächsten Tagen wohl erlegen würde.
Seine Frau stieß einen gellenden Schrei aus, bekreuzigte sich und flehte ihn an, seinem Schwur treu zu bleiben, nämlich das Haus nach Einbruch der Dunkelheit nicht zu verlassen. Er beruhigte sie und versprach ihr, sich künftig daran zu halten. In seinem Inneren wusste er jedoch, dass er genau das nicht machen würde, dafür war sein Jagdtrieb einfach zu stark ausgeprägt.

Am nächsten Morgen bereitete Gustav, was selten vorkam, das Frühstück zu. Aloisia war erfreut, einmal nicht diese Arbeit verrichten zu müssen, und nahm die Entschuldigung für den Bruch des Versprechens an.
Sie war gleich alt wie ihr Gatte. Mit zwanzig Jahren hatten sie geheiratet, doch Kinder hatten sich keine einstellen wollen. Dennoch wussten sie, wie es mit ihrem Hof, den sie von seinen Eltern übernommen hatten, nach ihrem Tod weitergehen würde. Aloisia hatte darauf bestanden, dass er ihrer geliebten Kirche zufallen sollte, und Gustav hatte sich gefügt.

Von Wert war ohnehin bloß das große Grundstück, alles andere hatten sie aufgegeben. Zwei Katzen, Murli und Minka wurden sie gerufen, lebten noch auf dem Gehöft, nebst einer Vielzahl an Mäusen, von welchen sie sich ernährten. Vieh gab es keines mehr. Die Fiedlers waren arm, das waren sie ihr ganzes Leben hindurch gewesen. Aloisia hatte sich leicht mit diesem Umstand abfinden können, Geld bedeutete ihr wenig. Ihr Mann hingegen litt sehr unter der Armut. Wie gerne hätte er ein großes Auto gefahren und sein Wohnhaus renoviert und stilvoll eingerichtet, doch war ihm dies nicht beschieden gewesen.
Nachdem ihre letzte Kuh geschlachtet worden war und der Hahn, der seine letzten Jahre ohne Hennen hatte zubringen müssen, im Suppentopf geendet hatte, ernährte sich das Ehepaar von Gemüse, welches Aloisia mit viel Liebe zog, nur selten gab es Gerichte aus Wildfleisch. Gustav war zwar ein begeisterter Jäger, allerdings traf er selten.

Die Furcht seiner Frau vor der Dunkelheit lag in der uralten Mär vom Steirerwolf begründet, einer Kreatur, Dürers Werwolf sollte sie nicht unähnlich sehen, die in gewissen Nächten die Menschen der Umgebung plagen würde. Strenge Gottesfurcht und oftmaliges Beten würde sie fernhalten, erfuhr er von seiner Gemahlin, doch gab er nichts auf solches Gerede, ebenso wenig gab er auf das Gebet und die Beichte.

Nach dem Frühstück erwachte seine Jagdlust. Den ganzen Tag über nagte sie an dem Bauern, er konnte kaum das Einsetzen der Nacht erwarten. Er beschäftigte sich mit dem Mähen von Gras und begab sich, nachdem er damit fertig war, in den Keller, um schlecht gewordenes Gemüse auszusortieren. Das wenigstens sagte er zu Aloisia.
In Wahrheit reinigte er hingebungsvoll seine Büchse. Mit Öl befreite er die Waffe von Flugrost, mehrere Male zog er den Lauf durch, er reinigte die Patronenkammer und polierte den hölzernen Schaft, bis dieser glänzte.

Als es dunkel zu werden begann, brachte er seiner Frau eine Kanne Tee, in welche er eine ordentliche Menge Schnaps gegossen hatte. Alsbald war sie eingeschlafen.
Gustav ging in den Keller, holte sein Gewehr und schlich mit langsamen leisen Schritten zum Waldstück. Dort wartete er einige Minuten, und als er erneut das Geräusch von brechendem Holz vernahm, lief er in das Wäldchen, welches vom Schein des Halbmondes einigermaßen gut erleuchtet wurde.
Er fühlte, dass er nicht alleine war.

Erst konnte er kein Lebewesen ausmachen, doch als er das Brechen der Zweige immer näherkommen hörte, wusste er, dass er in wenigen Augenblicken ein Wildschwein oder ein Reh schemenhaft erkennen würde.
Und schon sah er tatsächlich ein Wesen auf sich zukommen. Bei diesem handelte es sich jedoch weder um einen Keiler noch um einen Bock, dafür war die Kreatur viel zu groß. Auf vier Beinen kam sie näher und begann, fünf Meter vor Fiedler, kehlige knurrende Laute auszustoßen, die sich bald in ohrenbetäubendes Geheul steigerten.
Er wich zurück und zog mit zitternder Hand seine Taschenlampe hervor, schaltete sie ein und richtete den Lichtkegel auf das Antlitz des Wesens.
Da gefror ihm das Blut in den Adern.

Im Schein des künstlichen Lichts leuchteten die Augen der Kreatur grün, ihr Kopf war schwarz befellt und ihr offenes Maul ließ Reißzähne erkennen, die von einem Säbelzahntiger hätten stammen können. Gustavs Hand bebte so stark, dass das Licht der Lampe auch den Rest der Kreatur illuminierte. Sie war drei Meter hoch, hatte ein pechschwarzes Fell und Krallen, die jene eines Bären hätten sein können. Ein langer behaarter Schwanz an der Kehrseite und spitze Ohren an der vorderen rundeten das Bild ab, das Gustav Fiedler in dieser warmen Mainacht vor sich sah. Es war die Schnauze der Bestie, die ihn auf eine morbide Art und Weise faszinierte.

Wie das bei Hunden der Fall ist, hatte auch die Schnauze der Bestie zwei Löcher, doch, von unten betrachtet, kam es Gustav so vor, als ob die Nasenwände eine bestimmte Form aufnähmen, die er schon oft gesehen hatte. Als er ein Giebelkreuz erkannte, wusste er: Er stand dem Steirerwolf gegenüber.
Schnell entsicherte er sein Gewehr, richtete es auf den Brustkorb des Untiers und drückte ab. Das Projektil drang in den Körper des Biests ein, jedoch nicht in die Brust, sondern in die rechte der baumdicken Vorderpfoten. Es heulte auf, sprang seinen Peiniger an und biss in dessen Schulter. Augenblicklich fiel Gustav in Ohnmacht.

Als er am nächsten Morgen im Wald erwachte, entledigte er sich seiner Oberbekleidung und untersuchte die Stelle, an der der Steirerwolf ihn gebissen hatte. Die Wunde musste tief sein, denn er fühlte starke Schmerzen, doch blutete sie nicht mehr. Mühsam stand er auf und schleppte sich zum Hof zurück. Seine Ehefrau war gerade dabei, die beiden Katzen auf der Schwelle des Wohnhauses zu streicheln, als sie ihren Mann erblickte und die Wunde sah.
Sogleich fiel sie auf die Knie und flehte Gott um Gnade an. Ihr Mann erzählte ihr, was vorgefallen war, und zwar in allen Einzelheiten. Sie lief aus dem Raum und in das Schlafzimmer, wo sie sich auf das Bett fallen ließ und unablässig vom Steirerwolf stammelte.
Er wartete geduldig, bis sie sich wieder gefangen hatte, dann bat er sie, ihm die Sage von der Kreatur vorzulesen. Sie holte ein grünes Buch aus dem untersten Fach des Regals im Wohnzimmer. Auf dem Bucheinband erkannte er einen Apfel, dem ein Pentagramm eingezeichnet war. Dann las sie.

Als sie fertig war, wusste er, dass von nun an keine Halbmondnacht mehr so sein würde wie jene, die er bislang erlebt hatte. Aloisia verbot ihm, sich vor der Nacht der grünen Sichel, so wurde die Phase des Halbmondes im Buch genannt, in der Nähe des Hofes aufzuhalten. Er versprach, sich wenigstens an dieses Verbot zu halten. Die nächsten Tage verliefen ruhig für das Ehepaar Fiedler. Sie kümmerte sich um den Garten, er widmete sich der Lektüre von Büchern über Gestaltenwandler und besuchte seinen Onkel im Krankenhaus, der sich bei der Jagd versehentlich in die rechte Hand geschossen hatte.

Dann nahte Gustavs erste Nacht der grünen Sichel.
Er fühlte, dass sich etwas in seinem Körper veränderte. Er hörte besser als zuvor, selbst das Fiepen der Mäuse im ehemaligen Kuhstall konnte er vernehmen, obwohl er im viele Meter entfernten Wohnzimmer saß. Sein Bart wuchs schneller und dichter, und seine Nase und Augen nahmen Gerüche und Dinge in nie zuvor gerochener und gesehener Reinheit und Schärfe wahr.
Die bei Weitem intensivste Veränderung aber fand in seinem Innersten, seiner Seele, statt. Das Gefühl des Hasses auf seine Armut wuchs beständig, nie zuvor war ihm diese so grässlich erschienen wie nun. Also beschloss er, etwas dagegen zu unternehmen.

Als die Phase des Halbmondes einsetzte, warf Aloisia Fiedler ihren Mann aus dem Haus. Die Tage brachte er in einer baufälligen Holzhütte am Rande seines Grundstücks zu, in den Nächten marodierte er durch die Obstgärten der Nachbarn. Er ernährte sich von Mäusen und Ratten, selbst ein Steinkauz fiel ihm zum Opfer. Einmal wurde er von einem Nachbarn dabei beobachtet, wie er sich über eine Katze hermachte. Da sein Fell zu diesem Zeitpunkt noch kurz war, sodass er es unter seiner Kleidung verbergen konnte, glaubte der Nachbar, der obendrein schwer betrunken war, dass Gustav die Katze lediglich liebkosen würde.

Dann kam die Nacht, in der die grüne Sichel in voller Schärfe am Himmel hing.
Gustav Fiedler hatte schon den ganzen Tag über starke Schmerzen verspürt, dazu kam ein Ziehen in seinen Gliedern und starker Fellwuchs am ganzen Körper. Als die Nacht hereinbrach, begann die Stelle, an der er gebissen worden war, wie Feuer zu brennen, und er gab in einem fort knurrende Laute von sich.
Eine Stunde vor Mitternacht war es so weit. Als der Halbmond von den Wolken, die ihn zuvor verhangen hatten, freigegeben wurde, starrte er diesen aus leuchtenden grünen Augen, die zuvor braun gewesen waren, an und begann zu heulen.
Nachdem er sich unter beinahe unerträglichen Schmerzen in das Ebenbild der Kreatur, die ihn gebissen hatte, verwandelt hatte, machte er sich auf den Weg zu seinem ersten Opfer.

Dieses war Josef Reinprecht, der reichste Bauer der Umgebung. Gustav stand vor dessen Haustüre und einen Tritt mit dem kräftigen Hinterlauf später in des Großbauern Vorraum. Mit schnellen Sprüngen brachte er die Treppe, die in den ersten Stock führte, hinter sich und stand neben Reinprechts Bett, aus welchem dieser sprang, sobald er des Wesens ansichtig wurde, das soeben mit einem kraftvollen Hieb seiner neben ihm schlafenden Ehefrau den Garaus gemacht hatte.
Um Gnade flehend stand er vor der Bestie, die Hose seines Schlafanzugs verfärbte sich, doch Gustav kannte kein Erbarmen. Er fuhr seinem Opfer mit der Pranke über den Hals, der sich sogleich öffnete. Aus der Wunde schoss Blut, und Josef Reinprecht sank zu Boden, um nur Augenblicke später zu verscheiden. Fiedler warf einen Blick auf die Armbanduhr des reichen Bauern, erkannte, dass sie aus Gold gefertigt war und nahm sie mitsamt dem Unterarm an sich, welchen er im Maul in den kleinen Wald trug.

Zufrieden mit sich und seiner Tat legte er sich auf den Boden, rollte sich ein und schlief bis zur Mittagszeit des nächsten Tages. Als er erwachte, war nichts mehr übrig vom Steirerwolf, er war wieder Gustav, der nackte Gustav Fiedler.
Er nahm die goldene Uhr von Reinprechts Arm und legte sie an. Sie passte. Dann machte er sich auf den Weg zu seinem Hof. Er begrüßte Aloisia, die eben aufgestanden war und ihn mit argwöhnischen Blicken bedachte. Sie bemerkte, dass er einen teuren Zeitmesser trug und fragte nach dessen Herkunft. Gustav sagte ihr die Wahrheit, worauf sie sogleich ein Gebet für die Seele der Opfer ihres Mannes sprach. Hernach stellte sie fest, dass dieser der Welt einen Gefallen erwiesen hätte, denn der Großbauer wäre fürwahr kein großes Licht auf dem Kronleuchter der Gottesfurcht gewesen.
Nach dem Mittagessen fuhr Gustav mit dem Zug nach Graz, wo er die Uhr versetzte. Von dem Geld kaufte er einen Ring und ein Kleid für seine Frau, und für sich selbst einen Anzug und ein Paar Schuhe. Den Rest brachte er nach Hause und legte ihn in eine alte metallene Handkasse, die viele Jahre lang leer im Keller gestanden hatte.

Gustav und Aloisia Fiedler führten wieder ihr gewohntes kleines Leben, jedoch im Wissen, dass sie eine kleine Summe Bargeld im Haus hatten, über die sie verfügen konnten. Er dachte über den Ankauf einer neuen Jagdwaffe nach, doch da seine Frau beim nächsten Kirchgang endlich eine größere Summe in den Klingelbeutel werfen wollte, begrub er diesen Wunsch vorerst.

Der Zufall wollte es, dass der alte, mit Holz beheizte Ofen in der Küche den Geist aufgab und Ersatz angeschafft werden musste, und das eine Woche vor dem nächsten Halbmond. Da der Hafner eine Unsumme für die Errichtung eines neuen Ofens veranschlagt hatte, von dem Geld für die Uhr aber nicht mehr viel übrig war, teilte Gustav seiner Frau mit, dass sie ein paar Tage von Rohkost würde leben müssen, doch bald würde ein neuer Ofen ihre Küche zieren. Dann musste er den Hof verlassen.

Im Dorf war der Tod Josef Reinprechts kein allzu großes Thema, schließlich war er vielen Menschen verhasst gewesen, vor allem denjenigen, die Schulden bei ihm gehabt hatten. Die Polizei untersuchte sein Ende und schloss den Bericht mit der Vermutung, dass es sich um Raubmord gehandelt hätte, denn es fehlte die Uhr, mit der der reiche Bauer gerne und oft im Wirtshaus geprahlt hatte.

Nachdem Gustav nicht einmal befragt worden war, fühlte er sich sicher.
Wieder durchstreifte er die Gärten, zwei Katzen waren ihm Nahrung für drei Tage, einen Kater, den er gefangen hatte, ließ er wieder frei. Sein feiner Geruchssinn sagte ihm, dass das Fleisch des Tieres nahe der Grenze zur Ungenießbarkeit angesiedelt war. Einen Tag vor seiner Verwandlung fasste Gustav nicht nur den Plan, den Direktor der örtlichen Bank seines Lebens zu berauben, sondern auch sein Geldhaus um eine erkleckliche Summe zu erleichtern, denn ein neuer Küchenofen stellte eine finanzielle Herausforderung dar.

Zufrieden mit sich und seinem Plan, brachte er es nicht übers Herz, ein Rehkitz, das nur zwei Meter vor ihm über den Weg lief, zu töten und aufzufressen. Stattdessen suchte er nach der Mutter des Rehleins. Er fand sie im Unterholz, tot, aber noch warm. Ihr Fell war blutverkrustet, und als er den Körper des Tieres näher betrachtete, entdeckte er zwei Einschusslöcher im Bauchbereich, jedoch keine Austrittslöcher auf der anderen Seite des Bauches. Der Jäger, der zweimal auf das Reh angelegt hatte, musste dies mit einer kleinkalibrigen Waffe gemacht haben und bescherte dem Tier dadurch tagelanges Leid. Gustav riss den Kadaver mit bloßen Pranken auf und fraß die Leber, das Herz und beide hinteren Oberschenkel, denn er brauchte Kraft für seine bevorstehende Verwandlung.

In dieser Nacht verwandelte sich Gustav Fiedler zum zweiten Mal.
Er schlich ein paarmal um das weitläufige Anwesen des Bankdirektors, erkannte, dass dieser alleine war und sich ein Fußballspiel im Fernsehen ansah und brach durch die Türe aus Sicherheitsglas, die das Wohnzimmer vom Garten trennte. Walter Pichlbauer, so hieß Fiedlers drittes Opfer, fiel vor Schreck aus seinem Fernsehsessel. Er rappelte sich auf, drehte sich um und blickte in Gustavs leuchtend grüne Augen. Wieder fiel er vor Schreck, dieses Mal in Ohnmacht. Sein Mordtrieb sagte dem Biest, dass es die Sache rasch zu Ende bringen sollte, doch da der immer noch im Wolf steckende Mensch auf Bargeld aus war, wartete er erst einmal ab.
Als Pichlbauer wieder erwachte, stand Gustav zwei Meter von ihm entfernt in einer Ecke des Raumes. Der Direktor starrte fassungslos auf die Kreatur, dann rang er sich einige wenige Worte ab, um am Leben gelassen zu werden. Der Wolf näherte sich ihm mit langsamen Schritten, und als Walter die Nasenwände der Bestie sah und das Firmenzeichen seiner Bank oberhalb der gierigen Zähne erkannte, da fiel er auf die Knie und betete den Steirerwolf mit der Giebelkreuzschnauze an. Dieser ließ sich davon nicht beeindrucken und packte Pichlbauer mit den Zähnen im Genick und hob ihn hoch.
Mit langen schnellen Sätzen brachte er den Direktor zur Bank und zwang ihn, den Sicherheitscode der Türe einzutippen, indem er mit der Vorderpranke auf das kleine Tastenfeld neben dem Eingang wies und dabei bedrohlich knurrte. Die Türe öffnete sich, und Gustav warf Walter in den Kassenraum. Mit einem Satz war er wieder bei ihm, hob ihn erneut hoch und ließ ihn vor der Türe des Tresorraumes fallen.

