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Geschichte einer Liebesgeschichte

Die Entstehung von Ali und Nino. (weiblich, Betonung auf o. )

Ein Roman von Kurban Said

Ich erkannte ihn sofort, durch die Glasscheiben und durch die dicken Rauchschwaden, an seinem Gang. Er war immer darum bemüht, eine noble Figur abzugeben. Aber diesmal stolperte herein wie ein Betrunkener. Die gläserne Drehtüre spuckte ihn zu schnell aus, fast wäre er gestürzt. Ganz und gar nicht gentlemanlike. Dabei war er sonst immer auf eine würdige Haltung bedacht, um seine aristokratische Herkunft zu unterstreichen. Ich sah, dass er wie immer seinen langen Regenschirm am Arm trug, aber keinen Fez auf dem Kopf hatte. Die Freunde kannten ihn nur so, mit dem hohen, roten Filzdeckel. Unbedeckt hatte ich ihn noch nie gesehen, ohne Fez schien er mir nackt und nicht er selbst. Essad Bey, bei uns in Wien war er der Esi. Die schwarzen Haare klebten an seinem Kopf, die Krawatte war nicht gebunden, und die Knöpferlgamaschen hingen lose um seine Knöchel. Seine großen, schönen Augen waren angeschwollen und trüb.
Nie würde er in einem solchen Zustand auf die Straße gehen. Ein Mensch in Auflösung, das sah jeder beim ersten Blick. In der rechten Hand hielt er ein Papier, mit dem er mir schon von weitem zuwedelte. Es musste etwas sehr Wichtiges sein, das ihn derart die Contenance verlieren hatte lassen.

Ich saß an meinem Stammplatz gleich neben dem großen Tisch mit dem Berg von Zeitungen. Der Herr Albert wusste, welche ich bevorzugte. Direkt vor mir stehend, beugte sich Esi über meine Hand, ließ sie aber gleich wieder los und setzte sich mir gegenüber. Er war außer Atem und keuchte, als hätte er einen Marathon hinter sich. Dabei wohnte er in der Wallnerstraße, buchstäblich um die Ecke. Herr Albert hatte auf dem schwarzen Marmortischchen meine Wunschzeitungen angehäuft. Esi schob sie ohne Erlaubnis auf die Sitzfläche des dritten Stuhls. Obendrauf stellte er das Tablett mit der Kaffeetasse und dem Wasserglas. Eigentlich eine unverschämte Unhöflichkeit. Das war nicht mehr Esi. Nur mein Zigarettenspitz blieb, im Aschenbecher einsam vor sich hinrauchend, liegen.

Sogar die von ihm so geschätzte Anrede mit „Frau Baronin“ unterließ er. Frieda, es ist etwas Schreckliches passiert. Du musst mir helfen.

Na, das war nun wirklich nichts Neues. Bei Esi passierte ständig etwas Schlimmes, und wir taten seit Jahren fast nichts anderes, als ihm zu helfen. Unter uns nannten wir ihn liebevoll Gospodin Katastrofski. Sei es das Drama seiner Scheidung von Erika Loewendahl oder ein Finanzdesaster, ein literarischer Misserfolg oder seine zeitweisen Depressionen. Den Aufenthalt im Sanatorium auf der „Grünen Insel“ habe ich zusammen mit Omar eingefädelt. Hat leider nichts gebracht. Jetzt macht er eine Psychoanalyse beim Professor Freud. Zuletzt ging es ihm ein bisserl besser. Ein russischer Patient.

Er zog ein großes, weißes Taschentuch aus der inneren Jackettasche und wischte damit über die hohe Stirn. Er war nicht bleich, sondern grün-gelb im Gesicht. Seine Züge wirkten entstellt, die breiten Wangen waren zerflossen und hingen schlaff von den Backenknochen herab, auf der Oberlippe standen Schweißperlen. Der fesche, 31-jährige Esi sah plötzlich aus wie ein alter Mann. Mich fröstelte, ich drückte meinen Turban tiefer in die Stirn und zog die Nerzstola enger um mich.

Esi, was ist? Jetzt beruhige dich einmal und erzähl. Anstatt zu reden, hielt er mir das Papier hin.
Noch bevor ich den ersten Buchstaben lesen konnte, sah ich das große Hakenkreuz oben im Briefkopf. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Ich begann zu lesen.
Die deutsche Reichsschrifttumskammer teilte knapp mit, dass Herr Lev Avramowitsch Nussimbaum ausgeschlossen worden ist, er die Ansprüche auf sein Vermögen und alle zukünftigen Tantiemen verloren hat und im Dritten Reich nicht mehr publizieren darf. Grund war keiner angegeben.
Das war eine Katastrophe, ein Schicksalsschlag, von dem er sich nie wieder ganz erholen würde. Ich konnte lange nichts sagen, kaum atmen, nahm seine Hände in meine und wagte es nicht, ihm ins Gesicht zu schauen. Zwischen uns stand der Tod.
Esi, Esi, oh Gott, das ist ja schrecklich. Das war nicht gesprochen, sondern geflüstert.
Esi brachte nichts anderes als ein leises Stöhnen hervor.
Dass er seines Vermögens verlustig gegangen ist, war blanker Raub. Aber dass die Gestapo seine wahre Identität herausgefunden hatte, war ein Todesurteil. Das wussten wir beide und mussten es nicht aussprechen.

Jetzt kamen die Bodmershof, Imma und Willy, ins Herrenhof hereingeweht. Er – atemberaubend in den Frauenkleidern einer Gürtelhure, sie – im Herrenfrack wie für einen Hofball, eine androgyne Schönheit mit einem perfekten Bubikopf. Die New Yorker Millionärserben Binks und Jay Dratler hinter ihnen, die hatten noch ein unbekanntes amerikanisches Pärchen im Schlepptau. Bis auf dieses trugen alle sozusagen Hauskleidung. Jay und Binks hatten es ja nicht weit aus ihrer Wohnung im obersten Stockwerk des Ringturms runter ins Café Herrenhof.

Sie trugen Seidenpyjamas mit ausladenden Schals und Federboas, darüber Turbane aus weißem Atlas, sie mit Kranich-, er mit Flamingomuster, an den Füßen hatten sie reich bestickte, schnabelnasige Pantoffel aus Safin und Antilopenleder. Die ausladenden Wedel aus Pfauenfedern auf den Turbanen wippten lustig bei jeder Bewegung. Sie waren übermäßig stark geschminkt, dicke Ringe um die Augen, schwarze Augenbrauen und gigantisch überzeichnete Lippen in allen Farben. Jay mit baumelnden Ohrringen, Binks mit langen Perlenketten und Ringen an allen Fingern, im breiten Gürtel ein gekrümmter Dolch, ein kaukasischer Kindschal. Wahrscheinlich hatte sie Omar-Rolf gerade für einen seiner Filme ausgestattet, und sie genehmigten sich eine Pause. So tanzten sie aufgekratzt ins Herrenhof herein.

