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Die Katze, die vom Himmel fiel

Susanne und ich waren mit dem Mitternachtszug aus Moskau am Bahnhof angekommen und nahmen ein Taxi zum Hotel in die Große Starokonjuschennij-Gasse. Weil an der Ecke des Newski eine Baustelle war, stiegen wir einige Häuser vor dem Hotel aus dem Taxi. Wir hatten jede nur einen kleinen Koffer mit und mussten nur drei Nummern bis zum “Feniks“ zu Fuß gehen. Wir waren auf einer Recherchereise für das geplante Festival zu St. Petersburgs 300. Geburtstag.

Obwohl die Strecke nicht mehr als einhundert Meter betrug, waren das wahrscheinlich die schwersten Schritte meines Lebens. Der Gehsteig war nicht vom Schnee gesäubert, sodass unsere Rollis nicht vorankamen. Wir mussten sie tragen und dabei darauf achten, dass uns der Schneesturm nicht umwehte. Ich wünschte mir einen Moment, dass ich einen Riesenrolli hätte und darin Ziegelsteine. Ich kenne Leningrad/St. Petersburg schon lange, habe jede Jahreszeit und jede Wetterlage erlebt. Aber so etwas wie in dieser Jännernacht hatte ich noch nie mitgemacht.
Der Wind stürmte von der Newa her und trug Millionen von winzigen Eisnadeln mit sich. Man konnte sich nicht schützen, er zerstach das Gesicht und blies unter den Mantel, dass er sich aufblähte und wegzufliegen drohte. Mit der einen Hand musste man den Koffer tragen, mit der anderen Mütze und Schal festhalten, also war keine Hand mehr übrig, um den Mantel wieder einzufangen. Jeder Schritt ein qualvoller Kampf. Ich blieb stehen, setzte den Koffer ab und versuchte, die Mütze mit dem Schal festzuzurren. Gerade als ich zu diesem Zweck die Arme hob, sauste etwas von oben an mir vorbei, so nahe, dass ich den Luftzug spürte, bevor das Ding neben mir mit einem dumpfen Knall am Boden auftraf. Es muss von großer Höhe und mit großer Geschwindigkeit gefallen sein, weil ich ein Sausen hörte und einen Luftzug an meinem Mantel spürte.

In der Gasse war es fast vollkommen dunkel. Der quer treibende Schnee verdunkelte die Straßenlaternen zur Unkenntlichkeit. Ich erschrak furchtbar, merkte aber, dass mich kein Ziegelstein getroffen hatte und ich nicht verletzt war. Nach so etwas schaut jeder automatisch nach oben, und da konnte ich gerade noch sehen, dass im 3. Stock zwei Fensterflügel geschlossen wurden. Natürlich meint man auch, das dazugehörige Geräusch zu hören.

Es war auch gar kein Ding, das da herabgefallen war, sondern eine Katze, die jetzt auf ihren vier Beinen stand, sich an mein rechtes Bein drückte und leise maunzte. Verdammt, war sie so etwas gewohnt? Wo war ich, in einer Erzählung von Gogol oder neben Susanne auf dem Weg zum Hotel „Feniks“? Ich schaute am Haus nach oben, drei Stockwerke und kein einziges Fenster erleuchtet.

Susanne hatte davon nichts mitbekommen und war weitergestapft, weit nach vorn gebeugt gegen den Sturm ankämpfend. Ich schrie mir fast die Seele aus dem Leib.
Bitte, bleib stehen, bitte warte, da ist eine Katze! Eine Kaaatzee!
Der Sturm verschluckte meine Stimme mit Leichtigkeit.
Sechs Schritte vor mir merkte sie, dass ich nicht mehr an ihrer Seite war und drehte sich um.
Was ist, komm weiter, was stehst du da rum?
Wir waren ziemlich gereizt gegeneinander, gegen die Kälte, den Sturm und den Eisnadelschnee.
Komm zurück, bitte, ich muss die Katze hineintragen.
Unwillig kehrte sie zu mir zurück.
Komm, gehen wir rein, ich trage die Katze rauf.
Du spinnst, komm, geh weiter, ich will ins Bett.
Nein, ich kann die Katze nicht allein lassen.
Du hast einen Vogel, ein wildfremdes Haus, es ist Mitternacht vorbei.
Weißt du, wo wir sind? Wir sind in Pieter, nicht in Wien.
Das weiß ich besser als du,
keppelte ich zurück auf den Russland-Neuling.
Ich war schon in Leningrad, da hast du noch in die Hose gemacht und nicht einmal gewusst, dass es Russland überhaupt gibt.
Ein ständiges Streitthema zwischen uns. Ihr frischer Blick der Unwissenden gegen meine Erfahrungen.

Höchst eigenartig, das Haustor war nicht abgesperrt. Die schwere Holztür ließ sich aufdrücken. Die Einfahrt war so hoch und breit, dass noch die größte Kutsche vom Newski-Prospekt einfahren hätte können. Leider war sie ohne Beleuchtung.
Wutschnaubend folgte mir Susanne und knallte ihren Koffer gegen eine Wand. Im Gegensatz zu mir hatte sie nichts für Katzen übrig. Mir waren Katzen schon immer fast teuer wie mein eigenes Leben.
Diese Katze, die vom Himmel gefallen war, hielt sich eigenartig steif, war aber eindeutig nicht tot. Unter meinem ständigen Streicheln begann sie leise zu schnurren und krallte die Pfoten in den Wollstoff meines Mantels.
Das alles war nicht ganz von dieser Welt, unter- oder überirdisch.
Kein Wunder in einer Stadt, die bevölkert wird von gestohlenen Mänteln, flüchtenden Nasen, lebendig werdenden Porträts, rückwärts laufenden Droschken und hellblauen Ferkeln, die aus Bäckereien auf den Newski Prospekt stürzen.

Bleib da stehen und pass auf die Koffer auf, ich geh rauf.
Ich hielt die Katze fest an den Körper gepresst und fand am Ende der Einfahrt einen offenen Stiegenaufgang, die zweite Auffälligkeit. Seit in Russland der Kapitalismus Einzug gehalten hatte, hatte sich das Land rasend schnell kriminalisiert. Die Menschen verrammelten sich noch in der letzten Hundehütte mit Alarmanlagen, Zahlencodes, Eisentüren, Ketten und Vorhangschlössern, manchmal alles in Kombination. Einen offenen Stiegenaufgang gab es im ganzen Land nirgendwo, noch unwahrscheinlicher um Mitternacht in einer Sturmnacht in St. Petersburg.

Trotzdem, diese Tür war eindeutig nicht versperrt, und im Stiegenhaus gab es sogar einen leuchtenden Lichtknopf. Es war eine breite Steintreppe mit einem pompös geschwungenen, reich geschnitzten Holzgeländer. In jedem Stockwerk gab es nur eine Wohnung, also ein hochherrschaftliches Haus, ich sehe darin die Karenins und Wronskis aus- und eingehen.
Ich horchte an der breiten Doppeltür – also die Hausherrenwohnung – im ersten Stock,  zu läuten traute ich mich nicht. Was sollte ich auch sagen, wenn tatsächlich jemand öffnete? Das Gleiche im zweiten Stock, eine geschlossene, aber einfache Tür, ich lege mein Ohr daran. Nichts.
Was hatte ich erwartet. War ja wirklich blöd, was ich da machte. Jetzt ging das Licht aus, und ich tastete nach dem Knopf. Als es wieder aufblitzte, blinzelte mich die Katze an, sie war groß wie ein Tigerbaby, langhaarig, semmelblond, bernsteinfarben ein Auge, das andere veilchenblau, sie schien zu schielen, ein Riesenschnurrbart und aus den Ohren kamen Fellbüschel. Sie war wunderschön. Nur die Nase war nach meinem Geschmack etwas zu flach, eingedrückt, was ihr ein leicht dümmliches Aussehen verlieh.
Sicher irgendeine kostbare Rasse. Wer warf so Prachtstück aus dem Fenster? Wer wirft überhaupt eine Katze aus dem Fenster? Und von selbst springen tun Katzen nie, außer vielleicht nach einem Vogel. Das konnte aber hier und jetzt nicht der Fall sein.

Ich keuchte in den dritten Stock hinauf und fand mich auf einer breiten Rampe mit einer balkonartigen Ausbuchtung ins Stiegenhaus. Beide Flügel der pompösen Wohnungstüre waren aufgeschlagen. Daneben brannten auf beiden Seiten Kerzen in fünfarmigen Haltern. Von außen sah ich in einen breiten Flur hinein, der mit ebenfalls Kerzen beleuchtet war, von den Wänden Kandelaber.
Ich trat nicht ein, lugte nur ins Halbdunkel, wo ich weiter hinten in einem ebenfalls mit Kerzen ausgeleuchteten Zimmer mehrere Menschen um einen runden Tisch sitzen sah.
In einer Formation wie zu einer Séance. Sie sprachen nicht und sahen alle auf einen leeren Stuhl. Die sechs Menschen waren gekleidet im Stil des ersten Viertels des 19. Jahrhunderts. Ich rief laut ins Zimmer hinein:
Hallo, ich habe hier Ihre Katze. Sie ist aus dem Fenster auf die Straße gefallen.
Obwohl ich kein Französisch spreche, hörte ich mich, wie ein Tauber, der plötzlich zu einem Gehör kommt, ihn auf Französisch ansprechen.
Gleichzeitig bemerkte ich, dass die um den Tisch Anwesenden nicht schwiegen, sondern ebenfalls Französisch sprachen, sie saßen aber zu weit weg, als dass ich Worte hätte versehen können, eher so wie wenn auf einem Tonband der Soudtrack auf Französisch eingestellt war, ein französisches Rauschen sozusagen.

Ein Mann in Puschkin-Aufmachung löste sich vom Tischkreis und kam zu mir an die Tür. Ohne ein Wort nahm er mir die Katze ab und ging in das Zimmer zurück. Auch keinen Dank, als wäre dies die normalste Sache von der Welt, dass jemand die Katze auffing und zurückbrachte. Ich erkannte eine gekräuselte Perücke mit Zopf, hoher Stehkragen, bunte Weste, Spitzenjabot, Kniebundhosen, weiße Strümpfe, Schnabelschuhe und ein Stöckchen mit Silberknauf – eine perfekte Imitation, so viel konnte ich in der Geschwindigkeit erhaschen.
Vielleicht eine Theaterprobe?
Ein Schauspielerklub?
Verein der Freunde Gogols?
Puschkin lebt! e.V.

Vieles war möglich in dieser phantastischen Stadt. Manchmal meint man ja, dass man es mit einer Fata Morgana am Meer zu tun hat, in einem wirren Albtraum oder Fieberwahn steckt, nicht in einer modernen Viermillionenstadt.
Aber wenn es eine Séance war, um Puschkin, Gogol oder Tolstoj herbeizurufen, warum musste man eine Katze aus dem Fenster werfen?
War sie ihr Medium? Eine Inkarnation? Käme dann der Geist eher?
Ich kann mich nicht erinnern, je in der russischen Literatur von einer fliegenden Katze gelesen zu haben, nicht einmal bei Gogol. Der hat es nur zu fliegenden Kürbissen gebracht.
Aber Katzen gelten ja seit den alten Ägyptern als heilige und geheimnisvolle Tiere, oft als Begleiterinnen von Zauberern, aber auch des Teufels. Teuflisch, unheimlich, dass meine Phantasien manchmal wahr werden. Aber wenn jetzt noch Anna Karenina und Wronski hereinrauschen, werde ich mich freiwillig für verrückt erklären lassen.

Ich stürzte die drei Treppen hinunter. Susanne stand im Eingang, scharrte ungeduldig mit den Füßen und rauchte. Vom Innenleben dieses Hauses erfuhr sie nichts, wir gingen schweigend bis zum Hotel. Genauso gut hätte ich ihr erzählen können, ich sei einem Einhorn begegnet. Sie war absolut phantasielos. Ich verriet auch nicht, dass ich gerne noch geblieben wäre, um diese seltsame Runde vielleicht beim Verlassen des Hauses beobachten zu können. Wir haben nie über dieses Erlebnis gesprochen. Sie hat auch nicht gefragt. Sie ist ein zu nüchterner Charakter, als dass sie mir ein Wort von dem Gesehenen geglaubt hätte. Sie hat auch keinen Bezug zu den St. Petersburger Besonderheiten, dieser phantastischsten, unwirklichsten Stadt der Welt.

Deshalb erfuhr sie auch nichts von meinen Assoziationen zu Puschkin, Gogol und den Karenins. Vielleicht hat sie das Tagebuch eines Wahnsinnigen schon gelesen? Zu oft schon hat sie mich für meine überschäumende Phantasie ausgelacht, als sei dies etwa eine Krankheit oder zumindest eine schlechte Gewohnheit, die ich mir besser abtrainieren sollte. Ich habe sie daher auch nicht für meine Kunstprojekte engagiert, sondern als Assistentin für Finanzen und Organisation. Das machte sie ausgezeichnet. Für die fliegenden Katzen war ich zuständig.

Nur einmal wurde Susanne stutzig. Ein Teil des Festivals sollte im Stadtschloss der Fürsten Scheremtjew abgehalten werden. Es diente seit der Revolution als städtischer Kulturpalast. Der erste Scheremetjew war ein Mitstreiter und Günstling Peters des Großen und für seine Dienste reich belohnt worden. Später wurden sie reicher und mächtiger als alle anderen Adeligen zusammen, fast so reich wie die Romanows. Sie unterhielten ein eigenes Theater für Opern und Ballette mit dreihundert Leibeigenen, eine Musik- und Malschule, viele Paläste, eine Flotte und dreihunderttausend Seelen auf Gütern im ganzen Reich. Ein Scheremetjew heiratete sogar eine junge, schöne, begabte Sängerin der Oper, eine Leibeigene.

Der Direktor persönlich gab uns eine Führung und zeigte uns in einem der Säle eine geheime Tapetentür, hinter der eine enge Wendeltreppe in die Tiefe führte. Es war der Hinterausgang des Palastes zur Fontanka, wo Bewohner und Gäste ein Boot besteigen und ungesehen verschwinden konnten. Ob ich hinabsteigen darf? Ja, der Direktor ging uns mit einer Taschenlampe voran und führte uns durch kanalartige Gänge bis zu einem Türchen. Dieses könne er allerdings nicht öffnen, das dürften nur die Beamten für das städtische Flusswesen. Ich bedauerte dies sehr, dachte ich doch an die Besucher in der Bolschoj Starokonjuschennij. Susanne ließ sich zu ihrer emotionalsten Äußerung hinreißen, die ich je von ihr gehört hatte:
Tolle Geschichte, toll erfunden und noch toller inszeniert.

Ich dagegen glaubte dem Direktor jedes Wort und sehe sofort die Figuren vor mir, die in Kapuzenmäntel gehüllten Liebhaber, Geliebte, Ballettmädchen, Zigeunerinnen, Zauberer, Geldwechsler, Goldmacher, Wunderärzte, falsche Mönche und Meuchelmörder, wie sie durch die Korridore schleichen, durch das Türchen treten, in die auf der Fontanka wartende Barke steigen und lautlos im Dunkeln entkommen.

Das Rätsel um die Katze aus dem Palais in der Bolschoj Staronkonjuschennij perulok Nummer 7 und seine Besucher konnte ich nicht aufklären, obwohl ich in den nächsten Tagen noch zweimal zu diesem Haus ging. Das Haus stand tatsächlich da und sah bei Tageslicht genauso aus wie um Mitternacht. Es war aber jedes Mal fest verschlossen und hinter den Fenstern nichts zu sehen. Ein ehemals herrschaftliches, jetzt aber heruntergekommenes Stadtpalais, wie es sie in St. Petersburg um den Newski Prospekt herum zu Hunderten gibt.

14.7.17

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 17145

Reise nach Asbest

Wo der Teufel nicht selbst hinwill, schickt er einen Pfaffen oder ein altes Weib.
Russische Volksweisheit

Es war einer dieser unvergleichlichen Vorfrühlingstage, die nur in Russland so wunderbar sein können, weil Mensch und Natur sich nach acht Monaten des Eises und der Finsternis in das Ende des Winters hineinsehnen.

Eine schwarze Regierungslimousine, ein dem Opel Kapitän nachgebauter Wolga, holte mich am Morgen von meinem Hotel in Jekaterinburg ab. Ich war in der Funktion der österreichischen Kulturrätin an der Botschaft in Moskau Gast der Stadt- und Regionsregierung. Offenbar damit eines Wolga mit Chauffeur würdig. Eigentlich wäre ich viel lieber mit den jungen Musikern aus Vorarlberg im Bus mitgereist. Das gestattete man mir nicht, man empfand das einer Vertreterin der Republik nicht angemessen. Wenn man die Busse in Russland kennt, ist das auch irgendwie zu verstehen. Diese russische imperiale Mentalität – nur nicht zu viel Volksnähe für die Repräsentanten der Staatsmacht.

Das „Young Brass Ensemble“ war zum Endbewerb des „Internationalen Festivals der Kinder – und Jugendorchester“ eingeladen, und so fuhren wir nach Asbest, in eine Kleinstadt neunzig Kilometer hinter dem Ural. In Sibirien nennt man eine solche Distanz einen „Flohsprung“ oder gleich nebenan. Alles unter tausend Kilometer ist gleich nebenan. Nach dem Zerfall des Ostblocks und der Sowjetunion bedeutete „international“ Russland, die GUS-Staaten plus zwei befreundete Nationen, Türkei und Österreich. Die zwölf Gymnasiasten aus Vorarlberg hatten zuvor schon den Stadtwettbewerb in Jekaterinburg gewonnen. Jetzt sollten in Asbest die „Internationalen“ gegen die Regionsorchester antreten. Im Ausbau der Sowjetunion zu einer Wirtschaftsmacht war es beliebt, neue Städte nach ihren Bodenschätzen oder Produkten zu benennen: Nikel ist so eine, Magnitogorsk, Peschtschannij (Sand), Lesnoj (Wald), Izjumowka (Rosinen), Tekstilnik und eben Asbest.

Ich überquerte den Ural nicht zum ersten Mal, vor vielen Jahren schon einmal mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Irkutsk. Damals hatte ich den Nachtschaffner der Transsib bestochen, mich unbedingt aufzuwecken, ich wollte den sagenhaften Ural nicht verpassen, diese magische Linie zwischen Europa und Asien sehen und erleben.
Er weckte mich nicht auf, ich erwachte am Morgen und sah aus dem Zugfenster – es war nichts zu sehen, nur der lange Zug in einer Schneise durch endlose Wälder, links und rechts Birken und Fichten. Keine Spur von Ural-Gebirge, das wie ein Gebirge ausgesehen hätte. Wenn man wie ich aus den Alpen kommt und diese seit der Kindheit besteigt, waren das nicht einmal wahrnehmbare Hügel. Langgezogene Bahndämme höchstens. In dem schlenkernden Eisenbahnwaggon konnte man keine Höhen und Tiefen empfinden, geschweige denn eine Steigung oder einen Abstieg sehen.
Bei der ersten Reise über den Ural hatte ich noch kein Körpergefühl und keine Augenlust entwickelt für die Weiten, in denen sich über tausend Kilometer nichts ändert. Und die Zeiten, die vergehen sollten, bis sich irgendein Unterschied auftat, um sich zu versichern, dass man überhaupt weitergekommen war. Wie in alten Filmen, in denen ein Bild stehenbleibt und alles wieder zurückläuft.

Aber an diesem April-Tag des Jahres 2004 saß ich in einem Staats-Wolga und schaukelte durch die leere Landschaft Asbest entgegen. Ich sagte mir immer wieder: Ich bin hinter dem Ural, ich bin in Sibirien, in Asien. Die hinteren Seitenfenster hatten noch aus der Zeit vor der Einführung des getönten Glases dunkle Vorhänge, festgehalten an Stäben, sodass sie in Rüschen herabfielen.
Ich machte nach vorne einige Gesprächsversuche, es kam kein ganzes Wort zurück. Dieser Chauffeur hielt es offenbar noch mit der Propaganda von den feindlichen Ausländern, Imperialisten, Kapitalisten, Agenten, Spionen und Verrätern. Oder war das im vierten Putin-Jahr schon die Wende von der Wende? Eine große Tellermütze auf dem klobigen Kopf , darunter ein rötliches Gesicht mit platter Nase, schmalen Lippen und geschlitzten Augen. Meine Einschätzung: eine Mischung aus Lette und Sibijrak.

Immer noch schaukelte ich im Fond des Wolga über die Landstraße. Wie lange sind zweihundertfünfzig Kilometer? Der Chauffeur umfuhr geschickt und weitläufig die tiefsten Löcher. Der Permafrost war nach den Monaten mit Eis und Schnee aufgebrochen. Ich war nicht böse über das Rumpeln, eine kleine Entschädigung für das Fehlen des Gebirges. Ich weiß nicht, wer das erfunden hat, der Opel Kapitän oder der Nachbau des Wolga, auf jeden Fall saß ich im Wagen so tief unten, dass ich vom Chauffeur meistens nur seine Kappe zu sehen bekam. Nach einem kurzen Dösen am Anfang der Reise rappelte ich mich aus dem falschen Leder auf, schaute rechts aus den Fenstern und versuchte mich auf die Landschaft einzulassen, sie zu verstehen, in sie hineinzukriechen, sie einzuatmen, sie in mich aufzunehmen.

Wenn einmal die Wälder zurückwichen, gab es auch nicht viel zu sehen, endlose Wellen, manche noch mit Schneeresten, die Dörfer in die Landschaftsfalten hineingekauert, Katen, Hütten, Stadel, Dächer, Zäune, alles aus grauem Holz, fahl, ausgebleicht und abgeschabt, ohne einen Farbtupfer. Kein höheres Gebäude, selten ein Kirchturm. So konnte es noch siebentausend Kilometer weitergehen durch Sibirien bis nach Nachodka am Japanischen Meer. Ein gängiger russischer Spruch heißt, du musst Russland lieben, einfach weil es deine Heimat ist. Dieser Liebeshunger, auch noch das Hässlichste zu lieben.
Ich liebe mein Volk, ich liebe meine Heimat. Das trägt jeder Russe viel zu leicht auf den Lippen. Ist es denn nicht schwer genug, einen Menschen zu lieben?
Das ist nicht nur ein primitives Gefühlskonstrukt, sondern auch Ideologie. Denn wer kann, darf kritisieren, was man liebt? Wer sein Land nicht liebt, soll es verlassen. Aber wer bestimmt, wie man sein Land zu lieben hat? Mir kommt vor, es handelt sich dabei um so etwas wie Trotz-Patriotismus, Beharrungspatriotismus. In dieser Heimat-Mystik liegt eine Parallele zur Mutterliebe.