Am nächsten Tag machten Gerüchte die Runde im Dorf. Gustav Fiedler wurden diese am Vormittag am Tresen des örtlichen Gasthauses zugetragen. Demnach hatte Walter Pichlbauer vermutlich seine private Schatulle auffüllen wollen. Ansonsten hätte er sich wohl kaum mitten in der Nacht Zutritt zum Safe seiner Bank verschafft. Dort, im begehbaren Tresor, war er nämlich aufgefunden worden. Es war wohl ein riesiger Keiler, der ihn derart zugerichtet hatte. Man fand Haare auf dem Boden, lange schwarze Grannen, wie von einem Wildschwein. Was es dort zu suchen hatte, konnte jedoch niemand erklären. Pichlbauers Leib war von tiefen Wunden übersät, wie von Hauern verursacht. Die Überwachungskamera hatte den Keiler unscharf gefilmt, und die Polizei wollte noch einen erfahrenen Jäger hinzuziehen. Sie war sich nämlich nicht sicher, ob das Ungetüm auf dem Video tatsächlich ein Wildschwein war.

Die Angelegenheit verlief im Sande, wenigstens behördlich, doch nachdem es auch den Besitzer des Sägewerks erwischt hatte, machte sich allmählich Angst unter den Reichen des Dorfes breit.
Kurt Haas hatte er geheißen und hatte grässlich geendet. Er wurde vor seinem Sägewerk gefunden, am Morgen nach der Nacht der grünen Sichel. Die Arme und Beine waren ihm herausgerissen worden, wie auch der Tresor in seinem Büro. Offenbar war der Geldschrank etliche Male zu Boden geschleudert worden, bevor er nach- und das Geld darin freigegeben hatte.
Gustav hatte keine Angst, und bald auch keine Geldsorgen mehr. Er stellte seinen Reichtum nicht zur Schau, kaufte bloß zwei Kühe und drei Hennen. Im Wohnhaus beließ er alles so, wie er es jahrzehntelang gekannt hatte, erneuerte lediglich den Fernseher und das Sofa. Aloisia stiftete der Dorfkirche eine neue Orgel, dies jedoch mit der strengen Auflage, dass niemand den Namen der Stifterin erfahren durfte.

Mit der Zeit wurden Gustav die schmerzhaften Verwandlungen zu kräftezehrend, also beschloss er, dass noch ein letztes Opfer dran glauben musste. In der darauffolgenden Nacht der grünen Sichel würde er einen unbescholtenen Mann in die Schulter beißen, dadurch den Steirerwolf übertragen und dann wäre er frei. So stand es im Buch seiner Ehefrau. Und er wäre nicht bloß frei, sondern auch reich.
Seitdem er der Steirerwolf war, hatte sich Gustav Fiedlers Blick auf das Geld nämlich geändert. Hatte er vor seiner Wolfwerdung mit verachtenswertem Begehren auf Geld geblickt, so tat er dies nunmehr mit begehrlicher Verachtung.

Sein letztes Opfer war Josefa Bohnstingl, die Besitzerin der größten Sattlerei im Umkreis von sechzig Kilometern. Sie führte den Betrieb in der achten Generation und war für ihren Geiz, somit auch für dementsprechenden Reichtum, bekannt. Gustav suchte sie auf und musste erkennen, dass nicht nur Aloisia und er von der Existenz des Steirerwolfs wussten. Die alte Frau empfing ihn in ihrem Bett, eine Schrotflinte hatte sie im Anschlag und drückte ohne Vorwarnung ab. Ein Schrotkorn streifte sein linkes Ohr, ansonsten blieb er unverletzt. Nach einer Schrecksekunde knurrte er böse und sprang zu ihr ins Himmelbett, dessen weiße Laken sich binnen Sekunden rot färbten. Im Keller fand er eine Truhe, voll mit Münzen aus Gold und Silber, und trug diese im Maul in das Wäldchen. Mühsam schleppte er am Morgen nach seiner letzten Untat als Steirerwolf den Schatz zu seinem Haus und teilte Aloisia mit, dass er in der nächsten Nacht der grünen Sichel das Wesen des Wolfs weitergeben würde. Sie umarmte ihn und fragte, an wen er es denn weitergeben würde.
Er wüsste es noch nicht, log er.

Gustav Fiedlers letzte Nacht der grünen Sichel war angebrochen. In den Tagen davor hatte er sich von Fasanen und Rebhühnern ernährt, ein Hundewelpe wurde ihm ebenso zur Nahrung wie ein Wellensittich und ein Kalb, denn er hatte sich vorgenommen, gut genährt in diese Nacht zu gehen.
Kurz vor Mitternacht, die Verwandlung war längst vollzogen, läutete die Glocke der Dorfkirche. Johannes Zirngast, der Pfarrer, schrak aus seinen Träumen auf und lief in sein Bethaus, um zu sehen, was vor sich ging. Dort sah er sogleich den mächtigen Steirerwolf, der von der Kanzel herab abwechselnd heulte und knurrte. Zirngast reckte seine Arme gen Himmel, doch Gott war in dieser Nacht nicht anwesend. Der Wolf sprang, riss den Gottesmann zu Boden und vergrub seine Zähne in dessen Schulter. Dann lief er aus der Kirche.

Aloisia und Gustav Fiedler lebten noch zwölf Jahre lang ein bescheidenes, jedoch nicht armes Leben, bis sie im selben Monat friedlich einschliefen.
Ihr Geld vermachten sie der Dorfkirche, die eine hohe Mauer um das Wohnhaus des Pfarrers errichten ließ, die nach dessen Tod wieder abgetragen wurde.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques |Inventarnummer: 16153

Lama und Eisbär

Die beiden Männer, die im großen Besprechungsraum ihres Unternehmens beisammensaßen, kamen ohne Umschweife zur Sache.
„Du weißt, dass diese Strategiesitzung streng vertraulich ist?““, sagte Walter Schmied.
„Natürlich weiß ich das, Walter“, gab Paul Schuster zurück. „Wenn das, was wir heute zu besprechen haben, an die Öffentlichkeit dringt, werden wir von allen Medien an den Pranger gestellt.“
„Das stimmt leider. Also, den Deal haben wir abgeschlossen. Die Süßwarenfabrik gehört uns.“
„Sehr gut!“, freute sich Paul. „Was hat sie uns gekostet?“
„Einen Pappenstiel, verglichen mit der Summe, die die neuen Produkte dieser Firma in unsere Konzernkasse spülen werden.“
„Und was ist mit den Produkten, die sie bisher produziert hat? Behalten wir die Bonbons in unserem Sortiment?“
„Nein, kein Hahn kräht mehr nach Bonbons!“
„Wann stellen wir die Produktion um?“
„In zwei Wochen ist alles bereit für die neuen Süßigkeiten.“
Paul lachte.

„Wie sieht es mit der Eigentümerstruktur aus? Werden wir verschleiern können, wem die Fabrik gehört?“
„Nein, wenigstens nicht lange. Doch das stellt kein Problem dar.“
„Warum nicht?“, fragte Schuster.
„Weil wir immerhin eine gesündere Alternative zu unseren bisherigen Produkten anbieten.“
„Na ja, gesünder? Die Anti-Fett-Lobby wird sich auf uns einschießen.“
„Natürlich wird sie das. Die Veganer übrigens auch, und auch die Diabetiker werden ihren zuckerfreien Senf dazugeben.“
„Wie werden wir auf die Kritik reagieren?“
„Gar nicht. Es ist schließlich nicht verboten, Süßigkeiten herzustellen.“
„Natürlich nicht“, pflichtete Schuster seinem Vorstandskollegen Schmied bei. „Ich frage mich, wie viel wir mit dem neuen Produkt einnehmen werden.“
„Es wird unseren Konzern auf jeden Fall profitabler machen. Wir holen unsere zukünftigen Kunden bereits in jungen Jahren ab und nehmen sie mit auf eine Reise, die ihr ganzes Leben dauern wird und die von uns begleitet wird.“
„An sich ist der Plan gut. Doch in einer Zeit, in der immer mehr Menschen gegen uns sind, wird es schwer werden, ein positives Image zu generieren.“
„So schwer wird es auch wieder nicht. Wir verkaufen den Kindern Süßigkeiten, und die Älteren, die von unserem Premiumprodukt loskommen möchten, haben die Möglichkeit, auf Süßes umzusteigen. Natürlich mit der gebotenen Vorsicht im Umgang damit.“
Den letzten Satz sagte Schmied in einem Tonfall, der beide zum Lachen brachte.

Er legte zwei Blätter Papier auf den Tisch.
„Sieh dir die Entwürfe an, Paul.“
Paul Schuster betrachtete die Skizzen und grinste.
„Die Markennamen ‘Lama’ und ‘Nord’ sind gut gewählt“, sagte er.
„Das denke ich auch. Ist die die Ähnlichkeit der Schrift aufgefallen?“
„Ja, die ist unverkennbar. Wie wird das Produkt denn aussehen?“
„Das ist der Clou an der Sache!“, rief Walter. „Wie unser Produkt für Erwachsene, nur unschuldiger.“
Er zog zwei Packungen Süßigkeiten hervor und reichte sie Paul.
Dieser öffnete sie und nahm zwei Kaugummizigaretten heraus.
„Es stimmt, sie sehen unschuldig aus.“

Er machte Anstalten, eine der beiden Zigaretten aus dem reinweißen Papier, in das sie gewickelt war, zu schälen, doch sein Kollege hielt ihn davon ab.
„Lass das!“, sagte er.
„Ich werde wohl noch kosten dürfen! Immerhin bin ich im Vorstand.“
„Natürlich darfst du das, doch rate ich dir davon ab. Die Regel, dass wir den Mist, den wir produzieren und verkaufen, nicht selbst konsumieren, gilt auch für unser neuestes Produkt.“
Schuster legte sie Süßigkeiten weg.
„Ich verstehe“, sagte er. „Werden wir das Zuckerzeug denn durch die Kontrollen bringen?“
„Wenn du die Zulassung meinst: selbstverständlich. Alle Auflagen werden peinlich genau eingehalten. Das wäre ein gefundenes Fressen für unsere Gegner und Mitbewerber: Kinderzigaretten herstellen und durch den Zulassungstest fallen!“
„Das Lama sieht niedlich aus“, meinte Schuster. „Der Entwurf der Sorte ‘Nord’ aber gefällt mir nicht. Eine Windrose auf der Packung einer Süßigkeit? Ich glaube nicht, dass Kinder viel damit anfangen können.“
„Was wäre denn besser?“
„Hm, das Produkt heißt ‘Nord’. Ein Eskimo vielleicht? Meine Kinder lieben Eskimos.“
„Ich weiß nicht recht. Ich halte es für problematisch, Menschen abzubilden.“
„Dann einen Eisbären. Alle Kinder mögen Bären.“
„Und was macht der Bär?“
„Er sitzt vor seinem Iglu und blickt glücklich auf die halbvolle Packung ‘Nord’ in seiner Tatze.“
„An dir ist ein Werbefachmann verlorengegangen, Paul“, sagte Walter Schmied anerkennend.
„‘Nord’ sollte Menthol beinhalten, Walter“, fuhr Schuster fort. „Der Absatz unserer Mentholzigaretten ist rückläufig. Da kann es nicht schaden, wenn sich unsere zukünftigen Raucher schon in jungen Jahren an den Geschmack gewöhnen.“
Schmied machte sich ein paar Notizen.

„Und das Lama sollte in der Wüste stehen, vor einer Pyramide.“
„Aber Lamas leben doch – ich verstehe! Ein kleines Kamel vor einer Pyramide. Du bist ein Genie!“
„Nein, das bin ich nicht. Ich denke bloß logisch.“
„Dann kannst du vielleicht auch folgende Frage beantworten: Wie kriegen wir die Kinder, die unsere Kaugummizigaretten konsumieren, dazu, ab ihrem, sagen wir, vierzehnten Lebensjahr, unsere Zigaretten zu rauchen?“
„Wir müssen sie eben begleiten, Walter. Erst mit Maskottchen, dem Lama und dem Bären, die bei Partys auftauchen und Kinderzigaretten verteilen, dann mit Geschenken wie Rucksäcken für die Schule, T-Shirts und coolen Computerspielen.“
„Das ist schön und gut, Paul, und auch teuer. Aber wie machen wir sie zu Rauchern?“
„Werden Kinder nicht von selbst zu solchen?“
„In der heutigen Zeit leider nicht mehr. Die Eltern, die Lehrer, die Medien – alle sind mittlerweile gegen das Rauchen.“
„Das ist mir klar. Lass mich einen Augenblick nachdenken. Es ist doch so: Süßigkeiten machen dick, oder?“
„Ja, und weiter?“
„Rauchen hingegen macht schlank, weil es den Appetit zügelt.“
„Das stimmt. Worauf willst du hinaus, Paul?“
„Wir brauchen ein Vorbild für die Kinder, einen Star. Einen Jungen, der durch den Konsum unserer Kaugummizigaretten immer fetter wird, jedoch ohne allzu hässlich zu werden, es aber trotzdem schafft, berühmt zu werden. Er spielt in einer Fernsehserie mit, und als er in die Pubertät kommt und sich für Mädchen interessiert, will ihn keine haben. Dann verschwindet er für ein paar Monate von der Bildfläche und kehrt schlank zurück, mit einer unserer Zigaretten in der Hand. Er findet eine hübsche Freundin, wird glücklich und bleibt, weil er raucht, schlank.“

Walter Schmied sprang auf.
„Das ist genial, Paul!“, rief er.
„Und das Beste ist: Ich habe einen solchen Jungen bei der Hand!“
„Wer ist er?“
„Mein Neffe. Seine Mutter macht sich nicht viel aus ihm, und mein Bruder braucht ständig Geld.“
„Wie aber machen wir aus deinem fetten Neffen einen Star?“
„Ist diese Frage ernst gemeint, Walter?“
„Ja.“
„Sieh dir einmal unseren Gewinn aus dem letzten Jahr an! Mit den Millionen und Abermillionen wird es uns ein Leichtes, den Bengel zu einem Star zu formen, glaube mir.“
„Dennoch hat dein Plan einen Haken, Paul.“
„Welchen denn?“
„Wir werden von allen möglichen Seiten angegriffen werden. Von der Politik, den Medien, den militanten Nichtrauchern – einfach allen!“
„Das mag sein, Walter. Es ist aber auch so, dass uns all diese Anfeindungen nicht tangieren müssen.“
„Ach ja? Und warum?“
Paul Schuster lachte.
„Das wirst du erkennen, wenn du dir unsere Gewinne anschauen wirst.“

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: Perfidee |Inventarnummer: 16148

In einem kleinen Dorf

Gratwein ist ein kleines Dorf in Österreich. Es ist unweit der steirischen Landeshauptstadt Graz gelegen. Etwa dreitausendfünfhundert Menschen leben in Gratwein, und die haben es in sich.

Oswald Heiner, der ehemalige Gratweiner Künstler, ist einer von ihnen. An einer Universität hat er nie studiert, er hat sich alles selbst beigebracht. Bevor er Künstler wurde, war er Metzger. Das erklärt die Kunst, die er macht. Doch davon später.
Ein weiterer Gratweiner ist Paul Meister. Sein Name passt zu ihm, denn er ist der Bürgermeister. Auch saß er einmal im Vorstand der örtlichen Raiffeisenkasse. Wie Oswald hat auch Paul sich alles selbst beigebracht. Als er kein Bauarbeiter mehr sein wollte, wurde er kriminell. Etliche Diebstähle und drei Jahre im Grazer Gefängnis später wurde er Bürgermeister.
Ein dritter Mann aus Gratwein ist Markus Suppan. Ihm gehört eines der siebzehn Gasthäuser im Ort. Er hat es von seinem Vater übernommen. Sein Lokal ist immer gut besucht, denn viele Gratweiner trinken gerne Bier und Wein. Schnaps trinken sie auch gerne.
Maria Ponisch war die Direktorin der Volksschule. Sie ist mit Gernot verheiratet, dem Dorfpolizisten. Maria besucht oft das Gasthaus von Markus, um Bier zu trinken. Es kommt häufig vor, dass ihr Mann in seiner Uniform neben ihr an der Bar steht. Er trinkt stets Wein und danach Schnaps.

Eines Abends standen die Genannten, ohne den Polizisten, an der Bar und beschlossen, ihr Dorf zu verschönern.
Oswald Heiner, der Künstler, sagte in die Runde: „Gratwein ist kein schönes Dorf! Lasst uns überlegen, wie wir es schöner machen können.“
Der Bürgermeister war sofort Feuer und Flamme. „Das ist eine gute Idee, Oswald! Ich bin schon lange der Ansicht, dass Gratwein zu grau, zu farblos ist.“
Maria Ponisch sagte: „Dann erschaffe ein Kunstwerk, Oswald. Du bist doch der Künstler hier.“

Der Angesprochene dachte einige Sekunden lang nach und sagte dann: „Das kostet aber Geld. Meine Kunstwerke sind nicht billig.“
Paul Meister nahm einen großen Schluck von seinem Bier und lachte. „Geld ist kein Problem. Ich bin im Vorstand der Bank. Sag mir einfach, wie viel du haben willst.“
Oswald Heiner wiegte seinen Kopf hin und her. Er gab sich den Anschein, dass er nachdachte und rechnete. „Achtzigtausend Euro“, sagte er schließlich.
Markus Suppan, der Wirt, warf ein: „Aber du hast uns ja noch gar nicht gesagt, was für ein Kunstwerk du erschaffen willst!“
„Ein wahres Meisterwerk wird das“, sagte der Künstler.
„Na, da bin ich aber gespannt!“, meinte Maria Ponisch. „Von dir habe ich noch nichts gesehen, das diese Bezeichnung verdient.“
„Lass dich überraschen“, gab Oswald zurück.

Auch wenn sich Oswald Heiner als Künstler sah und bezeichnete – er war immer noch ein Metzger. Er erschuf nämlich Kunstwerke aus Tieren.
Nach dem Tod seiner Eltern hatte er die Fleischerei verkauft, um sich ganz der Kunst widmen zu können. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten hatte er es geschafft. Im kleinen Rahmen wenigstens. Im Turnsaal der Hauptschule des Nachbarortes Gratkorn wurden seine Werke ausgestellt. Zwar nur für eine Woche, aber immerhin. Gegen Ende dieser Woche hatten sie sich nämlich aufzulösen begonnen. Oswald hatte versehentlich seine Ortsansichten von Gratwein in Essig eingelegt und nicht in Alkohol. Und da sie aus Fleisch gemacht worden waren, lösten sie sich eben auf.
Diesen peinlichen Fehler machte er kein zweites Mal. Er hatte angefangen, Tiere in Alkohol einzulegen, und zwar ganze Tiere. Und der Plan ging auf. Im ersten Jahr seiner Karriere als Künstler konnte er ganze drei Kunstwerke verkaufen. Immerhin.
Erst hatte er Kühe und Schweine eingelegt, doch bald tat er dies auch mit Hühnern und Fischen. Er nahm auch Aufträge an. Wollte ein Kunde bloß eine halbe Kuh in seinem Wohnzimmer stehen haben, so bekam er sie auch. Als Metzger war das Halbieren der Tiere kein Problem für Oswald Heiner.