Die Kellner waren solche Szenen von den „gstopften Amis“ im Dachgeschoß des Ringturms gewohnt und schurlten diensteifrig um sie herum. Es umgaben sie Wolken von schweren Parfums, die nur von ihren Zigarren und Zigaretten übertroffen wurden. Verrückte, aber gutmütige Leute, die sich mit Trinkgeld nicht zurückhielten. Na ja, die haben mehr als genug. Sie werfen es uns hin wie eine Banane den Raubtieren im Käfig. Was wollen sie überhaupt hier, denkt der Ober, Herr Albert, während er buckelnd der Gesellschaft die Tische zuweist. Die junge Schauspielerin Paula aus Berlin führt eine Schildkröte an einer goldenen Leine mit sich, eigentlich ist sie ein Mann, sicher ein Jud. Angeblich schreibt Binks Romane und Jay malt Bilder.

Und es kommen immer mehr Leute, darunter viele komische Figuren, auch ein Orientale mit Pluderhosen, Tscherkessenmantel und Fez. Ein orientalischer Prinz solla sein. Haha, a Prinz, dass i ned lach, ich lass mi ned für deppert verkaufen. A verkleideter Jud is des, nix aundas. Der soll an Kaftan tragen. Ich kenn des, i riach die. I kriag eam, irgendwaun. Aber solang die Amerikaner gut zahlen, bleib ich ruhig, wahrscheinlich leben eh alle von irgendeinem Rothschild-Geld. Die Gstopften machen sich Tag und Nacht nur a Hetz und a Gaudi und führn an Karniwal auf. Owa mia miassn buckeln und hackln wie die Deppn. Aber wie alle gut gehaltenen Domestiken im Herrenhof halten sie den Mund. Jetzt noch.

Schnell brachten die Kellner das Übliche für diese Gesellschaft – Champagner und Evian originale. Aber da unterbrachen sie ihre überschüssige Freude und starrten auf Frieda und Esi, wie sie so da saßen.
Was ist passiert, wollten die Freunde wissen.
Nur Blicke. Niemand sprach. Frieda wedelte kurz abweisend mit einem weißen Rehlederhandschuh. Gehts weg. Esi hob nur kurz den Kopf, sah zu seinen Freunden auf, dann sank er wieder in sich zusammen. Es saß da wie ein zum Tod Verurteilter. Die anderen schlichteten sich um die Tische und ließen die beiden in Ruhe.

Es war Frühjahr 1936, Essad Bey und Elfriede von Ehrenfels, saßen einander im Café Herrenhof gegenüber, die Arme weit ausgestreckt, hielten sie die Hände des anderen fest umklammert. Beide ließen die Köpfe hängen und starrten wortlos auf ein Papier in der Mitte der Marmorplatte. Wer sie beobachtete, hätte sie für ein innig versunkenes Liebespaar halten können, das Papier ein Liebesbrief.

Für Esi war Frieda eine gute Freundin, die Frau seines Gesinnungsgenossen und Förderers, des Freiherrn Rolf von Ehrenfels, der, so wie er, zum Islam übergetreten war und sich seither Omar nannte. Rolf-Omar hat vieles studiert, interessierte sich am meisten für Anthropologie und östliche Religionen, dilettierte in der Literatur und drehte Stummfilme, die er alle in einem erfundenen Orient spielen ließ. Er musste nicht arbeiten, seine Familie besaß Schlösser und Güter um Prag und im Waldviertel. Außerdem hatte er mit Frieda in eine Familie geheiratet, die aus dem selben Milieu stammte. Rolf und Frieda von Ehrenfels und Willy und Imma von Bodmershof wuchsen gemeinsam auf und heirateten in erster Linie deswegen kreuzweise, um als Viererbande zusammenzubleiben.

Darüber hinaus experimentierten die Paare jeweils mit dem Partner des anderen und konsumierten so manches orientalisches Pflanzenextrakt. Sie taten damit nichts anderes, als was der Vater Christian von Ehrenfels als Professor der Universität Prag gelehrt hatte, in den glücklicheren Zeiten vor 1914. Er trug seine Gedanken zur freien Liebe, Rassen- und Kulturmischung, zur allgemeinen Promiskuität und Möglichkeiten der Bewusstseinserweiterung vor.
Ganz im Sinne des Vaters experimentierten die Geschwister-Paare mit gleichgeschlechtlicher Liebe, Inzest und Drogen. Christian von Ehrenfels war zu seiner Zeit der beliebteste Professor an der Prager Universität. Es mag total verrückt gewesen sein, was er dozierte, bis dahin ex cathedra noch nie gehört – „aber zumindest ist er kein Antisemit“, notierte sein junger Hörer Franz Kafka im Tagebuch. Seine Vorlesungen waren so sensationell und amüsant, dass ihm Hörer aller Fakultäten in Massen zuliefen. Er musste sie manchmal zwei- oder dreimal wiederholen. Sogar Seminaristen in Soutanen standen mit gereckten Hälsen auf den Gängen, um ein Wort von Prof. Ehrenfels zu erhaschen.

Der Jura-Student Franz Kafka musste innerhalb seines Studiums eine Pflichtvorlesung in Philosophie belegen, und er wählte „Praktische Philosophie“ bei Prof. von Ehrenfels. Die Erinnerungen an ihn sind ungerechterweise nicht an seine originäre Grundlegung der Gestalttheorie, nicht an seinen ausgedehnten Briefwechsel mit Sigmund Freud oder seine „rassenbiologischen Forschungen“ geknüpft, sondern an die Tagebucheintragungen des 19- jährigen Studenten F.K. im Sommersemester 1902 über ihn:
„Es ist so vergnüglich, schon am Morgen zu hören, dass das Beste, was einem Menschen passieren konnte, ein paar Tropfen jüdischen Blutes in seinen Adern zu haben.“ Kafka war bei all seiner Begeisterung für Ehrenfels’ Thesen nie imstande, ihnen im Leben zu folgen. Wie er darum kämpfte, lesen wir vor allem in seinen Tagebüchern und Briefen. Es war eher sein Freund Max Brod, der in seinem Ehealltag damit herumexperimentierte.