Ich weiß, dass ich gegen ein ungeschriebenes Gesetz verstieß, aber ich versuchte trotzdem, ein Gespräch mit dem Fahrer aufzunehmen. Neugierig wie immer, vorlaut, meines Russisch sicher und Volksnähe suchend. Dieser Mann aber war unerbittlich, geschult beim KGB. Er antwortete nie mit einem eindeutigen Wort, keinem ganzen Satz. Hm, ahm mit und ohne Fragezeichen in Variationen von Höhen und Tiefen, von Stöhnen und Grunzen. Nie wandte er sich zu mir mehr zurück als bis ins Halbprofil. Ich bemerkte seine tiefen Falten, die von den Augenwinkeln die Wangen hinunterkrochen. Ein schütterer Schnurrbart in Blond-Grau. Er blickte geradeaus auf die Straße, ein Asphaltband mit einer weißen Mittellinie, eine schnurgerade Schneise durch den Ural.

Manchmal bogen sich die dünnen, kahlen Birkenstämme über die Straße und bildeten einen fast geschlossenen Tunnel. Die Bäume standen tief im Wasser, viele waren umgestürzt oder abgestorben. Tauwasser oder Sumpf, zu dieser Jahreszeit konnte man das nicht sagen.
Wen hatte der schon alles gefahren? Sergej Kirow, den beliebten Parteichef von Swerdlowsk, überlegte ich. Einige Zeit der Konkurrent von Stalin. Das geht sich nicht aus. Den hatte Stalin 1935 in Leningrad umbringen lassen. Aber vielleicht den jungen Kommunisten Boris Jelzin, später Parteichef von Swerdlowsk, bevor er Moskau und ganz Russland eroberte.
Der Kappenkopf wandte sich nie nach rechts oder links, war auch nicht nötig, denn die Straße führte immer geradeaus über sanfte Wellen, dazwischen dürftiges Unterholz aus Sträuchern von Vogelbeeren und Haselnuss. Er musste nur seine Augen bewegen, um alles zu überblicken. Alles? Kein Gegenverkehr. Einige Lastwagen, je mehr wir uns der Stadt Asbest näherten. Einmal blieb der Chauffeur unvermittelt stehen, hieß mich barsch aussteigen und knurrte: Fotografiere! Snimi! Er war also innerlich per Du mit mir.

Am rechten Straßenrand stand in einer kleinen Waldbucht ein Denkmal, unter einem riesigen Schriftzug AC-ECT, das B fehlte gerade, ein unbehauener Felsbrocken, auf dessen Spitze einige aus dem Stein gehauene Figuren kauerten. An ihren demonstrativ hochgehaltenen Werkzeugen waren sie als Bergleute zu erkennen. An der Vorderseite prangte in goldenen Lettern die Inschrift Heldenstadt Asbest 1889 – 1989, wahrscheinlich eines der letzten Denkmäler der alten Sowjetunion. Ich war folgsam und fotografierte. Als wir kurz danach an den Gruben vorbeifuhren und ich die Kamera zückte, gab der Fahrer Gas, sodass ich nur verwackelte Fotos zustandebrachte, im Vordergrund die verwischten Bäume, dahinter einige Bohrtürme, Kranmasten, Schlote, Fabriksgebäude und Baracken.

Aber doch konnte ich sehen, dass der Tagebau riesig war, tiefe Krater wie umgekehrte Kegel in die Erde gegraben, auf deren Grund ich in meiner Lage nicht blicken konnte. Der Globus war über viele Kilometer aufgegraben. In vielen Terrassen konnte ich Schichten von gräulichem und grünlichem Gestein erkennen, ein Blick in die aufgeschnittene Hölle. Die Gruben zogen sich über Kilometer hin, bis wir den Stadtrand erreichten.

Im Bürgermeisteramt wartete man schon auf mich. Neben den Organisatoren des Musik-Festivals war eine Wirtschaftsdelegation aus Japan zu Besuch. Der junge Bürgermeister hielt eine dynamische Lobrede auf das Produkt seiner Stadt, das berühmte russische Asbest. Auf dem langen Tisch waren Broschüren und Bücher über das Mineral aufgelegt, und der Bürgermeister hatte für die Gäste als besonderes Schmankerl Säckchen mit Asbest-Brocken vorbereitet. Wir sollten uns daran bedienen. Die Westeuropäer griffen nur zögerlich zu, wussten sie doch, dass Asbest bei uns schon längere Zeit in Verruf geraten war, ja sogar als Baumaterial verboten war, wie ich mir nicht verkneifen konnte, einzuwenden.
Für den Bürgermeister der Anlass, das russische Asbest in den höchsten Tönen zu loben und den Gegensatz zu dem giftigen aus dem Westen herauszuarbeiten. Er schäumte über vor Asbest. An seiner Seite ein Chemiker und ein Geologe als Vertreter des „Trest Uralasbest“, die die Vorzüge und Harmlosigkeit mit vielen Formeln und Tabellen wissenschaftlich nachzuweisen versuchten. Asbestos kannten schon die alten Griechen und bedeutet unvergänglich, obwohl der Bürgermeister es lieber vom englischen as best abgeleitet gesehen hätte.

Das russische Asbest ist ein Chrysotil und gehört zur Serpentingruppe, faserförmige, kristallisierte Silikat-Minerale. So wie es jetzt in den Plastiksäckchen am Tisch liegt, könnte man meinen, es sei vergilbter Minzetee oder grünstichige Schafwollbällchen. Es habe eine andere chemische Zusammensetzung, die keinen Krebs, keinen heimtückischen, unheilbaren Bauch- und Brustfelltumor, keine Asbestose – das Eindringen von Asbeststaub und -fasern in die Lunge – verursache. Der Stadtobere kam geradezu ins Schwärmen über die hohe Qualität, Reinheit, Dichte, Effizienz.
Nicht einmal die schöne grün-weiße Färbung vergaß er hervorzuheben. Lange verbreitete er sich über die günstigen Investitionsbedingungen im größten Asbestlager der Welt. Sicher weniger an mich und die Kinderkulturaktivisten, denn an die Japaner gerichtet. Das war in etwa so komisch, wie damals, als uns Anhänger der sozialistischen Atomkraft überzeugen wollten, dass die Neutronen im Ostblock in einer anderen, unschädlichen Richtung marschieren oder Mascherl haben, auf denen steht: Keine Angst, wir sind die Guten. Die Japaner nickten zu allem höflich, verzogen keine Miene, stellten keine Fragen, behielten ihre Handschuhe an und die Masken vor den Gesichtern.

In Europa und den USA hat es Jahrzehnte gebraucht, bis die heimtückische Asbestose er- und anerkannt wurde. Aber viele Menschen leiden noch immer unter den Spätfolgen und kämpfen bis heute um eine Entschädigung. Das in Baumaterialien verarbeitete Asbest findet sich als Eternit aber noch immer in vielen Häusern, Mauern, Dächern und Schalungen, deren Beseitigung gefährlich ist und Unsummen verschlingt. Aber bevor man die Schädlichkeit von Asbest erkannte, verwendete man es auch in feuersicheren Textilien, in Estrichen, Dämmungen, im Schiffsbau und sogar in Zahnpasten.

Endlich entließ uns der Bürgermeister, nicht ohne dass er uns reich beschenkt hätte mit Literatur über Asbest, die Stadt und das Mineral, und wer wollte, mit einem Plastiksäckchen, durch das die fasrigen Brocken grünlich durchschimmerten. Mir gelang es, aus den Händen einer Bürgermeister-Assistentin ein solches Päckchen anzunehmen und ohne es zu berühren, mit Hilfe einer Broschüre in meine Tasche zu bugsieren.

Bis zum Konzert blieb noch etwas Zeit, die ich für einen Spaziergang durch die Stadt benützte. Im Zentrum zwei breite Straßen mit gemauerten Häusern, den Lenin- und den Sowjetski-Prospekt, an deren Kreuzungspunkt eine große Lenin-Statue stand. Sakralarchitektur als öffentliches Machtsymbol.
Weiter verliefen sie sich in einem Gewirr von vierstöckigen Plattenbauten, typischen Chruschtschowkas, schnell und billig aufgezogenen Wohnblöcken. Im Sommer könnten sie vielleicht ganz hübsch aussehen mit den Baumgruppen und Grünflächen dazwischen, nun im April wirkten sie räudig wie ein getretener Hund. Der gerade auftauende Ural-Frost hat in die Straßenbeläge tiefe, erodierende Löcher gerissen, in die ich in der Dunkelheit nicht stolpern möchte. Manche so groß wie kleine Kraterseen ohne Grund. Ob darunter nicht gleich der Reichtum der Stadt lag, das Asbest, schoss es mir durch den Kopf. Es ist früher Nachmittag des sonnigen Apriltages. In den zwei Hauptstraßen mit ein paar Geschäften sind Menschen unterwegs. Meistens Frauen, junge, alte, Kinderrudel aus den Schulen, aber keine Männer. Das fällt mir auf. Eine Stadt ohne Männer. Sie sind in der Arbeit.
Aber Alte wird’s doch ein paar geben. Die sitzen doch so gerne vor den Häusern und wärmen sich die alten Knochen. Die Stadt uferte aus in vielen ländlichen Sträßchen, die Holzhäuschen, manche mit geschnitzten und bunt bemalten Verzierungen, windschief standen sie in den endlosen Weiten von Chagalls weißrussischen Landschaften bis hinter den Ural. Von Gärtchen umgeben, zehn Quadratmeter, war die stalinsche Norm für Privatbesitz, es reichte für Petersil, Zwiebel, ein paar Erdäpfel, Gurken, Kraut. Lattenzäune darum so lückrig wie ein durchschnittliches russisches Gebiss. In einer kahlen Hollerstaude tschirpen Spatzen, irgendwo auf einer Zaunzacke sitzt eine schwarze Katze, in einer trockenen Kuhle räkeln sich herrenlose Hunde in den ersten Sonnenstrahlen. Ein leicht eingefärbter Stich von Sibirien aus dem 19. Jahrhundert. Das unveränderliche, ewige Russland, ewig arm und elend, denke ich.

Als ich einmal von einer solchen Straße aufsah, erschrak ich zutiefst. Wo war ich hingeraten, hatte ich mich verirrt? Eine Fata Morgana im Ural, am Westrand von Sibirien? Ich kann beschwören, dass ich beim Bürgermeister keinen Tropfen Wodka angerührt habe, sowenig wie das Asbest! Ich befand mich plötzlich ohne Vorwarnung, Andeutung oder Übergang auf einem anderen Planeten. Vor mir öffnete sich ein Platz so weit, dass er der Hauptstadt würdig gewesen wäre. Aus dem Nichts der absoluten Leere erstand ein griechischer Tempel, nicht in Marmor, ganz in Kalkweiß über russischen Ziegeln, eine breite Treppe, ein doppelreihiger Portikus mit dorischen Säulen, umgeben von korinthischen Girlanden, gekrönt von einer gigantischen Kuppel wie die der Isaaks-Kathedrale auf dem Newski-Prospekt. Ich fühlte mich in einem einzigen Augenblick zur Größe von einer Ameise geschrumpft. Mit vorsichtigen Schritten durchwatete ich die Kraterseen auf dem Platz und näherte mich andächtig über breite Stufen dem „Kulturhaus der Stadt Asbest“. Vor der Giganten-Statue Maxim Gorkis machte ich natürlich meinen Kotau.

Im Dreiecksgiebel über dem Portikus kündeten die goldenen Lettern „Dem siegreichen sowjetischen Volk“ von der Entstehungszeit des Kulturtempels. Väterchen Stalin. Da ich allein hier war, konnte ich mit niemandem die Säulen ausmessen, meine zwei eigenen Arme plus mein Mittelkörper reichten vielleicht für ein Viertel des Umfangs. Weil der Giebel aus unerfindlichen Gründen nach hinten versetzt war, machte das leere Flachdach des Portikus den ernüchternden Eindruck einer Garage.
Ich war viel zu früh dran für das Konzert, stand oben unter dem sibirischen Portikus und sah mich im Rund um: Menschen strömten aus allen Richtungen auf das Kulturhaus zu, viele Kinder, Frauen, Mütter, Großmütter, Tanten, aber keine Männer. Naja, die arbeiten wohl alle, normal, dachte ich.

Der falsche Tempel in Sibirien. Ein leerer Platz mit Schneematsch, Pfützen und Gatsch. Rundherum grindige Holzkaten und schiefe Lattenzäune. Ich ertappte mich beim Gedanken an den französischen Marquis de Custine mit seinen Blicken auf St. Petersburg im Jahr 1839. „Dreckige, verlauste Bauern lagern in Lumpen auf Stroh und Dreck unter falschen griechischen Tempeln.“ So fasst er polemisch seine Eindrücke vom Newski-Prospekt zusammen. Astolphe de Custine, ein reaktionärer französischer Adeliger, hatte in Paris in polnischen Exilantenkreisen verkehrt und bereiste drei Monate Russland ohne Russisch-Kenntnisse und Kontakt zum Volk. Mit seinem bahnbrechenden Werk „ La Russie en 1839“ prägt er noch immer das westliche Bild vom barbarischen Russland. Er beschreibt den zaristischen Absolutismus als „expansionistische und despotische Gefahr für die freiheitliche Kultur und die ganze nicht-orthodoxe Christenheit“. Es erlebte in Frankreich gleich sechs Auflagen und erschien in ganz Europa. In Russland und der Sowjetunion blieb es immer verboten und wurde erst 1985(!) unter Gorbatschows Glasnost auszugsweise als „Russische Schatten“ veröffentlicht.

Einmal war es mir schon ähnlich ergangen, als ich die zentralrussische Stadt Arsamas besuchte.
Dort hatte man nach dem Sieg über Napoleon 1812 die Auferstehungs-Kathedrale erbaut, in der der Petersdom leicht zweimal Platz hätte. Auch er auf einem leeren Platz von enormen Ausmaßen, wie ein Meteor von einem Planeten heruntergefallen. Aber der Unterschied zu Asbest ist wichtig: Arsamas ist ein hübsches, altes Landstädtchen, eingebettet in eine liebliche Landschaft, idyllisch wie in eine Turgenjew-Erzählung oder die Tschechow‘sche Kirschgartenlandschaft vor der Zerstörung. Vielleicht spielt es auch eine Rolle, dass ich an einem herrlichen Sommertag nach Arsamas kam. Die Straßen sind gesäumt von den Köstlichkeiten aus Gärten und Wäldern, Kübel und Körbe voll mit Obst, Gemüse, Beeren und Pilzen. Ich erinnere mich mit Wonne daran, einen 10-Liter-Kübel mit den schönsten Herrenpilzen um 40 Rubel gekauft zu haben. Es sieht aus wie das biblische Land, in dem Milch und Honig fließen.

Arsamas liegt auf einem Hügel am Steilufer der Tjoscha, einem Nebenfluss der Oka. Ein Balkon, von aus dem man meinte, in die Ebenen Sibiriens bis nach Wladiwostok sehen zu können. Kein Hindernis dazwischen. Arsamas besitzt die größte Ansammlung von Holzhäusern, damals schon viele stilvoll restauriert, die ich bis dahin gesehen hatte. Ein Gefühl, durch eine Gemäldegalerie zu spazieren. Die Anmut dieses Ortes und seiner Umgebung hatten auch schon einige Peredwischniki entdeckt. Die russischen Wandermaler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wandten sich gegen den steifen Akademismus, einige von ihnen haben sich hier niedergelassen. Bis heute ist ihnen ein kleines, aber liebevoll zusammengestelltes Museum gewidmet.

Noch zwei Besonderheiten hat Arsamas aufzuweisen. Beim Bau der Eisenbahnstrecke Moskau- Nishnij Nowgorod hat man auf Arsamas vergessen und an ihm vorbeigebaut. Arsamas, das einen aufblühenden Handel und eine Textilindustrie hatte, fiel in Dornröschenschlaf, bis etwa hundert Jahre später die Atomindustrie es aufweckte und gleichzeitig wieder versteckte. Eine der größten Forschungs- und Produktionsstätten legte man in die Nähe des Städtchens, eine geheime, geschlossene Stadt, von der man erst erfuhr, nachdem Andrej Sacharow nach Nischnij Nowgorod verbannt worden war. Arsamas 16 war einst sein Arbeitsplatz gewesen, wo er die sowjetischen Atombomben entwickelte.
Bis zu mir, heute vor dem Kulturtempel in Asbest, dringen die Bilder des Marquis de Custine ein.
Weil er ein verdammt genaues Auge hatte und eine genaue Sprache für diese Unterschiede, diese Diskrepanzen. Er hat das Falsche, das nur Nachgeahmte an der russischen Kultur erkannt, ohne jede Kenntnis von ihr zu haben. Das Nachgemachte, das Angenommene, das aus Europa Übernommene und oft falsch Verstandene. Der größte Irrtum war wohl der Marxismus.

Das Innere des Kulturhauses überraschte wiederum mit seiner Nüchternheit: Halle, Garderoben, Treppenhäuser und Korridore – alles war in der sowjetunionweiten Nutzbauweise aus Beton gehalten. Aber dafür hatte es der zentrale Konzertsaal in sich. Ich stand wie geblendet da und brachte meinen Mund nicht mehr zu. Ein in einem Halbrund amphitheaterartig aufsteigender Raum, bestuhlt mit rot-goldenen Reihen in Samt, eine Bühne und ein Orchestergraben vorne. Die Decke bildete eine Kuppel, die zur Gänze ausgemalt war. In den Segmenten konnte man Stalin in verschiedenen lebensnahen Situationen sehen: von Kindern umringt, die ihm Blumen in Körben und Girlanden überreichen, wofür er sie wie der gute Hirte mit ausgebreiteten Armen segnet, von diversem Arbeitsvolk umgeben, das ihm Produkte aus Wald, Feld, Fabriken und Bergwerken überreicht.
Wo in den Barockgemälden die Putti sind, schwebten hier Blumen, einzeln, in Körben oder in Gebinden durch die blauen Hintergründe. Die Stuckrippen prangten in Gold. Vom höchsten Punkt in der Kuppel hing ein riesiger Luster aus Kristallglas, würdig einer Staatsoper. Eindeutig, die Maler kannten sich gut aus in der Kunstgeschichte, praktisch von allen Epochen war etwas in Asbests Theaterhimmel versammelt. Ich bemerkte beim Staunen über dieses in der Provinz vergessene Überbleibsel des grenzenlosen Stalin-Kults, dass ich nach kürzester Zeit in die hier angebrachte Körperhaltung verfiel, in eine Nackenstarre. Um all diese gemalte Pracht und Herrlichkeit zumindest mit Blicken zu erfassen, musste ich den Kopf extrem nach hinten beugen. Mit dem Geist ist es für einen Westler nicht so einfach. Vielleicht ist in Asbest Stalin noch gar nicht tot, so wie manche Zeitgenossen glauben, dass Elvis lebt. Vielleicht ist in Asbest auch der 2. Weltkrieg noch nicht zu Ende?

Unser Schüler-Ensemble gewann wieder unter den ausländischen Formationen. Das Balalaika-Orchester aus Asbest trug natürlich den Gesamtsieg davon. Beim nachfolgenden Bankett kam ich neben einer Journalistin aus Jekaterinburg zu sitzen. Sie klärte mich über das Geheimnis des eklatanten Männermangels auf: In Asbest werden die Männer nicht älter als fünfzig, bis fünfzig graben sie den Schatz aus der Erde.

19., 20.6. 17
Fortsetzung Jekaterinburg – An den Stätten des Zarenmordes

Veronika Seyr
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Mein Oster-Erweckungserlebnis

April 1971

Meine Freunde Pashka und Wjeta wussten davon über Mundpropaganda.
In der Christi-Himmelfahrts-Kirche von Kolomenskoje soll es einen geheimen Oster- Gottesdienst geben, eine Auferstehungsfeier die ganze Nacht hindurch.
Wir fuhren mit der Metro hinaus zur Endstation Kolomenskaja und gingen über die fast schon grünen Wiesen der Parkanlage zur Kirche. Vor allen Seiten strömten Menschen herbei.
Mir fiel auf, dass sie alle gebückt gingen, als würden sie sich vor etwas verstecken wollen, als wollten sie so tun, als ob sie gar da seien. Ich erklärte mir das mit dem frommen Insichgekehrtsein, der Verzücktheit nach dem strengen vierzigtägigen Fasten. Völlig daneben, wie sich später herausstellte.

Südlich vom Stadtzentrum liegt in einer Moskwa-Schleife inmitten einer Parklandschaft mit sechshundertjährigen Eichen die einstige Sommerresidenz der frühen Zaren. Nach dem Sieg über die Tataren auf dem Schnepfenfeld im Jahr 1380 ließ sich der triumphale Dmitrij Donskoj hier, hoch über dem Steilufer der Moskwa, eine Sommerresidenz erbauen. Wegen ihrer Pracht nannten sie Zeitgenossen das achte Weltwunder. Zuletzt gestaltete Zar Aleksej 1667 den Palast um, sein Sohn Peter, später der Große, verbrachte hier seine Kindheit, später benützten ihn die Zarinnen Katharina I., Anna und Elisabeth.
Katharina die Große mochte ihn nicht, sie bevorzugte das von ihr erbaute Schloss Zarskoje Selo bei St. Petersburg. Sie ließ den Moskauer Palast abreißen, trotz vieler Pläne kam aber nie ein Neubau zustande. Von der alten Pracht bleiben nur das Erlösertor als Eingang, der Glocken- und der Wasserturm und die Kirche der Gottesmutter von Kazan stehen. Das war die Hauskirche des Zaren Aleksej mit einem unterirdischen Geheimgang zur Christus-Erlöser-Kirche. Dies ist der schönste und größte Zeltdachbau der Rus mit einem 63 Meter hohen Turm. Hier versuchten die unbekannten Baumeister zum ersten Mal, den traditionellen Holzbaustil in Stein zu übertragen, mit den frühesten Einflüssen der italienischen Renaissance in Russland. Typisch für die russische Gotik sind die schlanken Säulen, darüber die dreifach gestaffelten Kokoschki, die die aufragende Gestalt optisch noch verstärkten. Sinnbild für das Streben zu Gott, die Himmelfahrt Christi, aber auch den Ruhm des Russischen Reiches.