Im Laufe der Jahre wurde er erfolgreich. Seine Werke wurden von den Kunstkritikern zwar nicht beachtet, doch in vielen Gratweiner Häusern wurden sie geliebt. Besonders seine eingelegten Fische, wie Hechte oder Karpfen, wurden oft bestellt. Diese Objekte waren klein und nicht allzu teuer. Es kam häufig vor, dass Männer Karpfen bei Oswald in Auftrag gaben. Wahrscheinlich um sich bei ihren Frauen für deren Kochkünste zu bedanken. Oder als Wink mit dem Zaunpfahl. Um sie nämlich darauf aufmerksam zu machen, dass viel zu selten Karpfen auf dem Tisch stand.
Egal – Oswald Heiner war auf dem besten Weg, ein großer Gratweiner Künstler zu werden. Wenn nicht sogar der größte.

Und da kam ihm der Auftrag, das Dorf zu verschönern, gerade recht. Er freute sich sogar so sehr darüber, dass er die Anwesenden auf Schnaps einlud.
„Brauchst du Material für dein Kunstwerk?“, fragte Paul Meister.
„Ja, das brauche ich. Ich brauche ein Huhn, aber ein großes.“
„Dann geh zu einem Bauern und kaufe eines“, sagte Maria Ponisch und leerte ihr Schnapsglas.
„Nein, Maria, ich erledige das“, sagte Meister und grinste.
Alle im Raum lachten, denn sie wussten, wie das zu verstehen war. Bevor Paul nämlich Bürgermeister von Gratwein wurde und bei Raiffeisen anfangen durfte, war er ein berüchtigter Hühnerdieb. Und ein sehr erfolgreicher noch dazu. Bis er erwischt und ins Gefängnis gesperrt wurde.

„Was brauchst du noch?“, fragte Markus Suppan.
„Einen Ziegenbock. Aber einen schwarzen!“
„Wer in der Umgebung hat noch Ziegen?“, fragte Maria.
„Gustav Herbst hat noch welche. Aber ob er auch schwarze hat, weiß ich nicht“, murmelte der Wirt.
„Dann nimm einen weißen Ziegenbock und bemale ihn mit schwarzer Farbe“, schlug Paul vor.
„Genau! Du bist schließlich Künstler“, sagte Maria.
„Ja, das bin ich“, gab Oswald zurück. „Ich werde den Bock selbst bemalen. Markus, noch eine Runde Schnaps, bitte!“
Sie hoben ihre Gläser, stießen an und tranken sie aus. In Gratwein ist es nämlich Brauch, mit Schnapsgläsern anzustoßen. Besonders oft wird an Dienstagen angestoßen. Und jener Tag war ein Dienstag.

„Brauchst du noch weitere Tiere?“, fragte Paul.
„Ja. Ein Wildschwein. Einen großen Keiler.“
„Sag, Oswald, was für ein Kunstwerk wirst du für Gratwein erschaffen?“, fragte Maria Ponisch.
„Ein Meisterwerk, wie ich schon gesagt habe.“
„Das Wildschwein stellt kein Problem dar“, sagte Meister.
„Stiehlst du eines?“, fragte Oswald, und alle lachten.
„Nein“, sagte Paul. „Meine Bank besitzt ein Gehege mit über fünfzig Wildschweinen.“
„Wofür züchtet ihr die?“, fragte Maria.
„Ach, ich und meine Vorstandskollegen lieben die Jagd.“
„Im Gehege?“, fragte sie.
„Ja. Dort ist die Trefferquote höher.“

„Waren das jetzt alle Tiere?“, fragte die Schuldirektorin und bestellte eine Runde Schnaps.
„Nein, bis jetzt habe ich erst drei. Ich brauche aber vier.“
„Was brauchst du noch?“, fragte Markus.
„Eine schwarze Katze wäre gut.“
„Nein, sicherlich nicht!“, protestierte Paul. „Wenn du eine Katze in Alkohol einlegst, halten alle Leute uns Gratweiner für Barbaren!“
„Eine Katze geht wirklich nicht, Oswald!“, pflichtete Maria dem Bürgermeister bei.
„Ein Hund scheidet dann wohl auch aus“, murmelte Oswald.
„Bist du verrückt?“, rief Maria. „Willst du unser Dorf zum Gespött der Steiermark machen?“
Oswald Heiner dachte einige Sekunden lang nach und sagte lächelnd: „Nein, natürlich nicht.“

„Also, Oswald, welches Tier brauchst du noch?“
„Eine Eule wäre gut. Am besten ein Uhu.“
„Eulen sind streng geschützt“, sagte Paul.
„Wie wäre es mit einer Krähe?“, fragte Maria.
„Nein, eine Krähe kommt mir nicht in mein Meisterwerk!“, rief Oswald entrüstet.
„Eine Gans vielleicht?“, schlug Markus vor und füllte die Gläser wieder voll.
„Eine Gans? Das ist eine sehr gute Idee“, sagte der Künstler mit zufriedener Miene. „Aber woher bekomme ich eine Gans?“
Paul Meister deutete mit dem Zeigefinger auf seine eigene Brust und meinte: „Um die Gans kümmere ich mich auch.“
„Dann wirst du aber einen großen Sack brauchen, Paul“, sagte Maria. „Wenn du in der Nacht in den Geflügelhof des Bauern Huber einbrichst.“
„Ich habe noch einen solchen im Keller“, sagte Paul. „Aus den alten Zeiten.“
Alle lachten und stießen an.

„Somit steht der Erschaffung meines Meisterwerks nicht mehr im Wege“, sagte Oswald heiter.
„In drei Tagen bekommst du die Tiere“, sagte Paul.
„Wie lange wird es dauern, bis du dein Werk vollendet haben wirst?“, fragte Maria.
„Das hängt davon ab, ob ich so viel Alkohol in kurzer Zeit bekomme. Das Meisterwerk wird nämlich ziemlich groß werden.“
Martin Suppan, der Wirt, stellte lachend eine volle Flasche Schnaps auf die Theke. „Die geht aufs Haus! Damit du erkennst, dass es in Gratwein immer genug Alkohol gibt.“
Alle lachten, Paul füllte die Gläser, und sie tranken.
„Nein, im Ernst“, sagte Oswald. „In etwa einer Woche bin ich damit fertig.“
„Und wo stellen wir das Kunstwerk hin?“, fragte Markus.
„Zwei Herzen schlagen nun in meiner Brust!“, rief Paul Meister. „Entweder vor dem Gemeindeamt oder vor der Raiffeisenkasse.“
„Paul, du musst entscheiden, welches Gebäude wichtiger für Gratwein ist“, sagte der Wirt.
Paul Meisters Antwort kam prompt: „Natürlich die Bank!“
Wieder lachten alle.

Zwei Wochen später war Oswald Heiners Meisterwerk fertig. In einem riesigen Behälter aus Panzerglas waren die vier Tiere in Alkohol eingelegt. Die Gans stand mit ausgebreiteten Flügeln auf dem Wildschwein. Und das Huhn hatte sich auf dem schwarz bemalten Ziegenbock niedergelassen. Am oberen Rand des Kunstwerks stand in goldenen Buchstaben geschrieben: ‘Oswald Heiner, Gratweiner Bestien, 2012’.
Die Enthüllung des Meisterwerks war groß angekündigt worden. Sogar die steirische Tageszeitung hatte einen Journalisten und einen Fotografen geschickt.
Etwa zweitausend Gratweiner waren gekommen, der Platz vor der Bank war voll.

Als Bürgermeister Paul Meister das Werk enthüllte, ging ein Raunen durch die Menge. Sogar junge Menschen nahmen ihre Brillen ab und reinigten deren Gläser. Sie konnten einfach nicht glauben, was sie da sahen.
Einige brachen in schallendes Gelächter aus. Eine alte Frau begann zu weinen.
„Von dieser Schande wird sich Gratwein nie erholen!“, schluchzte sie.
Der Apotheker des Dorfes, ein wichtiger Mann, begann mit Oswald Heiner zu brüllen. Der Künstler verstand die Welt nicht mehr.
Der Journalist stellte ihm ein paar Fragen zu dem Meisterwerk. Und nachdem der Fotograf die Bestien von allen Seiten fotografiert hatte, hielt er sich den Bauch vor Lachen.
Die Zeitung brachte ein Foto von Oswalds Werk auf der Titelseite. Die Schlagzeile lautete: ‘In Gratwein ertrinken nun auch Tiere im Alkohol!’
Unter dem Foto war ein kurzer Text zu lesen. ‘Der stolze ‘Künstler’ Oswald Heiner vor seinem ‘Meisterwerk’. Daneben steht eine alte Frau und weint! Ist das wirklich Kunst?’

Zwei Wochen nach der Enthüllung hatte sich ein Komitee in Gratwein gebildet. Es forderte im Namen von über zweitausend Unterstützern die sofortige Entfernung der Bestien. Paul Meister versuchte, die Wogen zu glätten. Er ließ die Schrift am oberen Rand ergänzen. Und zwar um ‘Eigentum der Raiffeisenkasse Gratwein’. Das beschwichtigte die Gegner des Meisterwerks jedoch bloß für wenige Tage.
Ein Einwohner Gratweins drohte telefonisch gar damit, das Werk in die Luft zu sprengen. Da wurde es dem Bürgermeister dann doch zu viel. Das Eigentum seiner Bank durfte einfach nicht angetastet werden. Er ließ es bekleben.
Der Würfel steht immer noch auf dem Platz vor der Bank. Sein Inhalt wird von schwarz-gelben Folien vor Blicken geschützt. ‘Raiffeisen – so eine Bank!’ ist darauf zu lesen. In Gratwein nennt man den Würfel mittlerweile ‘Wespenstich’. Vermutlich weil Wespen ebenfalls schwarz-gelb sind. Und weil sie Schmerzen verursachen, wenn man ihnen zu nahe kommt.

Was wurde aus den an diesem Skandal beteiligten Personen?
Nun, Maria Ponisch ist nicht mehr Direktorin der Volksschule. Sie wurde in den Landesschulrat berufen, und zwar an eine verantwortungsvolle Stelle. Heute ist sie Inspektorin für Volksschulen. Und steht noch öfter mit ihrem Ehemann, dem Polizisten, an Markus Suppans Bar.
Paul Meister ist immer noch der Bürgermeister von Gratwein. Die letzten Gemeinderatswahlen hat er knapp gewonnen. Er arbeitet auch noch immer für Raiffeisen, jedoch nicht mehr als Vorstand der Gratweiner Kasse. Eine interne Prüfung hatte einen Fehlbetrag in Höhe von achtzigtausend Euro ans Tageslicht gebracht. Man fand eine Lösung für die Sache. Das fehlende Geld wurde einfach von der Raiffeisenbank Graz überwiesen. Als Dank für diese selbstlose Geste durfte die Bank Paul Meister in ihre Dienste nehmen. Heute sitzt er in einem kleinen Büro in Graz und beantwortet die Briefe unzufriedener Kunden. Dass ein Wildschwein offenbar aus dem Gehege entkommen war, wurde ihm nicht zur Last gelegt.
Markus Suppan steht immer noch jeden Tag in seinem Gasthaus. Seitdem er Alkohol ausschenkt, ohne nach den Ausweisen offenkundig noch sehr junger Menschen zu fragen, läuft es noch besser für ihn. Er kann es sich mittlerweile sogar leisten, die Gratweiner Kinderfußballmannschaft zu sponsern. Auf den Dressen steht: ‘Komm in Suppans Gasthaus – deine Eltern sind schon dort!’

Und Oswald Heiner wurde der Assistent eines wirklichen Künstlers. Nach dem Gratweiner Skandal hatten viele Menschen ihre Kunstwerke von Oswald zurückgegeben. Einige nicht einmal von Angesicht zu Angesicht. Sie warfen sie einfach auf Oswalds Grundstück und fuhren schnell weg. Vergebens hatte er versucht, in Gratwein eine Arbeit zu finden, denn als Künstler wurde er nicht einmal mehr in diesem Dorf wahrgenommen. Niemand wollte ihn einstellen. Auf der Straße wurde er verspottet. Und als ob das nicht schon genug gewesen wäre, erteilte ihm Markus Suppan auch noch Lokalverbot. Dies war der Wunsch einiger Stammgäste gewesen. Er zog nach Graz, doch auch dort wurde er erkannt und auf der Straße ausgelacht. So sah er sich gezwungen, die Steiermark zu verlassen.
Und dennoch geht es Oswald Heiner heute weit besser als den anderen Beteiligten. Ein bekannter und steinreich gewordener britischer Künstler hatte von Oswalds Schicksal erfahren. Dieser Brite macht ein Vermögen mit eingelegten Tieren. Aus Solidarität gab er dem Künstler Oswald Heiner eine Stelle in seiner Werkstätte und entlohnt ihn bis heute fürstlich. Nie im Leben hätte es sich Oswald träumen lassen, einmal mit Haien arbeiten zu dürfen.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schaun |Inventarnummer: 16147

Barbara

Vor drei Tagen stand ich am Rande des Bächleins, das neben meinem Elternhaus fließt und die Grenze zwischen zwei Äckern bildet. Seit ich denken kann, also seit etwa fünfunddreißig Jahren, fließt es dort vor sich hin, ruhig, seicht und unbegradigt. Ich starrte auf die Oberfläche des Wassers und dachte an Barbara.
Sie war mit mir aufgewachsen und hatte in ihrem Leben, das nach nur dreißig Jahren geendet hatte, nie Glück gehabt. Ihr Elternhaus liegt bloß zweihundert Meter von meinem entfernt, und doch liegen Welten dazwischen.

Ich entstamme einer wohlhabenden Familie. Meine um zwei Jahre ältere Schwester und ich hatten alles, was wir uns wünschten. Ich gebe zu, dass wir damals die größte Freude an Sachen hatten, die wir uns eben leisten konnten. Heute jedoch weiß ich, dass das Wertvollste, was wir erhalten hatten, die Liebe unserer Eltern und der Zugang zur Bildung waren. Meine Schwester ist Ärztin, und ich verteidige Menschen vor Gericht, deren Leben aus welchen Gründen auch immer aus dem Ruder gelaufen sind.

Barbara wuchs in einem Elternhaus auf, in welchem es an allem fehlte. Zuneigung, Liebe und Verständnis erfuhr sie nie von ihren Eltern. Ihr Vater war ein Trinker der schlimmsten Sorte, der seine Frau und sein einziges Kind schlug, wenn er betrunken war. Barbaras Mutter war eine erzkatholische Frau, die ihre Tochter züchtigte, sobald sie auch nur den leisesten Verdacht hatte, dass diese etwas getan oder gedacht haben könnte, was im Widerspruch zur strengen Auslegung der Bibel gestanden hätte.

Wenn ich an die Zustände denke, die in Barbaras Familie geherrscht haben, so wundere ich mich noch heute, dass sie sich zu einem derart sanftmütigen und liebenswerten Menschen entwickelt hat, wie sie einer war.

Bevor wir in die selbe Klasse in der Volksschule kamen, hatten wir losen Kontakt zueinander. Wir spielten ein paarmal auf der großen Wiese, die noch immer zwischen unseren Elternhäusern liegt, Abfangen und Fußball. Ihrer Mutter war es gar nicht recht, dass ihre Tochter mit einem Buben spielte, doch ließ sie dies zu jener Zeit noch zu.
In der Volksschule saßen wir nebeneinander. Wir lernten gut und wollten auch an den Nachmittagen Zeit miteinander verbringen, doch ihre Mutter erlaubte das nicht mehr.
Zu dieser Zeit begann Barbaras aufgezwungene Isolation.
Ich sah sie zwar im Unterricht, doch nach der Schule wurde sie von ihrer Mutter abgeholt und nach Hause gefahren. Keinem in der Klasse, auch der Lehrerin nicht, blieben die blauen Flecken verborgen, die Barbara auf den Armen trug, doch fand es nicht einmal die Lehrerin der Mühe wert, auf diese Schandmale einer lieblosen Erziehung zu reagieren.

Heute weiß ich, dass sie nicht das einzige Kind war, das geschlagen wurde. Damals, vor über dreißig Jahren, wurden Züchtigungen in kleinen Dörfern noch übersehen, selbst wenn ihre Spuren unübersehbar waren.
Gerüchte hatten die Runde gemacht, über die Trunksucht von Barbaras Vater und die Strenge ihrer Mutter, doch war es für alle Menschen im Dorf bequemer zu reden als zu handeln.

Nach der Volksschule besuchte ich das Gymnasium im Nachbarort, während Barbara auf die örtliche Hauptschule geschickt wurde. Ich weiß nicht allzu viel über diese vier Jahre in ihrem Leben, denn ich war in ein neues Umfeld gekommen und außerdem sehr mit Lernen beschäftigt. An den Nachmittagen traf ich mich mit Klassenkameraden zum Fußballspielen oder Angeln, und so verlor ich Barbara aus den Augen, ohne dies gewollt zu haben.
Nachdem sie die Hauptschule abgeschlossen hatte, begann sie eine Friseurinnenlehre im einzigen Frisiersalon unseres Dorfes. Ich war damals bereits Kunde dort, also hatten wir wieder etwas mehr Kontakt zueinander. Ich besuchte den Salon etwa alle zwei Wochen und ließ mir von ihr die Haare schneiden.
Über Privates unterhielten wir uns dabei kaum. Einmal fragte ich sie, ob sie mich auf eine Party begleiten wollte, doch sie sagte mir seufzend ab. Ihre Mutter hatte ihr verboten, Feste zu besuchen.
Nach ihrem Lehrabschluss änderte sich Barbaras Situation. Ihr Vater war an einer Leberzirrhose gestorben und ihre Mutter, die gezwungen war, einer Arbeit nachzugehen, um das Haus erhalten zu können, hatte weniger Zeit, sie mit Argusaugen zu überwachen.

Eines Tages zog Barbara aus ihrem Elternhaus aus und mietete eine Wohnung unweit des Gemeindeamtes. Sie hatte einen Mann kennengelernt und zog mit ihm dort ein.
Dieser Mann war, wie ihr Vater, ein Trinker, der zur Gewalttätigkeit neigte. Die Nachbarn des Paares beschwerten sich bald über lautstarke nächtliche Auseinandersetzungen, und so kam es heraus, dass Barbara auch von ihrem Freund geschlagen wurde.