Jetzt, im Jahre 1936, war das alles undenkbar geworden, sogar zu einer lebensbedrohlichen Gefahr. Esis Fingernägel gruben sich tief in Friedas Handflächen, als wären sie die einzigen Rettungsanker auf der Welt. Sie beide wussten noch nicht, dass es tatsächlich so kommen würde. Natürlich nicht ganz so, aber immerhin würde aus der mondänen Gesellschaftsdame Baronin Elfriede von Ehrenfels die Schriftstellerin Kurban Said werden, der eine der berührendsten und unbekanntesten Liebesgeschichten der Weltliteratur zugeschrieben wird, „Ali und Nino“.

Ali und Nino sind Kinder, die Anfang des 20. Jahrhunderts in der Altstadt von Baku aufwachsen, Ali in einer moslemischen Adelsfamilie, Nino in einer christlichen Kaufmannsfamilie aus Georgien. Ali besucht das zaristische Gymnasium, wo russische Lehrer aus den kleinen Asiaten gute Europäer zu machen versuchen. Vom Dach seines Hauses kann er in den Gartenhof des georgischen Mädchenlyzeums zur heiligen Königin Tamar hinunterblicken. So beobachtet er mit zunehmendem Interesse die heranwachsende Nino, ohne selbst gesehen zu werden. Zuerst verliebt er sich aus der Ferne in das Mädchen, später auch sie in den Gymnasiasten. als sie sich heimlich begegnen. Nino muss als Christin keinen Schleier tragen, und so kann er in die schönsten Augen des Kaukasus schauen. Sie versprechen sich einander, in der Hoffnung, einmal ein Paar werden zu können.

Die Chancen stehen anfangs gar nicht so schlecht, hat doch das Zarenreich das hauptsächlich muslimische Aserbeidschan seit der Eroberung 1823 heftig russifiziert und sieht den Kaukasus als Teil Europas an. Dort sprudelt der erste Ölrausch aus der Erde. Dort tummeln sich Rothschild und Nobel, Investoren und Gastarbeiter, Casinobesucher und Glücksritter aus ganz Europa. Das neue Eldorado. Der junge Stalin, damals noch Dschugaschwili mit dem Kampfnamen Kuba, führt im Untergrund eine bolschewistische Terrorgruppe, organisiert zur Finanzierung der Partei spektakuläre und ertragreiche Banküberfälle. Aber dann kommt die Revolution, und mit der alten Welt versinken auch Ali und Nino. Die drei gehen aber nicht in der Revolution zugrunde, sondern an den strengen Gesetzen der muslimischen Welt.

Mehr von dieser tragischen Liebesgeschichte im Kaukasus am Ende der alten Zeit und am Beginn der Revolution soll nicht verraten werden. Zuerst muss das Geheimnis um Kurban Said gelüftet werden. Das ist schwer genug. Als der Kurzroman 1937 auf Deutsch erscheint, wird hinter dem Pseudonym Kurban Said die Publizistin Frieda von Ehrenfels vermutet. In Wirklichkeit steckt aber der 1905 im zaristischen Baku geborene Jude Lev Avramowitsch Nussimbaum dahinter.

Er war ein Flüchtling der Revolution, so wie hunderttausende andere Russen in den europäischen Hauptstädten. Lev besucht in Berlin das russische Gymnasium und beginnt 1922, sich als Prinz aus dem Morgenland auszugeben, als Sohn eines Ölmagnaten. Etwas, was ganz unmöglich ist, denn im zaristischen Russland durfte kein Jude in den Siedlungsgebieten eine Ölquelle besitzen, nicht im Westen, nicht im Osten des Reiches. In seiner Kindheit in Baku, einer halborientalischen Stadt am Kaspischen Meer, träumt sich der kleine Lev eine andere Familie und eine andere Welt zusammen: Seine Mutter, eine Jüdin aus Warschau, stirbt, als er acht ist, sein Vater, ein Kaufmann, hat nach dem Tod seiner Frau kein Interesse an dem Kind, es ist viel allein und wächst beim kranken Großvater mit einer Haushälterin auf. Die Mutter wird einmal eine polnische Prinzessin, einmal eine der Geliebten Stalins in dessen Bakuer Zeit.
Als er zwölf ist, bricht die Revolution aus, in Baku verüben Moslems Pogrome an Juden, Armenier an Moslems, Russen an Tataren, dann Rote an Weißen, jeden Tag liegen auf den Straßen Leichen, jeden Tag brennen Geschäfte, bis die Bolschewiken siegen und ihre Ordnung herstellen.

Er flieht mit seinem Vater in einer vierjährigen Odyssee übers Schwarze Meer in die Türkei, nach Italien, Paris und Wien bis nach Berlin. Schon als Schüler im russischen Gymnasium verkehrt er in Künstlerlokalen und gibt sich als Journalist aus. Er kleidet sich in einer Phantasiemischung aus 1000 und einer Nacht und Tscherkessenkrieger. Auf Fotos lässt er sich im weiten Tscherkessenmantel mit langem Silberdolch im Gürtel und Patronenstreifen als Revers ablichten, an den Füßen Stiefel aus feinstem Tscherkessenleder, am Kopf entweder eine hohe Fellmütze oder einen Fez. Der Traum vom Märchenprinzen aus dem Morgenland. Unter dem Namen Essad Bey veröffentlicht er zahlreiche Bücher. Vor allem “Blut und Öl im Orient“ wird ein Bestseller und in viele Sprachen übersetzt. Biografien über Nikolaus II. und Stalin folgen. Er ist plötzlich reich und berühmt. Nach einer kurzen Ehe mit der extravaganten Fabrikantentochter Erika Loewendahl und einem Intermezzo in New York lässt er sich in Wien nieder. Als eine Klatschzeitung verbreitet, Essad Bey halte sich einen Harem, reicht Erika die Scheidung ein. Er verkehrt in den Kreisen der Wiener Boheme, in der die Orientalistik gerade groß in Mode ist. Kurz vor der Okkupation Österreichs flieht er nach Italien, wo er 1942 an Sepsis stirbt, manche sagen, an seinem Opium-Konsum.

Wie weit sich Lev Nussimbaum mit seinen erfundenen Biografien identifiziert hat, wie weit er damit seine jüdische Herkunft verdecken wollte und wie weit er von der Mode des Orientalismus angesteckt war, verraten weder seine Bücher noch die Literatur über ihn. Er hat das Geheimnis mit ins Grab genommen. Ich neige dazu, dass er für sich eine Kunstfigur geschaffen hat, die ihm ein bisschen Sicherheit und Glamour gab, in einer Welt, die ihn jagte wie einen herrenlosen Hund.
Hoch oben über dem Golf, außerhalb des Friedhofs von Positano, steht eine schmale Grabstele mit einem Turban an der Spitze. Sie ist nach Mekka ausgerichtet und überblickt die ganze Schönheit der Amalfiküste.