Natürlich wusste ich an diesem Karsamstag im April 1971 das alles noch nicht, geschweige denn hätte ich das sehen oder benennen können. Aber in den nächsten dreißig Jahren bin ich immer wieder an diesen Ort gekommen, er wurde einer meiner Moskauer Herzensplätze, und allmählich verleibte ich mir Kolomenskoje immer mehr ein. Es war der Ort, an dem ich eine Ahnung vom Inneren Russlands bekam, die ganze russische Geschichte wie durch eine Osmose zu spüren vermeinte. Und den besten Blick auf Moskau hatte. Nah genug, um das Schöne zu sehen, weit genug weg, um das Hässliche zu vergessen.
Ich versuchte oft, mich in Napoleon auf den Hügeln von Borodino zu versetzen, als er im September 1812 die ersten Blicke auf das viertausendfach golden gekrönte Moskau warf. Ich bin überzeugt, dass er genau hier den Verstand verloren hat, so verrückt wurde, dass er meinte, es einnehmen und beherrschen zu können. Er war wie geblendet von dieser Pracht und vergaß, dass hier nicht Zar Alexander I. herrschte, sondern König Winter. Heutzutage hat Moskau immerhin noch 400 Kuppeln und Türme.

Wjeta, Pashka und ich waren früh gekommen, noch bei Tageslicht. Die Feierlichkeiten begannen erst mit der Dämmerung. Die Kirche war schon halb gefüllt, die Gläubigen verrichteten ihre rituellen Handlungen: das Waschen, Kerzenanzünden, Ikonen-Umkreisen und -Küssen, Kopeken-Einwerfen, das Schreiben der Fürbitte-Zettel und Abholen der kleinen Sauerbrote in der Sakristei. Die Besucher waren fast nur alte Frauen mit Kopftüchern, kaum Männer und Jugendliche.
Auf der Galerie an der Hinterwand sang ein Frauenchor in endlosem Auf und Ab Gebete und Choräle, die Gläubigen antworteten mit gleichem Singsang: Gospodi pomilui. Herr, erbarme dich unser. Tausende Male. Oh Gott, wie viel hatte er ihnen zu verzeihen! Bekreuzigen, in die Knie gehen und niederwerfen, den Boden küssen, aufstehen und wieder bekreuzigen. Es war mein erster orthodoxer Gottesdienst, alles war neu und fremd. Ich erkannte noch nicht den Rhythmus, in dem sich das alles vollzog. Nicht einmal, dass es einen Rhythmus hatte. Inzwischen hatte sich die Ikonostas geöffnet und Geistliche erschienen in der Apsis. Reiches Ornat, viele Kerzen, geschwenkte Weihrauchfässer und aus Wasserbecken reich versprühtes Wasser.

Die Menge war dicht zusammengerückt und drängte immer stärker nach vorne. Bald standen wir in einer kompakten Masse von Leibern. Pashka, Wjeta und ich bemühten uns, aufrecht stehend beieinander zu bleiben. Auch sie Atheisten, machten sie nicht mit bei Bekreuzigung, Niederwerfung und Bodenküssen. Da hörte ich von draußen Lärm, Pferdewiehern, Hundgebell, Schläge an das Tor. Lautsprecheransagen von außen an die towarischtschi verujuschtschije, die Genossen Gläubigen, dass nun die Kirche geschlossen würde, und wer nach draußen wollte, sollte das jetzt tun. Für den Rest der Nacht würde die Kirche von außen versperrt. Das war die berittene Miliz, die den Gottesdienst vor den möglichen erzürnten kommunistischen Volksmassen schützen sollte. Ich weiß nicht mehr, ob meine russischen Begleiter so unerfahren waren oder ich so naiv, dass ich darauf bestand zu bleiben: In jedem Fall, wir gingen nicht nach draußen.

Das Tor fiel krachend in seine Angeln, und die Milizionäre schlugen noch einmal fest auf das alte Holz. Gesänge, Kerzen, Weihrauch, Niederwerfen, Aufstehen. Der Sauerstoff war aufgebraucht. Allmählich verschmolz bei mir alles zu Schlieren, ich konnte mit den Augen nichts mehr unterscheiden, es blieb der Singsang als letzte Erinnerung in den Ohren. Gospodi pomilui. Nein, die allerletzte war das Gefühl der dicht gepressten Körper rund um mich, die mich aufrechterhalten hatten. Als sich die Masse wieder einmal beugte, niederkniete und sich auf den Boden warf, kippte ich heraus und fiel und fiel. Mein Körper auf den runden Rücken der betenden Weiblein, das war die letzte Empfindung, bevor ich das Bewusstsein verlor. Ein langsames Gleiten ins Nirgendwo.

Das Weitere erinnere ich nicht, sondern ist Erzählung. Mein Glück, meine Begleiter, meine Lebensretter. Sie erkannten die Situation und kämpften sich durch die Körpermassen robbend nach hinten in Richtung des Eingangs, eine Schneise, mich im Schlepptau. Ich kam so zu liegen, dass ich unter dem undichten Torschlitz etwas Luft zu atmen bekam. Pashka und Vjeta schrien und trommelten mit allen Kräften von innen an das Tor. Ein Notfall, eine Frau ist bewusstlos, bitte, aufmachen, um Gottes Willen, gospodi pomilui!
Es öffnete sich ein Spalt, und meine Freunde zogen mich hinaus, zwischen Pferde- und Hundebeinen hindurch. Sie brachten mich auf eine Wiese, atzten mich mit Wasser und fächelten meine Stirn, tätschelten meine Wangen und ermunterten mich mit guten Zusprüchen.

Das Erste, was ich wieder bewusst aufnahm, war eine Kohorte von Polizisten hoch zu Ross mit freilaufenden Schäferhunden. Sie umkreisten uns unruhig, sie wogten dahin und dorthin, immer wieder auch um die Kirche. Das Geräusch von Pferdehufen gegen die Kirchenmauern. Schläge mit Holzstöcken gegen die Kirchentür und Fenstergitter. Ganze Einheiten belegten die offenen Galerien, Arkaden und Treppenaufgänge an der Vorderseite. Sie taten uns nichts an, verlangten nicht einmal unsere Dokumente.
Mein elender Zustand war ihnen offenbar Beweis genug. Feind liquidiert. Ausgeschaltet. Keine Gefahr. Ein unscharf gestellter Film, untermalt von Chorgesängen, Kommandos, Pferdewiehern und Hundegebell.

Es schien ein Krieg zu toben rund um die Christus-Erlöser-Kirche. Historische Schlachtenbilder, Borodino, Napoleon gegen Kutusowski 1812, langsam kam ich wieder zu mir, etwas zeitverschoben allerdings, denn ich meinte, tausende Kirchenglocken zu hören. Da erst bemerkte ich, dass viele Menschen keinen Platz in der Kirche gefunden hatten. Sie lagerten im Park, immer bedrängt von der Miliz und deren Tieren. Die Kirche gehörte zu einem Museumsreservat, war nicht geweiht und eigentlich nicht geeignet für einen Gottesdienst. Das war auch der zynische Grund für das Verbot der Auferstehungsfeier. Da sich die Gläubigen nicht aufhalten ließen, wurden sie maximal gestört und eingeschüchtert.
Am stärksten aber der Geruch einer russischen Frühlingswiese, von den Eichen, vom Fluss unten und die Sterne darüber. Mein Erweckungserlebnis fand nicht innerhalb einer Kirche statt, so viel war sicher.

Ob es in Kolomenskoje noch andere Zwischenfälle gegeben hat? Wir wussten es nicht, hätten es auch nie erfahren. Die sowjetische Presse veröffentlichte nie lokale Vorfälle, die nicht ins Bild passten.
Das erlösende Jubeln bei Sonnenaufgang, das Ausbrechen aus der Kirche: Christos voskres`- voisstenno voskres` – Christus ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden – die Umarmungsküsse am Morgen nach der Auferstehungsfeier, die Weidenzweige, die Ostereier und Osterkuchen – das alles habe ich später noch oft erlebt und genossen, aber nie wieder nach einer Nacht in einer verschlossenen Kirche.

23.6.17

Veronika Seyr
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Das Lebensbuch

(das wahrscheinlich wichtigste Buch meines Lebens)

Wie das Buch hieß und woher es zu mir kam, weiß ich nicht mehr. Ob von der älteren Schwester geerbt oder ob ich es selbst entdeckt habe, in der Buchhandlung Sigmund am Tullner Hauptplatz oder in der Stadtbücherei ausgeborgt, das ist wahrscheinlich für immer in der Vergangenheit versunken. Eher hatte ich es zu Weihnachten oder zum Geburtstag bekommen, unsere Eltern waren sehr aufmerksam um unsere Lektüren.

Ich war dreizehn oder vierzehn Jahre alt, ein Schwellenalter. Das, wovon das Buch handelte, konnte mich weder früher noch später so fasziniert haben, dass ich das Buch bis heute geradezu spüren und schmecken kann. Es riecht noch immer nach diesem Sommer in meiner Erinnerung.
Milde Sonne und Lavendel zum Greifen. Bis zum heutigen Tag bin ich ergriffen von diesem Glücksgefühl, das dieses Buch auslöste. Gerne und oft kehre ich in diese Glocke zurück, in diese Versprechungen.

Mehrere französische Familien machen Ferien auf einem Landgut nicht weit von Paris. Vage Bilder, eine konkrete Handlung ist nicht hängengeblieben. Es gibt eine Schar junger Leute, alle etwas älter als ich, reicher, schöner, fröhlicher und freier. Sie sind unsagbar begehrenswert und feiern jeden Tag das Fest des Lebens. Keine Sorgen, Ferien eben. Sie leben in wunderschönen Häusern, machen Ausflüge in die lieblichsten Landschaften, sie fahren Rad durch duftende Wiesen und an Hecken mit blühenden Wildrosen entlang, die ich bis heute in der Nase habe. Sie baden in einem Fluss und lassen sich in der Sonne trocknen. Pan spielt mit dem Sommerwind, darüber trillern Lerchen, jeder ist in jede verliebt, oder sie spielen damit mit einer beneidenswerten Leichtigkeit. Ja, diese von nichts beschwerte Leichtigkeit des Umgangs miteinander, glaube ich, faszinierte mich am meisten. Es war wie der Unterschied zwischen einem Baguette zu unserem Bauernbrot. Wie der Tanz von Schmetterlingen zum Krähenflug.

Eigentlich waren diese französischen Jugendlichen ein fremder Stamm, den ich mit ethnologischem Interesse untersuchte und von dem ich das Universelle zu übernehmen versuchte. Ich studierte ihre Sprache, Blicke, Codes – die Sprache unterhalb der Oberfläche. Das war es, was sie in meinen Augen so frei machte. Heimlich übte ich vor dem Spiegel Rede und Gegenrede, Mienen und Gesten, Grimassen und Haltungen.

Es klingt kitschig und romantisch, war es aber nicht. Diese französische Autorin war supermodern. Nichts von der armen Enge der Hochreiter-Kinder von Marlen Haushofer, der Stifter‘schen Bunten Steine oder der Waggerl-Welt, wie ich sie bis dahin kannte. Dem Winnetou- Kult, den meine älteren Geschwister um die Wette betrieben, konnte ich nichts abgewinnen. Von Karl May habe ich nur Die Weber, Im Land der Skipetaren und Der Schut gelesen, wahrscheinlich weil sie gerade ungelesen herumlagen. An die 80 anderen Bände kam ich zu meiner Zeit nicht heran, weil sie ständig unter den Älteren kreisten. Ich hab schon 40, pah, ich schon 56, so ging das damals.

Meine französischen Teenager waren in meinen Augen alle ein bisschen exzentrisch und taten verrückte Dinge, wofür ich sie heftig beneidete. Aber ich hätte das bei mir nirgendwo ausprobieren können. Sie hatten jeder einen bestimmten Stil und drückten ihre Persönlichkeit ungehindert aus. Sie schienen schon alles über das Leben und die Welt zu wissen, wobei mich natürlich das Mysterium zwischen Männern und Frauen am meisten interessierte. Die Sexualität könnte die Brücke zur Überwindung der Fremdheit sein. Aber bei uns wurde sie aus religiösen Gründen unterdrückt. Die jungen Franzosen schienen davon vollkommen unberührt zu sein, sie wurden nicht belästigt und bedroht von den Erwachsenen, sie konnten sich so frei entwickeln wie ihre Heckenrosen und Blumenwiesen. Wir dagegen wurden aufgezogen wie Spalierobst und beschnitten wie Buchsbäume. Reih und Glied.
Es war vor allem das Lebensgefühl des Aufbruchs, dass alles möglich war und nur Schönes vor einem lag, das dieses Buch vermittelte. Die Zukunft stand weit offen und winkte mit goldenen Aussichten.

Ein unvergessliches Buch, von dem ich nicht einmal den Namen die Autorin mehr weiß? Warum bin ich mir so sicher, dass es überhaupt eine Autorin war? Sie war eine Frau, weil ich mich von ihr vollkommen verstanden fühlte, auf gruselige Art durchschaut, aber nicht verraten, sondern aufgehoben. Auch an die Handlung kann ich mich kaum erinnern, kein einziges Detail, alles nur vage, alles Stimmung und Schwingung. Keine Probleme und Verwicklungen, die es ja auch gegeben haben muss, denn ansonsten hätte das Buch nicht von lebendigen Menschen gehandelt. Die eventuell störenden Erwachsenen sind ausgeblendet. Es war die Atmosphäre, die Lebensluft, die mir wie der Gegenentwurf zu meiner eigenen Welt vorkam. Ein Entwurf in meine eigene erträumte Zukunft.

Bei uns zu Hause war es üblich, dass alle über ihre Lektüren sprachen, dass darüber am Esstisch diskutiert wurde, auch gestritten, und die Eltern, die alles wussten, oft als Schiedsrichter auftraten. Obwohl ich meinen französischen Traum hütete wie den Augapfel, kam meine zwei Jahre jüngere Schwester hinter mein Geheimnis. Sie wollte natürlich das Buch auch sofort lesen, was ich in jeder Hinsicht für unangemessen hielt. Sie war ja viel zu jung für so eine Geschichte, ein Baby! Ich wollte meinen Altersvorsprung als Autorität ausspielen. Aber vor allem wollte ich meine neue Traumwelt mit niemandem teilen. Ich hütete sie eifersüchtig und egoistisch, sie war mein Privatkosmos, mein eigenes kleines Paradies, das ich bis ins Letzte verbissen verteidigte.
Ich las nur noch heimlich und versteckte das Buch unter der Bettmatratze. Es war ein Skandal, weil ich behauptete, es sei verschwunden. Nach einer peniblen Zimmerkontrolle durch die Mutter musste ich es herausrücken und nach dem Auslesen der kleinen Schwester ausliefern. Ich glaube, ich habe noch nie jemanden so gehasst wie die beiden, ich weiß nicht, wen mehr. Es war ein Überfall, ein Raub, ein Einbruch, eine Entweihung, ein Hineintrampeln in meine Welt. Das dort waren meine Menschen, meine Freunde, meine Lieben. Ich lebte mit ihnen, sie lebten mit mir.
Ich spüre noch immer Zorn aufsteigen, dass sie mir mutwillig den ersten großen Kummer meines Lebens zugefügt haben. Und die Scham darüber, dass ich dieses Buch, das Intimste, das Privateste, das Schönste, was ich hatte, nicht hatte schützen können vor fremden Blicken und Gefühlen.

Trotz aller persönlicher Tragik waren in der Folge drei Dinge tröstlich, ja sogar beglückend. Es kamen noch zwei Fortsetzungsromane, die ich geheimhalten konnte, weil ich sie nicht mehr zu Hause las, sondern in einem sicheren Depot bei einer Freundin.
Und schließlich ist dieses Erlebnis ein Beweis dafür, dass es ein gutes Buch gewesen sein muss. Denn ohne diese Qualitäten, die ich so sehr schätzte, dass sie unvergesslich sind, wäre ich vielleicht erst später oder gar nicht drauf gekommen, was ein gutes Buch ausmacht: die Erschaffung einer neuen Welt, in der man besser leben kann als in der eigenen, mit Menschen, Ereignissen, Gefühlen und Erkenntnissen, Landschaften und Gerüchen, die das erste Leben anreichern und ins Endlose ausweiten. Die dritte Entdeckung war, dass Lesen eine wunderbare, nie endende Art von Selbstfindung ist. Zumindest verstand ich seit damals, dass wir nie das Fremde suchen, sondern immer auf der Suche nach dem Eigenen sind. Es wird immer belohnt. Meine Liebe zu den Autoren, die so etwas zu bewirken vermögen, ist ungebrochen. So haben sie mich zu einer maßlosen Bücher-Fresserin und Welten-Entdeckerin gemacht.

Mutter und Schwester habe ich natürlich längst verziehen.
Wir sind schließlich alle aus demselben Holz geschnitzt.

30.6.17

Veronika Seyr
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Das Geheimnis in der Bassena

Solange du nicht zu steigen aufhörst, hören die Stufen nicht auf, unter deinen steigenden Füßen wachsen sie aufwärts.
Franz Kafka. Fürsprecher.

Sie sperrt die Tür auf, durchquert den Gedenkraum und legt zuerst die Blumen auf das Kaminsims. Im Winter sind es Rosen, später, im März und April Tulpen oder Narzissen, im Mai Flieder oder Pfingstrosen. Wasser in die Bassena gießen, frisches einlassen und die neuen Blumen drapieren; die Stängel sollen nicht am Boden anstoßen, hat er auf einen der Gesprächszettel geschrieben. Links davon stehen die siebzehn Bände des Gesamtwerkes, daneben eine dicke, abgebrannte Kerze. Ein bisschen Altar.
Sitzen und Warten. Ins Stiegenhaus horchen. Auf die Glocke unten, die Schritte zwei Stockwerke hoch. Nichts, niemand. Wieder einmal kein einziger Besucher. Die Einsamkeit passt zu ihm. Die Stunden schleichen zäh dahin, sie meint, die Zeit am Stand ticken zu hören, stillgestanden seit dem 3. Juni 1924.

Es ist aber nur das banale Knistern der Heizung, wenn sie an- und abspringt. Dann von oben ein dumpfes Poltern, Schieben, Kratzen und Rollen über dem Plafond.
Die Geister sind immer und überall. Sie lassen sie niemals in Ruhe und dringen überall ein. Wahrscheinlich verrückt der Hausherr aber nur wieder einmal die Blumenkübel auf seiner Terrasse, als wollte er mit seinen Oleandern und Lebensbäumen das Orakel von Stonehenge nachbauen. Dieser Herr Odradek ist ein pain in the neck and in the ass. Pia denkt oft auf Englisch. Häufige Reisen nach London, eintauchen ins Theaterleben, nichts geht über Shakespeare, aber für das Leben dort reicht ihr Gehalt nicht.
Auf der Hauptstraße, vor den Fenstern, rauscht der Verkehr, unterbrochen von jähem Abbremsen, nervösem Hupen und reifenquietschendem Abbiegen zum A-H-Supermarkt. Ein Getöse, bösartig im Ton, aber gestaltlos und ohne Bedeutung. Sie sollten mit Kotflügeln aufeinander schlagen wie mit rauchenden Colts. Dazwischen das banale Klirren von Einkaufswägen und hysterisches Kindergeschrei.

Die Bibliotheksarbeit ist schnell erledigt, es gibt ja nicht allzu viele Neuzugänge, die Mitgliederkartei auf den neuesten Stand gebracht, die Liste der neuen E-Mail-Einträge ist kopiert, seit Jahresbeginn ganze sieben. Sie sitzt einige Zeit am Schreibtisch und studiert wie schon so oft die rohe Ziegelwand, da kann sie sich verlieren, ihre eigene Meditation. Einmal sieht sie sich im Raum um, zu den Bücherregalen. Französische, koreanische, russische, chinesische, arabische Übersetzungen, alle interessieren sich für K. Außer den fremdsprachigen Übersetzungen hat sie alle Bücher gelesen, manche schon mehrmals. Auf die reichen Bildbände über Leben, Orte und Werke hat sie gerade keine Lust. Zu oft gesehen, gelesen, studiert, und nie zu Ende gekommen, zu einem Ende, einem eindeutigen. Gerade heute braucht sie keine fremden Rätsel.
Von ihrem Stuhl aus sieht sie auf die großen Porträt-Fotos von Dora Diamant und Robert Klopstock, die beiden Begleiter auf seinem letzten Weg. Dora war schon im Sanatorium Wienerwald und im Allgemeinen Krankenhaus an seiner Seite, Robert kam Anfang Mai nach Kierling geeilt. Er übernahm einen Großteil der medizinischen Betreuung und die Korrespondenz, Dora bekochte und fütterte ihn und versuchte, ihm einige Schlucke von Flüssigkeit einzuflößen. Sprechen konnten sie nicht mehr miteinander, sie schrieben einander auf Zettel ihre Mitteilungen.
Pia schüttelt sich in ihrem ganzen runden Körper und wedelt mit den Armen, wie um einen Insektenschwarm abzuwehren. Der soll nu mal ne Ruh geben, endlich. Dabei ist sie doch nur wegen ihm da.