Als ich sie eines Abends zufällig in einem Gasthaus traf, lud ich sie auf ein paar Gläser Wein ein und hörte ihr zu. Heute bin ich mir sicher, dass ich der erste Mensch war, der ihr zugehört hat.
Sie erzählte mir von den Zuständen in ihrem Elternhaus. Wie schlimm diese wirklich gewesen waren, hätte ich mir niemals träumen lassen. Barbara sprach über ihre Mutter, die sie in ihrem religiösen Wahn immer noch terrorisierte, und über ihren Freund, der ihrem Vater in puncto Gewaltbereitschaft um nichts nachstand. Ich war schockiert über das Ausmaß an Leid, das diese Frau ertragen musste, doch auch fasziniert über die Worte, mit welchen sie all das Schreckliche schilderte. In ihren Ausführungen lag keine Bitterkeit, kein Zorn und auch kein Selbstmitleid. Sie beschrieb in warmen Worten, was sich in ihrem Leben zugetragen hatte und immer noch zutrug. Ihre Sicht auf die Menschen, die ihr all das angetan hatten und antaten, war, so seltsam es klingen mag, menschlich. Sie sah sie nicht als Scheusale, sondern als Menschen.
Ich bot ihr meine Hilfe an, doch sie lehnte dankend ab.

Eines Tages jedoch wurde es auch Barbara zu viel. Sie warf ihren Freund aus der Wohnung und begann selbst zu trinken.
Ich weiß nicht ob es die Einsamkeit war, die sie zur Flasche greifen ließ, oder ob sie durch die Gene ihres Vaters ohnehin vorbelastet und gefährdet war. Jedenfalls konnte Barbara nicht mehr mit dem Trinken aufhören. Sie hatte im Alter von sechsundzwanzig Jahren massiv zu trinken begonnen und mit dreißig damit aufgehört.
Es ist keineswegs zynisch von mir zu sagen, dass sie mit dreißig Jahren den Alkohol hat bleiben lassen, obgleich ich eingangs erwähnt habe, dass ihr Leben in diesem Alter geendet hat.
So traurig das ist, es war eben so.

Barbara brachte es eine Zeitlang fertig, ihrer Arbeit nachzugehen, obwohl sie trank, doch irgendwann war es damit vorbei. Sie verlor ihren Job und trank nur noch. Sie verbrachte Tage und Wochen in ihrer abgedunkelten Wohnung und verließ diese nur, um Schnaps und Fertiggerichte zu kaufen.
In dieser Zeit wollte ich sie zweimal besuchen, doch sie öffnete ihre Türe nicht. Sie fragte zwar leise, wer davor stand, doch so bald ich meinen Namen nannte, rührte sich dahinter nichts mehr. Ich vermute, dass es nicht an meiner Person gelegen hat. Ganz gleich welchen Namen Barbara gehört hätte, sie hätte nicht aufgemacht.

Niemandem im Dorf blieb verborgen, was mit ihr los war. Wenn sie mit ungewaschenen Haaren in den Supermarkt kam und Schnaps kaufte, wandten sich die Leute ab. Ihre Mutter ließ jeden, der dies hören wollte, wissen, wie sehr sie sich für ihre gottlose Tochter schämte und dass diese in der Hölle enden würde.
Ich weiß nicht, ob Barbara die Äußerungen ihrer eigenen Mutter zu Ohren gekommen waren. Eines weiß ich jedoch sicher: Die Hölle, die von der katholischen Kirche als das Schrecklichste alles Vorstellbaren bezeichnet wird, diese Hölle ist ein Paradies, verglichen mit der Hölle, in welcher Barbara zu leben gezwungen war.

Im Alter von dreißig Jahren starb Barbara und wurde auf dem Dorffriedhof beerdigt. Ihre Mutter war der Beisetzung ferngeblieben und hatte sich auch geweigert, ihre Tochter dort ruhen zu lassen, wo ihr Vater lag.
Barbara hatte kein Geld hinterlassen, somit stand die Frage im Raum, wer für das Grab aufkommen würde. Ein Mitglied des Gemeinderates ging von Haus zu Haus, um Spenden für Barbaras Grab zu sammeln. Da ich von meinen Großeltern nicht wenig Geld geerbt hatte, erklärte ich mich bereit, für die Kosten ihres Grabsteins aufzukommen.
Ich verzichtete darauf, ein Kreuz in diesen meißeln zu lassen, denn Barbara hatte die Kirche gehasst. Stattdessen ließ ich ein Zahnrad in den Stein einarbeiten. Es symbolisiert, dass es oft die kleinen Räder sind, an welchen von anderen Menschen gedreht wird, die ein Leben gelingen lassen oder eben nicht.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig |Inventarnummer: 16146

Mein Weg zum Schreiben

Ich bin Schriftsteller, nicht Künstler, denn ich erachte die Schriftstellerei nicht als Kunst, vielmehr stehe ich auf dem Standpunkt, dass sie eine Notwendigkeit für den schreibenden Menschen darstellt, beispielsweise um seinen Standort kundzutun, um mitzuteilen, wo er innerlich zu verorten ist, oder um sich, wie man sagt, Dinge von der Seele zu schreiben.

Ich bin allerdings kein geborener Schriftsteller, denn lange Jahre war ich Künstler, und zwar ein großer Maler und Objektkünstler. Ich hatte jedoch keinen Erfolg mit meiner Kunst, habe bloß ein einziges Kunstwerk an den Mann bringen können, oder vielmehr an die Frau, denn meine Mutter war so freundlich, mir dieses für eine wahre Unsumme abzukaufen. Sie sagte damals zu mir: “Michael! Dein Kunstwerk ist höchst grässlich, dennoch kaufe ich es dir für fünfzehn Millionen Euro ab, denn in den vergangenen leidvollen Jahren musste ich erkennen, dass du wohl nur im Bereich der Literatur tätig sein kannst. Ich zahle so viel Geld, damit du nicht darauf angewiesen bist, eine Arbeit anzunehmen, wie als normal zu bezeichnende Menschen sie verrichten. Ich möchte es nämlich nicht erleben, dich im Gefängnis besuchen zu müssen.”

Es ist nicht so, dass ich eine künstlerische Ausbildung genossen hätte. Nachdem ich maturiert hatte, bewarb ich mich an zwei Kunstuniversitäten in Wien. Ich verzichtete darauf, eine Mappe mit Werken von mir einzureichen, vielmehr beschrieb ich detailliert, welche Kunstwerke ich zu erschaffen gedachte. Nun, ich wurde abgelehnt.

Der Rektor der einen Universität sprach sogar in der palastartigen Behausung meiner Familie vor, um meiner Mutter zu sagen: “Frau Timoschek, Ihr Sohn ist verrückt! Bitte sperren Sie ihn in Ihrem Park ein und lassen Sie ihn um Himmels willen nicht entkommen!” Meine Mutter antwortete: “Glauben Sie mir, das weiß ich. Ich habe bereits versucht, ihn einzusperren, doch jedes Mal hat er es fertiggebracht, die Mauer zu überwinden.” Kopfschüttelnd verließ der Rektor den Wohnsaal meiner Familie und murmelte dabei: “So was! Dieser Timoschek ist völlig übergeschnappt!” Ich war entmutigt, doch hoffte ich zu diesem Zeitpunkt noch auf eine positive Antwort der zweiten Universität.

Nun, ich wurde eingeladen, persönlich dort vorzusprechen. In freudiger Erwartung betrat ich den großen Hörsaal, in welchem sich sämtliche Professoren und Assistenten versammelt hatten. Der Vizerektor kam auf mich zu, nahm mich an der Hand und führte mich in die Mitte des Saales. Dann rief er: “Werte Kolleginnen, werte Kollegen, dieser Mensch hier ist Michael Timoschek!” Aller Augen waren auf mich gerichtet. Ein paar Professoren brachen in schallendes Gelächter aus, doch die meisten musterten mich auf die selbe Art und Weise, wie sie vermutlich eine moderne Skulptur betrachteten, jedoch wagte niemand, mich anzusprechen. Bis auf den Vizerektor. Bevor er mir für alle Zeit verbot, auch nur einen Fuß auf das Gelände der Universität zu setzen, überreichte er mir ein Blatt Papier, auf welchem eine Adresse vermerkt war. Tief getroffen ob der eben erfahrenen Ablehnung, fuhr ich sogleich zu dieser Adresse, die sich als Anschrift der örtlichen Irrenanstalt entpuppte. Ich fuhr wieder nach Hause.

Ich war sehr verletzt, dennoch verlor ich nicht den Mut. Ich beschloss, meine große Künstlerkarriere als Autodidakt anzugehen. Für mein erstes Kunstwerk besorgte ich mir vier Fische. Einen Karpfen, einen Wels, eine Forelle und einen Hecht. Diese Fische ordnete ich so an, dass die Forelle in die Schwanzflosse des Hechts biss und gleichzeitig vom Wels gebissen wurde, in dessen Schwanzflosse der alles verschlingende Karpfen biss. In den Behälter, es handelte sich um ein außer Dienst gestelltes Aquarium, in dem mein Werk stand, goss ich Formaldehyd. Ich gab dem Objekt den Namen ‘Die Unersättlichkeit des Karpfens’. Stolz auf mein Kunstwerk, lief ich sogleich zu meinen Eltern und führte sie in den Teil ihrer geräumigen Garage, in dem ich es erschaffen hatte. Ich zog das Tuch vom Aquarium und erwartete die Reaktion meiner Eltern. Mein Vater stand vor meinem Kunstwerk und schwieg. Er betrachtete es mit großen Augen, er nahm seine Brille ab und putzte deren Gläser, dann blickte er wieder auf meine Kunst. Er wandte sich um, sah mir in die Augen und fragte: “Was ist das, Michael?” Bevor ich antworten konnte, begann er zu brüllen: “Was zur Hölle ist das? Ich hatte es ja schon immer vermutet, aber das ist der Beweis!” Dann lief er aus der Garage. Ich war verstört, also fragte ich meine Mutter: “Meint Vater den Beweis, dass ich ein großer Künstler bin?” Meine Mutter sah erst auf mein Werk, dann in meine Augen und schlug die Hände über ihrem Kopf zusammen. “Nein, Michael. Vater meint damit, dass du verrückt bist. Und, ehrlich gesagt, bist du wirklich übergeschnappt. Weißt du, Michael, wenn du wenigstens auf das Formaldehyd verzichtet hättest, dann könnte ich die Fische kochen. Aber so …” Dann verließ auch sie die Garage.

Ich war, das spreche ich offen aus, entmutigt. Es ging mir wirklich schlecht. So schlecht, dass am Tag darauf meine, wie ich sie nenne, ‘Schwarze Periode’ begann. Ich kaufte dreißig Leinwände und bemalte sie mit schwarzer Farbe. Ich hängte die Bilder dieser Serie in mein Schlafzimmer, doch bereits nach drei Tagen waren sie mir nicht mehr dunkel genug, also nahm ich sie ab und übte mich in der hohen Kunst der Übermalung, indem ich sie mit schwarzer Farbe übermalte. Danach waren sie perfekt. Meine Eltern meinten, sie würden mein fürwahr großes Genie aus den Bildern dieser Serie hell herausleuchten sehen, was mich sehr freute. Mein Vater bat mich, ihm diese Bilder als Leihgabe zu überlassen, was ich natürlich gerne machte. Ich denke, sie befinden sich immer noch im hinteren Bereich des großen Kellers meiner Eltern, gegen Staub geschützt von einem ausrangierten Tischtennistisch.

Meine Großmutter, die damals noch lebte, wollte mein, wie sie es nannte, Abbildungsgeschick testen und bat mich, sie möglichst lebensecht zu porträtieren. Da ich zu dieser Zeit ein großer Künstler war, lehnte ich es selbstverständlich ab, sie auf gewöhnliche Weise einfach abzumalen. Außerdem wollte ich sie überraschen, denn das Porträt sollte in der Nacht enthüllt werden, in der ein großer Ball mit vielen prominenten Gästen im Wohnsaal meiner Eltern stattfand. Ich legte mich mächtig ins Zeug. Nachdem mich Schlüssellöcher schon immer interessiert hatten, fiel es mir leicht, jenes ausfindig zu machen, dass sich in der Türe des Badezimmers meiner Großmutter befand. Der Ball, eine überaus gediegene Veranstaltung, befand sich auf seinem Höhepunkt, als mein Vater seinen Gästen verkündete: “Werte Ballgäste, mein Sohn Michael, er ist Künstler, hat ein Porträt meiner Mutter gemalt. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass meine liebe Mutter es nun enthüllen wird.” Unter tosendem Applaus schritt meine Großmutter, mit mir an ihrer Seite, vor das Kunstwerk und enthüllte es. Als die Gäste das riesige Bild sahen, verebbte der Applaus und Schweigen machte sich im Saal breit. Mein Vater brachte seiner Mutter ein Glas Cognac. “Trink das, liebe Mutter”, sagte er, “du bist einer Ohnmacht nahe.” Meine Großmutter nahm einen ordentlichen Schluck, und bald wankte sie wirklich nicht mehr. Die einzigen Geräusche im Saal waren nun das Knirschen der Zähne meines Vaters und der empörte Ausruf “Michael!” meiner Mutter. Das Bild zeigte eine nackte alte Frau vor dem Spiegel eines Badezimmers. Da meine Großmutter auf einer möglichst lebensechten Darstellung bestanden hatte, war die Frau auf meinem Kunstwerk mit allen Attributen einer nackten Achtundneunzigjährigen versehen. In ihrer rechten Hand hielt sie eine vollständige Zahnprothese, ihre linke Hand hielt ein imaginäres Mikrofon und aus ihrem zahnlosen Mund kamen die Worte ‘Der Tag für Brot und Freiheit bricht an’, anschaulich gemacht durch eine große Sprechblase. Ein Raunen ging durch den Saal, meine Mutter sah mich an, als ob sie endlich die Größe meines Genies erkannt hätte, meine Großmutter verließ mit schnellen Schritten den Saal, und mein Vater hing mein Kunstwerk ab und warf es aus dem Fenster.

Am nächsten Morgen baten mich meine Eltern, das Malen bleiben zu lassen. “Michael”, meinte meine Mutter “warum versuchst du es nicht mit Skulpturen aus Stein, also mit der Bildhauerei?” “Mutter hat recht”, sagte mein Vater. “Großmutter hat sich wieder beruhigt, also vergessen wir den Vorfall. Aber nun ist es an der Zeit für dich zu erkennen, dass die Malerei einfach nicht deinem riesigen Genie angemessen ist.” Das leuchtete mir ein.

Ich besorgte mit einen riesigen Block besten weißen Marmors und begann sogleich mit der Arbeit an diesem schwierigen Material. Ich bohrte, meißelte, schliff und schnitt, und am Ende polierte ich. Mein künstlerisches Konzept war, eine Säule zu erschaffen, die mein Elternhaus um mindestens acht Meter überragen würde. Sie sollte wie ein riesiger Spargel vor diesem stehen, um der ganzen Stadt mein Genie vor Augen zu führen. Da ich Vögel sehr liebe, hatte ich im obersten Teil der Säule einen Wulst geschaffen, auf welchen diese Tiere nisten konnten. Mit einem eigens angeschafften Kran ließ ich das Kunstwerk aufrichten. Meinen Eltern gefiel die Säule sehr, wenigstens aus der Nähe. Mein Vater hatte einen Termin in der Innenstadt. “Michael”, sagte meine Mutter, “endlich hast Du ein vernünftiges Kunstwerk erschaffen.” Ich war sehr erfreut. Zwei Stunden später kam mein Vater zurück. Er warf mir einen wütenden Blick zu, flüsterte meiner Mutter etwas ins Ohr und fuhr mit ihr davon. Eine halbe Stunde später sah ich die Limousine meines Vaters wieder vorfahren. Meine Mutter sprang aus dieser, rannte auf mich zu und brüllte: “Michael! Du hast uns in der ganzen Stadt lächerlich gemacht! Dein Kunstwerk sieht aus wie ein … wie ein … ich kann es gar nicht aussprechen!” Mein Vater las meiner Mutter eine eben eingegangene Nachricht vor: ‘Glückwunsch, Herr Timoschek! Vor Ihrem Palast entphallt sich wirklich große Kunst!’ Meine Eltern gerieten in Harnisch, wie ich es noch nie erlebt hatte. Mein Vater rief den Kranführer an und befahl ihm, mein Kunstwerk umgehend zu beseitigen. Nun liegt mein Meisterwerk im Park meiner Eltern, zwischen der Mauer und einer eigens gepflanzten dichten Hecke.

Meine Mutter gab mir fünfzehn Millionen Euro und nahm mir das Versprechen ab, mich künftig der Literatur zu widmen. Dieses Versprechen gab den Ausschlag, dass ich ein großer Schriftsteller geworden bin. Ich habe bereits vier Bücher geschrieben. Mein erstes Werk trägt den, zugegeben, etwas sperrigen Titel ‘Die Rudelbildung als Phänomen eines Teilbereiches des menschlichen Sozialverhaltens’. Ich habe bereits achtzehn Exemplare davon verkauft. Meinem Vater gefiel der Titel so gut, dass er die gesamte erste Auflage gekauft und sich auch noch die Rechte an diesem Werk gesichert hat. “Ich möchte verhindern, dass dieses Werk in die falschen Hände gerät”, meinte er. Meiner Mutter gefiel mein erstes Buch gar nicht. “Michael!”, sagte sie. “Deine Theorien über die, wie du schreibst, Betätigung im Rudel sind mir zu ungustiös!” Zur Zeit arbeite ich an meinem literarischen Meisterwerk. Der Titel des Romans lautet ‘Das Rudel. oder: Milorads Erlebnisse’ Es handelt sich dabei um ein durchaus erotisches Werk. Da dieser Roman als mein Meisterwerk angesehen werden wird, habe ich an eine Startauflage von zwanzig Exemplaren gedacht und hoffe, dass mein Vater auch dieses Mal die gesamte Auflage kauft.

Somit habe ich es doch noch geschafft. Ich war ein verkannter großer Künstler, doch heute bin ich ein großer Schriftsteller.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei |Inventarnummer: 16138

 

Gericht

Mein Name ist Michael Timoschek, ich bin dreiundvierzig Jahre alt und ich bin Koch. Allerdings koche ich nicht in der Küche eines gewöhnlichen Wirtshauses, sondern in der eines vielfach ausgezeichneten Restaurants in Wien. Ich verdiene eine Masse Geld, bin dreimal geschieden, davon zweimal glücklich und einmal heilfroh, habe stets genug zu essen, und natürlich auch zu trinken, und besitze eine große Eigentumswohnung.