 

Wie viel Tragik verträgt eine Lebensgeschichte?

„Genau zum selben Zeitpunkt greift Hitler nach dem Kaukasus. Im 2. Weltkrieg wollte sich Hitler unter allen Umständen des Öls bemächtigen. Er lenkte den Russlandfeldzug um, nur um an das Öl des Kaukasus heranzukommen. Im September 1942 schenkte ihm sein Generalstab eine gigantische Torte in Form des Kaukasus. In der damaligen Wochenschau kann man sehen, wie Hitler ein Stück davon abschneidet, auf dem in Zuckerguss BAKU steht. `Wenn wir das Öl von Baku nicht bekommen, brüllt er seine Generäle an, dann ist der Krieg verloren!`(……) Die ganze 6. Armee lässt er in Stalingrad im Stich, um nur ja keine Division aus dem Kaukasus abziehen zu müssen. Knapp 2 Jahre später rollen sowjetische Panzer in Berlin ein, im Tank das Öl aus dem Kaukasus.“

Tom Reiss Der Orientalist. Auf den Spuren von Essad Bey, S XIII, Osburg Verlag, 2005

 

1936 haben die Nazis seine wahre Identität entdeckt; ihm wurde der Anspruch auf sein Vermögen und die Tantiemen abgesprochen, er erhielt Publikationsverbot und war mit einem Schlag völlig mittellos. Er wusste um die Lebensgefahr, in der er als Jude schwebte. In dieser Notlage wandte er sich an seine exzentrischen Wiener Freunde, erfand zusammen mit seiner Freundin Elfriede – Frieda von Ehrenfels – die Autorin Kurban Said und schrieb die Liebesgeschichte von Ali und Nino. Ob sie daran überhaupt Anteil hatte, ist bis heute zweifelhaft. Die russische Stadt Baku und ihre Geschichte, der Lokalkolorit, die Problematik der Landbrücke zwischen Orient und Okzident, die Wirren der Revolution und des Bürgerkrieges – damit war nur Lev Nussimbaum, alias Essad-Esi Bey, alias Kurban Said vertraut.

Wie kann man sich am ehesten diese „Kooperation“ zwischen Lev und Frieda vorstellen? Er schreibt in seiner Wohnung in der Wallnerstraße Kapitel um Kapitel und bringt sie ins Café Herrenhof, wo Frieda, Omar-Rolf, Willy und Imma und ihre illustren Freunde tagtäglich verkehren. Vor aller Augen, auch vor denen der anderen Gäste und der Kellner, gehen Frieda und Lev-Esi die Papiere durch, diskutieren, korrigieren, lektorieren, lachen und weinen zusammen. Sie diskutieren mit den Freunden viel über den Titel. Omar-Rolf schlägt „Liebe und Tod im Kaukasus“ vor.
Sie nehmen ihn als Arbeitstitel. Esi schreibt in orientalischer Manier auf langen Papierrollen mit einem Federkiel in mikroskopisch kleiner Schrift, die niemand außer ihm lesen kann. Noch 1936 schließen sie den Roman ab.

Es ist ein dünnes Buch, bestehend aus kurzen Kapiteln, spannend, bunt, orientalisch, romantisch, wild – alles wie aus einem Guss. Niemand würde zwei Federn dahinter vermuten. Frieda, zwar noch im kaiserlichen Triest geboren und später viel in Prag, hat Wien ab den Zwanzigerjahren nicht mehr verlassen, nur zu Besuchen im Schloss im Waldviertel. Wie kann sie den Orient beschreiben? Im Herrenhof lässt sich Frieda von der Freundesrunde mit einem großes Fest feiern. Alle können es sehen: Baronin Elfriede von Ehrenfels alias Kurban Said hat einen Roman fertiggestellt. Er erscheint als „Ali und Nino“ 1937 in Wien beim Verlagshaus E.P.Tal & Co und ist kurzfristig ein großer Erfolg.

Ein gewisser Alfred Ibach wird bei Tom Reiss als Arisierer genannt. 1938 flieht Lev-Esi nach Positano, und Frieda kann ihm bis zum Kriegsausbruch noch Geldmittel nach Italien übermitteln. Als sie versiegen, ist er so verzweifelt, dass er sich sogar Mussolini als Biograf anbietet: „Essad Bey und die größten Männer der Weltgeschichte“. Aber der lange Arm der SS reicht im faschistischen Italien bis ins malerische Fischerdörfchen an der Amalfiküste. Kurz bevor er verhaftet und ausgeliefert werden soll, stirbt er 1942. Der Polizeiwagen und der Leichenwagen haben sich fast gekreuzt.

Lev Nussimbaum ist bis heute unbekannt, denn das einzige Buch, das noch übersetzt wurde, „Ali und Nino“, erscheint nur unter dem Pseudonym Kurban Said, auf Englisch in den Siebzigerjahren, auf Deutsch 2014, auf Aseri 2008. Das postsowjetische Aserbeidschan hat sich die süßliche Liebesgeschichte mit dem unglücklichen Ende sogar als eigenen Schöpfungsmythos unter den Nagel gerissen, und das obwohl Kurban Said kein aserischer Name ist, sondern genauso wie Essad Bey (Herr Herr) der Phantasie des Lev Avramowitsch Nussimbaum entstammt. (Baronin) Elfriede (von) Ehrenfels, geb. Bodmershof, starb 1984 88-jährig auf Schloss Lichtenau. Sie hat nie auch nur ein einziges Wort über Kurban Said oder Essad Bey geäußert.

Quellen: Ali und Nino von Kurban Said, List Taschenbuch, 2014
Der Orientalist von Tom Reiss
Reiner Stach: Kafka. Die frühen Jahre 1883 – 1910
Kurban Said: Der Mann, der nichts von Liebe wusste. Unveröffentlichte Tagebücher Veronika Seyr: Phantasie über einen Roman-Anfang

beg. 28.6.18, beendet 5.2.22

Veronika Seyr
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Im Zeichen des Hasen

Die erste Begegnung mit Adolf Muschg

Sein erster Roman kam 1965 bei Fischer heraus. Ich kaufte das dünne Bändchen „Im Sommer des Hasen“ und verschlang es, fraß es auf, immer und immer wieder. Es war meine initiierende Begegnung mit dem geheimnisvollen Reich Japan. Ich, damals eine 17-jährige Gymnasiastin aus der österreichischen Provinz, er ein 31-jähriger Jungstar aus Zürich. Eigentlich fand ich ihn uralt, um sieben Jahre älter als mein ältester Bruder. Das war die absolute Grenzmarke. Darüber gab es nur noch das Alter, die nächste und übernächste Generation.
Die zarte Liebesgeschichte zwischen der jungen Japanerin Yoko und einem älteren Mann aus Europa, auf Lesereise durch Japan, berührte mich zutiefst und bestärkte meine eigenen Sehnsüchte nach dem Ausbruch aus dem bürgerlichen Milieu, raus in andere Kulturen und vermeintlich feste Grenzen überschreiten.