Auf den Boden kommen. Jetzt einmal einen Kaffee und eine Zigarette auf dem Balkon mit langen Blicken ins Maital. Auch so vergeht die Zeit. Auf der Tanne sitzen die jungen Zapfen dicht wie Haifischzähne, um den Wipfel herum vergnügen sich Blaumeisen, darüber quengeln Dohlen und Krähen. Unten im Rasen wachsen einige Fliederbüsche mit weißen und dunkellila Blüten, die Pfingstrosen noch nicht aufgeblüht. Sie sind alt und schon knorrig. Ob sie schon zu Kafkas Zeit hier standen? Dora und Robert haben aus Wien immer frische Sträuße mitgebracht. Franz, riech mal, wie schön. Um diese Zeit, die letzten Maitage, stellen sie eine Schale mit Erdbeeren und Kirschen auf den Tisch, die liebte er, Dora hielt sie ihm unter die Nase, zuletzt konnte er nur noch ihren Geruch genießen.

Zurück im Zimmer, es ist dämmrig geworden, der April bringt wieder einmal ein Gewitter ins Tal. Der braune Parkettboden dunkelt in zwei oder drei Schattierungen, und die Wände ziehen sich in weite Ferne zurück. In den Ecken hängen Erinnerungen wie Spinnengewebe. Der hat hier seine Gespenster ausgehaucht und zurückgelassen. Heute ist sie diejenige, die das hütet. Die Pflege von Spinnweben und Todeshauch. Ein schöner Job, aber sie hat ihn sich ausgesucht, und er ist ja ehrenamtlich. Ohne Amt, nur Ehre.

Pia gähnt und streckt sich in ihrem Sessel, die Arme zurück und die Beine unter dem Tisch. Sie legt den Kopf auf die Seite und lauscht der schwachen, zittrigen Musik aus dem Radio. Sie runzelt die Stirn und weiß nicht, warum ihr der Händel heute lästig ist. Weil ihr heute alles auf die Nerven geht, sogar ihr vielgeliebter Landsmann aus Halle/Saale? Ihr Gott, der größte Mensch, der je gelebt hat, alle anderen, sogar Mozart und Beethoven sind nur seine Propheten. Händel ist meine Religion, pflegt sie vor Freunden zu sagen, die einzige, und das hat nichts mit Halle zu tun.
Goodman wäre jetzt besser. Ein heißes, scharfes Geschmetter, die nervös zerrissenen Sequenzen einer Jam-Session, New Orleans und nicht Kierling. Aber auf Ö1 läuft gerade kein Goodman. Sie dreht das Radio etwas lauter. Vielleicht wären sogar Walzer jetzt besser. Aber seit Wien gestorben ist, sind alle Walzer Schatten. Wien, das große absterbende Riesendorf, hat er einmal festgestellt. Aussichtslos. Vielleicht doch noch das Album mit den Fotografien hernehmen. Die Kinderbilder, mit und ohne Schwestern, als Maturant, der neue Doktor juris, mit der Lieblingsschwester, mit dem Freund und allein auf dem Altstädter Platz. Das alte Katzenkopfpflaster unter den eleganten Schuhen. Hochgewachsen, schmal trotz mehrfacher Schicht von dreiteiligem Anzug, auf dem Kopf einen hohen Hut. Nicht unfreundlich im Ausdruck und leicht zugeneigt, aber nicht wirklich lächelnd. Prag, das einen nicht loslässt, das Mütterchen mit Krallen, schreibt er in sein Tagebuch. Prag prägt. Die Stadt ist eine Heimsuchung.

Sie streicht sich mit beiden Händen über das straff zurückgekämmte Haar und steckt die Klammer über eine ungehorsame Strähne am Hinterkopf fester. Sie spielt mit der langen, silbernen Uhrkette vor der Brust, die Zeiger im ovalen Ziffernblatt bewegen sich nicht. Sie streicht ihre lange Bluse aus gerippter Seide über den pfirsichfarbenen Knien glatt und betrachtet lange die mit violetten Lotosknospen bestickten Leggings. Die Farbe ihrer Augen, ihr „ absolutes Alleinstellungsmerkmal“, sagt der Therapeut immer, dazu groß, tief liegend und glänzend. Ja der, und sie ballt ihre Fäuste in der Uhrkette. Der ist ja magersüchtig, und ich bin dickdickdick.
Aber sie hat sich in ihn verliebt. Das geht nun schon fünf Jahre, dass sie von ihm träumt.

Soll sie vielleicht etwas essen? Ihren Quinoa-Salat mit Avocados und Cherry-Tomaten. Sie sieht ihn geradezu vor sich, die Plastikbox steckt in ihrer Tasche, heute früh mit frischen Kräutern zubereitet für ihren Samstags-Dienst im Gedenkraum. Nein, es ist noch zu früh, sagt der strenge Kopf, obwohl der lässigere Magen schon etwas aufnehmen könnte. Der Appetit geht immer von Bildern aus, es ist Kopfhunger, nicht Magenhunger. Sie weiß das schon lange, versucht in Therapien und Tanz-Workshops die Bilder zu ändern und kommt doch nicht von ihren überzähligen Kilos los. Und überhaupt, in dem Zimmer, wo er verhungert ist, ans Essen zu denken. Ihre Kollegin Sybille hielt das für unmoralisch.
Sie schaut auf den Parkett-Boden und sieht plötzlich, dass hier ein blauer Teppich liegen sollte. Ein Wahrnehmungsanfall- oder -ausfall? Sehen violette Augen andere Farben als braune, blaue oder graue?
Einen Augenblick zuvor war sie entspannt zurückgelehnt im Sessel dagesessen, und im nächsten stand sie auf den Füßen, absolut ruhig und im Gleichgewicht.
Putzen! Das ist es! Ordnung machen, auch wenn alles in Ordnung ist. Wenn etwas sauber ist, dann ist immer auch alles andere in Ordnung. Das kann nicht falsch sein, nicht in der DDR und auch anderswo nicht. Dreck lässt sich immer noch irgendwo finden. Das gibt Sicherheit.

Warte, he, pass auf, die Bandscheiben, das ist eine schwere Arbeit. Die paar Krümel von ihrem Quinoa-Salat mit Knäckebrot hat sie schnell weggewischt, ansonsten war alles sauber wie Brokat. Alle ehrenamtlichen Raumwächter waren darauf bedacht, keine Spuren zu hinterlassen, weder eigene noch fremde. Aber Pia ist geradezu von einem Putzfimmel besessen, noch das letzte Krümel- oder Stäubchen entdeckt sie mit Adleraugen und entfernt sie mit Besen und Wischmopp. Feucht aufwischen ist heute nicht notwendig, das Parkett glänzt ohnedies; wenn sie sich vorbeugt, kann sie sich darin spiegeln. Ein verrutschtes Spiegelbild, genauso wie seine Traumspiegelwelt. Vielleicht hat er zu oft auf seinen Parkettboden geschaut, geht ihr zum ersten Mal durch den Kopf. Oh Gott, bin ich banal, da mach ich doch gleich etwas ganz Banales. Sie steht auf und holt mit gezielter Geste aus der Abstellkammer ein Staubtuch. Sie kennt dort jeden Millimeter, hat sie sie doch selbst eingerichtet und ausgestattet.

Sie wischt mit dem Staubtuch über die dunklen Holzwände der Sitzecke, dort sammeln sich gern die Fusseln oder die Flankerl, wie die Ösis sagen. Als sie sich wieder aufzurichten versucht – vielleicht mit einer zu heftigen Bewegung – stößt sie mit der linken Schulter von unten an das Bücherbrett. Diese kleine Erschütterung bringt die schräg aufgestellten Bildbände ins Rutschen, und wie eine Dominoreihe fallen sie um. Ein Buch auf das andere, langsam, wie in Zeitlupe, aber irgendwann haben sie keinen Platz mehr auf dem schmalen Brett und poltern herunter, auf sie, die noch immer halb gebückt vor der Bank steht. Eines trifft den Kopf, eines die rechte Schulter, mehrere treffen die Mitte des Rückens und gleiten über die Hüften. Wie die Bücher in ihre rechte Kniekehle eindringen konnten, welche Dynamik, welche Drehungen der Physik wirksam wurden, weiß sie nicht. Das große Buch von Kafkas Tagen in Wien, Kafkas Prag, einige Bildbände über das alte Prag, die drei Bände der Biographie von Reiner Stach, ein Prachtband mit Fotos von Kafkas Familie, zwei Ausgaben über Kafkas letzten Freund, Robert Klopstock, einer über Kafkas letzte Liebe Dora Diamant, über Kafka und das Judentum. Welches von denen war ihr in die Kniekehle eingefahren? Prag, Wien, Liebe, Freund, Judentum? Ah, er versucht mir nah zu sein, ein Wink aus dem Himmel. Aber mit welcher Bedeutung? So groß wie ein Taubenschiss auf den Kopf?

Aber das sind schon Überlegungen von danach, nach allem, als es vorbei war. Sie fühlt sich noch am Boden krabbeln, hinaus aus dem ersten Raum, vor die Tür, auf den Korridor.
Gleich links von der Eingangstür befindet sich eine Bassena, ein Wasserbecken auf dem Gang, üblich in alten Wiener Häusern. Was erinnert sie noch? Den Geruch von feuchten Steinen im Hausflur, Putzfetzen und Wischmopp. „Der Geruch von nassen Steinen im Hausflur“, nicht mehr und nicht weniger – die Definition von (guter) Literatur nach Hugo von Hofmannsthal. Sie krümmt sich, die Beine gehorchen nicht, das ganze Gewicht hängt in den Armen. Nur nicht alt werden, nicht schwach! Nach mehreren Versuchen bekommt sie mit einer Hand das Rohr unter der Bassena zu fassen und kann sich an ihm hochziehen.
Sie ist doch kein Ungeziefer wie Gregor, keine Maus wie Josefine, kein Hund, nicht der Affe Rotpeter, keine Ratte und kein Schakal. Kurz bevor es ihr gelingt, sich aufzurichten, gibt das Wasserrohr nach, und die Schüssel kracht auf sie herab, Vollmetall der Firma Gerb & Söhne Wien. Die massiven Armaturen aus Edellegierungen prasseln auf sie herab, das schwere Gitter trifft sie an der Schläfe. Aber bevor sie im Geruch der muffigen Bodenfliesen versinkt, spürt sie etwas um sich, nicht die schweren Bücherbände aus der Ecke, sondern einzelne Blätter, Hefte, Notizbücher, Papier, viele Blätter, einen Berg, eine Decke, weit verstreut über die Steinplatten des zweiten Stockwerkes. Sie riechen noch nach dem Park von Berlin-Steglitz, nach Astern, Laub und feuchter Erde, nach dem Herbst von 1923.

Liebe Lotte, steht oben auf den Blättern. Du bist traurig, weil Du suchst Deine Puppe. Sie ist nicht mehr da, sie hat Dich verlassen und ist auf eine Reise gegangen. Du bist traurig, aber sei sicher, sie hat Dich lieb! Sie hat jetzt andere Pläne und schreibt mir Briefe über ihr neues Leben. Sie geht in die Schule, weit weg von hier. Es geht ihr gut und sie denkt oft an Dich. Ich erzähle Dir ihre Geschichte. Wenn ich nicht kommen kann, wird Dir Dora die Briefe vorlesen.

An einem warmen Tag Anfang November trafen sie im Park ein kleines Mädchen, das bitterlich weinte, weil es seine Puppe verloren hatte. Franz erfindet sofort eine tröstliche Geschichte, dass die Puppe eine Reise macht, er weiß es, weil sie ihm einen Brief geschickt hat. Drei Wochen lang schreibt Franz nun täglich im Namen der Puppe an das kleine Mädchen: von der Reise, der neuen Heimat, wo sie in die Schule geht, von ihren Abenteuern und wie sie neue Leute kennenlernt. Die Puppe ist erwachsen geworden und versichert sie immer wieder ihrer Liebe. Aber sie will nicht mehr zurückkommen, sie habe jetzt andere Menschen um sich und viele Verpflichtungen. Er bereitet sie auf den endgültigen Verzicht vor. Aber wie soll das enden, wie aus diesem Dilemma herauskommen, ohne das Vertrauen zu verlieren? Zuletzt lässt er die Puppe heiraten und erklärt dem Mädchen, dass sie es jetzt natürlich nicht mehr besuchen könne.
Franz hat den Konflikt eines Kindes durch die Kunst gelöst, durch das wirksamste Mittel, über das er persönlich verfügte, um Ordnung in die Welt zu bringen. Er verwandelt die Lüge in die Wahrheit der Fiktion.
23 Briefe und vier Postkarten, handgeschrieben, in seiner steilen und doch runden Handschrift, die Buchstaben besonders groß, ohne Korrekturen und Streichungen. Dora hat sie aus Berlin mitgenommen und im Hohlraum unter dem Wasserbecken des Sanatoriums versteckt, eingewickelt in Öltucher. Nachdem Franz im Februar weggefahren war, hatte sie keine feste Bleibe und niemanden, dem sie ihre Schätze anvertrauen hätte können.

Pia verliert das Bewusstsein.
Gefunden hat sie Herr Odradek, der Hausherr. Sie weiß nicht, wie lange sie so dagelegen war. An den Samstagen mit dem open door im Gedenkraum hat er ja immer die Ohren am Boden. Kaum sperrt sie auf, steht er schon da und bietet einen Kaffee an. So etwas von Quasi-Kaffee aus dem neumodischen Hausautomaten von N., brr. Sieht freundlich aus, ist aber sein samstäglicher Kontrollgang. Vielleicht hat er schon den Krach gehört, mit dem die Bücherkaskade auf sie niedergegangen war. Er sieht sie da wie einen Lurch am Boden kriechend und ruft die Rettung, keine zehn Minuten später ist diese zur Stelle und bündelt sie auf eine Bahre. Mit Martinshorn ins Krankenhaus Klosterneuburg.
Es geht glimpflich aus, keine Spätfolgen, eine Gehirnerschütterung und eine klaffende Wunde auf der Stirn, einige Stiche, links über die Augenbraue kommt ein Klebeverband. Die Blutergüsse und Schrammen am Rücken sieht niemand, am wenigsten sie selbst. Nur die Innenseite ihres rechten Knies schmerzt noch lange und lässt sie humpeln, wahrscheinlich eine Prellung.

Wohin die Papiere gekommen sind, kann Pia bis heute nicht herausfinden. Das Ehepaar Odradek hat unterschiedliche Erinnerungen und kann sich nicht einigen. Sicher war das eine große Aufregung für diese alten Leutchen. Und der Gedenkraum war ihnen nie ganz recht gewesen, die vielen fremden Leute im Haus, man weiß ja nie. Herr Odradek meint, die Rettung hat das Zeug mitgenommen, auf die Bahre gepackt, weil die Frau so geschrien hat: Die Briefe, die Briefe, bitte, rettet die Briefe! Frau Odradek erinnert sich nur daran, dass sie später die Treppen gesäubert hat. Da war viel Blut, eine Sauerei war das, alles durcheinander, die Bassena heruntergerissen, die Mauer offen und rundherum das viele alte Papier. Pah, Briefe, welche Briefe, lauter Fetzen sind auf dem Treppenabsatz herumgelegen. Und wer zahlt den Schaden? Den Mist hat sie hinuntergetragen, eine Plackerei, und in den Containern vor dem Haus entsorgt. Die Eimer mit Mauerwerk in den Restmüll, das Altpapier in den so bezeichneten Kübel. Alles muss seine Ordnung haben. Wer kann da widersprechen.

Pia selbst hat keine gesicherten Erinnerungen, nur das „Liebe Lotte“ steht ihr für immer eingebrannt vor den Augen. Kein körperlicher Schmerz kann so tief sein wie der um den zweiten Verlust der Puppenbriefe. Dora hat gelogen, als sie Brod versicherte, Franz’ letzte Schriften seien in Berlin verlorengegangen, als die SS ihre Wohnung durchsuchte.

Von einem gewissen Punkt gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen.
Franz Kafka. Blaue Oktavhefte

Wien, zwischen 13. und 25.5.17

Veronika Seyr
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Der Raub der Sappho

Trauerspiel in vier Aufzügen

1.
Wann kann das gewesen sein? Wie alt war ich damals, als ich diese Tragödie erlebte? Erlitt, und ich leide bis heute daran.
Im Josefstädter Theater war es, da bin ich mir sicher, und dass ich ein Kleid anhatte, das mir meine Schwester Agnes aus Amerika geschickt hatte. Natürlich kein Care-Paket aus dem Marschall-Plan  mehr, das war früher. Und da waren keine Kinderkleider dabei, sondern Konserven, Milch- und Kakaopulver, Lebertran, Blöcke von Käse und Schokolade. Für uns sieben hungrige Mäuler immer Weihnachten, Ostern und Geburtstag gemeinsam. Der lila Samt war dem roten der Brüstung auf dem 2. Rang ähnlich, sie rieben sich familiär aneinander. Oben am Hals ein weißer, runder Spitzenkragen. Nicht groß, nicht ausladend, in zwei Flügel geteilt wie bei den Tauben.
Sie war Austauschschülerin von AFS – das Traumsigel meiner Jugend – American Field Service, lebte bei einer amerikanischen Familie in Fort-Worth-Texas und besuchte die letzte Klasse einer High School.
Sie kam aus der 6. Klasse unseres Gymnasiums in die letzte der High School, also war ich bei dem konstanten Altersunterschied von fünf Jahren zwischen elf und zwölf Jahre. Sagen wir zwölf, damals im Josefstädter Theater. Die zwei unterschiedlichen Samte stießen gegeneinander wie die anschwellenden Brüste, an der Brüstung.

Sappho hatten wir an der Schule noch nicht durchgenommen. Aber ich zeigte von klein auf eine Begeisterung für das Theater. Ob das der Dramatik meiner Geburt geschuldet ist, der DNA oder dem Aufwachsen zwischen sechs Geschwistern, darüber streitet bis heute die Familienwissenschaft. Anzunehmen, eine Kombination. Jedenfalls ließen mich meine Eltern schon früh allein nach Wien fahren. Tulln – Franz-Josefs-Bahn – mit dem 5-er in die Josefstadt und wieder zurück. Auch der D-Wagen war günstig, um ins Burgtheater und zu den Konzertsälen zu kommen. Später organisierte der Musiklehrer Förstl Autobusfahrten in die Konzerte der Jeunesse musicale.

2.
In der Sappho sehe ich mich aber allein am 2. Rang sitzen, Mitte links mit freiem Blick auf die Bühne, leicht von oben wirkte sie klein und fast immer leer. Ich glaube, ich suchte die Stücke damals nach meinen Lieblingsschauspielern aus. Ihre Konzentration in der Sappho wird wahrscheinlich zu diesem Besuch geführt haben, weniger der Inhalt des Stücks, obwohl ich ihn sicher vorher im Reclam-Heft gelesen hatte. Ich erinnere mich noch an die Bühnenanweisung in II/6: Sappho ab in die Höhle, bei der ich lachen musste.
Mit Blumen umrankte antike Ruinen, Tempel, Klippen, eine Höhle, Laube, Rasenbank, bei allem immer der Ausblick auf ein sonniges, tiefblaues Meer. Schließlich ist Lesbos eine Insel. Dass die Szenerie ganz offensichtlich aus Pappe, das Meer auf Stoff gemalt und die Blumen aus Plastik waren, störte mich nicht im Geringsten. Auch nicht die Schauspieler, gekleidet in weiße Laken mit Faltenwurf, auf den Lockenmähnen einen Goldreif, das Volk in Wickelsandalen, alle halten ständig Oliven- und Lorbeerzweige in den Händen, mit denen sie der geliebten Dichterin zujubeln. Der einzige Farbfleck ist Sapphos wallender Purpurmantel, den sie immer wieder schwungvoll um sich wickelt oder zu Boden schleudert. Eine frühe Art von bekiffter Hippie-Kommune, wenn ich eine solche im Jahr 1960 schon gekannt hätte. Sappho war eindeutig die Chefin dieses lesbischen Mädchenpensionats und gab mir wenig Identifikationspunkte.

Ihr Künstlerdrama verstand ich wahrscheinlich noch gar nicht, auch nicht die unglücklich liebende, alternde Frau im Zwiespalt zwischen Kunst und Leben. Vielmehr war es das Liebes- und Eifersuchtsdrama in diesem Dreieck, das mich vollständig hineinzog. Dass ihr die junge, unbedarfte Sklavin vorgezogen wird, hielt ich für die natürlichste Sache der Welt. Was für ein Paar, dieser strahlende Phaon und die schöne, junge Melitta.
Und wie sich dieser testosteronstrotzende Wagenlenker an die Unschuld vom Land, Waise, eine Sklavin, eine Fremde, heranmacht, das hatte fast etwas von Porno. Das war mehr als Schneewittchen und Rotkäppchen. Sicher nicht nur mein mangelndes Verständnis für Sapphos Situation ließ mich vollständig auf die Seite der Jugend schlagen. Ja, ich fand Sappho sogar ziemlich unsympathisch, da konnte sie noch so lorbeerbekränzt und bejubelt sein. Was hatte sie sich da einzumischen, wenn zwei miteinander das Glück gefunden haben.
Gut, sie war ihre Sklavin, und sie hat Phaon zuerst erobert und an Land gezogen, aber was galt schon das Erstlingsrecht, wenn es um reine, schöne Liebe ging. Sie so zu bestrafen, auf eine Insel zu verbannen. Unverhältnismäßig und ungerecht. Ich brannte am ganzen Körper vor Empörung. Der Kampf um Melitta am Meer im Hintergrund der vorletzten Szene erfasste mich so voll und ganz, dass ich fast von der Brüstung gestürzt wäre, als ich mich in der selbstvergessenen Anspannung zu weit vorbeugte. Das war echtes Theater, echt wie das Leben selbst, zumindest so wie ich es mir mit zwölf vorstellte und erhoffte.

3.
Aber dann passierte es, in der letzten Szene. Die Wirklichkeit drängte sich in ihrer ordinärsten Form machtvoll herein. Sappho sitzt auf einem Felsen, hinter ihr die steile Klippe und das Meer. Sie hat den Purpurmantel um sich gewickelt und stützt ihren Kopf in die Hand.

