Archiv der Kategorie: Carmen Rosina

Der Versuch einer Würdigung eines Versuchs …

Diese Frau wurde in eine Zeit geboren, als die Männer noch richtige Männer waren und die Frauen noch richtige Frauen.
Die Emanzipation war (für  manch einen) beruhigend weit weg, auf dem Bauernhof im Mühlviertel, in dem Leben mit zehn Geschwistern, Tieren, Feldern, da war genug zu tun, und jede und jeder wusste, was anstand.
Gähnende Langeweile oder sinnloses Konsumieren gab es nicht.

Die Abwechslungen für die Kinder waren der Kirchenbesuch, Familienfeierlichkeiten, Hochzeiten, Taufen, Begräbnisse, leider, und der Schulbesuch.

Da ist irgendwie der Wurm drin, so gelingt die erhoffte schriftliche Annäherung nicht.
Ich kann zwar die Zeit zu verstehen versuchen, das Umfeld des Aufwachsens, die Umstände allgemein, was ich aber so nicht kann: erklären, warum diese Frau so ist wie sie jetzt ist, mit ihren etwas mehr als sechzig Jahren, mit einem Lebensweg, der nicht immer schnurgerade verlaufen ist, zu ihrem Glück?

Sie wollte nie zu viel, hat aber oft zu wenig bekommen, so sehe ich das.
Dabei hält sich ihr Bedauern in Grenzen, und mit Selbstmitleid hat sie wenig am Hut.
Eine einzige Frechheit ist ihre finanzielle Situation, wie die so vieler ihrer Generation (und auch die jüngerer Frauen mit „Betreuungspflichten“, wie es so schön heißt; ob es künftig besser wird,  bleibt abzuwarten):
Nach über vierzig Jahren, die der Arbeit und der Kindererziehung gewidmet waren, und das durchaus in erheblichen Anteilen und mit großer Herzlichkeit und Engagement, darf sie sich nun über eine minimale Pension „freuen“. Sie schafft das, wie so vieles andere zuvor auch.

Das Aufrappeln, das Aufstehen, Kämpfen und Weitermachen, das hat sie von ihrer Mutter. Die kam mit besagten elf Kindern und einem teilweise kranken Mann auf einem Bauernhof gar nicht dazu, ihr Los zu bedauern.
Und das Hadern mit dem eigenen Schicksal, mit den Vorgaben, die gemacht wurden: Wer das im und nach dem Krieg nicht getan hat, sieht auch in Friedenszeiten keinen Grund dafür.

Was für ein gewaltiges Erbe sie da angetreten hat, und wie sie es mit Bravour lebt, dieses bescheidene, kluge, freundliche Leben!
Diese Frau liest mehr als manch akademisch Gebildete und hat einen Scharfsinn, der immer wieder verblüfft. Woraus sie schöpft, hat sich vielen anderen, von Anfang an weicher Gebetteten, noch nie erschlossen.

Nicht der Eigennutz treibt sie an, niemals; die soziale Einstellung und der Gerechtigkeitssinn gehören zu ihrem Leben einfach dazu.
Ihren drei Kindern ist sie bis heute eine liebende, aufmerksame Mutter, auch wenn diese schon lange erwachsen sind.
Sie stand zu jeder Zeit und in jeder Situation hinter ihnen, so unterschiedlich die drei auch sind. Sie nahm ihre Kinder immer wichtiger als sich selbst und fand das selbstverständlich.
Vielleicht hätte sie ihnen gerne mehr geboten, das bedauert sie manchmal, und dass ihnen ein Aufwachsen in einer intakten Familie verwehrt geblieben ist.
Ihr Bemühen war es aber, das ihre Nachkommen geprägt hat, viel mehr als das „Scheitern“ in diesen einzelnen Bereichen, das sie manchmal – allzu selbstkritisch – sieht.

Das Rüstzeug, das sie ihnen mit auf den Weg gegeben hat, ist von unschätzbarem Wert.
Und so wird dieser kurze Text zu dem Versuch einer Würdigung eines Versuchs, vor allen anderen Dingen eine gute Mutter zu sein.

Alles Gute zum Muttertag, liebe Mama, Du bist die Beste!!!

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 14046

Kurze Geschichte eines Mannes mit 135 Eiern

Ich bin auf einer Hühnerfarm aufgewachsen. Meine Eltern widmeten sich voll und ganz der Aufzucht und dem Wohlergehen der Legehennen, die Eierproduktion war unser Lebensunterhalt, noch mehr als das, auch der Lebensinhalt unserer Familie.
Vielleicht erklärt das meine Eigenbrötlerei. Ich kenne jedenfalls keinen Menschen, der so ist, wie ich es bin. Meine Geschwister, die sind früher ausgezogen als ich, vielleicht ist das der Grund, warum sie als „normal“ durchgehen, während bei mir die endgültige Diagnose noch abzuwarten bleibt.
Bei uns zu Hause jedenfalls drehte sich tagein, tagaus alles um das schönste Lebensmittel von allen, unnachahmlich in Form und Inhalt: erstklassiges Design, Vollendung. Es ist mir nach wie vor ein Rätsel, wie etwas so Schönes in einem so hässlichen Tier wie einem Huhn entstehen kann.

Schon beim Frühstück ging es los, meine Eltern unterhielten sich nicht mit uns, sondern miteinander: Lässt die Zahl der gelegten Eier etwa nach? Geht es unseren Hennen gut, bekommen sie auch genug hochwertiges tierisches Eiweiß? Soll ein Hahn behalten werden, oder mehrere? Wird der Auslauf zu klein, sind wir der Kokzidiose endlich Herr geworden? Der Winter naht, wir sollten die Ernährung schön langsam fettreicher gestalten …

Ob wir Kinder neidisch waren auf die viele Aufmerksamkeit, die in anderen Familien dem Nachwuchs zukommt? Wir wussten ja nicht, wie ein morgendliches Elterngespräch anderswo ablief.
Auf dem Tisch standen natürlich kernweiche Eier, oder auch einmal Rührei, Waffeln oder Spiegelei.
Doch nicht nur das erste Mahl des Tages stand im Zeichen des Eies, o nein, keine Speise blieb Ei-frei, tagsüber gab es Spätzle mit Paradeissalat, selbstgemachte Nudeln (selbstverständlich mit Hartweizengrieß, Wasser und Eiern), paniertes Schweinefleisch mit Reis oder überhaupt Allerlei vom Huhn.
Mein Körper gewöhnte sich an das viele Eiweiß, wie auch meine Geschwister bin ich groß gewachsen und das Wort Cholesterin war in unserem Haushalt verpönt, das waren eindeutig Werte, die uns niemals vermittelt wurden. Damals wurde noch die Mär aufgetischt, dass zwei Eier pro Woche das Höchste der Gefühle seien, mehr sei ungesund.
Längst widerlegt inzwischen, glücklicherweise; was haben sich meine Eltern jahrelang geärgert, nun können sie wieder beruhigt Ernährungssendungen im Fernsehen verfolgen.
Kurz gefasst, so etwas prägt zwangsläufig, keiner hatte so viel mit Eiern am Hut wie meine Geschwister und ich.

Anders als sie habe ich mich als logischer Erbe der Farm nie ganz von daheim lösen können, und damit auch nicht von diesem dominanten Thema.
So kam ich – als erwachsener Mensch, wie man so sagt – zum Studium der Philosophie, denn eines beschäftigte mich von Kindesbeinen an: das Henne-Ei-Problem.
Ich nahm mir vor, dem ernsthaft auf den Grund zu gehen und hatte ein ambitioniertes Ziel: Ich wollte der erste Mensch sein, der dieses Rätsel einwandfrei löst. Was war zuerst da: die Henne oder das Ei? Das kann ja nicht so schwierig sein.
Dachte ich mir – so war es aber keineswegs, selbst bei eifrigster, reiflichster Überlegung nicht … Nie bin ich an ein Ende gekommen, weder dieser Fragestellung noch des Studiums: Wie viel ich auch lernte und studierte, es war und blieb ein Rätsel.