Ich stand damals noch am Anfang der Erkenntnis, zwischen Werk und Autor unterscheiden zu können. Ich verliebte mich in einen Text oder in die Welt dahinter und übertrug die jugendliche Schwärmerei auf den Autor. An weibliche Identifikationsfiguren von damals kann ich mich nicht erinnern. Die traten erst später auf, als ich mit der Frauenbewegung in Berührung kam.
Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger, Elfriede Jelinek, Marlen Haushofer, das waren die ersten. Zwei Jahre nach dem „Sommer des Hasen“ begann ich mit Germanistik an der Universität Wien. Ich weiß es noch genau, dass ich zur Lesung im Audimax das zerlesene, rundherum angestrichene und bunt beklebte Bändchen mitnahm, in der Hoffnung, ein Autogramm zu ergattern. Eigentlich war ich keine klassische Unterschriftensammlerin, nur hatte ich schon verstanden, dass das ein Einstieg in ein Näherkommen sein konnte.

Muschg war damals Gymnasiallehrer und litt seit früher Jugend unter Hypochondrie. Der eingebildete Kranke. Darum ging es auch in seinem ersten Theaterstück „Rumpelstilz“, um Ferdinand Raimund, in Person des hypochondrischen Gymnasiallehrers Benjamin Pilz. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, dass Muschg Kontakt mit Menschen aus Angst vor Ansteckungen mied. Das wird sich durch alle viele seiner Werke in verschiedensten Personen und Konstellationen ziehen.

Am Anfang steht A. Wer von seinen Eltern mit dem Namen Adolf gebrandmarkt wurde, ist 1968 in Wien grundsätzlich verdächtig. Aber auch schon Adolf Muschgs Vater hieß Adolf und wurde im schweizerischen Braunstadt, nicht im innviertlerischen, 17 Jahre nach A.H. in Zürich geboren. Adolf war im deutschen Sprachraum ein gebräuchlicher Name. Westgotisch rex, König der Wölfe. Alles lange vor dem schrecklichsten Adolf der Weltgeschichte, dem A. H-Schicklgruber. Adolf Muschg, der Schriftsteller, wurde 1934 in Zollikon, im Kanton Zürich, geboren.

Ich war als einfache Zuhörerin nicht eingeladen zur Tafelrunde danach im Hinterzimmer des Café Landtmann. Lange, U-förmige Tischreihen mit weißen Tischtüchern und schwarz-befrackten Kellnern. Hinter den Stühlen der geladenen Gäste drängten sich natürlich viele Hörer des Audimax, Journalisten und Fotografen und wer weiß, wer noch alles. Ich glaube nicht, dass Bezeichnungen wie Fan oder Groupie bei uns damals schon gebräuchlich waren. Aber ich war sicher einer von ihnen. Vielleicht sogar in einer Stimmung wie die hysterischen Teenager bei einem Konzert der Beatles. Wer Platz an der Tafel gefunden hatte, bekam einen Teller mit Würsteln serviert und Körbchen mit Gebäck. Senf und Kren, Wasser, Rot- und Weißwein.

Langsam und beharrlich kämpfte ich mich durch das Gedränge nach vorne zum Tisch an der Kopfseite. Ich war klein und schmal, aber wendig. Da saß mein Held, mein Star, Adolf Muschg, im Gespräch mit wichtigen Kulturbeamten und Professoren, die ihn nach Wien eingeladen hatten. Dozenten und Assistenten waren sicher auch dabei. Die ersten Blicke auf ihn zwischen hohen Männerschultern. Ich fand ihn unaussprechlich schön und interessant, das gewellte Haar, die vollen Lippen, die großen Augen mit den üppigen Augenbrauen. Von der Unterhaltung bekam ich wegen des allgemeinen Lärms nichts mit: Gespräche und Blitzlichtgewitter, Teller- und Gläserklirren, Bestecke und Zurufe. Langsam schob ich mich vor in die erste Reihe hinter den Stühlen.

Ich war ihm fast ein wenig bös, dass er wie ein normaler Mensch ins Würstl biss und die Semmel in Senf und Kren tunkte. Ich hatte damals noch überhöhte Vorstellungen von Heldentum, Ehre, Würde und Erhabenheit. Wer gefiel, wurde auf ein Podest gestellt, bekam einen Heiligenschein und wurde in ein übermenschliches Geheimnis gehüllt. So werden Götter gemacht. Ich erinnere mich genau an den schrecklichen Moment, als einmal meinem Vater beim Bücken ein Wind entkam. Nur ein kurzes, dumpfes Pu, und vorbei war’s mit der Gottgleichheit. Jetzt im Landtmann schämte ich mich für das quietschende Geräusch, das das Kaiserwürstl machte, als es zwischen seinen Zähnen verschwand. Die resche Kaisersemmel krachte genauso wie bei allen Sterblichen. Diese Banalität hatte ihn in meinen Augen ein bisschen „entgöttert“.

Aber so schnell gab ich nicht auf. Als ein Mann an seiner Seite aufstand, quetschte ich mich blitzschnell auf den freiwerdenden Sessel und rückte sofort das Fischer-Bändchen heraus, samt Kuli und der Bitte um ein Autogramm. Er schaute von seinem Teller auf, verzog das Gesicht, rückte etwas ab und verschluckte seinen letzten Bissen. Während er Gabel und Messer an den Seiten des Tellers verstaute, langsam die Lippen mit der weißen Stoffserviette abtupfte, stieß ich atemlos meine Fragen hervor:
Hat Yoko wirklich so ausgesehen, war sie so übernatürlich schön, ist das alles so passiert wie im Buch, werden sie sich wiedersehen, gibt es eine Fortsetzung, kann man als Europäer überhaupt die japanische Kultur verstehen? Und was ist mit den Ainu, den Urjapanern im Norden, auf Hokkaido und den Kurilen? Sowjetische Besetzung und japanische Unterdrückung? Was sagen Sie als Schweizer zu dieser Ungerechtigkeit? Yoko war doch eine von den Ainu?