„Den Menschen Liebe und den Göttern Ehrfurcht!
Genießet, was euch blüht, und denket mein!
So zahle ich die letzte Schuld des Lebens!
Ihr Götter, segnet sie und nehmt mich auf!

Da steht sie auf und segnet das junge Paar – sie hat ihnen vergeben. Sie hat sich zum Verzicht durchgerungen. Welche Erleichterung! Aber wie um alles in der Welt, kommt die Irral drauf, sich noch an die Stirn zu schlagen, die Verzweiflung hat sie doch überwunden, sie ist geläutert und hat eine Lösung für sich gefunden.
Dieser Schlag mit der inneren Handfläche auf die Stirn war so entsetzlich banal wie ein Klatschen auf den nackten Popo, nichts Tragisches, nur eine Ohrfeige, ein Klaps, ein schmatzender Knall. Er hallte fort und fort, und das Publikum verstand alles im selben Augenblick, indem es herzlich zu lachen anfing. Es pflanzte sich in Wellen fort durch den ganzen Raum, von unten nach oben und wieder zurück. Dacapo, rief es, Wiederholung, bravo! Als wären wir bei den Pradler Ritterspielen.
Die Irral bewahrte zwar Haltung und folgte nicht dem Wunsch des Publikums, sondern kippte lautlos nach hinten ins Blaue, stürzte nicht, sondern verschwand einfach wie eine Kasperlfigur.

Der Zauber war gebrochen, zurück blieben verstaubte Pappmaché-Kulissen, das aufgemalte Meer, der Plastik-Lorbeer und ein paar Menschen in Leintüchern. Die Lächerlichkeit war fast unerträglich, ich spürte den Schmerz wie Herzstechen. Mir war schlecht, es würgte mich in der Kehle, ganz heiß vor Scham und Wut.
Vielleicht war ich die Einzige, die nicht lachte. Ich weinte, weil diese Sappho mir das Theater zerstört hatte, geraubt, mutwillig, wie mir schien. Sie hätte sich doch einfach, so wie es in der Regieanweisung stand … Stürzt sich vom Felsen ins Meer … Das war aber kein Sturz gewesen, nicht einmal ein Fall! Man hörte nichts, kein Stürzen, kein Fallen, kein Poltern oder Aufprallen auf dem Wasser, nur dieser nackte Stirnklatscher wollte nicht aufhören. Bis heute nicht. Nichts als Spott und Hohn war da drin, ein großes Ätsch, eine lange Nase. Es war zum Verzweifeln. Eben ein Trauerspiel.

4.
Für Grillparzer begann nach der Uraufführung am 21. April 1818 eine Tragödie, wie er in seiner Selbstbiographie schreibt. Auf dem Theaterzettel stand nicht einmal sein Name, eine geplante Widmungsschrift an den Burgtheaterdirektor Schreyvogel wurde gestrichen. Beim Publikum kam die Sappho gut an, vor allem wegen des recht attraktiven first couple Korn als Phaon und Melitta. Die Presse aber goss Hohn und Spott über dem Autor aus. Ein Mord mit Häme auf offener Bühne. Wie oft waren die Zuschauer reifer als die Schreiber. Hier begann Grillparzers Entschluss zu reifen, weiter schreiben zu wollen, aber nichts mehr zu veröffentlichen.

Auch die anderen Schauspieler spielen tapfer ihre Rollen weiter, Phaon und Melitta rufen noch Oh Sappho! Halt! Hilfe! Rettung! Tot! Weh mir!
Nur der treue Sklave Rhamnes kriegt noch einen ganzen Vers voll unübertrefflichem Zynismus über die Lippen:

Verwelkt der Lorbeer und das Saitenspiel verklungen!
Es war auf Erden ihre Heimat nicht –
Sie ist zurück gekehret zu den Ihren!

Ringt die Hände.
Der Vorhang fällt.
Ende.

Das war eine Initiation. Seither spüre ich in jedem Theater jene Angst, entzaubert zu werden und ganz blöd dazustehen, wenn ich mich wieder verführen habe lassen.

31. Mai 17

Veronika Seyr
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Requiem für eine Buchhandlung

Malota – Stern’s Nachfolger seit 1906

Die Straße ist die älteste Verbindungslinie aus der Stadt hinaus in den Süden. Und zwar immer schon. Zumindest seit den Römern. Ihre Verlängerung, die Triester Straße, führt auf direktestem Weg ans Meer, eben nach Triest und Venedig, einstmals österreichisch. Sie hat derzeit 3 Kirchen, 4 Apotheken, 9 Hotels und Pensionen, 4 Tiefgaragen, 3 Spar-Märkte, einen Drums-Bioladen, 8 Drogerie-Märkte, 3 Eissalons, 3 Änderungsschneidereien, 2 Schuhmacher, 7 Friseurläden, 2 Nagelstudios, einen Libro, 5 Blumenhandlungen und 3 Tankstellen, nicht gezählt sind die Geschäfte, Arztpraxen und Cafes.
Das Wortner ist als einziges Kaffeehaus übriggeblieben.
Ein echtes, altes Wiener Beisl kann man hier nicht mehr finden; einige aufgehübschte Kopien, wie die Wiener Wirtschaft, die Steirer Stuben oder Rudis Beisl versuchen etwas vom alten Flair zu retten, aber Asien ist eindeutig im Vormarsch. Kürzlich öffneten gleichzeitig und nebeneinander eine Konditorei für Allergiker und ein Restaurant für Veganer. Gut besucht, also, wir liegen im Trend.

Das alles ist noch nichts Besonderes, aber meine Straße hat ein Alleinstellungsmerkmal: Sie ist gesäumt von der längsten Lindenallee der Stadt. Und die wird man nicht so leicht ausrotten können, hoffe ich, auch wenn die Autofahrer tagtäglich daran arbeiten. Die Kastanien im Prater mögen berühmter sein und prächtiger blühen, sich spektakulär rote, weiße und rosa Kerzen aufsetzen, aber leider, Leute, sie riechen nicht! Sie sind nur ein Augenwunder und daher doch ein bisserl was von falsch. Drei Wochen von Ende Mai an – je nach Wetter – leben die Wiedner an ihrer Hauptstraße in einer süßen, betörenden Duftwolke, die sich in dieser viel zu kurzen Zeit sogar gegen den Autoverkehrsdampf durchsetzt. Sogar zu mir in den Hof dringt sie herein und füllt die Zimmer. Das macht ihnen keine Hauptstraße nach, außer vielleicht die in Drösing im Weinviertel. Aber das ist etwas anderes. Das Dorf ist so klein, dass man sogar die Rosen in den Gärten riechen kann.

Wegen der Nähe zum Ring haben sich in der Wiedner Vorstadt besonders viele Künstler niedergelassen, derer auf vielen Tafeln mit Goldbuchstaben gedacht wird. Das Gluck-Haus, das von Dvorak und Sibelius und vieler anderer weniger Bekannten. Vergessenen, Enteigneten, Arisierten, Ermordeten. Tina Walzer und Stefan Templ führen in ihrem Buch „Unser Wien – Arisierung auf Österreichisch“ viele Adressen dieser Verbrechen in Wieden auf. Die Familien Grünbaum, Steiner, Spitzer, Rieger, Heger, Künstler, Ärzte, Architekten, alle Kunstsammler und Förderer. Soweit ich weiß, wurde nicht ein einziges Haus, keine einzige Kunstsammlung restituiert. Die größte von Fritz und Lilly Grünbaum, 800 Werke, unter ihnen 150 Schiele-Bilder, sind im Leopold-Museum als Staatsbesitz jetzt unser aller Besitz. Fritz wurde in Dachau ermordet, Lilly, eine Nichte von Theodor Herzl, in Maly Trostinec zusammen mit ihrer Freundin Karoline Klauber, die sie ein Jahr lang in Wien versteckt hatte.

Die Wiehau hat vieles, aber keine einzige Buchhandlung mehr. Vor fünf Jahren schloss der Reichmann und wurde zu einer Apotheke. Gut, kann man sagen, Medikamente und medizinische Hilfe braucht jeder. Die Apotheke ist jetzt einer von den vielen modernen, gesichtslosen Gesundheitstempeln, wo einem die Pharmakonzerne das Geld aus der Tasche ziehen. Die Reichmann’sche Buchhandlung zählte wahrscheinlich zu den schönsten der Welt. Sie war groß und dunkel wie Hoggart’s Castle, die Bücher standen nicht auf Regalbrettern, sondern in sechs Meter hohen Holzschränken, wahrscheinlich aus Eiche, über die Jahrzehnte bis ins Schwarze gedunkelt. Die Bücherreihen wirkten nicht einfach aufgestellt und eingereiht, sondern wie ein Schatz, geborgen in ihren Gehäusen. Die reichen geschnitzten und gedrechselten Verzierungen an den Vorderseiten zeugten von der Ehrfurcht und der Liebe zu den Büchern als Pretiosen.
Herr Reichmann und seine Angestellten erklommen auf Holzleitern schwindelnde Höhen, um ein Buch zu suchen, oder sie verschwanden in unermesslichen Hinterräumen, sie wussten es immer genau und zielsicher zu finden. Hatten sie alle diese Bücher gelesen und dann in den Schränken unvergesslich verstaut? Sie wussten auch immer über alles Bescheid, Neuigkeiten und Wiederentdeckungen, Raritäten und Sensationen, gute Tipps und anregende Gespräche. Allein schon deshalb musste man diesen Ort und seine Bewohner lieben. Nicht nur der letzte Herr Reichmann, sondern auch seine jungen Adepten sahen aus, als würden sie dort wohnen und im Dämmerlicht ihren Büchern entsteigen: gräulich und blass im Gesicht. Das kann aber eine Sinnestäuschung gewesen sein, denn das helle Tageslicht drang nie in diese Räume. In den letzten Tagen vor der Schließung erzählte mir Herr Reichmann, dass die Schränke gerettet wurden, verkauft an einen Schlossbesitzer. Zumindest wurden sie nicht vernichtet, vielleicht zieren sie schon irgendwo ein Ritterrestaurant.

Zwei Häuser weiter, wo 108 Jahre die Stern’sche Buchhandlung & Nachfolger zu Hause war, hat vor Kurzem ein „Hannibal“ aufgemacht. Hannibal, fragen Sie, wer ist das? Der mit den Elefanten über die Alpen? Ich wusste es auch nicht, bis mir als einer Anrainerin ein Eröffnungsgutschein ins Haus flatterte, zehn Euro Rabatt, wenn ich fünfzig Euro ausgebe. Eine Kette für Interior-Design. Anstatt Bücher nun also Kerzen, Servietten, Kissen und Teetassen. Der Besucherandrang ist so groß, dass es fast kein Durchkommen gibt. Diese Menschenmassen hätte ich dem letzten Pächter der Buchhandlung, Herrn Martin Greiner, gewünscht. Er musste sich dem Druck von Thalia, Amazon, Kindle und Konsorten beugen.

Seit fast 44 Jahren wohne ich in diesem Bezirk, auf der Wieden, und der Malota gehörte zum Leben so selbstverständlich dazu wie die gegenüberliegende Paulaner Kirche mit ihren weithin hallenden Glocken oder der Habig – Hof auf Nummer 15-17. Den berühmten Herrenausstatter darin gibt es schon lange nicht mehr. Er bleibt verewigt in der ersten Szene des Romans „Radetzkymarsch“ von Joseph Roth, wo der alte Trotta seinen Sohn, den frisch gebackenen Leutnant, standesgemäß einkleiden lässt. In diesem Milieu ging man selbstverständlich zum Habig auf der Wieden, wie schon der Vater und der Großvater, der Held von Solferino. Das ehemalige Geschäftslokal, eine reich ausgestattete tempelartige Säulenhalle mit Goldstuck an der Decke und Wandmalereien bis zum Marmorboden, ist zum Glück erhalten geblieben, leidet aber an ständig wechselnden Benutzern, derzeit eine Computer-Firma. Der Vorteil, sie hat die historischen Fenster ausgetauscht gegen eine große, transparente Glasfront. Architektonisch ein Verbrechen, aber die Passanten bekommen erstmals Einblicke in die Tiefen des Habig-Hofes. Ein paar Häuser weiter das ehemalige Paulaner-Kloster mit drei Höfen an der Ecke Floragasse, es ist schon lange ein Wohnhaus, so wie ich gleich nebenan im ehemaligen Ursulinenkloster wohne.

Ich habe mich in vier Jahrzehnten bemüht, ALLE Bücher beim Malota oder beim Reichmann zu kaufen, dort zu bestellen, wenn etwas nicht lagernd war, auch wenn es die Bücher in der Innenstadt sicher gegeben hätte, nie zu einer Großkette zu gehen und absolut NIE zu einem Internet-Riesen, ich schwöre das unter Eid! Trotzdem konnte ich die beiden Buchhandlungen nicht retten. Jedes Mal, wenn ich mich vor dem Hannibal durch die Menschentrauben am Gehsteig kämpfe, überlege ich, ob ich daran schuld bin, dass es keine Buchhandlung auf der Wiehau mehr gibt. Was ist daran so schlimm? Die Fleischhauer in Wieden sind schon viel früher ausgestorben.

Ich habe mein Gewissen erforscht und festgestellt: Es wäre über meine Möglichkeiten gegangen, allein den Malota zu retten, so viele Bücher hätte ich nicht kaufen können, ich hätte die ganze Buchhandlung kaufen müssen. Mein letzter Versuch, etwas gegen das Büchersterben zu tun, bestand darin, meinen literarischen Salon aus meinem Wohnzimmer in das Hinterzimmer der Buchhandlung zu verlegen. Vier Autorenlesungen habe ich veranstaltet, die letzte am 9. April 2014 mit meinem eigenen Buch. Ich brachte bis zu dreißig Besucher in die Buchhandlung, die gerne einem lebenden Schriftsteller zuhörten, mit ihm diskutierten und einen Blick in seine Werkstatt warfen. Auch das von mir nachher servierte Buffet war recht beliebt, und der Chef musste uns regelmäßig vor die Tür jagen. Der Malota war ein eher unauffälliges Lokal, nüchterne, etwas angestaubte Eleganz, es barg aber ein paar Geheimnisse. Wenn man den Verkaufsraum mit einfachen Bücherregalen und Schautischen durchquerte, öffnete sich nach einem engen Korridor ein großer Saal, ausgestattet mit Mobiliar, das sich in jedem englischen Herrenclub gut ausgemacht hätte. Ausladende Fauteuils, heimelige Stehlampen, Beistelltischchen für Pfeifen und Whiskeyglas, in der Mitte ein großer, massiver Tisch mit antiquarischen Prachtausgaben und Kunstbänden. Besser einladen zum Bleiben und Schmökern kann man nicht, das hat der letzte Geschäftsführer Martin Greiner gut erkannt.

Da ich offenbar bei ihm nicht schlecht angeschrieben war, öffnete er mir in einem hinteren Winkel ein Türchen und führte mich in den Keller, das Bücherlager. Über eine enge Wendeltreppe gelangte man in ein Labyrinth von Gängen und Räumen, die Säle hatten Tonnengewölbe aus Ziegel, die aussahen, als hätten sich hier die Wiedner schon zur Zeit der Türkenbelagerung zurückgezogen. Kann aber nicht sein, denn das Haus war nachweislich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erbaut worden, wusste der Kunsthistoriker Greiner. Schade, denn die Vorstellung, dass sich die Wiener hier an den Büchern vergnügt hätten, während draußen die Armeen von Jan Sobieski und des Großwesirs Kara Mustafa Pascha aufeinanderprallten, ist allzu verführerisch. Verteidiger der Stadt war Graf Ernst Rüdiger von Starhemberg, der nicht weit von dort seinen Gassennamen hat.
Der „goldene Apfel“, wie die Osmanen Wien nannten, war zum Greifen nahe, bis die Wiener Unterstützung aus Polen, Venedig und dem Kirchenstaat bekamen. Als die Belagerten nach zwei Monaten am 21. September 1683 aus ihren Kellern wieder nach oben kamen, hatte das osmanische Heer schon Reißaus genommen und wurde von Sobieskis Truppen bis nach Belgrad verfolgt. Und alles hatten die Wiedner mit Hilfe der Bücher gut überstanden. Der Historiker hat einen nüchterneren Blick und zeigt mir die Ziegel im Tonnengewölbe, die eindeutig die Jahreszahl 1898 und den Doppeladler der Wienerberger Kaiserziegel tragen. Ob der „Hannibal“ dieses Refugium benutzt und wie, konnte ich bis heute nicht herausfinden.

Irgendetwas hält mich davon ab, einzutreten und dort Teelichter statt Bücher zu kaufen.
Jetzt am Ende gebe ich freiwillig zu, dass ich etwas geschummelt habe. Es gibt doch noch zwei Buchhandlungen, eine versteckt hinter der Eule an der Technik und eine Reise- Buchhandlung, in denen ich noch nie war und die ich wahrscheinlich auch nie betreten werde, so unbuchhändlerisch uneinladend wirken sie. In etwa so einem Abstand wie das Espresso Hawaii in Simmering entfernt ist von einem Ringstraßencafe.
Nach dem Verlust von Reichmann und Malota bin ich tränenden Auges um eine Ecke weiter gezogen zur Buchhandlung Anna Jeller auf der Margarethenstraße und wurde getröstet.
Bei allem Schmerz – hier habe ich wieder eine Buchheimat gefunden.

8.6.17

Veronika Seyr
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Elazar Benyoëtz zum 80. Geburtstag

Erzählen heißt immer auf Biegen, oft auch auf Brechen.
Man kommt sich auf diesem Weg abhanden oder gefährlich nah.

Eigentlich brauchen Dichter keine Denkmäler. Niemand schreibt, um in Stein gemetzt zu erstarren. Ein Wortmetz ist der Dichter von sich aus. In seinen Werken liegt der Widerhall bereit, wenn andere sie lesen. Trotzdem werden Straßen, Bibliotheken, Plätze und Häuser nach Dichtern benannt, die manchmal auch mit Statuen, Halbreliefs und Büsten ausgestattet sind. Das ist unumgänglich und erwidert den Nachruhm. Es werden Reden gehalten und Seminare veranstaltet, Festreden und Würdigungen geschrieben. Das ist nützlich und verstärkt den Nachhall. Bei Elazar Benyoëtz ist es ein Vorhall.
Ich bin Elazar Benyoëtz persönlich nie begegnet und seinen Büchern erst vor vier Jahren. Da kannte ich gerade zweieinhalb Bücher von ihm. Spät, sehr spät, wenn ich bedenke, dass ich schon seit rund 60 Jahren lesen kann und mich immer mit Büchern und Sprachen beschäftigt habe. Der Trost: Solange man lebt, ist es nie zu spät für das Glück neuer Begegnungen.
Einer der ersten Aphorismen von Elazar Benyoëtz, den ich las, war der am Anfang zitierte. Ich wählte ihn als Motto zu meinem Buch „Forellenschlachten“, mein Buch zum Erinnern und Erzählen über die jugoslawischen Zerfallskriege der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts. Wo haben sich da die Wege gekreuzt? Ein israelischer, deutsch schreibender Aphorismen-Dichter und eine österreichische Ex-Journalistin? Die Kreuzung liegt in einer Person, Riccarda Tourou, die lange Jahre als Lektorin mit Benyoëtz gearbeitet hat und dann durch Glück? Zufall? Gottesweisung? meine Lektorin wurde. Wem soll ich heute danken, wenn man an keine der drei Ursachen glaubt?
Ich danke einfach.

Das Vergebliche reicht am Weitesten

Mit dem Glück komme ich noch am besten zurecht. Nicht im Sinne von luck, sondern fortune, dem Geschenk, der Bereicherung. Wo das „Masl“ dazwischen gehört, weiß ich nicht.

In Zweifel gezogen, dehnt sich der Glaube aus
Aber seither geht mir die Frage nicht mehr aus dem Kopf, wie mein Leben ausgesehen hätte, wäre ich früher auf Elazar Benyoëtz gestoßen? Wäre ich ein anderer Mensch geworden?

Den Menschen verändern:
ihn glauben machen,
es könnte ihn noch geben

Wäre ich ein besserer, glücklicherer, fröhlicherer, ernsthafterer, liebenderer und verzeihenderer Mensch geworden? Hätte er auf meine Entscheidungen Einfluss genommen?
Kein Wissen, nur Vermutung.
Es ist tröstlich, wenn eine maßgebliche Stimme auf alle meine Fragen eine Antwort hat:Es ist eine humanisierende Kraft, die uns da vermittelt wird: Die Fähigkeit, zuzuhören. Der eigentliche Leser seiner Bücher liest und schreibt anders als zuvor, er blickt auch umsichtiger auf seine eigenen Illusionen, auf seinen Gott, auf seine Fähigkeit zur Wahrheit …“, stellt der Braunschweiger Professor für Neuere deutsche Literatur, Jürgen Stenzel, fest.
In dieser Aufzählung ist beieinander, was das Lesen von Elazar Benyoëtz bewirken kann. Und noch viel mehr, das Höchste, was einem Menschen zu Lebzeiten zuteilwerden kann: Es leuchtet das Licht der Erlösung, nicht ihrer Vollendung, sondern das Versprechen auf eine mögliche Befreiung. Nicht Lösungen, nichts Praktisches für den Alltag, sondern ein Eingeständnis, dass es die Auflösung der Rätsel nicht gibt. Sicher nicht aller meiner Rätsel. Ob Elazar Benyoëtz sie hat, kann ich nicht sagen, denn dazu habe ich seine Werke noch immer zu wenig gelesen und verstanden. Er eröffnet Aussichten, er erfrischt, tröstet und lässt hoffen. Die Erfrischung ist der Sturm im Kopf, den seine Aphorismen auslösen – ein Sturmwind. Da nimmt jemand die deutsche Sprache unter die Lupe, zerbröselt sie in die allerfeinsten Teilchen, spießt sie auf wie ein Schmetterlingssammler und nimmt sie beim Wort.