Ich wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, somit ist es kein Wunder, dass ich ein sehr sparsamer Mensch bin. Wir waren fünf Kinder und hatten kein Geld. Mein Vater arbeitete auf dem Bau und meine Mutter in einer Fabrik, die Ziegelsteine produzierte. Trotz der Not, die wir litten, und trotz des unablässigen Zwanges zu sparen, hatten wir eine schöne Kindheit, in der sich bereits in frühen, ungewöhnlich frühen, wie ich feststellen muss, Jahren das Talent jedes einzelnen Kindes bemerkbar gemacht hatte.

Manfred, der Älteste von uns, hatte bereits im zarten Alter von vier Jahren sein Talent für die unrechtmäßige Verbringung von Gegenständen in seinen Besitz erkennen lassen. Keine Socke, keine Haarspange war vor ihm sicher. In der Pubertät versuchte er es mit Ladendiebstahl. Einmal wurde er ertappt, doch die Sache ging glimpflich, also ohne Strafanzeige, für ihn aus. Daraufhin legte er seine Diebeskarriere vorerst auf Eis, jedoch tat er dies schweren Herzens. Es war ihm in dieser Zeit deutlich anzusehen, dass die Flamme der Diebeslust heiß in ihm loderte. Ich bin froh sagen zu dürfen, dass er diesen Wesenszug in gesellschaftlich akzeptierte Bahnen zu lenken in der Lage war. Heute ist Manfred Parlamentarier.

Daniela, meine älteste Schwester, hatte sich schon immer gut mit den Buben verstanden. Ich erinnere mich noch gut an Hugo, ihren ersten Freund, sie war damals elf Jahre alt. Die beiden hatten eine besondere Art des Versteckspiels erfunden, die als überaus körperbetont bezeichnet werden kann. Daniela hatte einen Tag nach ihrem achtzehnten Geburtstag in der Bar zu verkehren begonnen, die am äußersten Rand unseres Dorfes gelegen war, dort liegt sie übrigens immer noch, und sich im Laufe der Jahre bis zu deren Besitzerin hochgearbeitet, was unseren Eltern bis heute keine Freude bereitet, aber Mädchen sind nun mal Mädchen.

Alois, mein jüngerer Bruder, war in seiner Kindheit ein sehr unauffälliger Junge, was wir, also seine Geschwister, uns nicht erklären konnten. Er hatte stets einen verträumten, leicht sedierten Eindruck erweckt. Eines Tages warf meine Mutter meinem Vater lautstark übermäßigen Alkoholkonsum vor, was dieser ebenso lautstark bestritt. Nun, es fehlten immerhin achtundvierzig Flaschen Schnaps im Keller unseres bescheidenen Eigenheims. Wir legten uns auf die Lauer, und alsbald war Alois als die Schnapsdrossel entlarvt. Unsere Eltern durchsuchten sein Zimmer und fanden etliche leere Flaschen sowie ein recht ansehnliches Stück Haschisch. Wir stellten Alois zur Rede, und es kam heraus, dass er ein Drogenfreak war. Dennoch hat er, trotz seiner Suchtprobleme, seinen Weg gemacht. Er hat Medizin studiert und arbeitet heute als Unfallchirurg.

Julia, meine jüngere Schwester, hatte schon immer eine Inklination zum Nudismus. Bereits in der Volksschule hatte ihre Klassenlehrerin etliche Male bei uns angerufen, um sich zu beklagen, dass Julia nach der Leibeserziehung direkt aus der Dusche in das Klassenzimmer gelaufen war, ohne sich vorher anzuziehen. Nach dem Gymnasium studierte sie an der Kunstuniversität und wurde eine gefeierte Nacktkünstlerin. Sie erfand das ‘One-Minute-Menue’. Dabei liegt sie nackt auf einem Tisch, ein Assistent bedeckt sie mit Feigen und der, natürlich viel Geld zahlende, Kunstliebhaber hat eine Minute Zeit, so viele Feigen wie es ihm möglich ist von ihrem Körper zu naschen. Ein amerikanischer Millionär war so begeistert von Julias Feigengeschmack, dass er sie kurzerhand vor den Traualtar trug. Ich darf erwähnen, dass meine jüngere Schwester bei dieser Gelegenheit bekleidet war.

Unsere Eltern genießen ihren hochverdienten Ruhestand in ihrem Haus, welches wir Kinder haben renovieren lassen. Einen Hund und zwei Laufenten haben wir unseren Eltern auch geschenkt.

Dann bin da noch ich, Michael. Nach dem Gymnasium hatte ich schlicht keine Lust mehr zu lernen, also kam ein Studium für mich nicht infrage. Nach dem Ableisten meines Zivildienstes absolvierte ich eine Lehre zum Koch und begann in einem Gasthaus in Wien zu arbeiten.

Dieses Gasthaus, es hieß ‘Zum fettn Bratl’, war bekannt für seine üppigen Portionen und wurde gerne als Lokalität für Hochzeitstafeln gebucht. Drei Jahre lang lief alles glatt. Der Chefkoch und ich standen in der Küche, eine Kellnerin, und ab und zu auch eine Aushilfskellnerin, servierten, und die Besitzerin des Gasthauses, die die Geliebte des Chefkochs in Personalunion war, kassierte.

Eines Tages trug es sich zu, dass eine Braut, sie hieß Martina, sich bemüßigt fühlte, Kritik an der Dimension ihrer Mahlzeit zu äußern. Sie kam sogar in meine Küche gestürmt, um ihrem Unmut über die angeblich zu große Portion Luft zu machen. Ich stand gerade vor einem großen Schneidebrett und zerlegte ein Spanferkel. Sie fuhr mich an, dass ich sie wohl übergewichtig machen wollte, und dann begann sie zu weinen. Ich nahm sie in den Arm, um sie zu trösten, und bald hatte sie sich wieder beruhigt. Wir unterhielten uns über Kalorien und Cholesterin, als sie plötzlich vor mir niederkniete und meinen Hosenstall öffnete. Ich wollte sie abwehren, doch sie begann einfach, mich zu fellationieren. Ich muss zugeben, das hatte schon was. Nun, ich verspürte den Drang, auch ihr etwas Gutes zu tun, also hob ich sie hoch und setzte sie auf eine lauwarme Herdplatte, um sie ordnungsgemäß durchzunudeln. Ich halte diesen Ausdruck für keineswegs überzogen, schließlich befanden wir uns in einer Küche. Nachdem ich sie ordentlich durchgerührt hatte, setzte sie sich wieder neben ihren frisch Angetrauten an die Tafel. Es hätte für alle ein schöner Abend werden können, wäre nicht die Aushilfskellnerin in die Küche gekommen und hätte sie nicht das Höschen der Braut auf dem Boden vor dem Herd entdeckt. Schnell bückte sie sich, hob das Höschen auf und lief zur Tafel, wo sie es der Braut mit dem Hinweis überreichte, dass diese es dem Koch wohl selbstlos überlassen hätte, damit er sich damit den Schweiß abwischen konnte. Was soll ich sagen, ich war meinen Job los.

Als ich meiner Kurtisanenschwester von diesem Vorfall erzählte, lachte sie schallend und meinte, ich hätte das Richtige getan.

Die Besitzerin des Gasthauses ‘Zum fettn Bratl’ stellte mir dennoch ein hervorragendes Zeugnis aus, und so war es nicht schwer für mich, eine Stelle in einem angesagten Restaurant zu bekommen.

Dieses Restaurant, es hieß ‘Norberts Fine Asian Dining’, hatte sich, wie der Name schon sagt, auf asiatische Küche spezialisiert. Norbert, der Chef, er war auch als Chefkoch tätig, hatte schon an meinem ersten Tag in der Küche keinen guten, soll heißen allzu gesunden Eindruck auf mich gemacht. Und in der Tat, nachdem er mich zwei Wochen lang in die Rudimente der wienerischen Zubereitung asiatischer Speisen eingeführt hatte, verabschiedete er sich für vier Monate in eine Klinik, denn sein äußerst verantwortungsvoller Job, den ich dann übernehmen durfte, hatte ihm ein schlimmes Burnout eingebracht.

Nun war ich der Küchenchef. Asiatisch zu kochen lag mir damals nicht, und es liegt mir auch heute noch nicht. Da ich sozusagen der Chef war, stellte ich kurzerhand die Speisekarte um und änderte darüber hinaus gleich die ganze Linie des Lokals. Ich ließ alle asiatisch aussehenden Einrichtungsgegenstände entfernen und an deren Stelle Sessel und Tische aus bestem Zirbenholz in das Restaurant stellen, dessen Namen ich auch änderte. Aus ‘Norberts Fine Asian Dining’ wurde so ‘Norberts Bratlhaus’. Die Auswahl an Speisen bestand nun aus einer Vielzahl verschiedener Braten, es gab aber auch Schnitzel, Gulasch und Kuttelflecksuppe. Die Gäste rannten mir die Türe ein, alle waren von der Qualität meiner Braten begeistert. Der Zufall wollte es, dass Willibald das Lokal besuchte. Willibald war der Testesser, Chefredakteur und Herausgeber von ‘Willibald aus Tirols Schweinsbratenguide’. Er war hingerissen von der Qualität meines Schweinsbratens und stellte mir eine phänomenale Kritik aus. Irgendwie jedoch hatte Norbert in seinem Psychotempel davon Wind bekommen, dass sein Sojasprossenimbiss zu einem Palast des Bratens mutiert war, was ihm gar nicht schmeckte. Er rief mich mitten in der Nacht an, um mir zu kündigen. Im Hintergrund konnte ich zwei Pfleger hören, die beschwichtigend auf ihn einredeten, jedoch mit wenig Erfolg.

Mit dem Wissen ausgestattet, dass ich das selbe wäre wie die Grundzutat meines berühmten Schweinsbratens, verließ ich Norberts Restaurant.

Dank der überaus guten Kritik in ‘Willibalds Schweinsbratenguide’ kam ich im ersten Haus am Platz unter, und zwar als zweiter Küchenchef, wo ich heute noch immer tätig bin, allerdings als Küchenchef. Es handelt sich um das Restaurant ‘Zur grauen Krähe’ im ersten Wiener Gemeindebezirk, ein über alle Maßen gediegenes Restaurant, sowohl was die Einrichtung als auch die Klientel anlangt. Letztere besteht zu einem großen Teil aus sogenannten Hofratswitwen, deren antiquiertem Geschmack in Form von karierten englischen Kostümen und Perlenketten noch ein Sahnehäubchen aufgesetzt wird.

Nachdem die feinen Damen, nun ja, eher unausgelastet sind, was die Befriedigung eines gewissen und bestimmten Notstandes betrifft, machen sie sich gerne den Spaß, mich an ihre Tische holen zu lassen, um mich dort aus großen Augen hinter dioptrieschweren Brillengläsern zu mustern und mich auf einigermaßen anlassige Art und Weise zu fragen, ob ich beim Braten generell gut wäre. Für gewöhnlich wende ich in derartigen Situationen das probateste Instrument der Hochdiplomatie an, nämlich die Lüge. Ich sage dann, dass mich mein Lebensgefährte bloß aus dem Grund erwählt hat, dass ich so gut braten kann.

Letzte Woche allerdings ging eine dieser Damen eindeutig zu weit. Sie fragte mich direkt heraus, ob ich für fünfhundert Euro die Nacht mir ihr verbringen würde. Als ich sie über die Tatsache in Kenntnis setzte, dass für die Erfüllung ihres Begehrens selbst fünfhunderttausend Euro eine bei Weitem zu geringe Summe wären, stand sie entrüstet auf und verließ das Restaurant. Tags darauf saß sie wieder an ihrem angestammten Tisch und ließ mich, noch bevor sie bestellt hatte, an diesen kommen. Sie orderte bei mir persönlich ein Hauptgericht, das alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen sollte. Ich lief in meine Küche und bereitete ein Hauptgericht zu, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte. In die Mitte des Tellers legte ich ein Frankfurter Würstchen, dessen oberes Fünftel ich gehäutet und dessen Spitze ich eingekerbt hatte. Vor die Kerbe goss ich ein wenig schmackhafte Sauce Hollandaise. Am anderen Ende der Wurst platzierte ich links und rechts je einen Grießknödel, welche ich mit in Butter karamellisierten hauchdünnen Zwiebelstiften so bedeckte, dass der Eindruck des Wildwuchses entstehen konnte. Diesen Teller brachte ich höchstselbst an den Tisch der Dame. Diese erschrak und wollte meiner Aufforderung, die Wurst doch ohne Scheu anzufassen und die Sauce zu kosten, keineswegs folgen. Vielmehr sprang sie auf, verabreichte mir eine Ohrfeige und verließ das Restaurant mit dem Versprechen, es nie wieder zu betreten. Ich ging zurück in meine Küche und lachte, bis mir die Tränen über die Wangen liefen.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen |Inventarnummer: 16137

Der Knecht von Modriach

Für Simona und Jürgen.
Danke für die Inspiration.

Gleich nach dem Aufstehen gönnt er sich einen Literkrug Most, der Albin Breitschwengler. Das macht er gerne und täglich.
Dann streicht er einen großen Klotz Bauernbrot auf beiden Seiten fingerdick mit Grammelschmalz ein und macht sich über die Kronen Zeitung her.
“Du dummer Hund! Du Gauner, Halunke und Dieb!”, brüllt er dann oft, wenn er etwas lesen muss, das ein anderer Mensch gemacht hat und das ihm gegen den Strich geht. Und das passiert halt oft.
Fluchen tut er übrigens fast immer, aber mit sechsunddreißig Jahren darf er das wohl.

In Modriach in der Steiermark, wo er herkommt, macht das aber nichts, weil in dem Ort eh nur ein paar Menschen leben.

Er selbst, der Breitschwengler, wohnt auf dem Breitschwenglerhof, den sein Papa Adolf und seine Mama Trudl ihm vermacht haben. Die beiden sind seit vier Jahren unter der Erde, und manchmal denkt ihr Sohn an sie.
‘Ja ja, der Vater und die Mutter – die haben keine Sorgen mehr!’, denkt er dann und erschlägt ein paar Ratzen auf seinem Hof.
Ratzen hat er nämlich viele, aber er hat ja auch viele Sauen und sogar zwei Ochsen im Stall, und viele Henderln, die frei herumrennen.
Nach der Kronen Zeitung braucht Breitschwengler meist einen Schnaps. Aber keinen normalen, sondern einen Obstler – Ehrensache.
Aber weil ein Stamperl halt nicht so viel fasst, sind es meistens zwei oder drei.
Dann macht er sich gestärkt an die Arbeit.

Breitschwengler ist nämlich der Knecht auf seinem Hof, also ist er sein eigener Herr.

Seine Schwester, die Sopherl, hat nie was mit der Landwirtschaft zu tun haben wollen. Sie ist Schneidermeisterin in Peggau und kommt nicht mehr nach Modriach.
Als Adolf und Trudl Breitschwengler noch gelebt haben, ist sie schon ab und zu gekommen, doch seit der Albin alleine auf dem Hof ist, traut sie sich nicht mehr dorthin.
“Du bist ein Depp und ein gefährlicher Irrer!”, hat sie ihrem Bruder auf den Kopf zugesagt. “Eingesperrt g‘hörst!”
Dann ist sie gefahren.

Breitschwengler wurde auf dem Hof geboren.
Als seine Mama gesehen hat, was für ein prachtvolles Kind sie bekommen hat, da hat sie sich gefreut und gleich gerufen: “Der wird Knecht!” Es war nämlich immer schon ihr Traum, einen Knecht zum Sohn zu haben.
Seinem Papa war das egal. Er hätte es schon gerne gehabt, wenn sein Bub etwas Anständiges wird, ein Pfaffe oder ein Kiberer vielleicht, doch hat ihm der Mut gefehlt, der Trudl zu widersprechen.
Einmal hat er das zwar schon gemacht, aber da die Trudl immer, wirklich immer und egal wo sie war, ein Stamperl oder gleich eine Flasche in Griffweite hatte, nahm er sich danach vor, keine zweite Beule auf seinem Kopf zu riskieren.
Also wurde Breitschwengler Knecht. Die Trudl hat das in die Hand genommen, weil es war ja ihr Wunsch gewesen.
Albin war ein kräftiger Bub, schon mit zwei Jahren hat er seinen ersten Ratz erschlagen, und seine Mama war sehr stolz. Da hat sie es endgültig gewusst: “Der wird ein echter Knecht!”

Am Anfang wollte er seinen Schnuller nie in den Mund nehmen, wenn sie diesen vorher in ihr Stamperl getaucht hatte.
Wie oft hat sie gesagt: “Jetzt nimm den Zutz in den Mund, Albin! Sonst wirst nie ein gescheiter Knecht!”
Dass er dann doch ein gescheiter Knecht geworden ist, daran sind wohl die Tachteln schuld. Denn die haben es ihm leichter gemacht, den Schnuller in den Mund zu nehmen.
Einmal hat der Breitschwengler seiner Mama einen Vorwurf gemacht, da war er zehn Jahre alt.
“Mutter”, hat er gesagt, “wenn du den Zutz in den Most getaucht hättest und nicht in den Obstler, würde vielleicht ein noch besserer Knecht aus mir.”
Da hat die Trudl gelacht, ihrem Bub die Hand ausnahmsweise sanft auf die Backe gelegt und gemeint: “Das passt schon, Bub. Du bist eh auf dem richtigen Weg.”

Die Gisela Bartler, seine Lehrerin in der Modriacher Volksschule, hat das anders gesehen.
“Warum hat der Albin immer so glasige Augen?”, hat sie die Trudl Breitschwengler oft gefragt.
“Gisi”, hat Trudl dann gesagt, “du weißt ja eh, wie das ist. Er wird halt ein Knecht. So wie der Manfred, dein Bruder, der ist ja auch Knecht geworden.”
“Ja!”, hat die Bartlerin dann immer gerufen. “Er ist ein Knecht geworden, weil er der Stärkste von den Buben war. Da war es ja klar, dass es um seinen Kopf nicht schade ist. Aber der Albin ist dein einziger Sohn! Also hör in Gottes Namen damit auf, ihm Alkohol zu geben!”
“Der Bub wird Knecht – und basta!”
In der Volksschule war Breitschwengler keine Leuchte.
Zwei Jahre hat er gebraucht, bis er es geschafft hat, in die Klasse seiner jüngeren Schwester zu kommen. Die war darüber gar nicht froh, denn so hat ganz Modriach erfahren, dass Albin die Volksschule nur geschafft hat, weil sie alle Hausübungen doppelt hat machen müssen – einmal für sich selbst und einmal für ihn.