Ich war verzweifelt. In meiner schlimmsten Phase begann ich, gängige Wörter, die Zählbares beschrieben, durch das Wort „Ei“ oder „Eier“ zu ersetzen. So war eine Nachbarin eine Frau von 32 Eiern (also Jahren); wer Geld brauchte, dem fehlten 20 Eier oder mehr; wer nicht alle Eier im Schrank hatte, dem war nicht mehr zu helfen.
Mein Zustand wurde so offensichtlich, dass wohlmeinende Personen in meinem Umfeld beschlossen, es sei an der Zeit, gegenzusteuern, bevor endgültig niemand mehr mit meiner eigentümlichen Sprache zurechtkäme (meine Eltern übrigens waren die Einzigen, die darauf gelassen reagierten, wir hatten in dieser Hinsicht keinerlei Verständnisprobleme).

Die Therapeutin, die mir empfohlen worden war, machte mir gleich eine große Freude, als sie mich mit einem einladenden Lächeln bat, einzutreten, und wir erzielten auch schnell einige Fortschritte in Richtung Ei-befreites Denken.
Sie war es auch, die mir vorschlug, meine Gedanken schriftlich festzuhalten, und so erhielt ich einen aufschlussreichen Einblick in meine kläglich verbo(r)gene Gedankenwelt:
Keinen einzigen Satz konnte ich schreiben, in dem nicht mindestens ein „Ei“ oder zumindest „ei“ vorkam.
Wer es nicht glaubt, dem sei die Textbearbeitung meiner schlauen Therapeutin hier mit zur Verfügung gestellt.

Meine Fixierung wird sich hoffentlich bald bessern, aber selbst wenn es einige Zeit dauern sollte, bleibe ich dabei: Diese Frau genießt mein Vertrauen, sie ist mein Anker und mein Sonnenschein und ich gehe jedes Mal gerne zu ihr. Dort fühle ich mich wohl und ich behalte diesen Kurs bei, egal wie lange wir bis zur Heilung brauchen werden, es ist mir einerlei.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 14012

Warum fütterst du mich mit Schokolade?

Warum fütterst du mich mit Schokolade? Das hatte sie nur am Anfang gefragt, inzwischen stellte sie die Frage nicht mehr.
Damals war sie es nicht gewohnt gewesen, dass jemand lieb zu ihr war, Spaß daran hatte, sie zu verwöhnen. Als er sie gefunden hatte – und er musste zugeben, dass er aktiv gesucht hatte, und weiters, dass er sie rein nach Äußerlichkeiten ausgewählt hatte, wie denn sonst, zu Beginn? – war sie eine junge Frau gewesen, die im Leben nicht viel Gutes erlebt hatte, sie war eine Gescheiterte, und was noch schlimmer war, eine Frau, die nicht überrascht war, dass das Leben ihr so wenig Schönes zu bieten hatte, sondern viel zu viel von allem anderen.

So traf sie auf ihn, der beschloss, ihren Ängsten vor diesem und jenem Rechnung zu tragen, denn eine Furcht vor allem Unbekannten hatte sie fest im Griff, Fremdes war ihr ein Gräuel, und so hatte sie begonnen, ihm alles zu überlassen, was mit Außerhäuslichem zu tun hatte. Er war gut zu ihr, andere Menschen waren ihr suspekt.
So stieß auch sein Vorschlag auf große Gegenliebe, ein kleines Häuschen auf einem Hügel zu erwerben, gerade groß genug für sie beide, mit kaum menschlicher Zivilisation rundherum, nur ein Bahnhof ein Stückchen entfernt, in vielleicht zehn Minuten mit dem Fahrrad zu erreichen.

Was aber das Wichtigste war: keine aufdringlichen Nachbarn weit und breit, mit denen sie hätte reden müssen und die vielleicht irgendwelche gesellschaftlichen Ansprüche geltend gemacht hätten, wer weiß?
Und ihre Geschichte wollte sie wirklich nicht erzählen, keinesfalls sich der Neugierde Fremder ausliefern.
Was ging die das an, wie sie ihren Beschützer gefunden hatte, wie mies es ihr damals gegangen war, wie sie der Alkohol zuerst getröstet, erleichtert und dann fallen gelassen hatte, in ein tiefes, abgrundtiefes Loch. Wie er ihr das Seil zugeworfen hatte, und sie auch gleich noch hinaufgezogen hatte zu sich, wie er sich gegen alles Hemmende gestemmt hatte, um sie wieder nach oben zu bringen, sie, die nicht gerade ein Leichtgewicht war.
Das alles hatte ihn niemals gestört, er nahm sie so, wie sie war, mit ihren ungesunden Abhängigkeiten, ihren Phobien, ihrer Unlust auf andere; er hatte Freude an ihr, wie sie war.

Und er fühlte sich endlich dazu berufen, das Richtige zu tun, es war eine Fügung, ihr scheuer Blick, ihre fast schon leicht traurig wirkenden Rundungen, weil sie – obwohl noch jung – so gebeugt erschien, das alles rührte ihn an, so eine Frau wollte er haben, und zwar ganz für sich alleine.
Wie gut es sich traf, dass sie nicht gerne außer Haus ging, das Einkaufen überließ sie jetzt ohnehin lieber ihm, damals aber hatte sie sich noch dazu zwingen müssen, besonders, seit ihr eine Panikattacke im Supermarkt sehr zugesetzt hatte. Das war zuvor gewesen, als sie noch in der Stadt gewohnt hatte und sie auch gelegentlich arbeiten gegangen war. Später hatten die Trinksucht und aneinandergereihte Krankenstände sie „am Arbeitsmarkt schwer vermittelbar“ werden lassen, so war sie zuhause immer mehr ihren Zuständen verfallen, bis er in ihr Leben getreten war, das war Fügung, nicht mehr und nicht weniger: Er war Pfleger in dem Krankenhaus, in dem ihr Herz wegen der wiederkehrenden Angstattacken untersucht wurde, sie erfuhr dort immerhin, dass sie „nichts hatte“, wie oberflächlich betrachtet.
Bei ihrer Entlassung hatte er um ihre Telefonnummer ersucht, so nahm alles seinen Lauf.
Aber das brauchte kein Fremder zu wissen, da war er sich mit ihr völlig einig, so wie in fast allem.

Wie dankbar war sie, wenn er sich auf das Fahrrad schwang, um nach wenigen Stunden mit vollgepacktem Rucksack und Satteltaschen voller Essen zurückzukehren, schwitzend wegen der Stramplerei bergauf, und sofort zu kochen begann, gute Sachen, und viel.
Er liebte es, sie zu bekochen, zu füttern, er sah ihr oft beim Essen zu und achtete darauf, dass sie aufaß. Ihre Trägheit nahm zu, doch das schien ihn nicht zu stören, im Gegenteil, als sie das erste Mal nicht am Fenster stand, um ihn zu erwarten (nach draußen ging sie da schon nicht mehr), sondern auf dem Sofa eingenickt war, schien er sehr zufrieden zu sein. Zum Essen wurde sie mit einem zärtlichen Kuss geweckt.