Humor –
Leichtsinn
der Schwermut

Bei mir kommen Kindheitsbilder auf: Wie die Mutter endlos den Strudelteig geknetet, gewalkt und in die Luft geworfen hat und ihn auf seine Belastbarkeit geprüft hat. Oder: Wie lange können wir noch in einen Luftballon blasen, bis er platzt, oder in den Milchschaum, knapp bevor er übergeht?
Wie weit kann man die Sprache treiben? Dieses Prickeln knapp vor dem Überdehnen, das ist seine Methode und macht seinen Humor aus. Wer diesen Humor und diesen Witz im Sinne von Weisheit einmal entdeckt hat, wird ihn überall finden wollen und danach süchtig werden. Es stellt sich tatsächlich ein Gefühl der Vertrautheit ein, eine Zuneigung geradezu, die allmählich vor und neben die Bewunderung tritt. 

Sich entschließen – sich öffnen
Wer zum ersten Mal eine Aphorismen-Sammlung von Elazar Benyoëtz aufschlägt, dem wird sofort eine Besonderheit auffallen: die Beschränkung auf einzelne, isolierte und – in grammatischer Hinsicht – einfache Sätze, häufig mit semantischer Pointierung und in witzigen, weisen, überraschenden Kombinationen. Seit Jahren enden seine „Einsätze“, wie er seine Aphorismen zu nennen pflegt, ohne Satzzeichen.

Was willst du zwischen den Zeilen finden,
ich stehe doch hinter meinem Wort,
kann man dir endlich folgen

Meine Sprache macht mit mir, was ich will
Der Klang ist des Wortes Körper, der Sinn sein Schatten

Lässt du dich gehen

Kritik der Sprache ist ein Bei-Spiel des Gedichts

 2 Meine deutsche Dichtung platzt aus allen Nöten.

Das Besondere, Einmalige an diesem Dichterleben: ein mit zwei Jahren aus dem Land und der Sprache Verstoßener, der ohne die eigentlich vorgesehene deutsche Muttersprache aufwuchs und dem Hebräisch zur Muttersprache wurde. Ein israelischer, zuerst hebräisch schreibender Dichter, der als 25-Jähriger „zurück in die deutsche Sprache einwanderte“, wie er selbst es nannte.

In seinem Buch Die Eselin Bileams und Kohelets Hund bringt er diese Ambivalenz immer wieder „zur Sprache“.
Andere Dichter wie Thomas Mann oder Bert Brecht brachten ihre Muttersprache ins Exil mit und hielten an ihr fest. Elias Canetti eignete sich die deutsche Sprache erst in Wien an (Die gerettete Zunge), nahm sie ins englische Exil mit und blieb in ihr.
Elazar Benyoëtz hat die deutsche Sprache in dem Land, das ihm nicht Exil war, sondern Heimat wurde, neu erlernt und sich nie wieder von ihr getrennt. Er schreibt in seiner – auch literarischen – Zweitsprache und gehört damit nicht einmal zur Exilliteratur. Seine literarische Sozialisierung fand im Iwrith statt.
Nachdem er seit 1956 fünf Gedichte und zwei Prosabände in Hebräisch herausgebracht hatte, legte er 1959 das Rabbiner-Examen ab. Er übte das Amt nie aus. Dieser Abschluss gab ihm, wie er sagte, in seinem Lebenslauf „Halt, nicht Richtung“.
1962 ging er nach Wien, niemand hatte ihn gerufen, niemand ihn eingeladen. Mit seinem bis dahin rudimentären Deutsch war er zu einem Gespräch kaum fähig. Aber hörte er etwas Besonderes in der Sprache der Österreicher? Tonfälle? Klänge? Man kann es nur vermuten. Soll es etwas mit der seltsamen Musikalität zu tun haben, die in Wien zusammenfließt, mit dem Vielvölkerstaat? Dass Haydn, Mozart, Salieri, Beethoven und Schubert hier waren und nicht in der Schweiz oder Berlin?

Juden lehnen gern an Wortstämmen und sind um die Wortwurzeln bekümmert
Wie tief diese Wurzeln reichen, erfuhr er an sich selbst, als es ihn mit unwiderstehlicher Kraft in die deutsche Sprache zog. Woher diese Kraft und dieser Sog kamen – niemand kann es genau sagen. Elazar Benyoëtz hat viele Worte und Bilder dazu, aber nichts Eindeutiges, eher Umschreibungen.

„Ich kann nicht vergessen, woran ich mich nicht erinnern kann.“ (Michael Turek)
Ich wage es und stelle vermessen eine einfache Rechnung auf.
Als Paul Koppel wurde Elazar Benyoëtz am 24. März 1937 in Wiener Neustadt geboren.
Er hörte eine Schwangerschaft lang die Muttersprache, hörte und sprach acht Jahre Deutsch, bis sein Vater starb und die Mutter ihn und seine Schwester Ruth auf Iwrith umpolte. Es ist damit nicht mehr so rätselhaft, dass ihm die deutsche Sprache zuflog, jenseits von allem Geistigen, Religiösen, Politischen und Gesellschaftlichen.
Der zweite Teil meiner These ist noch gewagter und weit entfernt von jeder Wissenschaft, es sei denn, es gibt eine Wissenschaft vom Herzen.
Elazar Benyoëtz hat neun Jahre Deutsch als Sprache der Liebe erlebt, die Liebe der Eltern und seine Liebe zu den Eltern und zur Schwester, alles fand sieben Jahre auf Deutsch statt. Als er viele Jahre später unter deutsch sprechende Menschen kam, tauchte er in die Sprache der Liebe ein wie in ein warmes Bad. Denn viel mehr als das Land oder eine Stadt ist die Sprache die Heimat, nach der man sich immer sehnen wird, wie verschüttet sie im Magma des Erinnerns auch liegen mag. Hitler konnte ihm den größten Schatz, die Sprache der Liebe, nur vorläufig rauben, Elazar Benyoëtz hat sie wiedergewonnen und sich und dem Tätervolk zum Geschenk gemacht.
„Ich kann nicht vergessen, woran ich mich nicht erinnern kann.“ Diesen Satz las ich Anfang Dezember in einem Zeitungsbericht über den Besuch von Emigranten der zweiten Generation in Wien. Ein gewisser Michael Turek wird mit diesen Worten zitiert. Er ist Sohn einer Wiener Jüdin, die 1939 mit dem letzten Kindertransport nach New York kam. Er ist 1949 in den USA geboren und kam jetzt zum ersten Mal nach Österreich. Diesen Satz hat Michael Turek in bestem österreichischen Deutsch zu Bundeskanzler Kern gesagt, als dieser die Gäste des Jewish Welcome Service empfing.

Nach Berlin wurde Elazar Benyoëtz 1963 eingeladen und bis 1969 aufgenommen. Um nicht zu vergessen, woran man sich nicht erinnern wollte, begann er, seine, ihn immer begleitende Vision zu verwirklichen, die deutschen jüdischen Schriftsteller nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Er nahm zahlreiche Kontakte mit noch lebenden deutschen Schriftstellern auf und erforschte Nachlässe deutscher jüdischer Schriftsteller. Daraus entstand das von Renate Heuer an der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt geführte Archiv Bibliographia Judaica, um den jüdischen Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte von 1750 bis zur Gegenwart zu erfassen, das 21 Bände umfasst. Mit seinen zahlreichen Zitaten verschiedenster Schriftsteller in seinen Büchern bleibt er der Erfüllung dieser Vision weiterhin treu.

Zwischen meinen Sprachen bin ich selbst die Scheidewand
1969 veröffentlichte er seinen ersten, teilweise noch aus hebräischen Tagebuchnotizen ins Deutsche übersetzten, Aphorismen-Band Sahaduta. Seither schreibt und publiziert er fast ausschließlich in Deutsch hochgradig sprachreflexive Minimalprosa und -lyrik und seit 1990 Collagen aus Aphorismen, Gedichten, Briefen und kontextbildenden Zitaten nach der Benyoëtz-Methode: rhythmisch, musikalisch, grafisch, zitierend und wortschöpferisch.

Meine Not bleibt größer als
die Tugend, die ich aus ihr mache;
sie schlägt zu Buche

Jeder kann sich der deutschen Sprache bedienen,
Juden können sich ihrer erbarmen

Die deutsche Sprache, die Benyoëtz nicht „benützt“, sondern sich ihrer „erbarmt“, ist die Sprache von Moses Mendelssohn, Franz Kafka, Karl Kraus, Nelly Sachs, Rose Ausländer und Else Lasker-Schüler.

Ein Jude, der heute deutsch schreibt, schreibt nicht mehr (auch) für Juden.

An die Deutschen: Sammelt unsere Tränen, nicht unsere Witze

Meine große Liebe war die hebräische Sprache, meine Geliebte ist die deutsche geworden; die Liebe erwies sich als teilbar. […] Die deutsche Sprache passte sich mir an, doch ich habe nicht das Gefühl, ich habe sie judaisiert. […] Mir ist, als würde die eine Hälfte meiner Person für die andere Hälfte schreiben, ein Leben lang, das halbe Leben, das halbe der einen Hälfte eines Halben, halbhälft, hälfthalb.

Egon Schwarz, aus Wien emigrierter US-amerikanischer Literaturwissenschaftler, schreibt über Elazar Benyoëtz und sein Verhältnis zur deutschen Sprache:

„… Mit unheimlicher Verschlagenheit entreißt er der deutschen Sprache ihre Geheimnisse – er, der hebräische Dichter. Der Leser sieht seine müde Alltagssprache in das Bad dieser Aphoristik steigen und gereinigt, erfrischt daraus hervortauchen. Und er sieht eine alte Trauer in neuer Beleuchtung. Dank Elazar Benyoëtz könnte die deutsch-jüdische Literatur, Mark Twain paraphrasierend, sagen: Die Nachricht von meinem Ableben ist übertrieben.“

Die Sprache wird gegen den Strich gebürstet, um sie wieder fremd zu machen, wieder aufzumachen, um so einen neuen Blick auf sie zu gewinnen. Elazar Benyoëtz schaut auf die Wörter, blickt ihnen in die Seele, steigt zu ihnen bis zum Grund hinab, belauscht sie, dreht sie um wie einen Handschuh, stellt sie ins grelle Licht von tausend Sonnen, lässt sie durch Fegefeuer und Hölle gehen, schließlich holt er sie herauf und erlöst sie. Er schaut die Wörter in jeder Richtung an, sie schauen zurück. Die Wörter sind stumm, aber paradoxerweise antworten sie ihm.

Credo: Alle Siege werden davongetragen

Du bist im Recht; nun sieh zu, wie du
da wieder rauskommst

Vertrauen nicht schenken: wie Verdacht-schöpfen

Es kommt nicht
wie gedacht,
es kommt wie gerufen

Wortspiele verscheuchen die Todesangst vor der Sprache

Der Dichter und Theologe Albrecht Goes sagt über Elazar Benyoëtz: Ich bin, wenn ich seine Sätze lese, ganz still vor Bewunderung über diese Gabe, in zehn oder weniger als zehn Worten etwas ganz Gültiges und Grundgescheites oder Grundgutes (oder alle drei!) zu sagen – es ist darin wirklich eine ganz einzigartige Begabung.“

„Benyoëtz nimmt das Wort beim Wort und bringt es zur Besinnung. Seine Sprachschöpfungen sind wie ein Echolot, das er in den altneuen Sinn der Worte hinunterlässt. So nah kann man einer Sprache vielleicht nur in der Ferne sein …“, vermutet Verena Lenzen, Professorin für Judaistik und Theologie/Christlich-Jüdisches Gespräch an der Universität in Luzern.
Die heitere und gleichzeitig strenge, aber nie dogmatische Weisheit macht Elazar Benyoëtz so besonders anziehend, eine Weisheit, die aus dem Judentum kommt, die, so wie er selbst sagt, „gebibelt“ ist.

Mein Weg ins Deutsche –
war er gewagt?
war er verhängt?

Warum musste aus einem hebräischen Lyriker
ein deutscher Aphoristiker werden.
Solang ich noch schreiben kann,
bleibe ich mir die Antwort darauf schuldig
Die großen Fragen
sind nur ohne Antwort groß

Ich lausche
dem Wort
sein Meer ab
ehe es vermuschelt

Frühes und starkes Vorbild für Elazar Benyoëtz ist die Bibel, und zwar in der Gestalt der deutschen Luther-Bibel. Das Buch Kohelet, das in der Luther-Tradition Prediger Salomo heißt, ist das seltsamste Buch des Alten Testaments, ein Reflexionsbuch aus kurzen Urteilssätzen.

Ein Erzjude
dicht am Herzklopfen Luthers,
in der deutschen Sprache,
wie in einer Kirche

Ich habe
meinen Büchern
beigebracht,
klüger zu sein
als ihr Verfasser

Die Spiellust führt oft zu Wortneubildungen in Anlehnung an bestehende Komposita, wofür sich die deutsche Sprache besonders eignet: Identitäuschung, Filigranit, toleranzig, glaubheftig, Scheinhellig, verkleinmünzen, lebensbänglich.
Robert Menasse entwickelt in seiner Laudatio zur Verleihung des Ehrenkreuzes der Republik Österreich an Elazar Benyoëtz ein wunderbares Bild: „… dass Gottvater zur Rechten von Elazar sitzt und ihm, zu unserer Erinnerung, Sätze diktiert wie: „Am Anfang war nicht der Anfang, sondern das Wort.“ Ich selbst habe mich gefragt: Was kommt vor diesem Bild? Der Eingang in das Reich Gottes, der ist das Wort.

Ich lege“, sagt Gott, „meinen schönsten Stern in deine Hand, zerdrücke ihn nicht.“

Zwölf Gründe, Elazar Benyoëtz zu lesen
(Friedemann Spicker)

Weil    er den Aphorismus als Bruch schreibt:
            Es zählt das Wort, aber das Schweigen
            ist der Nenner.
Weil    er dich durch Kürze erlangt; aber
            nicht durch Pointe besticht.
Weil    er Bilder trifft, wo er Gedanken verfolgt.
Weil    man die Welt im Auge behält, wenn man
            den Blick auf seine Inschriften senkt.
Weil    er das Paradoxon zur Logik erhebt
            und erst dadurch im Grunde bleibt.
Weil    er Mittel gegen den Gegenwarts-Schmerz weiß:
            Kleinartigkeit und Schweigenähe.
Weil    bei ihm Sinn anklingt, wenn er sich
            auf Klang besinnt.
Weil    er sich zu Feststellungen erweichen lässt.
Weil    er taghell wortträumt
Weil    er in Beirrungen führt.
Weil    er mit Aphorismen erneut, bildet.
Weil    er im Anspruch auf Weisheit anspricht.“

Ich erinnere mich, viel vergessen zu haben. Es steht in den Sternen, ist hier nicht nachzuschlagen. Das Beständige fällt mit dem Leben zusammen.

Wie in meinem Buch setze ich diesen Aphorismus von Elazar Benyoëtz auch hier als Schlussmotto.  Und ich halte mit ihm fest:

Die Freunde der Dichter machen die Lesbarkeit ihrer Werke aus.

Engel oder Angeln
quietschen in den verrosteten Toren,
niemand wird dir sagen,
wovon sie singen wollten,
wären sie Sängerinnen
gewesen,
nicht verblühte Sterne

Ich wünsche diesem Dichter viele Leser und den Lesern, in ihrem Leben das Glück gehabt zu haben, Elazar Benyoëtz begegnet zu sein.

Veröffentlicht in:
Der literarische Zaunkönig – die Zeitschrift der Erika Mitterer Gesellschaft,
Ausgabe 1/2017

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 17125


Redaktionelle Anmerkung und Ergänzung im November 2019:

Der mit diesem Text von Veronika Seyr Gefeierte hat sich auf unnachahmliche Art bei der Autorin bedankt. Sie können diese besondere Widmung nachlesen.

Wir bedanken uns herzlich beim Literarischen Zaunkönig und der Erika Mitterer Gesellschaft für die Erlaubnis zur Veröffentlichung, über die wir uns sehr freuen.


Bericht aus der Anstalt oder die Verstollenen

Der Empfang war freundlich und persönlich wie in einem Hotel. Die Rezeptionistin überreichte mir den elektronischen Zimmerschlüssel und den vorläufigen Therapieplan; dabei bemerkte sie, dass sie die gleichen Schuhe habe wie ich – bequem, gell!
Dann rief sie den Hausarbeiter, der sich als ein Zoran aus Banja Luka herausstellte. Während er mein Gepäck schleppte, versetzte ich ihn wahrscheinlich in Angst und Schrecken, indem ich mit ihm auf Serbokroatisch plauderte. Große Disziplin bei dieser Attacke, dass er nicht sofort einsackte, meine Koffer fallenließ und floh. Schon wieder der Geheimdienst, hört das denn nie auf? Als ich seine flackernden Augen bemerkte, ließ ich die vorbereitete 2-Euro-Münze in meiner Manteltasche und suchte schuldbewusst einen Fünfer heraus.
Er nahm ihn natürlich an und murmelte etwas Undeutliches zwischen Danke und Chvala, dass ich mich noch bemüßigt fühlte zu sagen: Banja Luka ist eine schöne Stadt, do rata, bis zum Krieg. Diese Anbiederung, als würden wir Urlaubserinnerungen austauschen: Ah, Sie waren auch auf Hawaii, schön, phantastisch! Welcher Teufel hat mich geritten, diesen armen Kerl so zu erschrecken? Und dabei so unbändig zu lügen? Ich habe Banja Luka bei meinen zahlreichen Besuchen nie als schön empfunden, es war Krieg, die Stadt von den Serben erobert, und ich befand mich als Österreicherin in „Feindesland“ in ständiger Gefahr.

Ich begegnete Zoran in den nächsten drei Wochen noch öfter, meist schwer beschäftigt, etwas im Haus reparierend oder Koffer schleppend, wobei er immer den Kopf tief nach unten und zur Seite wandte, um mich nicht wiedererkennen oder grüßen zu müssen, oder in den Parks rund um das Sanatorium, aber er verdrückte sich schnell oder machte einen weiten Bogen um mich.
Im Gegensatz zu Zoran war Gordana aus der ausschließlich ex-jugoslawischen Putzfrauenbrigade – sie kam fast täglich in mein Zimmer – erfreut über meine spärlichen Worte in ihrer Muttersprache, mit denen ich sie lobte, ihr das Trinkgeld übergab, ein schönes Wochenende wünschte und den fortschreitenden Frühling vor der Loggia bewunderte; ihre leichte, mit erhobenem Lappen unterstrichene Rüge dafür, dass ich selbst Aschenbecher und Papierkorb ausleerte, brachte sie in bestem Gastarbeiter-Deutsch vor: Sie kuren, ich putzen, nix selber machen!

Das große Einzelzimmer mit nüchterner und praktischer Eleganz schien mir nach dem ersten Überblick geeignet, es hier drei Wochen aushalten zu können. Vor allem die geräumige Loggia vor der Glaswand mit dem Blick von Osten nach Süden bis Halbwest machte mich sicher, dass ich die Anstalt einigermaßen gut überleben würde. Das Bad wurde geprüft. Die Gondeln der Stubenbergbahn kreuzten sich im Auf- und Abwärts genau alle zwanzig Sekunden hinter drei Tannen und zwei noch kahlen Birken. Die zu einem Hügel ansteigende Wiesenmulde füllte sich im Laufe dieser drei Wochen immer mehr mit grünendem Gras, Löwenzahn und Himmelschlüsseln. Am Zaun begannen an den Haselsträuchern die Palmkatzerl zu blühen, darunter entdeckte ich im Zoom der Kamera Buschwindröschen und Leberblümchen. Ab und zu tauchte vor meinem Loggia-Platz eine dicke Katze auf, stillsitzend wie eine in schwarz-weißen Marmor gemeißelte Statue, den Blick gebannt auf den Boden gerichtet, wahrscheinlich auf Mäusejagd. Ich vermisste jetzt schon meine Katze in Wien, die ich einer nicht vertrauten, aber im ersten Eindruck liebevollen und verlässlichen Katzensitterin überlassen hatte.

Schnell war ich in den Strudel der Kur eingetaucht, der Hausordnung, dem Therapie- und Essplan und den Möglichkeiten der Freizeitgestaltung.
Ich überließ mich ab sieben Uhr früh den heißen Radon-Wannenbädern, der Massage, den Fango-Behandlungen, den Radon-Inhalationen und dem Wechselstrom, später der Gymnastik am Boden und im Wasser, den Unterwassermassagen, den Radlerpartien am Standgerät und dem Nordic Walking. Zu insgesamt acht verschiedenen Therapien war man eingeteilt, meistens fünf bis sechs davon über den Tag verteilt – fünfundsechzig sollten es werden in diesen drei Wochen. Dazu konnte man noch rund dreißig verschiedene Behandlungen privat buchen.

Im Speisesaal hatte ich den Tisch Nummer vier zugewiesen bekommen, zusammen mit mir noch die Fließbandarbeiterin Petra, ihr Lebenspartner Kurt, ein Gabelstaplerfahrer aus Bad Hall, und der ewig lächelnde, mit schief gehaltenem Kopf, Buschauffeur Mirko, ein Ex-Jugoslawe, der aber so wenig sprach, dass ich bis zuletzt nichts über seine Herkunft herausfinden konnte. Aber nach meinen gemischten Erfahrungen mit Zoran und Gordana versuchte ich auch keine weitere Stümmelkonversation auf Serbokroatisch mehr.