Damals kam ich mir unheimlich klug vor, aber ich werde noch heute rot darüber. Dumme Fragen zur Literatur und zur Politik, die er als Schriftsteller nicht beantworten musste oder konnte. Das Einzige, was ich wollte, war brillieren und ihm auffallen. Er nahm den Kuli und kritzelte seine Unterschrift auf die erste Seite mit den drei Fischen. Er beantwortete keine meiner Fragen, sondern setzte zu einer Erklärung an: Er interessiere sich nicht für Frauen, die sich für seine Bücher interessierten, er möchte nicht mit Frauen über Bücher sprechen, am liebsten seien ihm Japanerinnen, die kein Wort Deutsch könnten und ihm nie solche Fragen stellen würden. Sogar eine taubstumme Japanerin wäre ihm lieber als … Und überhaupt gebe er als neutraler Schweizer zu politischen Fragen keine Kommentare.

Dann warf er seine Serviette auf den Tisch, stieß den Thonet-Stuhl heftig zurück und stand auf. Ich sah ihn noch Richtung WC verschwinden, dann wurde er von der Menschenmenge verschluckt. Ich drängte nach draußen, über die Terrasse auf die Straße, links das Burgtheater, gegenüber das Rathaus, dazwischen der Ring. Nichts wirklich etwas zum Anhalten, da die Bäume schwankten und der Boden unter mir einbrach. Anfangs verstand ich nicht, was da gerade geschehen war, nur dass es etwas Schreckliches gewesen sein musste. Ich lief im Zickzackkurs und schlug Haken am Gutenberg-Denkmal vorbei über den Platz neben der Burg, als hetzte eine Jagdgesellschaft hinter mir her.
Trost suchte ich bei der steinernen Sisi im Volksgarten und warf mich heulend auf die weiße Marmorbank. Das war schon oft mein Rückzugsort vor der Uni gewesen. Wenn nur das Seerosenbecken tiefer gewesen wäre, ich hätte mich darin ertränkt. So eine Abfuhr hatte ich noch nie bekommen. Mir war schlecht, und das ganze Gesicht brannte von dem Schlag, auch die Augen, die Ohren und die Seele. Ich fühlte mich gedemütigt und besudelt.

Ich kühlte mein heißes Gesicht an ihren kalten Marmorfüßen und schluchzte hinein: Warum kann ich nicht japanisch und taubstumm sein. Dann machte ich mich auf den Weg nach Hause, im Bummelzug vom Franz-Joseph-Bahnhof nach Tulln an der Donau.

Ich weiß nicht, wie lange ich gebraucht habe, mich von dieser Schmach und Schande zu erholen, von meiner eigenen und der, die er mir angetan hatte. Vergessen habe ich sie aber nie und danach nie wieder versucht, einem angehimmelten Schriftsteller persönlich näherzukommen, bis ich es 28 Jahre später als Kulturbeamtin beruflich machen musste. Seine nachfolgenden Bücher las ich alle, mit mehr seelischem Abstand als beim Hasen, und verfolgte seinen Lebenslauf: immer mehr Lehraufträge und Reisen, politische Engagements, Erfolge und Misserfolge, Dozentur in Japan, erste Heirat mit einer Schweizerin, Professur, Akademie, zweite Ehe mit einer anderen Schweizerin, 1991, mit 57, eine dritte Ehe mit der Japanerin Atsuko Kanto, lebt ständig in Japan, insgesamt drei Söhne, mehrere Romane und Essays über Japan und die Kritik daran. Japanlastigkeit und Europaunverständnis lastet man ihm an.

Alles Blödsinn, ein Schriftsteller darf immer alles im Rahmen seiner Kunst – und darüber hinaus. Dann musste ich schon einmal sehr schmunzeln, dass er seit dem „Sommer des Hasen“ immerhin 26 Jahre gebraucht hat, eine Japanerin zu finden, die ihm offenbar keine dummen Fragen zu seinen Büchern stellte. Ich hoffe nur, Atsuko ist nicht taubstumm.

31.1.21, 1.2. bis 3.2.22

Veronika Seyr
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Wie der russische Geheimdienst den Schriftsteller W. Somerset Maugham anfütterte

Im Sommer und Herbst 1916 stand die Entente auf der Kippe. Die Lage der zaristischen Truppen an der Ostfront war dramatisch, und die britische Krone befürchtete, dass der Zar unter dem Druck der Mittelmächte die Seiten wechseln könnte. Dazu drängte der undurchsichtige Wanderprediger und Wunderheiler Rasputin die Zarin, und diese den Zaren, den Krieg zu beenden. Die Mittelmächte, Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich, hatten natürlich Kenntnis davon, dass die Forderungen des russischen Volkes nach Brot und Frieden (chleb i mir) auf den Straßen St. Petersburgs und Moskaus immer lauter wurden. Die bolschewistische Agitation fiel auf fruchtbaren Boden. Das deutsche Kaiserreich arbeitete daran, mit Russland einen Separatfrieden auszuhandeln. Das musste aus Sicht der Entente unter allen Umständen verhindert werden, die russischen Truppen mussten weiterkämpfen, auch wenn sie schlecht ausgerüstet waren, zu wenig Waffen hatten, Hunger litten und an Seuchen starben wie die Fliegen. Ein Separatfrieden mit Deutschland würde bedeuten, dass eine halbe Million deutsche Soldaten an der Ostfront freigesetzt und an die Westfront verlagert werden könnte. Das wäre der Todesstoß für die Entente gewesen. Deutschland wäre in der Lage gewesen, die anglo-französischen Fronten zu überrollen.

Da kam das Intelligence Department ID, der britische Auslandsgeheimdienst, der spätere MI 6, auf die Idee, der Botschaft Seiner königlichen Majestät in St. Petersburg eine Geheimwaffe beizustellen. Wer diese Blitzidee hatte und warum die Wahl gerade auf diesen Mann fiel, geht in den wirren Wogen der Geschichte unter. Auf jeden Fall wurde der als erfolgreicher Theaterschriftsteller bekannte W. Somerset Maugham vom ID Ende 1916 bis Oktober 1917 als Geheimagent nach St. Petersburg beordert. Er hatte zuvor schon kurz in Italien, der Schweiz und in den USA gedient, aber über Russland keinerlei besondere Kenntnisse. Er verfügte neben Englisch und Französisch auch über gutes Deutsch, hatte er doch ein Studienjahr mit Literatur und Philosophie in Heidelberg verbracht. Später wandte er sich von diesen Studien ab, studierte auf Druck seines Onkels und Vormunds erfolgreich das Fach der Medizin und schloss es am Londoner King’s College ab.