Ihm war das ganz recht, dass sie sich kaum noch vom Sofa erhob, abgesehen davon, dass es ihr nach eineinhalb Jahren in seiner Obhut auch immer schwerer fiel, denn das Gewicht nahm rasch zu. Er brachte leise pfeifend Verstärkungen unter dem Liegemöbel an und war mit der Welt und sich im Reinen.
Auch dass sie sich fast ausschließlich im Wohnzimmer oder Schlafzimmer (später auch das nicht mehr, der Wechsel war ihr zu mühsam, auch der Kleidertausch wurde auf ein absolut notwendiges Mindestmaß beschränkt) aufhielt, war für ihn ein Grund zur Freude.
So war die Wahrscheinlichkeit, dass sie unversehens in sein Zimmer kommen und sehen könnte, welche Kontakte er online unterhielt, auf ein Minimum reduziert.
Er ahnte schon, dass es sie befremden würde, mit welchen Menschen er sich da austauschte, welche Fotos die erlesene Runde machten, wer Bewunderung auf sich zog und wer sich aus dem Forum verabschiedete, oft aus traurigen Gründen, da wurde besser nicht besonders intensiv nachgefragt.
Das Forum war seine Spielwiese, hier hatte er schon so manchen wertvollen Tipp bekommen.
Die User waren anonym, das war selbstverständlich, und doch kannte man sich mit der Zeit.
Das Besondere an dem System war, dass man sich sozusagen hinaufarbeiten konnte, wer Ambitionen hatte, konnte es weit bringen. Erkennbar war der Status an einem Kürzelsystem mit Nummerierung der User-Accounts. So war der anfangs so bescheidene FeederBe95 innerhalb kürzester Zeit zum FeederBe135 geworden, die Bewunderung der anderen war ihm gewiss.
Er selbst war als FeederIl103 ins Rennen gegangen, hatte also auch relativ weit unten angefangen, nach anfänglichen Zögerlichkeiten war er am derzeitigen Stand FeederIl159 angelangt, aber nun flott Richtung FeederIl165 unterwegs, ein ganz Großer unter Gleichgesinnten. Alle drei Monate wurde neu bewertet, gegen Ende der Frist verstärkten sich seine Bemühungen wie von selbst, es war ein Spiel, wenn auch kein leichtes.

Sie dämmerte dahin, sah fern, schlief, aß, trank außer Alkoholischem auch einmal Cola oder Limonade, tat dem Stoffwechsel Genüge, manchmal wankte sie ins Bad, bald schon aber übernahm er das Waschen und betrachtete aufmerksam die immer üppiger werdenden Rundungen, Hügel, Berge fast.
Dass sein Smartphone immer dabei war, fiel ihr nicht auf, oder es war ihr egal.
Sie selbst besaß kein Mobiltelefon, sie fürchtete sich natürlich vor der Strahlung, als ob die ihr etwas hätte anhaben können! Ihm war es recht, so war sie keinem schlechten Einfluss anderer ausgesetzt (abgesehen davon, dass sich ihr Bekanntenkreis in der Zeit der Arbeitslosigkeit und mit der steigenden Anfälligkeit für Phobien ohnehin rasch auf null reduziert hatte).

Dann, mitten im schönsten Einvernehmen, ein Aufstand! Sie war aufgestanden, das für sich genommen schon eine kleine Sensation in jenen Tagen der Ruhe und des Friedens. Hatte seine Einkaufsabwesenheit dazu genützt, sich selbst zu waschen und zu kämmen und sich sogar sauberes Gewand anzuziehen, der Himmel weiß, wie sie das geschafft hatte, mit ihrer permanenten Kreislaufschwäche, dem Schwindel und den gut hundert überzähligen Kilos.
Noch schlimmer aber war, was sie ihm als Vorschlag unterbreitete: Abnehmen wolle sie, im Fernsehen habe sie eine Werbung für eine neue Diät gesehen, das wolle sie versuchen.
Er fuhr schwere Geschütze auf, Lebensgefahr bei Anwendung der Wundermittel sei gegeben, er als Pfleger wisse, wovon er spreche. Sie schien eingeschüchtert zu sein, aber nicht genug.
Immer wieder kehrte diese hartnäckige fixe Idee im Laufe der nächsten Wochen zurück, er musste sich schon sehr zurückhalten, nicht zornig zu werden.
Sogar die Essensaufnahme verweigerte sie, zumindest eine der sieben täglich liebevollst zubereiteten Mahlzeiten verschmähte sie, er war zutiefst getroffen.
Wenn das so weiterging, konnte er den Status FeederIl165 fürs Erste vergessen.

Manchmal geschahen solche Dinge im Forum, ihm hatten die armen Teufel immer leidgetan, jetzt betraf es ihn. Wie hatte er sie nur so falsch einschätzen können? In ihr regte sich ein immanenter Widerstandsgeist, er hatte nicht gewusst, dass sie so etwas überhaupt besaß.
Ein für alle Mal musste Schluss sein mit diesen Mätzchen.

An diesem Tag eröffnete er ihr, dass er genug davon habe, alles, wirklich alles für sie zu tun, sie wisse es nicht genug zu schätzen, er brauche jetzt auch einmal Urlaub, er werde sich eine Auszeit aus diesem Jammertal gönnen.
Sie solle sehen, wie sie ohne ihn zurechtkomme. In vierzehn Tagen komme er voraussichtlich zurück, er hoffe sehr, sie habe sich ihr Verhalten bis dahin vor Augen geführt und sei endlich wieder zu der Frau geworden, in die er sich verliebt habe.
Sprach’s und schwang sich aufs Fahrrad, den Rucksack und die Satteltaschen diesmal mit einigen Kleidungsstücken gefüllt.
War guter Dinge, beim Zurückkehren eine einsichtige Frau anzutreffen und hoffte natürlich auf den sofort nach der Normalisierung einsetzenden, möglicherweise sogar Zugewinn bringenden Jo-Jo-Effekt.

Was sich bei ihm während seines „Urlaubs“ getan hat, insbesondere eine ungewöhnliche Zugfahrt, ist eine andere Geschichte.

Nun aber kehrt er frohgemut zurück, hat die Kleidungsstücke fortgeworfen, um genug Platz für Essen in seinen Packtaschen zu haben (sie wird sicher hungrig sein nach all den Tagen ohne ihn…) und radelt keuchend den Berg zum Häuschen hinan.

Viel zu spät sieht er den Rettungswagen in der Einfahrt, dieser ist aber schon am Abfahren und die beiden Männer, die er im Wagen erspäht, beachten ihn nicht, sie fahren ziemlich rasch an ihm vorbei, streifen ihn beinah.

Die Sorge um seine Gefährtin weicht abrupt, als er in das verkniffene Gesicht eines Uniformierten blickt.
Sofort wird er mit der herausgepressten Frage konfrontiert: Sind Sie Volker Habermann? (Kein Abwarten der Antwort.) Sie sind verhaftet wegen des dringenden Verdachts auf Freiheitsentzug und vorsätzlicher Körperverletzung an Frau Ilse Bachl. Sie kommen jetzt mit.
Der Polizeiwagen wartet hinter dem Haus.

Viel später sollte er erfahren, wer ihm zu seinem Platz im Untersuchungsgefängnis verholfen hatte. Aber die Gefängnis-Geschichte ist eine eigene. Eine ganz eigene.

Der User Feedher4ever war immer schon ein Exot in der Community gewesen, ein Koch, der den Austausch von Fotos, insbesondere von heimlich geschossenen, strikt ablehnte und deswegen immer wieder für Wirbel in der Truppe sorgte. Auch das Zählsystem fand er widerwärtig, und er hatte sich immer wieder gegen die ausgefuchstesten Wiegesysteme ausgesprochen, sein Status war ihm schlichtweg egal. Manchmal hatte er es sogar geschafft, die Gruppe dahingehend ein bisschen zu demoralisieren. Volker mochte ihn auch vor der Anzeige nicht.

Als Feedher4ever aus der Forums-Kurzmeldung von FeederIl159 erfahren hatte, dass dieser das Weite suchen wollte und seine Gefährtin hilflos (und ohne Essen) alleine zurückzulassen gedachte, verständigte er die Polizei, diese holte nach erfolgreicher Datenrecherche (Gott weiß, welche Gesetze sie dabei gebrochen haben) die Rettung zu Hilfe. Ein Verräter, wie er im Buche steht. Volker hat nun viel Zeit, sich eine gerechte Strafe für den Übeltäter auszudenken, auch für dieses undankbare Weib, der geht es bestens, hat er vernommen, und dreißig Kilo weniger hat sie angeblich auch schon. Also ist sie zumindest nicht an den verfluchten Feedher4ever geraten, so viel steht fest.

 Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 13020

Volkers Fahrt

Ja, der Volker, mit dem ist es eine eigene Geschichte, ein Exkurs lohnt sich vermutlich, vielmehr hoffentlich.
Eigentlich wollte er ja gar nicht einsteigen, und ebenso eigentlich war das sein Hauptproblem. Immer alles offen lassen, Optionen sollen Möglichkeiten bleiben und keine Entscheidungen nach sich ziehen, wer also in einen Zug steigt, lässt einen anderen sein, auch einen, der vielleicht erst übermorgen kommen mag und der viel schöner, größer, ansprechender wäre als der jetzige.
So kann man auch das Leben verpassen, meint in großer Sorge seine Mutter. Das mit der Ilse lassen wir jetzt aber lieber. Oder wir kommen darauf zurück, falls die Schreibe auf die Folgen von Alkoholmissbrauch kommen soll(te).

Der Volker also sitzt in diesem vermaledeiten Zug, er fragt sich schon, was das soll, da betritt eine auffallend schöne, leicht verwirrt wirkende Frau das Großraumabteil, sofort bricht ein Blickgewitter über sie herein, sie entscheidet sich schließlich für einen Sitzplatz schräg gegenüber Volker. Dieser winkt den Zurückgelassenen müde aus dem Fenster zu und schon ruckelt es und der Zug fährt ab.
Er, der Schläfrige, sieht mit einigem Neid zu, wie sie ihr einziges Gepäckstück, ein recht großes Kopfkissen, an die Scheibe lehnt und erschöpft die Augen schließt.
Die hat recht, denkt er. Das, was sie gerade braucht, hat sie mit, mehr nicht, keinen unnötigen Ballast.
Er hingegen schleppt immer Unmengen an Möglichkeiten mit sich herum, gewappnet für Vorfälle, die sich nie ereignen mögen, einen monströsen Regenschirm am strahlendsten Frühlingstag hat er sich bis heute nicht verziehen.

Vielleicht hat er auch geschlummert, schwierig zu sagen, der Nacken schmerzt, irgendwie wird er schon einge(k)nickt sein.
Er reibt sich die Augen, die Schöne ist offenbar gerade erwacht, schüttelt sich ein kleines aufreizendes bisschen, streckt ihre langen Glieder und hat plötzlich ein Sandwich in der rechten Hand. Der Polster ist nirgendwo zu sehen.
Sie betrachtet das Brötchen und beißt schließlich mit Appetit hinein, was Volker daran erinnert, dass seine letzte Mahlzeit viele Stunden zurückliegt.

Auch ein Schluck zu trinken wäre gut, denkt er und macht sich auf die Suche nach einem Speisewagen. Die Suche bleibt erfolglos, so kehrt er schließlich um und stürzt fast, als der Zug in eine engere Kurve fährt, weil er damit beschäftigt ist, die Frau anzustarren.
Sie trinkt genüsslich aus einer Wasserflasche, die gekühlt zu sein scheint, wie die Kondenswassertropfen verraten.
Sie muss wohl schneller gewesen sein als er, und in der anderen Richtung erfolgreicher unterwegs.

Sie nach dem Speisewagen zu fragen, traut er sich nicht, diese Erscheinung jagt ihm Ehrfurcht oder gar Angst ein. So geht er in die andere Richtung, doch dort befinden sich außer halbleeren Wagons nur die Lokomotive und eine Toilette.
Hier spritzt er sich einige Hände kaltes Wasser ins Gesicht und atmet tief durch.

Wenig überrascht stellt er fest, dass ihr Platz leer ist, als er in das Abteil zurückkommt.

Es wird Zeit, auszusteigen.

Er sieht Ilse fast schon am Bahnsteig stehen, hört sie beinahe lachen und sagen, er hätte gleich auf sie hören sollen.
Ausgerechnet Ilse!

Carmen Rosina
Text veröffentlicht in: Die Zeitgenossin, Heft 8

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 13019

 

vollendete vergangenheit oder wie ich lernte, das plusquamperfekt zu lieben

freundin, lass los!
leinen los und raus aufs meer
hinein in die vielen stürme
die sonnenuntergänge und -aufgänge
das sanfte schaukeln und die leichte brise

lass dich doch nicht ankern von augenblicken
wäre schade drum, um die neuen winde
sie sich bloß nicht aus den segeln nehmen lassen!
diese bauschen sich zu recht
und die reise geht weiter

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 13042

Ihr Gesprächspartner wurde ausgeloggt

Klick! Mich! An! schrie es ihm von der Webseite entgegen.
Mann, war ihm langweilig. Wo war er da nur gelandet? Ein Dienst, der „spannende  Unterhaltungen mit interessanten Menschen“ versprach, versuchte offensichtlich, ihn dazu zu animieren, nach einer besser kurzen als langen Weile eine kostenpflichtige Telefonnummer anzurufen.
Darauf würde er, Philologe, Philosoph und Intellektueller, sicher nicht hineinfallen. Never ever.
Aber neugierig war er doch. Und die erwähnte Langeweile …
Zudem war es höchst gefährlich, eine Lücke entstehen zu lassen. In der Ruhe lauerten die Gedanken. Davon hatte er erst einmal genug.
Geistige Überanstrengung jedenfalls war von dieser Seite nicht zu befürchten, deswegen nur los.
Klick!
Ah, eine junge Frau, wie vorhersehbar, ungebunden, chat (und mehr?)- willig bot ein „Gespräch“ an. Wie praktisch. Eventuell sogar zu „Studienzwecken“ verwendbar.
Das Übliche, wobei er nicht wusste, was in so einem Fall üblich war, ein Foto einer zu grell geschminkten Dame sollte ihm die „Unterhaltung“ schmackhafter machen, als sie es zu werden versprach.
Lobesworte folgten einigen einfachen Sätzen, wie gekonnt er doch formuliere, also in dieser Sprache: Du schreibst so gut. Du bist ein interessanter Mann.
Herausforderung angenommen, Erwiderung: Woher willst Du das wissen?
Das denke ich mir, wie du schreibst.
Mann, mühsam, aber doch, ein Kontakt, wo sonst keiner wäre: Sonst schreibe ich besser.
Sie, ganz auf einfühlsam trainiert: Hattest du einen anstrengenden Tag? Entspann dich etwas.
Dem anstrengenden Tag schien ein öder Abend zu folgen, er beschloss, dem einen Strich durch die Rechnung zu machen: Ich weiß gar nicht, warum ich Dir schreibe, es gibt Dutzende Menschen, mit denen ich mich besser unterhalten könnte.
Nicht gerade die feine Art.
Oh! Das hatte sie gerade tatsächlich geschrieben. Es begann ihn jetzt wirklich neugierig zu machen, folgte da ein „Du schlimmer Junge!“ oder eine anspruchsvollere Koketterie?
Sicherlich wurde der Schriftverkehr mitverfolgt, regelmäßig kontrolliert, ob die Angestellten auch tatsächlich leisteten, wofür sie bezahlt wurden: Lockrufe auszusenden, die unwiderstehlich waren, Suchtpotenzial hatten.
Oder hatte sie ihn durchschaut, dass er nur provozieren, irgendeine Reaktion erhalten wollte?
Nichts Einstudiertes, sondern tatsächliche Auseinandersetzung mit der Person am anderen Ende der Leitung sozusagen? Was für eine Art der Verbindung sollte das denn werden?