Unter den elf Tischen im Speisesaal fiel mir einer auf, besetzt mit fünf Personen, drei Frauen und zwei Männern. Nicht nur, weil er der nächste Tisch zu meinem war, so nahe, dass ich einiges von den Gesprächen mitbekommen konnte. Anfangs die Namen, mit denen sie sich von der Früh an laut begrüßten: Sabine, Silvia, Walter, Hermann und die Deutsche Maren.
Sabine war eine Altenpflegerin in den Vierzigern aus Graz-Umgebung, die schon zum Frühstück um dreiviertel sieben gepflegt, gestylt, mit Schmuck behangen, herausgeputzt wie für einen Clubabend immer als Erste erschien. Sie war knusprig braun, und als ich einmal eine bewundernde Frage stellte, bekam ich die Auskunft, dass sie über Weihnachten in Sri Lanka gewesen sei. Sie wechselte nicht nur wie wir alle, je nach vorgeschriebener Therapie, die Kleidung, sondern auch zum Mittag- und Abendessen ihre Outfits, wobei sie es noch geheimnisvollerweise schaffte, sich zum Abendtrunk an der Bar des hauseigenen „Kaffee Ofenrohr“ in Partyschale zu werfen. Was ich wirklich bewunderte, waren ihre Fingernägel aus dem Nagelstudio, lang, bunt bemalt mit Tupfen, Flecken oder Bildchen mit einem weißen Rand an den Enden, Krallen, mit denen sie ihre Pfleglinge sicher so beeindruckte, dass sie schnell das Zeitliche segneten. Sie hatte ein Handy, das mit einer rosaroten Hülle umgeben ist und ein baumelndes Silberkettchen wie es Zehnjährige schon als No-Go ablehnen.

Silvia war eine pummelige Hausfrau mit zwei studierenden Kindern und einer dementen Schwiegermutter zu Hause. Sie hatte offenbar keine ähnlichen Ambitionen wie Sabine, sie trug Tag für Tag den gleichen Pullover und eine fettzeichnende Hose, in verschiedenen Farben, sehr praktisch: verheiratet, ein Mann, zwei Kinder, seine Mutter, ein Haus, eine sichere Position. Dreißig Kilo weniger und sie wäre die Hübscheste von allen gewesen. Sicher war sie aber die lauteste Lacherin, eine richtige Kuderin, Kaskaden perlten geradezu aus ihrer zurückgeworfenen Kehle und wieder herunter über Doppelkinn über die einheitlichen Rundungen von Busen und Bauch. Ich fand nie heraus, was an diesem Tisch immer so lustig war. Vielleicht war es allein die dreiwöchige Befreiung von dem beruflichen und heimischen Pflegealltag. Sabine hatte am langen Osterwochenende frei und flog nach Mallorca, Silvia musste bei der Mutter bleiben, freute sich aber auf den Besuch ihrer Kinder. Ihr Mann Hermann war ein durchtrainierter Nebenerwerbsbauer, der jeden Nachmittag mit seinem Mountainbike oder den Nordic-Walking-Stöcken in die Landschaft ausrückte. Von Walter bekam ich außer seinem Dauerreden und -Lachen nicht mehr mit, als dass er wie Günter an meinem Tisch am selben Tag den 58. Geburtstag feierte, am Samstag vor Palmsonntag. Er bekam eine Flasche Zirbenschnaps und ein gesungenes Ständchen mit dem unsterblichen Unsinnlied „Walter, ach Walter“.

Dieser Tisch war auch der einzige, der manchmal nach dem Abendessen eine Flasche Wein bestellte, was mir auffiel, weil in der Anstalt eigentlich Alkoholverbot bestand. Walter war der größte Witzemacher und Unterhalter, der sicher an jedem Stammtisch der Star war. Wegen seines kärntnerischen Dialekts konnte ich mir vorstellen, dass er im Nebenberuf vielleicht ein Karnevalsprofi aus dem nicht weit entfernten Villach sein könnte. Aber er war ein Naturtalent, erfuhr ich aus einem zufällig mitgehörten Gespräch in der Nachbarkabine des Wannenbades. Ob das seinem Beruf – als Gemeindeangestellter von Mallnitz-Obervellach war er für Begräbnisse und den Friedhof zuständig – geschuldet war oder umgekehrt, konnte ich nicht herausbringen. Es gab auch an anderen Tischen laute Lacherinnen, auf Tisch Nummer sieben zum Beispiel eine pensionierte Lehrerin aus Tirol, die an jeden ihrer Sätze eine Lachtirade von oben nach unten und wieder hinauf hängte.

Wer einmal einen Almabtrieb erlebt hat, wird an eine solche urige Glockensymphonie erinnert. Oder an die aneinander schlagende Milchkannen, wenn sie leer wieder ausgeladen werden. Wahrscheinlich hatte sie in ihrer Berufszeit zu wenig gelacht. Ich war mir sicher, dass es Sabine, Silvia und Gitti waren, die gar nicht mehr zu lachen, kichern, sich zerkugeln aufhören konnten, als ich der bulgarischen Gymnastiktrainerin Bogumila verbot, mich zu berühren. Anfangs entzog ich mich ihr unwillig, als sie mich zum Vorzeigen einer Übung benützen wollte. Als sie es noch einmal versuchte und meine Knie mit beiden Händen umfing und demonstrierte, wie die Übung auszuführen sei, zu deren korrekter Beschreibung ihr Deutsch nicht ausreichte, stieß ich sie von mir und ließ laut vernehmlich für alle fünfzehn Leute im Trainingssaal hören:
– Bitte, lassen Sie das, ich will das nicht!
Einem hilflos am Boden, am Rücken ausgestreckten Menschen so etwas anzutun, war für mein Gefühl ein Überfall, zumindest ein Übergriff. In der hinteren Ecke begannen drei Frauen hellauf zu lachen, von denen sich zwei bald einkriegten, die dritte aber fast bis zum Ende der halben Stunde Gymnastik immer wieder von Neuem zu gigeln und zu kichern anfing, als würde sie gekitzelt. Ganze Tonleitern auf und ab perlten aus ihr heraus. Ich setzte mich kurz auf und überzeugte mich, dass es Gitti war, neben ihr lagen, schon verstummt, Sabine und Silvia. Tagelang quälte ich mein Hirn auf der Suche nach einer passenden Antwort, die sie bloßstellen und zugleich als ein Gegenangriff empfunden werden sollte. Ich unterließ es aber letztlich und beruhigte mich, als ich den Vergleich mit einem unpassend lachenden Kinopublikum fand, das manchmal aus Angst und Verlegenheit scheinbar grundlos lachte. Angstabwehr nennt man das in der Psychologie. Aber in dieser Schicht hatte ich natürlich meinen Ruf weg. Dass ich die einzige Wienerin war, einen Doppelnamen und akademischen Grad hatte, half auch nicht gerade, mich bei den Alpenländlern beliebt zu machen. Von der Rezeptionistin über die Ärzte bis zum letzten Therapeuten weideten sie sich an meinen Abnormitäten, wenn die meinen Namen mit Titel und in voller Länge von vier Teilen aufriefen.

Aber den tieferen Grund für das allgemeine Dauerlachen vieler Kurgäste sah ich doch in der fortschreitenden Regression und Infantilisierung durch den Kuralltag: Diese erwachsenen und zum Großteil älteren Menschen werden von früh bis spät versorgt: in die Wanne mit heißem Radonwasser gelegt, in Tücher gewickelt, massiert, in heiße Fangoerde eingepackt, mit Schläuchen bespritzt und bei drei Mahlzeiten gefüttert. Die Vögelchen im Nest mussten nur die Schnäbel aufsperren.
In meinem Fall hat mir jemand sogar das Verdauen und Ausscheiden abgenommen, also war wahrscheinlich auch meine Verstopfung Resultat der allgemeinen Regression.
Keiner muss den ganzen Tag lang einen Finger rühren, das Leben wird einem abgenommen und auf ein perfekt organisiertes Fließband gelegt, von dem man nach drei Wochen wieder ausgespuckt wird. Einen Brief – das Therapieprofil – in den Händen, ich habe meinen bis heute nicht aufgemacht und gelesen.

Diesem vegetativen Zustand verfiel auch ich sehr schnell, wunderte mich anfangs über meinen Rückfall ins Frühkindliche und begann ihn allmählich in vollen Zügen zu genießen. Meine selbstverschuldeten, mehr als zwei Wochen anhaltenden Verdauungsprobleme warfen mich noch mehr auf das Baby-Dasein zurück. Um den toten Hund in den Gedärmen loszuwerden, stopfte ich Magerjoghurt, Dörrpflaumen und Sauerkraut in mich hinein. Hektoliter von Verdauungstees und schwarzem Kaffee flossen durch mich ohne die erhoffte Wirkung. Noch nie hatte ich ein solches Problem gehabt. Als diese althergebrachten Hausmittel nichts nützten, griff ich leicht verzweifelt zu den Nordic-Walking-Stöcken und marschierte jeden Tag eine Runde über die Elisabeth-Promenade und klammerte mich mit den Augen an die herabstürzenden Wasserfälle und die vom Schmelzwasser angeschwollene Gasteiner Ache, damit sie auf meinen Verdauungsapparat Eindruck machen sollten. Ich benutzte prinzipiell keinen Lift zwischen den Stockwerken und den Chalets auf den verschiedenen Niveaus und sprang über die Stufen, um den toten Hund loszuwerden. Ich hatte das Gefühl, dass er mir schon zum Hals herausstand – und bald sicht- und riechbar würde. Mir war dauerübel.

Die Einzigen, die von meinem Problem profitierten, waren meine essfreudigen Tischnachbarn, denen ich viel hinüberschob und die Kuranstalt, bei der ich immer mehr Mahlzeiten abbestellte. Letztlich entschloss ich zu einem Canossa-Gang zur Alten Hofapotheke und kaufte Spezialtees, Tropfen und Zäpfchen im Großhandelsmaßstab. Am Ende der zweiten Woche war ich nahe daran, von der Loggia auf die Wiese zu springen. Lange stand ich an der Brüstung und schaute hinunter auf die Löwenzahnwiese. Das würde ich überstehen, aber in der Kur war man im Krankenstand und durfte sich keiner außertourlichen Belastung aussetzen, wie etwa Schifahren, Mountainbiking, Extremklettern und wahrscheinlich auch Loggia-Stürzen nicht.
Viele meiner Mitkurer missdeuteten mein ständiges Laufen durch die Gänge und mein Springen über die Stufen rauf und runter. Na, hammas wieder eilig, spät dran, gell, so viele Stufen, kommentierten sie mitleidig und mitwissend, wenn ich vorbeihastete oder drei Stufen auf einmal nahm. 120 hatte ich gezählt innerhalb und zwischen den Häusern, Außentreppen nicht eingerechnet. Die vielen Menschen mit sichtbaren Leiden konnten nicht ahnen, wobei mir das Laufen und Springen helfen sollten. Mein nervöses Verhalten brachte mir den Spitznamen „das Reh“ ein; von den Frauen an Nebentisch hörte ich allerdings etwas von Goaß und ein meckerndes Lachen dazu.

Die deutsche Maren aus Reutte in Tirol blieb mir bis zum Schluss ein Rätsel. Mit zweiundsiebzig Jahren war sie die Älteste in dieser Runde, an den zweiundzwanzig Tagen der Kur jeden Tag zu jedem Auftritt war sie unterschiedlich angezogen, immer elegant im Stil einer Boutiquen-Verkäuferin mit den passenden Schuhen, Ledertaschen, Schals, Tüchern, Ponchos und viel Echtgold und Silberklunkern. Obwohl ein bisschen tattrig, vergesslich, leicht verwirrt und gesundheitlich angeschlagen – sie konnte bei vielen Therapien nicht mitmachen – war sie am Tisch laut und dauergesprächig, dabei kam ihre Stimme aber so schnattrig herüber, dass ich wie aus einer Horde mit Gänsen ihre einzelnen Geschichten und Witze nicht verstehen konnte. Sie sprach dabei so ausgeprägt norddeutsch, reichsdeutsch oder piefkinesisch hätte man früher in diesen Gegenden gesagt, ohne vom geringsten Einschlag ins Österreichische angekränkelt zu sein, wie sie es schaffte, in dieser Runde so angenommen zu werden. Geschweige denn wie sie zu einer österreichischen Krankenkassenkur kam. Vielleicht konnte sie mit ihrem Aussehen und Auftreten wie für einen Abend in Monte Carlo den Eindruck erwecken, dass sie immens reich und wichtig sei. Alle ihre Sätze begannen mit ich und im Weiteren hörte man noch meine Tochter, meine Enkel, die Firma heraus. Ich sah sie nie etwas anderes essen als Suppe, Magerjoghurt und Sauerkraut. Dafür rauchte sie wie ein verstopfter Kamin und hatte eine Stimme wie der Star vom Moulin Rouge, im Rauchersalettl vor dem Haupteingang war sie immer Mittelpunkt.

Sie hatte viele Krankheiten, Knochenschäden, zu hohe Schilddrüsenwerte, Atembeschwerden und war untergewichtig mit der Figur einer Zwölfjährigen. Ihr feines, zu jeder Tageszeit perfekt zurechtgemachtes Gesicht hatte die Farbe von vergilbtem Seidenpapier, zerknittert und durchsichtig, manchmal in Silbrige scheinend. Immer, wenn ich sie ansah, erschrak ich; nicht, weil sie unhübsch gewesen wäre, durchaus nicht, wenn sie größer gewesen wäre, könnte sie auch einmal gemodelt haben oder heute noch für Silberrückenmode posieren. Aber ich meinte immer, es müsste knistern oder leise rieseln wie Kalk im Gebälk oder kleine Wölkchen von Rauch oder Asche um sie aufsteigen. Konnte man das Rieseln des Sandes im Uhrglas hören? Es war nichts zu hören und zu sehen, so wie man es bei ihrem Anblick erwartete. Dass nicht eintraf, was man erwartete, das machte den Schrecken aus. Das erinnerte mich an die grauenvollen Tage mit einem Scirocco in Sizilien, der einen fast um den Verstand brachte, weil er trotz allen Tosens des Meeres, Rasens durch die Dorfstraßen, Klapperns aller Gartenmöbel, des Fensterlädenrüttelns und Heulens um die Häuser und die niedergedrückten Bäume keine Erfrischung und Abkühlung brachte, wie wir es sonst von Winden gewohnt sind, sondern im Gegenteil noch mehr Hitze und Schwüle aus der Sahara.

Wirklich zu bewundern war Marens Organisationstalent; mehrmals pro Woche schaffte sie es, einen Friseur aufzusuchen – im Hotel Excelsior, De Luxe, Grand? – und mehrmals Stil und Länge ändern zu lassen, so deutlich, dass beim Abendessen im Speisesaal anfangs von nichts anderem die Rede war, manchmal ausgesprochen und laut, manchmal wie ein Raunen. Diese oberösterreichischen, salzburgerischen und kärntnerischen Ko-Gebietskrankenkassenkurempfänger gingen mit Marens pronounciertem Piefketum humorvoll und locker um. Mehrmals habe ich sie Mariedl oder Mitzi, Madl, kum her do, rufen gehört. Maren war auch an anderen Tischen begehrt, sie wechselte oft kreuz und quer über die Gänge hinweg oder stand in der Mitte und machte Konversation nach jeder Seite.

An meinem Tisch dagegen ging es fast so ruhig zu wie in einem Trappistenkloster; Nikola lächelte ewig aus seinem schief geneigten Kopf und schwieg wie ein Fisch, Petra und Kurt waren damit beschäftigt, das Essen zu genießen, andächtig und langsam, sie schoben einander unauffällig die Leckerbissen zu, sie zelebrierten die gemeinsamen Mahlzeiten. Beide sind Zwei-Schichtarbeiter und haben einander höchstens an Wochenenden. Mir gefiel besonders, dass sie sich vor dem Zulangen immer an die Hände fassten, kurz in die Augen schauten, auf den Mund küssten und „an guatn“ wünschten. Das kenne ich von oberösterreichischen Katholiken. Petra hat auf ihrem Handy nicht nur ihre Kinder und Enkelkinder vorzuzeigen, sondern auch die kleine Hauskirche auf ihrem Grundstück, die seit 1856 im Besitz ihrer Familie ist. Erst vor Kurzem wurde der Glockenturm erneuert; ihr 78-jähriger Vater kletterte auf das Dach und hängte eigenhändig die von ihm renovierte Glocke auf. Fenster und Mauern brauchen noch etwas Arbeit – alles zu sehen auf den am Handy vorgezeigten Fotos. Die Freizeit verbrachten sie jeden Tag in der Felsentherme, abends gingen sie manchmal tanzen. In den Bergen oder auf meinen Ortsstreifzügen durch Hofgastein traf ich sie nie.

Maren, die Deutsche, war vom Aussehen und Auftreten her die auffälligste Person in unserer Kurschicht. Ich wunderte mich: Sie musste, um dorthin zu gelangen, eine österreichische Krankenkasse, also eine österreichische Arbeitsgeschichte haben. Bei der Ankunft habe ich mitbekommen, dass sie ihre Tochter aus Reutte in Tirol hierher gefahren hat, mit dem Auto, meine Tochter bleibt eine Nacht, ihre zwei Kinder sind in Betreuung, im Raucher-Pavillon sehe ich kurz die Tochter, die nie mit ihrer Mutter spricht, sondern nur an zwei Handys mit ihrer Firma, ja, ich bin morgen Mittag wieder da.
Ich kam mit der Bahn an und bekam ein Taxi-Shuttle zum Kurhotel. Ihre Tochter lud drei Riesenkoffer mit dicken, silber umfassten Zippverschlüssen und Schnallen, und zwei lederne Reisetaschen aus dem Auto, daneben noch zwei kompakte Schönheitskoffer, Marke Samsonite, kenne ich, hatte sie früher auch.

Den Raucher-Pavillon besuchte ich nie wieder, ich hatte ja mein Einzelzimmer mit der sonnigen Loggia, mit prächtigem Ausblick auf die tief verschneiten Tauern, den Graukogel, den Kreuzkogel und den Stubenberg, und ein kleines Stück nach links auch noch hinunter ins Tal von Hofgastein. Vor mir lag die Eisenbahn mit dem Bahnhof. Der Blick auf das Bahnhofsgebäude selbst war verdeckt von der gläsernen Brücke über die Gleise und die Straße, aber ich konnte die aus dem Tauerntunnel einfahrenden Züge sehen. Vor allem aber hören. Trotz der meterhohen Schallmauern war ihr Lärm enorm, oder sie verstärkten ihn noch mit ihrer Trichterform, vor allem die langen, schwer beladenen Lastzüge, die Tag und Nacht über den Tauernpass und durch die Schlucht von Bad Gastein donnerten. Donnern war das eine, das andere war ein langgezogenes und durchdringendes Quietschen, eben die Bremsen. Das Gefälle vom Böckstein-Tunnel her war groß, die Strecke gewunden, und die Züge mussten bremsen. Tonnenschwere Waggons mit Baumstämmen, Containern, Lastwagen – die rollende Landstraße. Immerzu musste ich an verzogene Containertürme, an verrutschte Baumstämme und schiefliegende Lkw denken.

Am ersten Abend fürchtete ich, ich würde kein Auge zudrücken können. In welche Lärmhölle hatte mich die Krankenkasse geschickt? Ich, die immer schon in einem ruhigen Wiener Hinterhof ohne lautere Geräusche als das Amselflöten wohne! Aber ein Wunder geschah. Ich schlief am ersten Abend schon um acht Uhr ein und mit nur einer Unterbrechung acht Stunden lang! Wundersam, ohne Albträume! Ohne jedes Hilfsmittel! Ich integrierte die Geräusche erstaunlich schnell in die Tage und Nächte und überließ mich fast wohlig dem Mahlstrom des Kuralltags.
Zug-, Flucht- und Tunnelträume, von Reisen in Kutschen mit wild gewordenen Pferden, von entgleisenden Hochschaubahnen und umstürzenden Einbäumen habe ich immer schon gehabt, so lange ich mich erinnere. In meinem vegetativen Baby-Zustand blieben die Nachtmahrfilme aber vollständig aus.

Die Anstaltsärztin Dr. Anna Maria Stampfl, eine kluge und praktische Frau, der ich von diesem Wunder erzählte, erklärte es mit der Höhenlage Bad Gasteins von 1066 Metern und damit, dass wir eben Menschen seien und nicht Automaten, da ist alles möglich. Vollends nahm sie mich für sich ein, als sie am Ende ihres Einführungsvortrages die Frage an das Publikum stellte, welche außermedizinischen Faktoren denn zur Gesundung beitragen würden? Die Kurgäste, die nicht an das Frage-Antwortspiel gewohnt waren, schwiegen, bis ich in die Stille hinein sagte: positiv denken. Frau Dr. Stampfl strahlte über den ganzen Körper und verdeutlichte es noch: jeden Tag dankbar sein und am Abend daran denken, was alles gut war. Da musste ich mich nicht umgewöhnen und war heftig an meine Großmutter erinnert, die auch nach diesem Wahlspruch gelebt hatte. Ich traf die Frau Doktor dann nur noch einmal, bei der Palmprozession vom Hauptplatz in die katholische Kirche St. Primus und Felizian, bewehrt mit einem großen, bunt geschmückten Palmbuschen.

Der ärztliche Leiter des Sanatoriums, das sich nicht so nannte, sondern nach dem Begründer Wetzlgut, war Dr. Simeon Marteanu, ein gebürtiger Rumäne. Anamnese und Erstuntersuchung führte er so, wie ich mir eine Armeeeinberufung vorstelle. Ausziehen bis auf die Unterhose, Arme zur Seite, nach vorne, nach hinten, Fingerspitzen, wenn möglich, bis auf den Boden, Rumpf beugen, drehen links, rechts, auf die Waage und Blutdruckmessen. Bei den Männern wäre noch der unverzichtbare Griff unter die Hoden dazugekommen, auf dem Pferdemarkt noch der Blick ins Gebiss. Mein Vertrauen verlor er aber trotzdem, weil er mir auf die Schilderung meiner Verdauungsprobleme riet, Bananen als Diät zu essen, von Käse zu lassen und Zigaretten zu meiden. Das widersprach so sehr allem Wissen und meinen Gewohnheiten wie wahrscheinlich die Null-Diät in rumänischen Waisenheimen zum Aufbau der sozialistischen Gesellschaft beigetragen hat.