Mit einem Theaterstück über ein Londoner Armenkrankenhaus verdiente er sich seine ersten literarischen Sporen, handelte sich einen Theaterskandal, aber auch Geld und Berühmtheit ein. Bei Kriegsbeginn 1914 machte er Dienst beim Roten Kreuz, wo ihn der britische Geheimdienst rekrutierte. Er wurde nach Italien, in die Schweiz und in die USA geschickt.
Warum ein bekannter Schriftsteller, der in allen Klatschspalten zu Hause war, sich zum Geheimagenten eignete, wird wohl nie zu enträtseln sein. Nichts in aller Welt hatte William Somerset Maugham dazu prädestiniert, einen Beitrag zum alliierten Sieg zu leisten. Nach dem frühen Tod seiner Eltern steckte ihn sein Onkel und Vormund in ein rigides englisches Internat. Somerset Maugham war lange Zeit Bettnässer und Stotterer.

In London verstummten nie die Gerüchte, dass W. Somerset Maughams Spionagetätigkeit durch die homophilen Neigungen eines Vorgesetzten befördert worden sein soll. Es kann etwas dran sein, lebte er doch nach dem Krieg in seiner Villa an der Côte d’Azur offen mit seinem Sekretär zusammen. Dass er gleichzeitig von der russischen Geheimpolizei und vom amerikanischen Geheimdienst überwacht wurde, ist erst viel später herausgekommen. Auch deutsche Quellen reklamieren Maughams Aktivitäten für sich.

Die Aufgabe der britischen Heeresführung war es, nach der Abdankung des Zaren und der Februar-Revolution die provisorische Regierung von Großfürst Lwow und Alexander Kerenski an der Seite der Entente zu halten und einen Separatfrieden mit den Mittelmächten unter allen Umständen zu verhindern. An der Seite des britischen Botschafters bereiste Maugham alle Fronten, von Riga im Norden, Mogiljow, dem Hauptquartier der russischen Armee in Weißrussland bis nach Südosten an die rumänisch-ungarische Front.
Agent 007 verfasste viele Berichte, sehr viele Berichte an das ID, über die Lage der russischen Armee, vom Zustand der Waffenproduktion in den Munitionsfabriken, des Nachschubs und den Massenprotesten gegen den Krieg.

Allein aufgrund der Anzahl der Berichte vermutet man, dass der Spion Maugham mehr an seinem Schreibtisch gesessen sein muss als im Terrain unterwegs gewesen zu sein. Nach der Oktoberrevolution kehrte er nach London zurück, heiratete eine reiche Erbin, sie bekamen eine Tochter, und er begab sich jahrelang auf Reisen durch das British Empire: Indien, Südost-Asien, China, durch die Karibik und Südamerika. Er veröffentlichte zahlreiche Reiseerzählungen in Massenauflagen, meistens mit „Englishmen abroad“ als Helden. Faszinierende, funkelnde Welten mit viel Lokal- und Zeitkolorit, meist in britischen oder französischen Kolonien. Er wurde noch reicher und berühmter.

1928 ließ er sich scheiden. Da brachte er seinen halb-autobiografischen Roman „Ashenden. Or The British Agent“ (Der Abstecher nach Paris) heraus, in dem er aus dem Nähkästchen seiner Agententätigkeit in ganz Europa plaudert. Eine Arbeitsanleitung für Spione zwischen der Entente und den Mittelmächten. Aber nicht nur von den Fronten, sondern aus den Palästen und Bordells in St. Petersburg in den letzten Wochen des Zarenreiches und den wenigen Monaten bis zur Oktoberrevolution. Der Tanz auf dem Vulkan im sterbenden Imperium, Paläste und dunkle Gassen, Intrigen, Morde, Gelage, Geheimdiensttätigkeiten, höchste Adelskreise, Mätressen, Balletteusen und Huren in Zigeunerkaschemmen, Verfolgungsjagden in Pferdeschlitten, Verhaftungen, Feme und Aberglauben, revolutionäre Arbeiter und Verschwörungen. Eine wilde Mischung von Ereignissen, Figuren und Erfindungen aus dem Fegefeuer des Weltuntergangs.

Möglicherweise wird niemand erfahren, was selbst erlebt und was ausgedacht ist. Manche Informationen werden ihm von der russischen Geheimpolizei angefüttert worden sein, manches wird er gekauft haben. Er verbrachte viele Nächte in den großen Hotels und deren Hinterzimmern, im Astoria, im L’Europe und im Kempinski, in Künstler-Cafés und Homosexuellen-Treffs, im Streunenden Hund und im Grünen Kakadu. In beiden Kulturen gleich zu Hause, galt er als Inbegriff des englischen Gentleman und des eleganten Parisers. Er kam bei beiden Geschlechtern gleich gut an und war von seinen Auftraggebern mit reichlichen Mitteln ausgestattet. Erst lange nach dem Krieg kam heraus, dass er in seiner Petersburger Zeit auch für den amerikanischen Geheimdienst tätig war. Der russischen Polizei war das bekannt, ebenso dem deutschen Geheimdienst, sie ließen ihn aber gewähren. Mr W. Somerset Maugham war einfach zu unwiderstehlich und zu prominent.

Das meiste ist wahrscheinlich erfunden. Aber das Londoner Publikum war verrückt nach solchen Blut- und Mantel-Geschichten, Unterhaltungsliteratur auf höchstem Niveau: Mit schmallippigem Humor, kritischer Distanz und subversiver Skepsis gegenüber der Wahrheit, gleichzeitig realistisch und lebensnah, baut er jede seiner Figuren zu einem Juwel an Menschenzeichnung aus. Seine Erzählungen versprühen die Atmosphäre der Kolonien kurz vor und nach dem Ersten Weltkrieg, er zeichnet eine Fülle an funkelnder Personage, von Militärs bis zu Sträflingen, von Schiffspassagieren bis zu Bordelldamen, von britischen Touristen auf Capri bis zu windigen Abenteurern, von Bankern bis zu Bankräubern. Es ist billigster Trash und Kitsch, aber meisterhaft erzählt. Er lässt alles offen und mutet das Urteil seinen Lesern zu.

Warum ich nach Jahrzehnten wieder auf W. Somerset Maugham gestoßen bin: Einmal lag im Vorhaus auf dem Fensterbrett, wo die Bewohner das hinlegen, was sie nicht mehr brauchen, aber nicht gleich wegwerfen wollen, was für andere vielleicht einen Wert haben könnte, das Diogenes-Bändchen „Winterkreuzfahrt“ von W. Somerset Maugham, gesammelte Erzählungen, Band IX, 1972. Ich las es durch, kaufte alles von ihm und war bis Band XVII fasziniert. Dann habe ich ihn natürlich gegoogelt und wurde immer weiter hineingezogen in diese schillernde, untergegangene Welt des British Empire.