Na, beleidigt? folgte auf seine Nachdenk- und daher Schreibpause.
Klar, sie musste ihn ja doch bei Laune halten. Und zum weiteren Tastaturbearbeiten animieren.
Nein, gar nicht, ich habe bloß gemeint, so besonders vieles gibt es nicht, worüber wir uns unterhalten könnten, wir geben sicherlich nichts Persönliches und schon gar nichts Wahres über uns preis, übers Wetter werde ich mich sicher nicht unterhalten und nach Erotischem ist mir nicht, was bleibt also übrig?
Ihr halbherziges „Wieso glaubst du, so was bekommst du von mir?“ ließ ihn wieder zweifeln, ob das zu irgendetwas führen, jemals einen wie auch immer gearteten Sinn ergeben könnte.
Schließlich rang er sich durch, noch einmal zu antworten: Ich dachte, darum ginge es hier hauptsächlich.
Die Antwort verblüffte abermals: Dabei geht es um dich.
Schlichte und einfache Worte, die ihn nochmals ins Grübeln brachten. Ging es hier um ihn?

Ums Verdienen vermutlich, um das Ausloten seiner Dummheit, festzumachen an dem Grad des Widerstands oder der Bereitwilligkeit, einen schönen Teil seines Geldes loszuwerden.
Eine glatte Lüge also. Es war nie um ihn gegangen. Nicht bei der Hochzeitsplanung, die war so geworden, wie es sich die Braut in spe vorgestellt hatte, nicht bei seinen Vorlesungen, da ging es um die Lehrpläne, die ein anderer für sinnvoll erachtet hatte, nicht bei den Untersuchungen beim Arzt, wo nur versucht wurde, zu eruieren, wie lange seine Arbeitskraft auf möglichst hohem Niveau aufrecht erhalten werden konnte.

Er driftete ab, kein Wunder, bei den Belanglosigkeiten, die von ihr kamen.
Was maßte sich diese Frau an? Wieder so eine, die ihm die Welt erklären wollte. Hassenswert „positive“ Ratschläge, dazu dieses pinke, bemühte Lächeln, das ihn vom Bildschirm aus zu verhöhnen schien. Die kapierte rein gar nichts. Was hatte er erwartet?

Ich glaube, es ist genug. Sie schien sich leicht aufzuregen.
Aber ihm war sie einfach nicht gewachsen, warum sah sie das nicht ein? In Ruhe lassen sollte sie ihn, oder gut unterhalten. So etwas brauchte niemand.

Wie viel Zeit vergangen war, konnte er nicht einmal ahnen. Plötzlich war Schluss, ein eindeutiger Moment.
Warte, ich muss schnell etwas holen.

Der Hahn spannte sich ganz ohne Anstrengung (ein Klick), das war ein wirklich kostbarer Augenblick, aber was für ein Vergnügen, endlich, e-n-d-l-i-c-h auch abdrücken zu dürfen, nach all der Zurückhaltung, der Vernunft, der völlig unangebrachten Ratio!

Der Effekt war maximal. Ein ohrenbetäubender Lärm, ein Bersten, ein Splittern, eine Verzückung. Er war mittendrin im Leben. Dann diese Ruhe, das Einssein mit sich, eine unglaubliche und alles und vor allem ihn erfüllende Stille.

Bis er das nächste Geräusch hörte, die Haustüre, die sich wie von selbst öffnete.

Harsche Männerstimmen, vermutlich seine übermotivierten Nachbarn. Aber nicht nur.

Handschellen???

Endgültig ins Aus geklickt.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 13021

Ende einer Korrektorin

Ein wenig verrückt war sie immer schon, zumindest seit ich sie kannte.
Manchmal war es nicht ganz so leicht, ihr zu folgen, im wortwörtlichen wie im übertragenen Sinn. Ihr Schritt war flott, forsch, fordernd. Und ihre Worte waren es auch. Sie ließ nichts Ungefähres gelten, schwammig Formuliertes war ihr ein Graus. Warum sie mit mir befreundet war? Weil sie jemanden zum Korrigieren brauchte, und das war ich, ihre alte Schul- und Jugendfreundin.
Jede Woche trafen wir uns zu einem gemeinsamen Spaziergang, Spazierlauf eher, was sie betraf. Und das seit mehr als zehn Jahren schon. Mir zuliebe zügelte sie sogar ihre Schritte, schließlich wollten auch meine Zigaretten zeitgleich konsumiert werden, und zwar von ihr und von mir. Sie rauchte ausschließlich bei unseren Spaziergängen, sagte sie mir, dann dafür hemmungslos.
Ich spendierte also das Nikotin, sie die Gesprächsthemen.
Plötzlich, es war vor zwei Jahren, aber ich weiß es noch, als ob es eben passiert wäre, blieb sie stehen, wir waren gerade mitten in einem Gespräch über das männliche Gehirn und seine Rätsel. Diese blieben ungelöst, denn etwas fesselte ihren Blick mehr als das.
Es war ein Schild eines Psychotherapeuten, er bot „Termine nach Vereinbahrung“ an. Sie war sprachlos. Ein Doppel-Doktor mit Vereinbahrung. Sie schüttelte heftig den Kopf. Wenn es nicht Sonntagabend gewesen wäre, hätte sie sicherlich gleich die auf dem Schild angeführte Telefonnummer angerufen, so empört war sie.
Kurzentschlossen holte sie ihren Augenbrauenstift hervor und strich das ungeheuerliche „h“ durch. Es blieb ihr keine Wahl, ich sah es in ihren Augen, die Verzweiflung, beinahe Resignation.
Der restliche Spaziergang verlief wortkarg. Sie konnte es immer noch nicht glauben. Das war so in Druck gegangen, zur Schilderproduktion freigegeben, und angebracht an einem Haus mit über zwanzig Parteien, den Türschildern nach zu schließen. Es gingen also tagtäglich Unmengen an Personen hier vorbei und lasen das Unfassbare, und noch schlimmer, ließen es auf sich beruhen.
Seither wurden unsere gemeinsamen Wege von diesem Thema dominiert. Eine Baumarkt-Werbung mit Plakat im Schaufenster: „Preisatacke!“ O nein, ich sah es kommen, sie würde sich wieder fürchterlich aufregen. Manchmal versuchte ich sie zu schonen, andere Wege zu nehmen, wenn ich untertags auf Fehlerhaftes gestoßen war. Sie schien das alles sehr mitzunehmen, ja, persönlich zu treffen. Sie besserte nun mit rotem Lackstift aus (im Baumarkt-Fall direkt auf das Schaufensterglas, hinein konnte sie ja nicht), unsere Gänge fanden nach und nach immer später statt, bevorzugt in der Dunkelheit. Sie wollte ja nicht, dass wir Schwierigkeiten bekämen.
Irgendwie fühlte ich mich aufgewertet, als nunmehrige Komplizin. Wir hatten eine Mission.
Sie versuchte alles, wirklich alles, um der grassierenden Rechtschreibschwäche Einhalt zu gebieten. So machte sie die Schilderfirma ausfindig, die das „Vereinbahrungs-Schild“ zu verantworten hatte. Dort erhielt sie die Auskunft, der Psychotherapeut habe das in dieser Form hingeschickt, er sei sogar auf den Rechtschreibfehler hingewiesen worden, wollte das aber genau so haben. Sie verstand die Welt nicht mehr, nahm sich vor, den Doppel-Doktor zu kontaktieren. Eine für mich unverständliche Scheu, die ich bisher an ihr nicht kannte, ließ sie aber vor diesem Schritt zurückschrecken.
Dem Baumarktleiter hingegen schrieb sie ein gepfeffertes e-Mail, dass die Preisattacke auf ihr zweites „t“ nicht verzichten könne, und selbst wenn derzeit Sparpreise angeboten würden, doch bitte nicht an der Rechtschreibprüfung zu geizen sei. Keine Reaktion.
Sie wurde immer verbissener.
Eine Neonreklame in luftiger Höhe machte mir echte Sorgen. Ich hatte sie am Weg zur Arbeit frühmorgens schon entdeckt. Es war nun nur eine Frage der Zeit, bis wir an diese Stelle kamen, denn sie wollte die Kreise erweitern, unsere Märsche wurden somit länger.
Längst trugen wir flaches Schuhwerk, nichts sollte uns an einem schnellen Abgang hindern, falls nötig.
Sie war wie hypnotisiert von der neonblauen Schrift in mehreren Metern Höhe. Wie konnten sie nur! „Heute Großes Finnale“ stand da in Riesenlettern. Das war zu viel.
Sie kletterte hurtig das Gerüst hinauf, ich hatte keine Chance, sie daran zu hindern. So schnell sie konnte, nahm sie die Querstangen. Ich sah von unten hinauf, meine Höhenangst hinderte mich daran, es ihr gleichzutun, abgesehen von meiner momentanen Unfähigkeit, mich zu bewegen, auch nur irgendetwas zu sagen, ihr abzuraten.
So blieb mir nichts anderes übrig, als zuzusehen, wie sie sich in die schwindelerregende Höhe begab, ungesichert, in Lebensgefahr.
Sie konnte das zweite „n“ links unten ergreifen, versuchte, es aus der Verankerung zu reißen. Was sie mit dem „G“ vorgehabt hätte, werden wir wohl nie erfahren, denn sie missachtete völlig, dass die Buchstaben verkabelt waren, also unter Strom standen. An den Rest kann ich mich nur noch bruchstückhaft erinnern, das sei der Schock, meinte mein Therapeut, es kann noch lange dauern, bis die Erinnerung auftaucht, mir ist es ohnehin lieber, sie kommt nie wieder.
Der Psychotherapeut, unser Doppel-Doktor von damals, sagte auch, ihre Zwangsfixierung sei gar nicht so selten und die Zahl der Betroffenen im Steigen begriffen, seit die Rechtschreibung allgemein immer schlechter werde. Mit seinem eindeutigen Schild habe er Menschen wie meine Freundin ansprechen wollen, um ihnen zu helfen. Warum hat sie sich nie bei ihm gemeldet? Warum habe ich nichts in dieser Richtung unternommen? Er hätte das Schlimmste vielleicht verhindern können… Er meinte zwar, ich solle mir keine Vorwürfe machen, aber wie kann ich das?