Auch ohne den Herrn Doktor muss ich etwas länger beim Essen verweilen, weil es sehr schnell zum Hauptthema dieses Kuraufenthaltes wurde. Nicht nur, weil der Tag hauptsächlich nach den drei Mahlzeiten gegliedert war – Frühstück von dreiviertel sieben an bis neun Uhr, Mittagessen um Punkt zwölf Uhr, Abendessen um halb sechs. Gleich nach dem ersten Tag bestellte ich prinzipiell die Suppe vor dem Mittagessen ab, das Dessert bekamen Gabi und Günter, und stornierte das Abendessen. Ich legte mir im Zimmerkühlschrank ein kleines Vorratslager an: eine Packung Pumpernickel, einen Block Magerkäse, Nescafe-Briefchen, Kräutertees, Käsechips und hartgekochte Ostereier. Vom Frühstücksbuffet schmuggelte ich Schüsselchen mit Obstsalat und Gemüse ins Zimmer, damit ich versorgt war, sollte abends Hunger aufkommen. Obwohl ich praktisch für jeden Tag das vegetarische Menü angekreuzt hatte, dürfte ich doch anfangs zu viel Fleisch und Wurst zu mir genommen haben, was ich von zu Hause nicht gewohnt war. Wahrscheinlich lag das Problem aber bei den Fetten, mit denen in der Kurküche gekocht wurde, die meine Gedärme nicht vertrugen. Sie begannen zu streiken und gaben fast nichts mehr von sich. Als ich das erkannte und die Notbremse zog, war es zu spät. Links, im absteigenden Dickdarm lag der tote Hund und wollte mich nicht mehr verlassen.

Die Schmerzen, wegen der ich die Kur angetreten hatte, wurde ich ziemlich schnell los, zuerst die auf der linken Seite der Lendenwirbelsäule, in der zweiten Woche auch die bis ins Knie ausstrahlenden Beschwerden auf der rechten. Also war der Kurzweck erfüllt, und ich freute mich schon auf die vermehrten schmerzfreien Spaziergänge. Da machte mir aber der Dickdarm einen Strich durch die Rechnung. Seit sich die Schmerzen in der Lendenwirbelsäule verflüchtigt hatten, begann der tote Hund so zu schmerzen, dass ich manchmal nicht aufstehen und gehen konnte. Ich hatte den Teufel mit Beelzebub ausgetrieben. Ich hatte mir für die Ischias-Schmerzen einen Morbus Crohn eingehandelt.
Den Stabsarzt konsultierte ich nicht mehr, sondern traktierte mich weiter mit den Hausmitteln, den bitteren Kräutertees, dem Joghurt, Dörrpflaumen, Sauerkraut und Schwarzbrot. Das mit Radon versetzte Heilwasser trank ich schon eimerweise, obwohl es in der Empfehlung hieß, man solle, je nach Körperbau, nicht mehr als einen halben bis einen Liter pro Tag zu sich nehmen. Meine Mahlzeiten schob ich immer häufiger zur Gänze meinen Tischnachbarn zu, Petra war überschlank und vertrug die doppelte Menge, der ohnedies rundliche Kurt aß alles gerne und ohne schlechtes Gewissen, und Petra ließ ihm sein Vergnügen und wünschte ihm immer lachend „an guadn“ – eine tolerantere Ehefrau habe ich noch nie erlebt.

In der dritten Woche kam für mich von unerwarteter Seite die Erlösung. Ich hatte privat eine Lymphdrainage gebucht – eigentlich eine Schönheitsmaßnahme – und erzählte der Therapeutin von meinem Leidensweg. Sie verabreichte mir eine Darmmassage und ertastete tatsächlich den ausgebeulten Dickdarm, den sie dann nicht mehr in Ruhe ließ. Nach einer zweiten und dritten Behandlung in den folgenden Tagen begann sich etwas zu bewegen, zu glucksen und zu rutschen, und dann verbrachte ich den Rest des Tages und die Nacht in meinem Badezimmer mit befreienden Sitzungen.
Die Kur, ein doppelter Erfolg! Nicht nur hatte ich die mitgebrachten Schmerzen besiegt, sondern auch das in der Anstalt eingefangene Leiden.

In der Freude und dem Übermut über die Genesung machte ich mich am vorletzten Tag zu einer Wanderung nach Alt-Böckstein auf, um den Heilstollen zu besichtigen. Ich wollte mich dort nicht behandeln lassen, sondern hatte nur eine touristische Schnuppertour gebucht. Als sich die Besucher vor dem offenen Bähnlein sammelten, sah ich unter den Wartenden auch den gesamten Nachbartisch mit Sabine, Silvia, Walter, Hermann und Maren samt der Lach- Gitti. Kurzes Begrüßen, und wir verteilten uns in den Waggons.
Das Angebot sah auch ein Glas Sekt vor und ein Überraschungsgeschenk – es war in ein Fläschchen Zirbenschnaps und ein Gesteinsbrocken in einem hübschen Leinensäckchen mit aufgestickten Zirbenbockerln. Die Besucherbahn lief auf schmalen Schienen wie ein Ariadnefaden in den Berg hinein und drehte ihre Runden durch die verschiedenen Verzweigungen des Heilstollens, vorbei an den auf Liegen ruhenden Patienten, die sich und ihre Leiden den Radon-Strahlen aussetzten. Am Scheitelpunkt hieß es aussteigen, und es wurde eine kurze Informationsveranstaltung mit Film angeboten. Mir war gar nicht wohl, entweder war es die Schwüle und Feuchtigkeit im Stollen, die mir Herzrasen bereiteten, oder ich war schon zu sehr mit meinem eigenen Radon angereichert, oder es war meine lebenslange Abneigung gegen Tunnels, Höhlen und dergleichen unterirdische Räume. Immer war mir bewusst, dass dies nicht mein ureigenstes Element war, eher die Erdoberfläche, das Wasser und von mir aus auch noch die Luft. In einem anderen Leben würde ich sicher eher Vulkan- als Höhlenforscherin werden. Ich entfernte mich von der Gruppe und bestieg schnell den nächsten zur Rückfahrt wartenden Zug. Fast im Laufschritt stürzte ich den Wanderweg aus dem Anlauftal hinaus, rastete mehrmals am Ufer der jungen Gasteiner Ache, fühlte nach meinem rasenden Puls und nahm den Postbus bis zum Sanatorium. Ich kam erst zum Stillstand, als ich mich in Nummer 662 auf das Bett fallen ließ.

Ich musste eingeschlafen sein, weil ich noch mit dem Horrorgefühl aus dem Stollen aufwachte. Wie immer hatte ich mich vom Abendessen abgemeldet, aber es klopfte an der Tür, was noch nie geschehen war, außer am Morgen, wenn die Putzfrau wissen wollte, ob sie das Zimmer betreten dürfe. Es war mehr ein Pochen, Trommeln oder ans Tor Schlagen. Aber es war nicht meine sanfte Gordana, sondern die Rezeptionistin und hinter ihm der Anstaltsdirektor, Herr Kurt Primsacker persönlich, etwas aufgelöst, wie mir schien, er, der immer nur korrekt und in alpiner Edel-Haute Couture gestylt auftauchte, mit fliehender Stimme, zerwühlten Haaren und verrutschtem enzianverzierten Leinentüchlein im Hemdausschnitt.
– Frau Magister, sind Sie da? Wo sind die anderen?
– Warum nicht da? Ich bin da. Welche anderen? Ich war sicher noch zu traumverloren oder radonvergiftet und verstand nichts.
– Bitte, kommen Sie herein.
Die Rezeptionistin zog sich zurück, und der Direktor betrat mein Zimmer, das ich zum Glück aufgrund meiner notorischen Ordentlichkeit wie immer im Zustand der Unbewohntheit hinterlassen hatte.
Sie tuan kuren, ich putzen, Sie nix aufräumen tuan, fiel mir die stets mahnende Gordana ein.
– Sie sind nicht zurückgekommen, haben Sie sie gesehen?

Ich setzte mich auf und versuchte mich zu sammeln. Ein Großteil der zweiten Schicht, die nach uns die Mahlzeiten einnahm, waren Privatpatienten, die sich im Stollen einer Behandlung unterzogen. Ich sah sie jeden Morgen sich vor dem Haupteingang versammeln, wenn sie mit dem Bustaxi abgeholt wurden. Einige von ihnen hatte ich auf meiner Schnupperfahrt durch die Stollen erkannt, obwohl sie dort in Badebekleidung oder unter Handtüchern auf den Betten lagen. Manche hatten dem Besucherzug zugewinkt und dann wieder ihre wunden Körper hoffnungsvoll der heilsamen Strahlung aus dem Fels zugedreht.
– Haben sie das Taxi versäumt oder ist das Taxi nicht gekommen? Direktor Primsacker schüttelte den Kopf und fuhr sich mit beiden Händen durch die ohnedies schon zerwühlten Haare. Die gepflegte silberne Mähne, fast so lang und voll wie die seines hübschen, blond gelockten Sohnes, der manchmal an der Rezeption praktizierte, stand ihm vom Kopf, und er wischte sich mit einem aus dem Grobleinensakko gezogenen Taschentuch die schweiß- glänzende Stirn. Er war in größter Aufruhr, und ich musste mich erst sammeln und die Stollenbilder vertreiben.
– Frau Magister, bitte, was haben Sie gesehen?
Erst langsam wurde klar, dass die Gruppe vom Siebener-Tisch plus Tiroler-Gitti nicht in die Anstalt zurückgekommen war.

Der Direktor schlug vor, er bat mich überschwänglich darum und flehte geradezu, dass wir zur Rezeption gehen sollten, dort hätte er alle Telefone und vielleicht auch andere Augenzeugen zur Verfügung. Da erst bemerkte ich, dass ich die Bergschuhe zu meinem Schlummer nicht ausgezogen hatte. Der Empfangssaal neben der Rezeption glich einem Bienenstock, die erste Schicht des Abendessens war versammelt, dazu noch die Hausarbeiter und einige Taxifahrer. Alle sprachen durcheinander, der Lärmpegel war erheblich. Ich suchte mir einen Platz in der Ecke, wo ich meine Zeitungen zu lesen pflegte. Unwillig rutschten die Leute zur Seite und schauten auf den Boden. Ich spürte es körperlich, dass sie mich für irgendetwas schuldig hielten, eine Energie der Aggression. Der Direktor baute sich auf den Stufen auf, verschaffte sich mit Händeklatschen Gehör und stellte die momentane Situation klar:
– Sechs Kurgäste sind bis jetzt aus dem Stollen nicht zurückgekommen, wer etwas dazu weiß, soll es sagen, bitte. Das ist noch nie vorgekommen. Aber es wird sich alles erklären lassen und lösen, meine Damen und Herren! Bitte, Ruhe bewahren.
Der Direktor selbst zeigte aber ein gegenteiliges Bild, er zupfte abwechselnd an seinem Halstuch und an seiner Haarmähne herum, die Bartstoppeln an seinem Kinn schienen in doppelter Geschwindigkeit zu wachsen.

Es fing ein Taxifahrer an, der die Leute in einem Kleinbus um zwei Uhr hingefahren hatte und um vier Uhr dreißig wieder abholen sollte, so wie es bestellt war. Aber sie kamen nicht. Er wartete und rief die Rezeption an, ob sich etwas geändert hätte. Nein.
Der Mann erinnerte sich, dass sie etwas später vom Wetzlgut abgefahren seien, weil eine ältere Dame etwas vergessen habe und noch einmal auf ihr Zimmer zurückgelaufen sei, aber später als vierzehn Uhr zehn sei es nicht gewesen, als sie losfuhren, das hat er auf der Zeitanzeige gesehen neben dem Lenkrad. Zwanzig Minuten Autofahrt bis zum Stollen, mehr nicht. Sie sind am Parkplatz ausgestiegen, sie haben noch geraucht, dann sind alle gemeinsam rein. Mehr weiß er nicht, er hat umgedreht und ist zurück auf seinen Standplatz vor dem Bahnhof. Die Rückfahrt hat ein Kollege übernommen. Der ist gerade nicht da, weil er eine Tour hat, er kann keine auslassen, muss verdienen, er hat vier Kinder. Da polterte es in den Eingangstüren, Polizei- und Bergwachtpersonal, Feuerwehrleute und die üblichen Flugretter betraten die Stube, martialisch die einen wie die anderen, wenn auch unterschiedlich kostümiert.
Lange ging es hin und her mit den Befragungen, auch ich kam dran, aber ich konnte nicht mehr aussagen, als dass sie mit mir reingefahren waren, ich sie aus den Augen verloren hatte und dann wieder raus bin. Wir waren ja auch nicht gemeinsam als Gruppe hingekommen. Die Polizei nahm meine Aussage auf und ließ mich weiter in Ruhe. Ein alter Tiroler neben mir murmelte:
– Der Berkh hots gholt und gibt sie nimma her. So sans, die Berkg.
Er muss einmal Volkskundler gewesen sein.

Eine Asthmatikerin, die schon seit vielen Jahren in den Stollen fährt, wollte wissen, dass der Berg sich selbst versiegelt, er verschließt seinen Bauch.
Und die sichtbar an schrecklicher Psoriasis leidende Nachbarin unterstützte sie:
– Ja, er rutscht jedes Jahr in sich zusammen, um ein bis zwei Zentimeter, so viel wie Fingernägel wachsen. In vierzig Jahren hat sich der Stollen selbst verschlossen.
Andere unterhielten sich über die Möglichkeit, ob sie vielleicht von Grubenhunten verschleppt worden seien.
Der weit fortgeschrittene Morbus Bechterev machte es der Schweizerin mir gegenüber unmöglich, ihren Blick gegen Himmel zu richten, aber zumindest ihre verkrüppelten Arme konnte sie noch leicht in die Höhe strecken:
– Ein Wunder ist geschehen, sie haben die Grenze überwunden und sind im Paradies.
Sie schien eine überirdische Vision zu haben, vielleicht die Erlösung von ihrer Krankheit.
Mit Ekstase in der Stimme setzte sie noch eine apokalyptische Drohung hinzu:
– Verflucht sei, wer mir nicht glaubt.
Nüchterner dagegen ließ sich der alte Volkskundler noch einmal vernehmen:
– Dös sein sicha die totn Berkhleit vom Goldstollen gwen, hiazt tuan sa si rächan, denan entkommt niemand.
Das waren freilich Aussagen, mit denen die Polizei nicht viel anfangen konnte, gehörten sie doch in den Bereich des vergriffenen Buches „Sagen und Märchen aus dem Gasteinertal“.
Der Fall wurde nach Wochen als ungelöst abgeschlossen im Archiv abgelegt. Nach anfänglich regem Interesse vergaßen ihn auch die Medien bald.

Nur eines war auffällig, aber niemand verfolgte das weiter oder brachte es in Zusammenhang mit den sechs Verschollenen. Im Telefonhäuschen vor dem Polizeiposten von Mallnitz-Obervellach, wo der Tauerntunnel nach Kärnten mündet, klingelte es einige Male. Wenn der Kommandant abnahm, war nur ein Hauchen zu hören, ein Keuchen und Kratzen wie von Raucherhusten, verstümmelt, zerbrochen und abgerissen. Lausbuam, verflixte, murmelte er und schüttelte den Kopf.
Als im nächsten Frühjahr rund um das Telefonhütterl sechs junge Zirben aus dem Boden sprossen, dachte schon lange niemand mehr an das Geheimnis des Stollens.

Strange events permit themselves the luxury of occuring.
Charly Chan

31. 4./1.5.17

Veronika Seyr
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Rezension – Veronika Seyr Forellenschlachten

Eine Rezension von Martin Stankowski
Ersterscheinung: Literarisches Österreich 2016/2

Veronika Seyr
FORELLENSCHLACHTEN. 33 Briefe aus dem vergessenen Krieg
Wien, Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 2014, 416 Seiten
ISBN 978-3-901602-54-2

Die Briefe erfassen chronologisch den erbarmungslosen Bürgerkrieg im zerfallenden Jugoslawien von 1991 bis 1997 auf den über den Balkan verteilten Schauplätzen. Inhaltlich bedeuten sie nur teilweise ein Nacheinander, da Frau Seyr trotz konsequenten Verfolgens der Kontinuität des Geschehens fast in jedem dieser an eine Wiener Freundin gerichteten Schreiben thematische Schwerpunkte setzt. Auf diese Weise gelingt ihr bei klarer Orientierung zugleich die Kunst der lebendig-lebensnah geordneten Fülle.

Manchmal hat man nach spätestens drei Briefen genug. Genug von der Unmenge an detailliert aber nicht minutiös geschilderten Brutalitäten, dem Schrecken des blutigen (Massen-)Mordens und der zügellosen ethnischen Säuberungen, der überbordenden Hybris der Mächtigen, des anhaltend schonungslosen Raubs durch Kriegsgewinnler, der hundertfach grimmigen zivilen Wunden in Alltag und Gesinnung. Aber Frau Seyr versteht es, ohne Brüche im Berichten doch immer wieder zu gleichsam weniger aufrüttelnden „Erholungszonen“ durchzustoßen. Und man bleibt gefesselt, will wissen, wie es weitergeht (vielleicht vom größten Lob für eine schriftstellerische Arbeit) im Drama von shakespearischer Dichte und Gewalt, lässt sich bereitwillig durch das zunehmende äußere Chaos steuern, wird anerkennend ihrer bei aller Berichterstattung eindeutigen Stellungnahmen gewahr. Dieses sichere Führen gelingt Frau Seyr durch die niemals aufgegebene, naturgemäß den Blickwinkel bestimmende Perspektive des ORF-Büros in Belgrad wie des persönlichen familiären Lebens mit oft schwierigen Korrelationen: eine duplizierte Filterung, die zwar keine umfassende, schon gar nicht eine historische Bewertung entwickelt, indes anhaltende Authentizität und Tiefenwirkung sicherstellt.

Ja, es gibt absolut Schreckliches, ob als faktische Angaben, ob als beschriebene Taten. Noch darüber hinaus bedrückt das Konglomerat der vielgestaltigen gezielten Streiche in der Kriegs-Kontamination, in ihren Auswirkungen hautnah in den diversen Einschüben der Alltagssplitter zu fassen. Zu ihnen treten, nur partiell mildernd, die parallelen Unwägbarkeiten, verursacht durch die im Großen wie im Kleinen Handelnden. Denn es bleibt der Mensch bei Frau Seyr, in einem von Gerechtigkeit getragenen und dadurch in einem sich selbst im äußerst Schwierigen um Verständnis bemühenden Blick, der alle Richtungsbahnen „vereinnahmende“ Bezugspunkt. Diese nie aufgegebene Grundierung spürt man desgleichen in den zahlreichen Hinweisen auf die uns Lesern allzu oft un- oder gar falsch bekannte Geschichte – die eben nicht eine (auf dem Balkan) postulierte Gesetzlichkeit enthält, sondern oft als gewolltes Geschichtsbild geschmiedet ist –, in den Ausflügen in das kulturelle Erbe und in die nur scheinbar für sich selbst stehende Landschaft. Diese Grundierung gilt zugleich für die analytischen, sich mit den kriegerischen Strukturen befassenden Partien des Buchs, namentlich in den dargelegten Methoden, Hass zu säen, beispielhaft-überzeugend in der Untersuchung, und damit zwingend hierhergehörend, der Sprache (etwa 119-121, 171, 272, 348-349) – über das Ortsgebundene hinaus ein Lehrbuch für zahlreiche vorangegangene und folgende Katastrophen. Anders gesagt: Dass dieses „Gemachte“ auf keiner Seite verlorengeht, gerade darin liegt einer der besonderen Vorzüge dieses Werks.
Beendet wird das Buch mit einer Reihe weiterführender Anmerkungen und einer zur Vertiefung geeigneten Literatur, welche beide den hohen allgemeinen Bildungsgrad der Autorin belegen.

Durch ihre Existenz als Reporterin und als Briefschreiberin schafft Frau Seyr eine Art von doppelter Distanz. Inhaltlich und literarisch erlaubt diese Methode, Schilderungen und Darstellungen, niemals unangemessen breit ausgelotet, in der Schwebe einer steten Spannung des sich Fortbewegens wie des Festhaltens zu belassen. Es ist eben nicht das Erlebte allein, sondern immer auch der ausleuchtende visuelle Eindruck (wohinter wohl das Handwerk der Fernsehjournalistin steckt), was über die Sichtung im Persönlichen die geradezu greifbaren Bilder entstehen lässt.

Eine in diesem Sinn hohe Erzählkunst erweist sich insbesondere und nachhaltig in den beeindruckenden Charakterisierungen der Personen: Seien es die sich groß dünkenden Protagonisten (deren Namen uns, leider, noch vielfach geläufig sind), seien es die einfachen „Leute“ vom Bauernehepaar über den Möchtegern-Heros und die gegen den Medien-Terror ankämpfenden „kleinen“ Radiomacher (im inmitten des Lands gleichsam exilierten Widerstand den Verlagsintentionen nahekommend) bis zu der im embargobedingten Chaos des Niedergangs die Fahne des Normalen aufrecht haltenden Alltagsheldin. Ebensolches gilt für die Landschaftsporträts, etwa als gefühlte Momentaufnahme des dämmrigen Kriegsherbst-Auwalds an der Save oder als farbiges Tableau des Skutarisees. Wobei, im interpretativ nachholenden Notieren, die strukturierte Beschreibung auf der Basis der Eindrücke und Stimmungen zum eigentlichen Ausdrucksträger wird. In den meisterlich charakterisierenden Beschreibungen lassen sich diese Passagen – auch – aus den Geschehnissen lösen und gesellen sich zum Besten der kommentierenden Reiseliteratur.

Die Aufmachung des Buchs mag bereits der inhaltlichen harten Kost entsprechen, im Format, im faktischen Gewicht, im blassweißen Cover, vorne massiv halbiert durch ein „totes“ Graffito, rückseitig überzogen von sich massierenden Schriftzügen (die nur einem minimalisierten Foto der Autorin Platz gönnen). Mit Blick auf die inhaltliche Konsistenz und auf die hohen sprachlichen, ja literarischen Qualitäten hätte das Erscheinungsbild ruhig (in meiner Schweiz ohne pejorativen Beigeschmack) „anmachender“ sein können. Denn der Rezensent wünscht dem Buch unbedingt eine Vielzahl das Werk weiterempfehlender Leserinnen und Leser.

Martin Stankowski
www.stankowski.info

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