Nach der Volksschule ist er in die Hauptschule gegangen und hat dort Rupert Schröll kennengelernt.
Schröll kommt auch von einem Bauernhof, aber aus der Ortschaft Edelschrott. Er war ein schmächtiger Bub, der nie hätte Knecht werden können, also wurde er ein Tischler und ein Jäger.
Die beiden Buben haben sich gut verstanden, und so wurde eine Freundschaft daraus.

Eine Lehre hat Breitschwengler nicht machen dürfen.
Nach der Hauptschule, für die er fünf Jahre gebraucht hat, ist er Knecht geworden.
Unter den Habichtsaugen seines Papas und den Bärentatzen seiner Mama hat er gründlich alles gelernt, was ein gescheiter Knecht wissen und können muss.
Er hat sich um das Vieh gekümmert, und ganz besonders um die Ratzen.
“Die Viecher hab ich gern”, hat er oft gemurmelt, wenn seine Mama nicht dabei war. “Aber die Ratzen mag ich nicht!”
Folglich hat Breitschwengler viele von ihnen mit dem erschlagen, was er gerade in der Hand gehabt hat.

Nachdem er sich also einen Liter Most und ein paar Stamperln Obstler eingeschenkt und sein Grammelschmalzbrot so weit verdaut hat, dass er sich wieder rühren kann, was um circa elf Uhr der Fall ist, macht sich Breitschwengler an die Arbeit.
Er geht in den Stall, mistet ihn aus, geht dann in den Stadl Heu holen und wieder in den Stall, den Viechern das Heu geben.
Dann sammelt er noch die Eier von den Hendln ein und denkt sich: ‘Ich hätte den Fuchs nicht abschießen sollen! Wenn ich das nicht gemacht hätte, hätte ich zwar keinen schönen Fuchsschwanz auf dem Schlüsselbund, aber der Fuchs würde sich nach und nach die Hennen holen und ich müsste nicht immer Eier klauben!’

Breitschwengler ist ein großer Jäger. Seine Gewehre hat er von seinem Papa vererbt bekommen, aber er hat dessen Jagdschein nicht auf sich umschreiben können. Er hat zwar dreimal versucht, die Jagdprüfung zu machen, aber ein viertes Mal wollte er sich den Stress nicht antun.
Er hat schon viele Tiere geschossen, sogar einen Uhu und einen Habicht.
Das mit dem Ara der Schmitzers war ein Versehen, wie er Otto Kipf, dem Dorfgendarmen, glaubhaft versichert hat.
“Mach dir keinen Kopf wegen dem lauten Mistvieh”, hat Kipf gesagt. Und dann hat er noch etwas gesagt, aber ein bisschen leiser: “Was glaubst du, wie oft ich schon auf den Vogel gezielt habe? Aber mit so einer Dienstpistole triffst ja nichts.”

Nach der Arbeit ist es für Breitschwengler an der Zeit, ins Gasthaus zu gehen.
Die einzige Gastwirtschaft, die es in Modriach noch gibt, ist die Hütte zum immer vollen Krug, aber sie wird von den Modriachern der Einfachheit halber Windn genannt.
Die Windn betritt Breitschwengler stets, also wirklich täglich (weil einen Ruhetag kann sich der Besitzer der Windn, der von den Modriachern einfach Wirtn genannt wird, nicht leisten) mit einem Ruf, mit dem er kundtut, in welcher Verfassung er sich befindet.
Es kommt oft vor, dass er in die Windn geht, den Wirtn anschaut und “Durst!” ruft. Der Wirtn stellt ihm dann schnell einen großen Krug Most hin, und Breitschwengler nimmt gut fünf große Schlucke. Dann rülpst er und ist fürs Erste zufrieden und begrüßt die anderen Gäste in der Windn.
Es kann aber auch passieren, dass er “Vögeln!” ruft.
Dann ist es besser, wenn Irmi Motschger nicht im Lokal ist, denn die brüllt dann immer: “Dann geh halt nach Edelschrott ins Puff!”
Daraufhin wird Breitschwengler zuverlässig sehr zornig und heißt die Motschgerin entweder “Wabe!”, “Trutsche!”, “Hexe!”, “Voglscheuche!” oder “Trampel!”, aber immer sagt er dazu, dass sie das in der betagten Ausgabe ist.

Breitschwengler hat nämlich keine Frau.
Er hat es nie mit einer festen Freundin probieren wollen, sondern immer nur die genommen, die er in Modriach, oder eben in Edelschrott, abbekommen hat.
Einmal hat Breitschwengler eine Frau im Wald getroffen, nämlich die Claudia Möslinger. Sie ist auf ihn zugegangen und hat ihm auf den Hosenstall gegriffen, was ihn zuerst sehr erschreckt hat, aber dann hat es ihn sehr gefreut.
Er hat ihr dann auf ihren Busen gegriffen, was sie gar nicht erschreckt, dafür aber sehr gefreut hat.
Bald darauf haben sie sich ausgezogen und auf den weichen moosigen Waldboden gelegt. Zuerst hat Breitschwengler sich bewegt, dann hat die Möslinger die Sache in die Hand genommen, weil er keine Erfahrung gehabt hat und dementsprechend rustikal ans Werk gegangen ist.
Seit diesem Tag ist Breitschwengler bei den Frauen in Modriach als Grobian verschrien und kriegt kaum noch eine ab.

Dann, wenn die Motschgerin das gesagt und er geantwortet hat, will er keinen Most, sondern bestellt gleich ein Stamperl beim Wirtn, aber vom Obstler – Ehrensache.
Der Wirtn schaut Breitschwengler dann skeptisch an, schenkt zur Sicherheit gleich ein sehr großes Stamperl ein und stellt die Flasche auch gar nicht zurück ins Regal, sondern auf den Tresen, damit sein Gast sieht, dass eh noch genug Obstler da ist.
Aber auch wenn er zuerst Most nimmt, so bestellt Breitschwengler dann immer ein Stamperl, denn der Obstler ist ihm im Blut.
Jedesmal wenn er ihn trinkt, denkt er zurück an seinen Schnuller und wird nostalgisch: ‘Ach, mein Zutz!’, und dann kommt es vor, dass er an seine Mama denkt, wie sie ihm den Zutz weggenommen hat, als er alt genug war, um ein Stamperl zu halten.
Aber dann wischt er schnell diese Gedanken weg und will die Speisekarte haben, denn nach der harten Arbeit ist er hungrig.
Das ist das spezielle Gasthausritual des Breitschwengler, dass er die Speisekarte haben will, weil er bestellt ja eh immer den Schweinsbraten.
“Wie ist der Braten heute?”, fragt er dann.
“Gut”, meint der Wirtn dann.
“Gut”, repliziert der Breitschwengler dann. “Ich will einen Schweinsbraten! Aber eine ordentliche Portion!”

Sein Essen verputzt er immer am selben Tisch, nämlich an dem, an dem seine Mama oft eingeschlafen ist, wenn sie zu viele Stamperln genommen hat.
Die anderen Gäste beim Wirtn schauen ihm immer beim Essen zu, denn er hat die Tischmanieren eines gescheiten Knechts. Das gut zwei Finger dicke Stück Schweinsbraten kommt auf Breitschwenglers Teller nämlich nie mit einem Messer in Berührung – ein kräftiger Stich mit der Gabel, und den Rest erledigt sein Gebiss. Die Beilagen isst er nie.
Dann wischt er sich mit dem Ärmel seines Hemdes den Mund ab, rülpst und stellt sich wieder an die Bar zu den anderen Modriachern.
Der Pfarrer, Pater Engelbert, ist immer gerne dabei, wenn ein neuer Obstler aufgemacht wird, und auch Otto Kipf, der Gendarm, schätzt den Schluck aus der frischen Flasche.
Dann reden sie über das, was sich in Modriach so ereignet hat, in den letzten vierundzwanzig Stunden.
Ein Holzknecht von auswärts hat sich mit der Hacke ins Schienbein gehackt – “So ein Tollpatsch!”, meint Breitschwengler -, der pensionierte Direktor der Raiffeisenkassa war beim Schwarzfischen im Packer Stausee gesehen worden – “So ein Dieb und Wilderer, der Gamsbartkommunist!” – und dem Huberbauer hat der Fuchs vier Hennen gestohlen – “Ich könnte ihm helfen! Ich habe einen zweiten Schlüsselbund. Da passt noch ein Schwanz rauf!”
Nachdem Breitschwengler überall seinen Senf dazugegeben hat und eh schon wieder auf seinen Hof gehen muss, um dort nachzuschauen, ob es eine Arbeit gibt, die er verrichten muss oder könnte, ruft er: “Ich muss arbeiten gehen!” Dann zahlt er seine Zeche und ruft noch etwas, aber nur dann, wenn die Irmi Motschger beim Wirtn ist: “Dich würde ich eh nicht nehmen!”, bevor er schnell das Gasthaus verlässt.

Auf dem Heimweg geht er noch zu Waltrauds Nah und Frisch, wo er sich mit einer Flasche Obstler und mindestens drei Doppellitern Most eindeckt, und dann ist er auch schon wieder daheim.

Dort hat er meistens keine Arbeit, also holt er eine der Mannlicher-Flinten seines Papas von dort hervor, wo er sie lagert, nämlich unter seinem Bett, lädt die Waffe und entsichert sie bei dieser Gelegenheit auch gleich, weil er weiß, dass man nie wissen kann, ob nicht doch ein Rehbock oder eine Wildsau vor der Haustür steht, und geht in den Wald.

Weil er keinen Jagdschein hat, kann Breitschwengler naturgemäß nicht wissen, wann welche Tiere abgeschossen werden müssen, also geht er auf Nummer sicher und zielt auf alles, was sich bewegt.
Es kann vorkommen, dass er auf andere Jäger trifft.
In Modriach gibt es nicht viele von diesen, und die, die es gibt, wissen natürlich, dass Breitschwengler keinen Jagdschein hat.
Normalerweise haben sie kein Problem damit, dass er in ihren Revieren herumkoffert und Tiere abschießt, weil es dort ja eh zu viel Wild gibt und weil er besonders gerne auf Vögel zielt. Dann denkt er sich immer: ‘Na, den Vogel hab ich mir aus der Luft gegriffen!’ und freut sich.

Einmal aber ist er einem Jäger über den Weg gelaufen, der die Tatsache, dass Breitschwengler keinen Jagdschein hat, streng sieht: Rupert Schröll, seinem besten, weil einzigen Freund.
Der hat ein Jagdrevier in Modriach gepachtet und Breitschwengler ist, ohne das zu wissen, in dieses eingedrungen.
“Sag, bist du jetzt endgültig verrückt geworden, Breitschwengler?”, rief Schröll.
Der Angesprochene errötete. Zuerst wollte er sich als harmloser Schwammerlsucher ausgeben, aber die Mannlicher, die er um die Schulter gehängt gehabt hat, war, das wusste er, ziemlich eindeutig.
“Das ist mir jetzt aber schon sehr peinlich!”, rief er.
“Aber geh!”, sagte Schröll. “Jeder im Umkreis von zehn Kilometern weiß, dass du ein Wilderer vor dem Herren bist!”
“Also, ein Wilderer? Ich weiß gar nicht.”
“Nein, du eh nicht”, sagte Schröll in einem Ton, der Breitschwengler zu verstehen gab, dass er soeben auf den Arm genommen worden war. “Und der Papagei, den du geschoss’n hast?”
“Das war ein Unfall, bitteschön!”
“Wie auch immer, Albin. Sag, warum gehst du denn jagen? Ich meine, du isst das Wildbret ja eh nicht. Du isst doch jeden Tag deinen Schweinsbraten beim Wirtn und kannst ja nicht einmal kochen.”
“Es geht mir einfach ums Schießen, Bertl.”
“So geht das aber nicht, Albin! Ich meine, mir ist das ja wurscht, wenn du mir ein Reh aus dem Revier herausschießt, aber du kannst als Wilderer Probleme kriegen, große Probleme.”
Breitschwengler überlegte kurz und dabei sah er, dass aus Schrölls Rucksack Blut tropfte.
“Sag einmal, Bertl, was hast du denn in deinem Rucksack?”
Nun errötete der Schröll.
“Einen Feldhasen”, sagte er und schaute auf seine Schuhe.
Da erkannte der Breitschwengler, dass er die Gelegenheit hatte, einen Volltreffer zu landen.
“In der Windn haben sie gesagt, dass die Feldhasen gerade Schonzeit haben”, log er.
Da nahm der Schröll Haltung an und sagte: “Albin, ich bringe dir morgen drei Liter Obstler und ein bisschen Most vorbei, und du vergisst die Geschichte.”
Breitschwengler fühlte, dass er bei diesem Handel der Gewinner war.
Und in der Tat, am nächsten Tag kam der Schröll auf den Breitschwenglerhof und brachte das Versprochene vorbei – und nicht nur das.
Er hatte auch zwei Flobertgewehre dabei, und sie machten Jagd auf die Ratzen, die in großer Zahl auf dem Hof vorkommen.

Wenn Breitschwengler ein Vieh abgeschossen hat, dann lässt er es nicht einfach im Wald liegen.
Er nimmt es mit nach Hause und verarbeitet es so, wie er es von seinem Papa gelernt hat. Er nimmt die genießbaren Tiere aus und legt ihr Fleisch in eine seiner Kühltruhen im Keller, die seine Mama angeschafft hat. “Für schlechte Zeiten”, hat sie gesagt, als sie sie gekauft hat.
Wenn er Viecher abschießt, die er für ungenießbar hält, gibt er sie seinen Sauen – und das funktioniert. Am nächsten Tag sind sie weg.

Nach der Jagd, die bis zum Abend dauern kann, geht Breitschwengler heim und wäscht sich. Meistens macht er das in seiner Duschkabine, die er in einem Baumarkt erstanden hat.
Sein Freund Schröll hat sie ihm heimgebracht, weil er selbst keinen Führerschein hat.
Den Führerschein hat Breitschwengler zweimal angefangen, aber dann doch nicht gemacht.
Dass er Jonas Muck, seinen Fahrlehrer, als “Edelschrotter Filzlaus” bezeichnet hat, hat dabei eine Rolle gespielt.
Nach dem Waschen hat Breitschwengler sozusagen frei.
Dann sitzt er in seinem bequemen Wohnzimmersessel, auf dem das Fell des ersten von ihm gewilderten Keilers liegt, und genehmigt sich einen Maßkrug voll Most. Und weil es schade ist, einen Most offen stehenzulassen und er immer Dopplerflaschen kauft, nimmt er eben noch einen Krug.
Dabei schaut er fern und wundert sich über das, was so gezeigt wird.
Liebesfilme mag er gar nicht, auch mit Dokumentationen kann er nichts anfangen. Am besten gefallen ihm Gruselfilme.
Die schaut er sich an, trinkt dabei Most und Obstler und freut sich, dass er auf seinem Breitschwenglerhof sicher ist vor Vampiren und so Zeug.
Wenn er aber ein Stamperl zu viel intus hat, kriegt er es manchmal mit der Angst zu tun: Was, wenn wirklich einmal ein Untoter vor seiner Haustür oder gar vor seiner Schlafzimmertür steht?
Dann liegt Breitschwengler in seinem Bett, unter dem die Mannlicher-Flinten lagern, und fragt sich: “Soll ich die Knochenhacke, die die Waltraud im Nah und Frisch hat, vielleicht doch kaufen?”

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig |Inventarnummer: 16136

Zwei Schüsse

Heute kam ich am frühen Nachmittag von der Jagd zurück und ging in den Keller meines Elternhauses. Dort reinigte ich meine Flinte, stellte sie in den Waffenschrank und entsorgte zwei Patronenhülsen, die Schrot enthalten hatten.
Als ich damit fertig war, hörte ich die Stimme meiner Mutter.
“Egon, komm bitte in die Stube!”
Dies sagte sie in dem für sie typischen Tonfall, den sie immer dann in ihre Stimme legt, wenn sie etwas Wichtiges mit mir besprechen möchte. Dieser Tonfall macht es mir unmöglich, ihrem Wunsch zuwiderzuhandeln.

Ich eilte also in die Stube unseres Hauses. Sie ist mit Zirbenholz getäfelt, und in der Mitte steht ein großer Tisch, ebenfalls aus Zirbe, und darauf liegt stets ein rot-weiß kariertes Tischtuch.
“Frau Mama, was wünschen Sie?”, fragte ich.
Ich pflege meine Eltern zu siezen, denn ich finde, dass sich dies in gewissen Kreisen gehört. Meine Familie ist nämlich sowohl adelig als auch reich.
“Egon, ich habe deine Erzählung gelesen”, begann sie.
Ich blickte sie erwartungsvoll an. Innerlich war ich sehr angespannt, denn meine Mutter ist meine strengste Kritikerin. Ich sehe mich nämlich als Schriftsteller, auch wenn der Erfolg bislang ausgeblieben ist.
“Ich bin zu neunzig Prozent stolz auf dich und dein Werk”, fuhr sie fort.

Ich war freudig erregt.
“Es sieht so aus, als hätte mein einziges Kind endlich begriffen, wie man Geschichten verfasst. Das Ende missfällt mir, doch dazu kommen wir später.”
“Vielen Dank, liebe Frau Mama”, sagte ich.
“Wenn ich an deine früheren Erzählungen denke, Egon, an deine Theorien über die, wie du sie genannt hast, Betätigung im Rudel, muss ich sagen, dass du dich eindeutig weiterentwickelt hast.”
Sie zog einen Hunderteuroschein hervor und reichte ihn mir.
“Das Geld hast du dir verdient, Egon”, sagte sie.
“Danke, Frau Mama. Sie sind sehr großzügig.”
“Du darfst das Geld aber nicht wieder an einem Abend vertrinken!”, mahnte sie.
“Versprochen, Frau Mama.”