Sie muss gefallen sein, ich muss geschrieen haben, die Rettung muss verständigt worden sein, das wurde mir nachher erzählt. Das „n“ leuchtete nicht mehr. Ihr Finale war in diesem Fall ein richtiges, allerdings ein Großes.

(Wer es lieber weniger brutal hat, kann sie auch gerne am Leben lassen, das ist ganz einfach zu bewerkstelligen, durch Weiterlesen nämlich:)

Nach ein paar Tagen durfte ich sie besuchen. Sie war im Krankenhaus, kaum aus ihrer ersten Ohnmacht nach dem Fall erwacht, in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt worden. Da ihre Verletzungen gravierend waren, wurde das als notwendig erachtet. Außer Knochenbrüchen und zahlreichen inneren Verletzungen waren auch gröbere Ausfälle, was ihr Erinnerungsvermögen betraf, zu befürchten.
Nach einigen Wochen war es so weit, sie wurde aus den Tiefen ihrer Bewusstlosigkeit geholt.
Gespannt warteten ein Ärzteteam und ich auf die ersten Worte; es kam lange nichts.
Sie plagte sich, mit dem Sprechen zu beginnen.
Auf der Intensivstation war nur ein weiteres Bett ihr gegenüber belegt, dieses hatte eine Tafel angebracht, auf der mit der Hand geschrieben stand „Intensivbeobachtug“.
Als sie den Kopf ein wenig drehte, mich anlächelte und auf meine Frage, wie es ihr gehe, meinte: „Alles völlig in Ordnung“, da wusste ich: Es war vorbei. Das war das Ende der Korrektorin.


(Und wer es noch positiver mag, der kann sich gerne der nächsten Zeilen bedienen:)

Sie genas vollständig. Bis auf das Nichtfunktionieren dieses analytischen Zentrums, das, seit sie lesen gelernt hatte, alles Fehlerhafte sofort herausgepickt und ihr zum Fraß vorgeworfen hatte: Jene Gabe war unwiederbringlich verloren.
Andere würden ihre Rolle einnehmen müssen. Sie bedauert nichts.

Carmen Rosina

Text veröffentlicht in: Die Zeitgenossin, Heft 11

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 13022

Her mit dem Mist!

Danke, dass ich diese Gelegenheit bekomme, mich und meine Beweggründe kurz vorzustellen: Mein Name ist Sandra Reingruber und ich arbeite als Putzfrau.
Unser junger Chef in der Leasingfirma, ein trendiger Typ, nennt uns zwar jetzt „Teamplayer im Facility Management“, aber die Tätigkeit ist die selbe geblieben: den Mist der anderen wegräumen.
Aber mein Anspruch geht darüber hinaus: Ich will mehr wissen, dahinter schauen und Verborgenes entdecken.
Früher habe ich bei Familien mit kleinen Kindern geholfen, sauberzumachen, aber das hat mir nicht dieses großartige Entdecker-Gefühl gegeben wie jetzt in diesem Riesenbetrieb mit der schicken Vorstandsetage, die habe ich am liebsten.
Die Familien mit Kleinkindern haben zwar viel zu putzen, aber kaum Dreck am Stecken, nichts Hintergründiges, Verborgenes, einfach nur Mist und einen Haufen Putzarbeit, aber das ist mir zu wenig.

In der jetzigen Firma musste ich mich sehr anstrengen, den Job zu bekommen. Da wurde ich allerhand Sachen gefragt, die sie eigentlich nicht hätten fragen dürfen: ob ich eine chronische körperliche oder psychische Erkrankung oder einen Freund hätte (in dieser Reihenfolge), falls Letzteres ja, einen Kinderwunsch, und falls nicht (bei einem „Ja“ wäre ich wohl sowieso nicht infrage gekommen), wie ich verhüten würde. Das hat mich neugierig gemacht, die ticken völlig falsch, abartig, habe ich mir gedacht, und mich besonders bemüht, hier arbeiten zu dürfen, eine Fundgrube quasi, die sich da aufgetan hat. Daher habe ich die Frechheit ignoriert und die ersten drei Fragen brav lächelnd mit „nein“ beantwortet und tatsächlich, zwei Wochen später, kam die Nachricht: Ich war drin.

Die erhoffte Beute ließ auch nicht lange auf sich warten. Gleich vorwegschicken muss ich, dass ich niemals eine Schreibtischlade oder einen Schrank geöffnet habe, wozu auch? Da gab es nichts zu putzen, und außerdem habe ich eine Art Ehrenkodex, ich begnüge mich mit dem, was die Menschen achtlos wegwerfen, um daraus meine Schlüsse zu ziehen, und glauben Sie mir, das gibt mehr als genug her, da muss ich nichts gewaltsam öffnen oder ausspionieren.
Die geben, ich nehme die Informationen, das ist alles.

Zuerst beginne ich damit, die Akteure kennenzulernen, das geht natürlich nur aus der Ferne, ich bekomme sie ja nie zu Gesicht. Meine Arbeit beginnt nach 20 Uhr, wenn längst alle die Büros verlassen haben. Die Reinigung der Räume selbst ist schnell erledigt, es entsteht ja kaum richtiger Dreck bei diesen Schreibtischakteuren (um nicht zu sagen: –tätern), aber die Sondierungsarbeit ist zeitaufwändiger. Damit keinem etwas auffällt, schreibe ich immer nur die zwei Stunden, die fürs Putzen vorgesehen sind, in meine Zeitarbeitstabelle.