“Nun zu deiner Erzählung, Egon. Der Anfang gefällt mir überaus gut. Du beschreibst sehr anschaulich, wie du mit deinem Vater in unser Jagdrevier fährst. Gibt es dort wirklich so viele Eichelhäher?”
“Ja, Frau Mama. Sie sollten einmal mitkommen, dann würden Sie sie sehen.”
“Egon, du weißt, dass ich die Jagd verabscheue!”
“Ich würde niemals wagen, in Ihrer Gegenwart auf ein Tier anzulegen”, sagte ich schnell.
“Lassen wir das. Du hast Talent, Egon. Leider hast du bislang nicht allzu viel Gebrauch davon gemacht.”
“Ich weiß, Frau Mama”, sagte ich kleinlaut.
“Du beschreibst die Tiere und Pflanzen vor dem Hochstand sehr naturnah. Auch Situationen des Zwischenmenschlichen kannst du gut wiedergeben. Hast du dich auf der Fahrt ins Revier wirklich mit deinem Vater gestritten?”
“Ja, Frau Mama. Jedes Mal, wenn ich mit Herrn Papa im Auto saß, gerieten wir in Streit.”
“Egon, du musst verstehen, dass dein Lebenswandel den Unmut deines Vaters erregt.”
“Ich mache doch nichts Unartiges”, warf ich ein.
“Aber auch nichts Artiges, Egon. Du arbeitest nicht und trinkst zu viel. Da darf es Dich nicht wundern, dass er dir seit sechs Jahren kein Geld gibt. Immerhin bist du achtunddreißig Jahre alt!”
Ich schwieg.
“Aber zurück zu deinem Text. Der Mittelteil ist dir ebenfalls gelungen.”
“Vielen Dank.”
“Du hast die Einsamkeit auf dem Hochstand gekonnt in Worte gefasst. Wie ihr nebeneinander sitzt und schweigen müsst, um das Wild nicht zu verscheuchen, und wie ihr bloß abwarten könnt, bis sich ein Reh oder Wildschwein aus der Deckung wagt.”
“Das ist das Schwierigste an der Jagd, Frau Mama. Man darf keinen Laut von sich geben.”

“Wann hast du die Kurzgeschichte denn geschrieben?”
“Gestern.”
“Möchtest du ein Glas Rotwein?”
“Sehr gerne, Frau Mama. Sie sind sehr großzügig.”
“Dann hole bitte eine Flasche Lafite.”
Ich ging in den Keller, holte den Wein, entkorkte und dekantierte ihn.
“Ich habe ein Geschenk für dich, Egon”, sagte meine Mutter und verließ den Raum.
Zwei Minuten später kehrte sie zurück und drückte mir eine goldene Armbanduhr in die Hand.
“Erkennst du diese Uhr, Egon?”, fragte sie, doch es war eine rhetorische Frage.
“Ja, Frau Mama. Es ist meine Patek Philippe”, sagte ich leise.
“Der Besitzer des Nachtclubs, in dem du offenbar Stammgast bist, hat sie mir gegeben.”
Ich wagte kein Wort zu sagen.
“Nachdem ich deine Schulden in seinem Bordell beglichen hatte!”, sagte sie und sah mich streng an.
Ich errötete.
“Was hast du dir bloß dabei gedacht, Egon?”, rief sie.
Mir wurde abwechselnd heiß und kalt.

“Ich brauche ein Glas Wein”, seufzte sie.
Ich goss ein und wir tranken einen Schluck.
“So etwas darfst du nie wieder machen, Egon! Du machst uns noch zum Gespött der ganzen Umgebung.”
“Es tut mir sehr leid, Frau Mama.”
“Du hast in dieser Bar übrigens Lokalverbot. Das hat der Besitzer mir versprochen.”
Ich wurde von einer plötzlichen Panik ergriffen, doch wagte ich nicht zu protestieren.
“Gut, Egon. Betrachten wir die Sache als erledigt.”
“Vielen Dank, Frau Mama”, sagte ich und war froh, dass dieses peinliche Thema vom Tisch war.

“Lass uns über den Schluss deiner Erzählung sprechen, Egon. Dieser ist dir wohl entglitten.”
“Wieso denn?”
“Nun, er ist unlogisch. Du steigst mit deinem Vater vom Hochstand, ohne dass ihr ein Tier erlegt habt.”
“Das kam leider häufig vor”, gab ich zu.
“Vor dem Hochstand geratet ihr erneut in Streit über deinen Lebenswandel.”
“Auch das war nicht ungewöhnlich.”
“Gut. Bis hierher konnte ich dir folgen. Was dann jedoch passiert, erscheint mir unlogisch.”
“Was genau, Frau Mama?”
“Ihr steht im Gras und streitet. Plötzlich lösen sich aus deiner Flinte zwei Schüsse und dein Vater bricht tödlich getroffen zusammen.”
“Was verstehen Sie daran nicht?”
“Du verwendest doch eine einläufige Flinte, weil sie leichter ist als eine mit zwei Läufen, oder?”
“Das stimmt.”
“Wie ist es denn möglich, dass sich zwei Schüsse aus einem Gewehr lösen, das bloß einen Lauf hat? Das ist doch unlogisch.”
Ich versuchte nicht zu grinsen, doch vergeblich.
“Das ist die künstlerische Freiheit des Schriftstellers, Frau Mama”, sagte ich.

Meine Mutter dachte einige Sekunden lang nach. Dann begann sie zu verstehen.
“Bist du verrückt?” rief sie. “Soll das heißen, dass du nach dem ersten Schuss nachgeladen hast?”
Ich schwieg und versuchte, ernst zu bleiben. Bald jedoch konnte ich nicht anders und begann schallend zu lachen.
Meine Mutter starrte mich entgeistert an.
“Egon, du bist verrückt! Deinen eigenen Vater um die Ecke zu bringen und dazwischen auch noch nachzuladen, um ganz sicher zu gehen, also das ist der Gipfel! Dieser Text ist der perfideste, den ich je gelesen habe!”
Sie war außer sich.

Ich redete beruhigend auf sie ein, und nach zehn Minuten hatte sie sich wieder gefangen.
Wir tranken die Flasche leer und sprachen über Belanglosigkeiten. Über den Schluss meiner Kurzgeschichte sprachen wir nicht, doch nach dem letzten Glas kam meine Mutter nochmals darauf zurück.
“Egon, ich habe mir das Ganze durch den Kopf gehen lassen. Ich sehe leider keine andere Möglichkeit, als deinem Vater zu erzählen, welches Ende du ihm zugedacht hast. Es tut mir leid, aber den Zorn, den deine Erzählung bei ihm entfachen wird, hast du dir selbst zuzuschreiben!”
Ich schwieg.
Meine Mutter sah auf die Uhr und sagte: “Es ist spät geworden, Egon. Ich werde zu Bett gehen.”
“Das ist sicherlich eine gute Idee nach all der Aufregung, Frau Mama.”
“Wo ist eigentlich dein Vater?”
Mit meiner unschuldigsten Miene beantwortete ich ihre Frage: “Frau Mama, der Herr Papa befindet sich im Jagdrevier.”

Michael Timoschek

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Greta und Hans

Hans und Greta wuchsen in einem kleinen, von dichten Wäldern umgebenen Dorf auf. Ihre Familien lebten auf benachbarten Höfen, auf welchen sie Vieh züchteten. Sie waren rechtschaffene Leute, die mit allen Menschen im Dorf gut auskamen. Dies war auch notwendig, denn ihr Dorf war so abgelegen, dass nur selten ein Fremder dorthin gelangte. Zwistigkeiten oder gar Streit galt es also zu vermeiden.
Sie wuchsen gemeinsam auf, saßen im einzigen Klassenzimmer der Volksschule nebeneinander und verbrachten auch ihre Freizeit zusammen. Nach der letzten Klasse folgten sie dem Wunsch ihrer Familien und blieben auf den Gehöften ihrer Eltern, um alles Wissenswerte für das Leben als Bauer und Bäuerin zu erlernen.
Sie waren zufrieden und freuten sich auf die Zukunft, die vor ihnen lag und die mit jedem Tag rosiger zu werden schien. Bald trafen sie sich nämlich nicht mehr bloß, weil sie nichts Besseres zu tun hatten, sondern weil in ihnen das Verlangen wuchs, den anderen Menschen zu sehen und ihm nahe zu sein. Sie hatten zarte Bande zueinander geknüpft und nach dem ersten Kuss im Alter von sechzehn Jahren waren sie sich sicher, dass sie einander liebten.

Umso tragischer war das, was ihnen widerfahren sollte.
Zwei Wochen nach dem ersten Kuss verschwand Hans. Das ganze Dorf suchte nach ihm, doch ohne Erfolg. Greta ging von Haus zu Haus und fragte jeden Ortsansässigen, ob er ihren Freund gesehen hätte, doch die Antwort war stets die selbe: “Nein, Greta. Tut mir leid.”
Ihr fiel auf, dass seine Familie sein Verschwinden weit weniger tragisch nahm als sie selbst es tat. Seine Eltern waren ihr gegenüber reserviert, sagten bloß: “Wir wissen doch auch nicht, wo er ist. Mach dir nichts draus – du wirst einen neuen Freund finden.”
Erst konnte sich Greta keinen Reim auf diese Gefühlskälte machen; als die Großmutter ihres Freundes sie jedoch an der Hand in ihr Häuschen zog und aufklärte, begann sie zu verstehen.

“Es scheint, dass es an der Zeit ist, dich einzuweihen”, begann die Alte ohne Umschweife. “Hans ist weg und er wird es bleiben.”
“Aber-”, stotterte Greta, den Tränen nahe. “Warum?”
“Auf unserer Familie lastet ein uralter Fluch. Aus jeder Generation befällt er ein Kind. Vor Hans war der jüngere Bruder seines Vaters an der Reihe.” Sie räusperte sich und sagte mit tonloser Stimme: “Er wurde nie wieder gesehen. Vor zwei Wochen war der Mond voll, da hat er Hans zu dem gemacht, was er jetzt ist.”
“Was ist er jetzt?”, rief Greta.
Die Alte ging nicht auf die Frage ein. Sie sah das Mädchen mit düsterem Blick an und meinte: “Was, glaubst du, ist der Grund, dass es in den Wäldern so gut wie kein Wild mehr gibt?”
“Sie wollen mir doch nicht etwa weismachen, dass Hans als Einsiedler im Wald lebt und sich von Rehen und Wildschweinen ernährt!”
“Ein Einsiedler ist ein Mensch, Greta. Hans ist keiner mehr.”
Greta sprang auf.
“Das kann ich nicht glauben!”, rief sie und eilte zur Türe.
“Es ist nicht wichtig, was du glaubst, mein Kind. Halte dich bloß vom Wald fern!”

Greta dachte nicht daran, dies zu tun. Obwohl die Dämmerung hereinbrach, lief sie tief in den dunklen Wald und rief nach Hans.
Es war still im Wald. Kein Vogel gab einen Laut von sich, das Geräusch der Blätter der Bäume, die vom Wind bewegt wurden, war das einzige, das an Gretas Ohren drang.
Plötzlich hörte sie Zweige brechen. Etwas kam mit schnellen Schritten auf sie zu. Instinktiv suchte sie hinter dem Stamm einer alten Buche Schutz, doch Hans hatte sie bereits gesehen.
Er blieb zwei Meter vor ihr stehen und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Greta hatte Angst, doch ging sie zu ihm, umarmte ihn – und machte einen Satz nach hinten.
Es war zum einen der Geruch, den er verströmte, er roch wie ein nasser Hund, zum anderen hatte sie sein zerrissenes Hemd bemerkt, unter dessen Fetzen tiefe Wunden auf seiner Brust zu sehen waren, die von mächtigen Klauen herzurühren schienen.
“Hans, was ist mit dir geschehen?”, rief sie entsetzt.
Er gab einige undefinierbare Laute von sich, und sie zog, um ihn besser verstehen zu können, seine Hände von seinem Gesicht. Es war kreidebleich, die Wangen waren eingefallen und seine Kiefer waren verformt, als wären sie gewachsen und wieder geschrumpft. Greta erschrak erst, doch als sie in seine Augen blickte, wurde sie von Panik ergriffen.
Seine Augen hatten zwar noch die selbe grüne Farbe, die sie so geliebt hatte, doch lag nichts Menschliches mehr in ihnen.
“Mein Gott, Hans!”, stammelte sie, doch Gott hatte diesen Wald längst verlassen.
Er sah sie an und knurrte mehr als dass er sprach: “Nun – Wolf.”
Greta lief so schnell sie konnte aus dem Wald, sperrte sich in ihrem Zimmer ein und zog die Bettdecke über ihren Kopf.

Etwas Unmenschliches hatte von Hans Besitz ergriffen, und Greta wusste das.
“Hans ist verflucht”, sagte seine Großmutter, als Greta ihr am nächsten Vormittag von der Begegnung im Wald erzählte. Sie packte Gretas Hand und rief: “Du darfst nie wieder in den Wald gehen, hörst du! Er würde dich in Stücke reißen, so wie es mein Sohn bei seinem-” Sie stockte, doch Greta wusste, was sie sagen wollte.
“Gibt es denn keine Erlösung von diesem Fluch?”, fragte sie verzweifelt.
Die Alte legte ihre Stirn in Falten und zögerte ihre Antwort hinaus.
“Nun?”, fragte das Mädchen ungeduldig.
“Es gibt eine Möglichkeit, doch ist sie sehr gefährlich für den Menschen, der den Verfluchten retten möchte.”
“Welche?”
“Man muss sich der Bestie bei Vollmond bis auf einen Meter nähern und ihr einen Pflock mit silberner Spitze ins Herz stoßen.”
“Nein!”, rief Greta entsetzt.
“Doch, mein Kind. Dies ist die einzige Möglichkeit, Hans zu befreien.”
“Was geschieht dann mit ihm?”
“Er nimmt seine menschliche Gestalt wieder an und kann beerdigt werden. Damit ist der Fluch für alle Zeit aufgehoben.”
Greta schluchzte.
“Das werde ich niemals machen!”
“Das weiß ich doch, Greta”, sagte die Alte mit listigem Blick. “Es wäre aber das Beste, sowohl für dich als auch für Hans. Er würde seinen Frieden finden, und du müsstest nicht den Rest deines Lebens an den Wolf denken, den du nicht erlöst hast.”
Sie zog einen Pflock unter dem Tisch hervor.
“Mein Mann hat ihn für unseren Sohn angefertigt, aber-”, ihr versagte die Stimme.
“Was ist geschehen?”, fragte Greta leise.
“Man fand den Pflock neben der grausam zugerichteten Leiche meines Mannes.”
“Sollte ich mich dazu durchringen können, Hans zu erlösen -”
“Ja?” Die Alte war plötzlich hellwach.
“Was, wenn die Sache danebengeht?”
“In diesem Fall kannst du bloß zu Gott beten, dass Hans dich tötet.”
“Wie bitte?”
“Keine Angst, du wirst nicht lange leiden, glaub mir.”
“Und wenn er mich nicht tötet, sondern bloß verletzt?”
“Dann wirst du eine Bestie werden, so wie er.”
Greta dachte einige Minuten lang nach, dann streckte sie ihren Arm aus und sagte: “Den Pflock, bitte.”
“Das ist die richtige Entscheidung, mein Kind”, sagte die Greisin und küsste Greta auf die Stirn.
Greta ging nach Hause und versteckte den Pflock.

Als es dunkel wurde, ging sie in den Wald zu der Stelle, an der sie Hans am Vortag getroffen hatte und rief nach ihm.
Wieder hörte sie das rasch näherkommende Brechen von Zweigen, doch hielt die Bestie in einigem Abstand inne. Sie konnte Hans nicht sehen, hörte bloß sein kehliges Knurren, das ihr jedoch keine Furcht einflößte.
“Hans, ich habe mit deiner Großmutter gesprochen”, rief sie.
Knurren war seine Antwort.
“Ich weiß nun einen Weg, wie du deinen Frieden finden kannst.”
Er gab keinen Laut von sich.
“Ich komme zu dir, wenn der Mond voll ist. Hier, an dieser Stelle, treffen wir uns.”
Hans knurrte zweimal, was Greta als Zustimmung wertete.

Die folgenden Tage bis zum nächsten Vollmond verbrachte Greta in großer innerlicher Aufregung. Sie dachte unablässig an Hans und ihre gemeinsam verbrachten Tage, und schließlich entschloss sie sich, das zu tun, was ihrem Freund Glück bringen würde.
Ihrer Familie konnte sie natürlich nichts davon erzählen, ebensowenig wie anderen Menschen aus dem Dorf. Sprachen ihre Eltern von Hans, so gab sie sich reserviert und sagte, dass er wohl in einem anderen Dorf sein Glück gefunden hätte.
Sie verrichtete die ihr zugewiesenen Tätigkeiten auf dem Hof gewissenhaft, jedoch ohne mit dem Herzen bei der Sache zu sein.

Am Tag des Vollmondes besuchte sie die Großmutter ihres Freundes.
“Ich habe den Pflock gut versteckt. Heute Nacht werde ich ihn holen und in den Wald gehen.”
Die Alte strahlte vor Freude.
“Du musst aber achtgeben, Greta! Hans ist nicht mehr der, den du gekannt hast. Bei der ersten Gelegenheit wird er dich anfallen, und dann ist es um dich geschehen!”
“Das weiß ich.”
“Ich wünsche dir alles Gute, mein Kind.”
“Danke”, seufzte Greta und verließ das Häuschen.

Um Mitternacht rief Greta nach Hans. Sie wartete auf das Brechen von Zweigen auf dem Waldboden, doch der Wald blieb still. Eine Wolke gab den Mond frei, da hörte sie Zweige brechen, nur wenige Meter hinter sich. Sie wandte sich, den Pflock in der Hand, um und erblickte den größten Wolf, den sie je gesehen hatte.
Die Augen, aus welchen Hans sie anstarrte, ließen sie frösteln. Es lag nichts Menschliches mehr in ihnen, sie waren schwarz, so schwarz wie das Fell der Bestie. Der Wolf knurrte, dann öffnete er sein mit riesigen Reißzähnen bewehrtes Maul und ließ ein ohrenbetäubendes Geheul ertönen.
Greta stand vor dem Biest, hielt diesem die silberne Spitze vor die Schnauze und sagte mit fester Stimme: “Dieser Pflock könnte dich töten.”
Der Wolf knurrte.
“Doch das wird er nicht tun”, fuhr sie fort und schleuderte die Waffe von sich.
Hans sah dem im Mondschein davonfliegenden Silber nach und hörte auf zu knurren.
Das Mädchen setzte sich auf den Boden und sah zum Wolf auf.
“Du kannst mich töten, Hans”, sagte Greta mit ruhiger Stimme, in der keine Furcht lag. “Du kannst mich jedoch auch zu deiner Gefährtin machen.”
Der Werwolf reagierte nicht.
Greta entblößte ihre rechte Schulter und hauchte: “Beiß mich, aber sei vorsichtig!”
Als Hans seine Zähne im Fleisch seiner Freundin vergrub, fiel diese in eine tiefe Ohnmacht.

Nach drei Tagen erwachte sie orientierungslos in einer Höhle. Ihre Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, doch ihr Geruchssinn funktionierte einwandfrei. Unsicher ging sie durch die Höhle, die erfüllt war vom Geruch der unzähligen Skelette von Rehen und Wildschweinen, die überall herumlagen.
Ein schwacher Lichtschein wies ihr den Weg nach draußen. Vor der Höhle setzte sie sich auf den Boden und atmete die klare Morgenluft tief ein. Dabei stieg ihr ihr eigener Geruch in die Nase. Sie roch wie ein nasser Hund.