Beim Mistkübel verweile ich länger. Ein bisschen fühle ich mich wie eine Archäologin, die Schichten sind wie bei denen von unten nach oben zu lesen, so ein Tagesverlauf lässt sich auf diese Weise ausgezeichnet rekonstruieren.

Bei der Chefin beginnt der Tag sehr gesund, ein Apfelbutz und eine Bananenschale ganz unten im Mistkübel zeugen von viel gutem Willen, im Tagesverlauf schleichen sich dann aber schon einmal ein Sekundenpizzakarton (der Schicht nach gehört das zur Mittagspause) und einige Süßwarenverpackungen hinein, nebst Kaffeebechern und koffeinhaltigen Energydrinks. Die Abführpillenverpackung obendrauf verheißt schlechtes Gewissen und Unzufriedenheit mit dem tagsüber Genossenen oder aber Probleme bei essenziellen Erleichterungsvorgängen.
So genau brauche ich es aber wirklich nicht zu wissen. Sie ist mir irgendwie sympathisch, Menschliches ist mir schließlich nicht fremd.

Anders verhält es sich beim männlichen Vorstandsmitglied M., er war mir von Beginn an zuwider.
Ich denke, daran schuld waren hauptsächlich seine Kritzeleien im Altpapier.
Fein säuberliche Mülltrennung ist an sich nichts Schlechtes, wenn auch sinnlos. Wir sind von unserer Leasingfirma angehalten worden, uns nicht darum zu kümmern, sondern alles in Riesensäcke zu stopfen, die am selben Tag noch abgeholt werden. So bekommt niemand mit, dass die schönen Altpapierstöße völlig umsonst gestapelt worden sind.

Nun ja, ganz so ist es auch wieder nicht, für mich ist das schon eine Hilfe. Akribische Arbeit zahlt sich in diesem Fall wirklich aus. Scheinbare Nichtigkeiten sind es, auf die man bei dieser Tätigkeit achten muss. So ignoriere ich zum wiederholten Male ordinäres Geschmiere, das meist barbusige Weibchen in eigenartigen Posen darstellt. Sie verrenken sich an Zeilen, bei denen es um damals sehr wichtige, nun offensichtlich überholte Geschäftsvereinbarungen geht.
Der Mann hat offenbar insgesamt einen Hang zum Graphischen. Beim Telefonieren Mitgeschriebenes wird grundsätzlich mit Unbeschreiblichem behübscht, und so manche auf einem Schmierzettel notierte Telefonnummer stecke ich ein, man weiß ja nie, ein Vermerk: Büro M., mit Funddatum, damit ich mich auch später noch orientieren kann, Ordnung ist wichtig in meinem Beruf.

Und dann die Zettel, die als Geheimsprache eine echte Herausforderung sind, anscheinend Mitschriften von Meetings, die später erst abgetippt wurden, schließlich entziffere ich zwischen den offiziellen Teilen:
B. kündigen, schläft fast ein, wenn ich rede.
Z., die Sau, nervt alle mit seinem Scheiß!
Und das sind noch die harmloseren Anmerkungen. Das ist nicht mein Niveau. Ich verlasse das Büro jedes Mal mit Grausen.

Bei der Chefin fand ich eines Tages außer dem üblichen Heute-esse-ich-gesund-Inhalt und der darauf folgenden Schubumkehr einen gebrauchten Enthaarungswachsstreifen, doch der Überraschungen nicht genug, eine Schicht darüber befand sich dann der Pizzakarton, diesmal lohnte das Hineinschauen (man kann nicht sorgfältig genug sein): Darin eingebettet lagen zwei gebrauchte Kondome. Das sind diese Zufallsfunde, auf die man zu Recht stolz ist. Die zerrissene Strumpfhose gleich darüber und die Zellophanhülle einer neuen Beinbekleidung ganz oben im Kübel verwunderten anschließend nicht mehr.

Nun aber zum Grund meines Gesprächs mit Ihnen: Davon habe ich genug. Ich habe im Laufe der Zeit eine gewisse Qualifikation in diesem Bereich erworben, aber jetzt ist es Zeit für Neues.
Ich sehe die Zeichen der Zeit. Ich möchte mich weiterbilden und darum bin ich hier.

Frau Reingruber, wir sind wirklich sehr beeindruckt von der brillanten Schilderung Ihrer Beweggründe, sich für unser Stipendium zu bewerben. Versprechen kann ich nichts, das wird in einem Gremium entschieden, aber so viel kann ich sagen, Sie sind eine der aussichtsreichsten Kandidatinnen bisher, Ihr Erfahrungsschatz ist enorm.
Wie würden Sie denn dieses Angebot nutzen, wenn Sie tatsächlich in den Genuss eines Günter-Wallraff-Stipendiums kämen? Unsere Stiftung will schließlich genau solchen Personen wie Ihnen helfen, die bisher weniger Chancen am Bildungsmarkt hatten, sich ihren Talenten gemäß zu entwickeln.

Vielen Dank, das ist sehr lieb von Ihnen, das Lob meine ich.
Ich dachte an Informatik. Vieles wird nur noch in iPads getippt, die recht kurzlebig sind; die von mir sehr geschätzten Notizzettel sind vom Aussterben bedroht. So mancher Rechner wandert nach wenigen Jahren in den Müll, dabei gibt es sicher auch einiges zu holen. Mein Interesse ist vorhanden, ich will lernen, Daten wiederherzustellen, Gelöschtes zurückzuholen, Sie verstehen? Wie Mistkübel-Ausleeren, nur moderner.

Frau Reingruber, das Gespräch mit Ihnen war eine echte Bereicherung. Solche Menschen wie Sie brauchen wir. Sie hören bald von uns.

Vielen Dank Ihnen allen. Ich würde mich wirklich freuen. Auf Wiedersehen!

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 13014

 

die gründe, weshalb ich mir mit dem antworten zeit gelassen und stattdessen die wäsche aufgehängt habe und schließlich – im gespräch mit mir – zur vernunft gekommen bin

weil er ein filou ist, und weil er es weiß und weil er weiß, dass ich es weiß.
er ist ein herzräuber, ein skrupelloser.
das schönste für ihn: den frauen den kopf zu verdrehen, sodass sie, die so geradlinig unterwegs sind, leichtsinnig zur seite schauen, gehen sogar?

das mit dem blick nach vorne, das geht mit ihm einfach nicht gut.
der blick zurück bringt späte reue, das ist sonnenklar.
und der seitenblick macht mir jetzt schon eine genickstarre.
einmal die andere seite ins licht, bitte, nicht nur die schokoladegetunkte!

wozu das ganze? der spaß wird sich in grenzen halten müssen.
die grenzen gibt die familie vor, der bekanntenkreis, seiner und meiner.
die nachbarn, und die wohlmeinenden, braven, stinklangweiligen bessertäter.
und nicht zuletzt das eigene, ewigwissende gewissen, bisse mag ich nicht.

ich will ruhig schlafen können. mein sanftes leben führen.
diese verwirrungen, komplizierten konstrukte, ich hatte davon mehr als genug.
was glaubt er eigentlich? dass ein paar worte, eine einladung mich verlocken können?
wie recht er hat, das ist ganz fürchterlich.

jetzt zum schluss die socken. an der leine schön aneinandergereiht.
die sehr großen, die mittelgroßen, die kleinen, die ganz kleinen.
plötzlich bekomme ich keine luft mehr.
alles riecht nach dem verdammten weichspüler.

meine antwort an ihn ist kurz und bündig:
ich komme gleich.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 13033

 

 

Alles offen – an Tagen wie diesem

Es gibt Tage, da ist man gezwungen, grundsätzliche Entscheidungen zu treffen, durch die man sich selbst ein bisschen besser kennen lernt. Was ist mir wichtig, wofür stehe ich, wer bin ich, das alles klärt sich mit und aufgrund dieser Entscheidung.

Und genau so ein Tag war dieser, auch wenn es zu Beginn gar nicht danach aussah.
Der Plan war simpel und in der Form auch nicht neu: mich in eine U-Bahn setzen, danach in einen Bus und kurz vor Ladenschluss bei einem Trödlerladen namens Fundgrube vorbeischauen. Ich brauchte eine Lampe, und als Studentin der Philologie hatte es mir dort nicht nur die wirklich humane Preisgestaltung angetan, sondern auch die Belesenheit der beiden älteren Damen, die den Laden mit viel Charme betreuten. Meine häufigen Besuche dort waren gerne gesehen, wenn ich auch nicht immer etwas kaufte.
So freute ich mich auf  gute Gespräche über Literatur, nachdem die anderen Kunden gegangen waren, und vielleicht sogar ein brauchbares Schnäppchen. Nicht zu vergessen, Diego, den Enkelsohn einer der Besitzerinnen, der mich glühend verehrte und mir schon so manches Mal heiße Blicke zugeworfen hatte, fesch war er ja, ein Schnuckel und gar nicht dumm, vielleicht würde ich ihn diesmal erhören, irgendwie war ich heute zu allem aufgelegt.

Der Weg ins Paradies ist oft steinig …
In der U-Bahn wurde ich angerempelt, sodass ich beinahe zu Boden ging, meine Tasche tat es tatsächlich. Das hat man davon, wenn man stehen bleibt, damit ältere Passagiere sich gleich hinsetzen können. Der Vorfall veranlasste mich, von dieser guten Absicht Abstand und selbst Platz zu nehmen. Das bereute ich sofort.
Beim jungen Mann neben mir läutete das Smartphone, und schon war es vorbei mit der Ruhe. Was am anderen Ende der Leitung gesprochen wurde, verstand ich natürlich nicht, der Stimmlage nach war es eine aufgeregte Frau. Aufgrund der Antworten des Jünglings wurde ich auch schnell nervös, hier  nur ein leicht verkürzter Auszug aus dem Gespräch zur Erklärung, ich will Sie nicht langweilen:
„Hi Rita! Wie geht’s? … Ah, das ist aber blöd. Was brauchst du? … Ein bestimmtes? … Also irgendeins, was gegen Läuse hilft, aber nichts ganz Arges, für die Kinder, ok. … Passt, ich steige dann bei einer Apotheke aus. … Jaja, das passt schon, das Geld gibst du mir nachher, wenn ich bei dir bin. … Ich versteh dich grad schlecht: Wieso soll ich nicht hineingehen? … Nein, das auch noch. Ja, da hast du recht, Masern sind kein Spaß, besonders nicht für Erwachsene.“

Mittlerweile juckte es mich nicht nur am Kopf, sondern am ganzen Körper. Beim Hinausgehen hörte ich noch, wie er etwas leiser zu Rita sagte: „Du, die neben mir hat sich auch schon so gekratzt. Hoffentlich hole ich mir nichts von der.“
Die darauffolgende Busfahrt verlief glücklicherweise ereignislos, sodass ich mich ganz der Wiederherstellung meiner psychischen Gesundheit widmen konnte, sprich: Ich konnte endlich das Phantom-Jucken als solches erkennen und mit dem Kratzen aufhören.

Dann, das Eintauchen in die geliebte Altwaren-Welt, was für ein Vergnügen, das alte Glöckchen bimmeln zu hören, wenn ich die Türe öffnete.
Eine der beiden Besitzerinnen stürmte auf mich zu und begrüßte mich überschwänglich. Die andere war damit beschäftigt, einer Runde von drei älteren Damen und einem Herrn im Anzug Schnaps zu kredenzen. Ich hatte sie alle schon hier getroffen, es schienen Freunde oder Stammkunden zu sein.
Die Runde saß einträchtig an einem großen (natürlich sehr alten) runden Tisch und blickte abwechselnd in ihre halbgefüllten Gläser und auf eine geheimnisvolle Schachtel in der Mitte. Die Fundgrube hatte an diesem Tag eine besondere Lieferung bekommen, verriet mir die noch stehende Dame, verschiedenste Schnäpse und Liköre, weit über fünfzig Jahre alt, etwas ganz Besonderes.
Warum sie die kleinen Behältnisse der Reihe nach austranken, statt sie für eventuelle Käufer aufzuheben, erklärte sie damit, dass die leeren Fläschchen weit wertvoller für Sammler seien als volle. Nun denn, weg damit, schien die Devise zu sein. Mich verwunderte in der Fundgrube fast gar nichts, es war eben eine eigene Welt.

Und da war auch schon Diego, hinter einer alten Kommode lauernd, hocherfreut, als ihn die Dame, die sich gerne dazusetzen und an der Geselligkeit teilhaben wollte, bat, er möge sich doch um meine Wünsche kümmern …
Er führte mich in einen Nebenraum, um mir eine Lampe zu zeigen, zu dumm nur, dass da keine war. Wir waren gerade am Weg in das nächste Hinterzimmer, als uns der dringlich scheinende Ruf seiner Oma erreichte, und er, der brave Enkel, zwinkerte mir zu und meinte, er sei gleich wieder da.
Die Wartezeit vertrieb ich mir mit Herumgestöbere, was sich als sehr lohnend herausstellen sollte. Eine Schatulle hatte es mir angetan, ich öffnete den Deckel, sah mir alles sehr genau an. Und entdeckte das Unfassbare, wie aus einem Roman: einen doppelten Boden. Hastig hob ich die dünne Abdeckung an, darunter lagen – tatatata! – zwanzigtausend Schilling. Mein Herz klopfte, ich versuchte, schnell durch 13 Komma irgendwas zu dividieren, es misslang. Die Rendite war auf jeden Fall sensationell, angeschrieben war die Schatulle mit € 13,-.

Ich rang mit mir. Diego würde gleich zurückkommen. Es war viel Geld für mich, die ich jeden Cent umdrehen musste. Ich gab die Abdeckung wieder auf den Boden, stellte die Schatulle zurück, atmete tief durch, ging in den Hauptraum zurück, das musste ich mir jetzt gut überlegen.
Diego war nirgendwo zu sehen, er hatte für seine Oma etwas holen müssen, würde aber gleich wieder da sein, wurde mir gesagt. In der Zwischenzeit hatte sich die Runde um zwei Personen reduziert und ich wurde eingeladen, mich dazuzusetzen und ein oder zwei Gläschen mitzutrinken. Eine Frau wankte leicht beim Aufstehen, verabschiedete sich herzlich und entfernte sich ebenfalls Richtung Türe.
Ich hatte mich schließlich hingesetzt, völlig überfordert mit der Entscheidung: Geld oder Moral? Sollte ich die Schatulle um € 13,- kaufen, ohne etwas zu sagen? Keiner hätte einen Schaden davon … Oder den Damen Bescheid geben? Vielleicht doch zuvor noch Diego meine Wünsche erfüllen und die Schatulle warten lassen? So sah ich in mein frisch gefülltes Glas und war leicht überfordert.
Eine Besitzerin ging Richtung Ladentüre, um sie abzuschließen, und kam freudestrahlend zurück: „Schaut mal, die Elfi ist noch gekommen, die Elfi! So eine Freude aber auch, wir haben uns schon ewig nicht mehr gesehen! Gut schaust du aus, sehr gut! Komm, setz dich zu uns, sei unser Gast.“
Damit war die Zeit der Entscheidung gekommen. Ich setzte meine Prioritäten, ließ Schatulle Schatulle sein und den mittlerweile zurückgekehrten Diego Diego.

So kam es, dass ich einen langen Abend in der Fundgrube verbrachte.
An einem Gründerzeit-Tisch Schnaps aus Jugendstilgläsern trinkend, gemeinsam mit Elfriede Jelinek. Schluck.

 Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen … | Inventarnummer: 13002