Michael Timoschek

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Das lange und glückliche Leben des Franz Rieser

An einem sonnigen Frühlingstag im Jahr 2013 verließ Franz Rieser sein Haus. Er versperrte die Eingangstüre und setzte sich auf die rustikale Holzbank vor seinem Heim. »Murli, Minka!«, sagte er halblaut, doch laut genug, dass seine beiden Katzen ihn hören konnten. Sie sprangen zu ihm auf die Bank und schnurrten vor Behaglichkeit, während er sie streichelte.
Zehn Minuten später küsste er die Katzen auf ihre Köpfe und verließ sein Grundstück. Mit langsamen Schritten mühte er sich den kleinen Hügel hinter seinem Haus hinauf. ›Es wäre besser gewesen, einen richtigen Spazierstock zu nehmen‹, dachte er. ›Dieses schwere Ding taugt nicht zur Gehhilfe.‹

Auf der Kuppe des Hügels stand ein Apfelbaum in voller Blüte.
Unter diesem Baum ließ Franz Rieser sich nieder. Er hatte ihn vor vielen Jahrzehnten gemeinsam mit Maria, seiner Ehefrau, gepflanzt. Er saß, seinen Rücken an den Baumstamm gelehnt, im Gras. Seine rechte Hand hielt einen zylindrischen Gegenstand, diesen betrachtete er. Er drehte ihn zwischen seinen Fingern und fühlte, wie er langsam wärmer wurde. Dann zuckte Franz Rieser mit seinen Schultern und schob den Zylinder in die linke der beiden für ihn vorgesehenen Öffnungen.

So saß er da und dachte über sein Leben nach, welches nun schon dreiundneunzig Jahre andauerte und, von zwei Ereignissen des Unglücks abgesehen, glücklich verlaufen war. Naturgemäß, wie das bei vielen Menschen so ist, kamen ihm diese beiden Ereignisse zuerst in den Sinn.
Das erste von beiden war der Michael gewesen, sein Sohn. Dieser war im Alter von vierunddreißig Jahren in Wien gestorben. In einer kalten Novembernacht im Jahre 1974 war der Michael in die Donau gestürzt und ertrunken. Lange Zeit hatten Franz und Maria keine Erklärung für den Tod ihres Sohnes finden können. Der Michael war ein hervorragender Schwimmer gewesen, also hätte er nicht ertrinken müssen. Monika, seine um drei Jahre jüngere Schwester, hatte ihren Eltern oft gesagt: »Ich bin mir sicher, dass der Michael jemanden in der Donau hat treiben sehen. Und da konnte er eben nicht anders, als ins Wasser zu springen, um diesem Menschen das Leben zu retten. Ihr wisst ja, was für eine hilfsbereite Art er gehabt hat. Und dabei, bei diesem Versuch zu helfen, ist er umgekommen.«

Maria Rieser hatte sich leichter mit dieser Erklärung zufriedengeben können als ihr Mann.
Dieser war eigens nach Wien gefahren, drei Wochen nach dem Begräbnis seines Sohnes, und hatte sich in dessen Umfeld umgehört. Was er damals erfahren hatte, behielt er stets für sich, denn er wollte seine geliebte Ehefrau nicht mit Dingen belasten, die nicht mehr zu ändern waren, und Monika, Michaels geliebte Schwester, wollte er auch nicht verstören.

Er hatte mit sämtlichen Freunden seines Sohnes gesprochen und Folgendes erfahren: Der Michael war die Monate vor seinem Tod sehr unglücklich gewesen. Ein paar Freunde sprachen von todtraurig, einer gar von ärztlich diagnostizierten Depressionen. Der Alkohol war in seinen letzten Monaten das einzige Lebenselixier des Michael gewesen, erfuhr er weiters, Seelentröster und wohl auch Schlafmittel. Der Grund für diese Verzweiflung wäre wohl eine Frau gewesen, sagte man ihm, aber Genaueres erfuhr Franz Rieser nicht, natürlich aus dem Grund der Diskretion.
All das, was er erzählt bekommen hatte, sagte ihm, dass der Michael mitnichten das Leben einer anderen Person hatte retten wollen, sondern dass er seiner gequälten Seele wenigstens durch seinen Tod den Frieden hatte schenken wollen, den diese im lebendigen Michael nicht mehr hatte finden können.

Wie er so dasaß, an den Baum gelehnt und an seinen Sohn denkend, stiegen ihm die Tränen in die Augen.
›Wenn er doch nur gesagt hätte, dass ihn etwas quält‹, dachte er, ›dann hätte ich ihm doch helfen können. Dann hätte sich der Bub nicht umbringen müssen. Aber er hat ja nie etwas gesagt.‹ Er weinte stumm vor sich hin. ›Er hat nie etwas Vernünftiges gemacht, der Michael‹, dachte er weiters, ›keine Arbeit hat er gehabt, und eine eigene Familie auch nicht. Aber er hat es immer geschafft, wenigstens irgendwie durchzukommen. Vielleicht hätte seine letzte Idee, es mit dem Schreiben zu versuchen, zum Erfolg geführt. Wenn er nur durchgehalten hätte. Ach, was denke ich da? So war es eben. Schad um den Bub.‹
Monika, das zweite Kind von Maria und Franz Rieser, hatte stets entsprochen und die ihr gestellten Aufgaben aufs Beste erledigt. Sie hatte Medizin studiert und arbeitete als Hautärztin in Graz. Sie war mit einem Notar verheiratet und hatte zwei wohlgeratene Töchter, welche selbst jeweils zwei Kinder zur Welt gebracht hatten.

Am Tag vor diesem Frühlingstag im Jahr 2013 hatte Franz Rieser mit seiner Tochter telefoniert. »Monika«, hatte er sie gefragt, »was soll ich der Mama von dir ausrichten?«
»Papa«, hatte sie geantwortet, »es wird noch eine lange Zeit dauern, bis du die Mama wieder triffst!«
»Wenn ich sie treffe, ganz egal wann das sein wird: Was soll ich ihr sagen?«
»Bitte sag ihr, dass es uns allen gut geht und dass wir sie vermissen.«
»Das werde ich. Soll ich ihr noch etwas sagen?«
»Ja. Sag ihr, dass ich erkannt habe, dass sie recht hatte.«
»Womit hatte sie recht?«
»Sie hat immer gesagt, dass zwei Menschen oder Dinge, die zusammengehören, stets beisammen sein müssen.«
»Ja, das hat die Mama oft gesagt.«

Und sie hatte es nicht bloß gesagt, Maria Rieser hatte nach diesen Worten gelebt, so wie auch ihr Ehemann.
Von Kindesbeinen an hatten sie sich gekannt, waren sie doch auf benachbarten Bauernhöfen aufgewachsen. Sie waren im selben Jahr, 1920, geboren worden, bloß drei Wochen trennten ihre Geburtstage. Sie hatten die selbe Klasse in der Volksschule besucht, und danach auch in der Hauptschule nebeneinander gesessen.
Maria hatte eine Lehre zur Schneiderin abgeschlossen, Franz eine zum Tischler, doch hatten sie ihre Berufe nie zum Gelderwerb ausgeübt, denn Franz Rieser war es, als einzigem Kind seiner Eltern, bestimmt, den Hof seiner Familie zu übernehmen.

Im Alter von sechzehn Jahren waren die beiden eine, zunächst heimliche, Beziehung eingegangen, die bis zu Marias Tod Bestand hatte, und sogar über diesen hinaus, denn Franz hätte niemals zugelassen, dass eine andere Frau als seine Maria neben ihm liegt. Auch fühlte er sich zu alt dazu.
Sobald sie volljährig geworden waren, hatten sie geheiratet, und im Alter von zwanzig Jahren hatte Maria Michael und drei Jahre später Monika zur Welt gebracht. Vom Zweiten Weltkrieg waren sie verschont geblieben. Franz Rieser hatte es durch verwandtschaftliche Beziehungen so einrichten können, dass er nicht an die Front musste, und in der kleinen Ortschaft im steirischen Hügelland fand der Krieg so gut wie nicht statt.

Franz führte den Hof seiner Familie vorbildlich. Er sorgte gut für das Vieh, und mit der Zeit wurde der Hof immer größer. Neue Ställe wurden erbaut, Obstgärten von benachbarten Gehöften übernommen, und bald galt das Ehepaar Rieser als reich.
Und in der Tat, Sorgen hatte es keine. Franz liebte seine Arbeit, und so verwundert es nicht, dass er sie gut verrichtete. Er konnte es sich leisten, ein großes und ertragreiches Jagdrevier mit vielfältigem Wildbestand zu pachten und wurde ein begeisterter und eifriger Jäger.

Seine Ehefrau widmete sich den Kindern, die beide das Gymnasium des Nachbarortes besuchten. Monika lernte gut und maturierte mit Auszeichnung, der Michael musste zwei Klassen wiederholen und legte seine Matura mit Ach und Krach ab. Monika studierte dann Medizin in Graz und der Michael Kunst in Wien. Jedoch brach er sein Studium nach wenigen Semestern ab und lebte vorwiegend von dem Geld, das ihm von seinen Eltern überwiesen wurde.
Auf Urlaub fuhr die Familie Rieser selten, und wenn doch, dann bloß für wenige Tage nach Italien. Selbst als längst Knechte und Mägde auf dem Hof beschäftigt und die Kinder aus dem Haus waren, gönnten sich Maria und Franz keinen langen Urlaub.
Sie waren sich eben selbst genug. »Das Wichtigste ist, dass wir stets beisammen bleiben«, hatte Maria oft gesagt. »Und das können wir zu Hause genauso gut wie in Spanien oder auf den Malediven.« Und Franz hatte ihr dann stets beigepflichtet.
In all den Jahrzehnten ihrer Ehe hatte es keine einzige Nacht gegeben, die sie nicht nebeneinander verbracht hatten. Und es hatte niemals Streit gegeben, noch nicht einmal Zank. Kein Ohr der Welt hätte von einem bösen Wort zwischen den Eheleuten Rieser berichten können, denn kein solches war jemals gefallen.

Franz Rieser saß unter dem blühenden Apfelbaum und dachte an seine Maria. Wieder weinte er stumm.
Vor genau einem Jahr war Maria Rieser gestorben.
Sie war ohne erkennbare Anzeichen einer Krankheit an seiner Seite eingeschlafen. Aufwachen hatte er alleine müssen.
Er griff in die Tasche seiner Jacke und zog einen weiteren zylindrischen Gegenstand heraus. Auch dieser wurde in seiner Hand bald warm, so warm, wie es ihm ums Herz war beim Denken an Maria.
›Ach, meine Maria‹, dachte er, ›vor genau einem Jahr bist du gegangen. Wie geht es dir? Und wie geht es dem Michael? Ist er bei dir? Ich habe dir heute Blumen auf dein Grab gelegt. Und nachgedacht. Schon bald werde ich wieder an deiner Seite sein.‹ So dachte er, während er den Blick fest auf den Gegenstand in seiner Hand gerichtet hielt.

Nicht nur, dass sie niemals voneinander getrennt geschlafen hatten, man sah Franz und Maria Rieser bloß zu zweit in der Öffentlichkeit. Die raren Besuche der Dorfkirche standen sie gemeinsam durch, auch die seltenen Einkehren in das teurere und bessere Gasthaus des Ortes fanden gemeinsam statt. Sie hatten sich nicht absichtlich vom Dorfleben ferngehalten, es hatte sich einfach so ergeben, dass sie die meiste Zeit auf ihrem Hof zubrachten. Gastfreundlich, das waren sie. Wann immer jemand aus dem Dorf auf ihren Hof kam, wurde dieser Mensch großzügig bewirtet, oft mit Gerichten aus Wildfleisch, das Franz von seinen zahlreichen Jagdausflügen mit nach Hause brachte.
So war es auch nach dem Begräbnis des Michael. Beinahe alle Dorfbewohner waren auf den Hof der Riesers gekommen, um ihr Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen, denn trotz ihrer sehr privaten Lebensführung waren diese im Ort hochgeachtete Leute. Und alle wurden sie bewirtet, obwohl der Michael vielen von ihnen als Sonderling gegolten hatte, zu dem man besser Abstand hielt. Und des Michaels Eltern hatten das genau gewusst.

›Du warst die einzige Frau, die ich geliebt habe. Kein Schrei, keine Träne kann die Tiefe des Lochs ausdrücken, das dein Fortgehen in mich gerissen hat‹, dachte Franz Rieser. Das Objekt in seiner Hand war nun mehr als nur warm. Es war heiß, ganz so, als drängte die Hitze aus ihm heraus. Und Franz fühlte diese Hitze. Sie begann nämlich, von seiner Handfläche ausgehend, sich in ihm auszubreiten, immer näher kam sie seinem Herzen. ›Vorige Woche habe ich das Geld vom Verkauf des Hofes der Monika überwiesen. Selbst unsere Enkelkinder sind nun befreit von Geldsorgen. Und das ihr Leben lang, wenn sie geschickt mit dem Geld umgehen.‹

Zwei Monate nach dem Tod seiner Ehefrau hatte Franz Rieser den großen Hof verkauft und sich bloß ein kleines Haus am südlichen Rande des Anwesens behalten. Der Besitzer des örtlichen Sägewerks hatte eine sehr große Summe bezahlt und zugesichert, worauf Franz bestanden hatte, nämlich dass sämtliche Mägde und Knechte ihre Arbeitsstellen behalten durften.
Er hatte es in dem großen Haus, das er mit seiner Frau bewohnt hatte, nicht mehr ausgehalten. Jeder einzelne Einrichtungsgegenstand erinnerte ihn an sie, mit jedem Winkel eines jeden Raumes waren Erinnerungen verbunden, und zwar ausschließlich schöne.
Er, der in seinem ganzen Leben niemals eine andere Frau als seine Maria geküsst hatte, der niemals auch nur einen einzigen Gedanken darauf verschwendet hatte, einer anderen Frau die Füße zu streicheln, hätte unmöglich weiter in diesem Haus leben können. Noch dazu, wo ihr Geruch in jedem Zimmer deutlich wahrzunehmen war.
›Die Möbel habe ich den Knechten und den Mägden geschenkt. Sie werden sie in Ehren halten. Ich habe die Monika gefragt, ob sie etwas davon brauchen kann, doch bis auf ein paar Tischtücher, die du genäht hast, hat sie nichts davon brauchen können, und ihre Kinder auch nicht.‹
Er hatte sein kleines Haus mit neuen Möbeln eingerichtet, die günstig aber formschön waren, denn er hatte es nicht übers Herz gebracht, Dinge, die ihn an seine Frau erinnert hätten, mitzunehmen.

Dieses eine Jahr, dieses exakt eine Jahr, nach Marias Tod war das schlimmste im Leben des Franz Rieser gewesen.
Nach ihrer Beerdigung, an welcher eine große Zahl an Menschen teilgenommen hatte, hatte er sich um den Verkauf des Hofes gekümmert. Danach war er in ein tiefes seelisches Loch gefallen.
Er hatte jeden Tag bis zur Mittagszeit im Bett gelegen, jedoch keineswegs schlafend, sondern hellwach und in Gedanken versunken. Allein, er wusste oftmals selbst nicht, woran er dachte. Natürlich dachte er oft an Maria. Diese Gedanken waren die einzigen, die für seine Seele greifbar waren, denn jedes Mal, wenn sie wieder verschwinden wollten, hielt diese sie fest und zerrte sie zurück in den Fokus seiner Wahrnehmung.
Dann stand er auf, versorgte Murli und Minka, die Katzen, und bereitete sich ein kärgliches Mittagsmahl zu, meist bloß Suppe und ein Stück Schwarzbrot. An den Nachmittagen spazierte er oft über seinen ehemaligen Hof und unterhielt sich mit den dort arbeitenden Menschen, bevor er, schon am frühen Abend, ermattet zu Bett ging.

Monika, seine Tochter, war viele Male aus Graz gekommen, um ihrem Vater Gesellschaft zu leisten. Wenn es das Wetter zuließ, saßen sie auf der Holzbank vor seinem Haus und sprachen über Verschiedenes.
»Ich wünschte, ich wäre bereits wieder bei der Mama.« Diesen Satz musste Monika oft hören und auch ertragen.
»Papa«, pflegte sie dann zu sagen, »der Augenblick wird kommen, in dem du wieder bei der Mama bist. So wie er eines Tages auch für mich kommen wird, dich und die Mama wiederzusehen. Und den Michael.« Den letzten Satz sagte sie oft seufzend.

Eines Tages erzählte Franz Rieser seiner Tochter, was er vor vielen Jahrzehnten in Wien über die letzten Monate im Leben des Michael erfahren hatte.
Monika brach daraufhin in Tränen aus, aber es waren keine Tränen der Trauer, sondern solche der Befreiung. »Papa«, schluchzte sie, »ich habe es immer gewusst, dass der Michael sich umgebracht hat.« Das Wort ›gewusst‹ schrie sie beinahe heraus.
»Wie, du hast es gewusst?« fragte Franz erstaunt.
»In seiner Wohngemeinschaft gab es dieses eine Mädchen. Sie hat mich angerufen, nachdem der Michael gesprungen ist. Auf dem Küchentisch hatte er einen Brief für mich hinterlassen. Darin steht, dass er seine Schatten nicht mehr aushält. Und dass ich euch nichts davon erzählen darf, dass es Selbstmord war. Weil er euch nicht noch mehr belasten wollte.«
Franz legte seine Hand auf die seiner Tochter, sah ihr lange in die Augen und flüsterte: »Ich habe es auch gewusst. Ich hatte zwar keinen Beweis, aber tief in mir habe ich es gewusst.« Dann lagen sie sich in den Armen, minutenlang und weinend.

An diesem Frühlingstag im Jahr 2013, unter einem blühenden Apfelbaum sitzend, wusste Franz Rieser, dass er zu seiner Maria gehen wollte und auch würde.
›Meine Maria, du hattest recht‹, dachte er. ›Was zusammengehört, muss zusammenbleiben. Und das gilt auch für die Seelen. Zwei Seelen, die zusammengehören, müssen wieder zusammenkommen. In wenigen Augenblicken sind wir wieder vereint, du, der Michael und ich.‹

Ein letztes Mal blickte Franz Rieser auf die Schrotpatrone, die er in seiner Hand hielt, dann schob er sie in den rechten Lauf und spannte beide Hähne.
Als Monika hörte, was vorgefallen war, dachte sie: ›Leb wohl, Papa. Und sag der Mama bitte, dass sie recht hatte.‹

Michael Timoschek

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