Bei mir ist der Eindruck entstanden, dass W. Somerset Maugham kein angenehmer Mensch war. Böse Äußerungen über seine geschiedene Frau, über die Dummheit seiner Leser, der erbitterte Streit um die Tochter und seine große Flexibilität bei der Spionagetätigkeit deuten mehr als deutlich darauf hin. Aber moralische Urteile dürfen nie den Blick auf den künstlerischen Wert eines Werks verstellen.

Ich habe nach und nach alles gelesen und weiter recherchiert, auch in der Biografie. In meiner eigenen Bibliothek habe ich nach Maugham gesucht und seinen letzten Roman „Catalina“ gefunden, ein zerlesenes Bändchen, wahrscheinlich auch aus einer Wühlkiste. Ein Schauerroman aus der spanischen Inquisition.

Mit Ashenden war ein neuer Heldentypus geschaffen: der Geheimagent Seiner Majestät, (Bond. James Bond), lebenslustig, liebeswütig, gesetzlos, moralfrei. Keine Geringeren als Graham Greene, Eric Ambler und Ian Fleming bekennen, dass sie in ihrer Jugend von Ashenden begeistert waren und zum Schreiben in seiner Art angeregt wurden. Grelle Antagonisten – gut gegen böse – dazwischen ist alles erlaubt und möglich im Kalten Krieg. John le Carré war so sehr initiiert, dass er dem MI 6 beitrat. Auch er hatte vorher in Deutschland Philosophie und Literatur studiert. Maugham wiederum soll von Joseph Conrads „Das Herz der Finsternis“ beeinflusst worden sein, von dem anglisierten Polen Jozef Teodor Nalecz Konrad Korzeniowski.

James Bond hat seine Wurzeln in St. Petersburg und nicht in der Karibik.

Nach diesem sensationellen Erfolg von Mr. Ashenden kaufte W. Somerset Maugham die frühere Villa des belgischen Königs Leopold II. auf Cap Ferrat bei Nizza, wo er sich zusammen mit seinem Geliebten und seiner exzellenten Kunstsammlung einrichtete. Dieser selbst könnte mit seiner Karriere als Fälscher, Schwindler und Dieb eine Erfindung des Autors gewesen sein, mit sowohl proletarischer als auch kolonialer Vergangenheit. Mit seiner geschiedenen Frau stritt er 30 Jahre lang um die Erziehung ihrer gemeinsamen Tochter. Sein letzter Partner prozessierte noch nach dem Tod des Schriftstellers gegen die Tochter um das Erbe.

Meine Lehre ist: Literatur ist stärker als Spionage. Ein Autor hat aus seinem Leben ein Gesamtkunstwerk geschaffen.

23.12.21, beendet 31.1.22

Veronika Seyr
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Im Wachs der Seele … Ludwig Thoma zum 100. Todestag am 26. August 2021

Obwohl buchstäblich landläufig, erscheint es falsch, Ludwig Thoma auf die Art seiner Klassiker wie «Lausbubengeschichten» (1905/07), den «Münchner im Himmel» (1911) oder «Jozef Filsers Briefwexel» (1912) zu beschränken. Zu solcher Eingrenzung trug maßgeblich die Rezeption der deutschen Wirtschaftswunderzeit mit ihrer (Sehn-)Sucht nach einer heilen Vergangenheit bei, die neben dem Verlagswesen – auch – in einem halben Dutzend Filmen wirksame Verbreitung fand. Aber natürlich gab Thoma solcher Interpretation reichlich Nahrung.

Thomas Werk erscheint – mir – wesentlich geprägt von einem Beobachterstatus. Dieser begründet sich, bei ihm stark ausgeprägt, in einer Mischung aus gewünschter Einbindung und eigensinnigem Nicht-Dazugehören. Zur Renitenz trugen wesentlich chaotische Lebensumstände bei, die erst in seinen mittleren Jahren dank literarischem Erfolg und dementsprechender finanzieller Absicherung in ein – äußerlich – ruhigeres Fahrwasser gelangten. Paradigmatisch steht dafür das unter eigener planerischer Beteiligung 1907 erbaute Haus »Auf der Tuften» in Rottach-Egern am Tegernsee: ein zutiefst traditionelles, halb bäuerliches (mit Bauernstube und «Kuchl»), halb bürgerliches Anwesen (mit Biedermeierzimmer) als Treffpunkt arrivierter Künstler (wie Slezak, Ganghofer, Richard Strauss).

Noch einmal zurück: Früh verlor er den Vater, einen Förster; seine Mutter, die ihren Lebensunterhalt in wechselnden Gastwirtschaften bestritt, sah für ihn eine klerikale Laufbahn vor, wohl kaum vom Jungen gewollt, was zu stets kurzfristigen Schulaufenthalten in halb Süddeutschland führte. Aus dem zunächst anhaltenden Wanderleben verblieb eine Unruhe, die in der jahrelangen unbefriedigenden Suche nach Zugehörigkeit, ob bei studentischen Corps, ob bei zahlreichen Frauenbekanntschaften, und nach beruflicher Basis, die immerhin in einigen Jahren Rechtsanwaltskanzlei in Dachau (1894–97) mündeten.
Der Wechsel nach München verlegte die Unrast in das Schriftstellerische. Er beginnt zum einen die im Umgang mit Landbevölkerung und Boheme erworbenen Erfahrungen umzusetzen in seinen Komödien und zahlreichen Kurzgeschichten. Zum anderen nimmt er die für ihn bornierte Gesellschaft aufs Korn; er wird zum entscheidenden Motor des Satiremagazins «Simplicissimus».

Einen offensichtlichen Wandel gebiert der Erste Weltkrieg. Thoma ist beileibe nicht der einzige freiwillige Kriegsbegeisterte unter Künstlern und Literaten, er überlebt, behält allerdings die deutschnationale Gesinnung bei, die ihn gepaart mit dem Erlebnis der kurzfristigen Münchner Räterepublik zum Antidemokraten macht, der im Miesbacher Provinzblatt einem rüden Antisemitismus Platz gibt. Wiederum zeigt sich das merkwürdig Ungebundene in, wie mir scheinen will, noch zunehmender Ambivalenz: Denn gleichzeitig betreibt er nach dem Ende seiner Ehe mit der Tänzerin «Marion» (1911) nunmehr ausgerechnet eine emotional aufwallende Beziehung zur aus jüdischem großem Haus stammenden Maidi Liebermann und behält in seinen Texten jetzt – vor allem – die halb beschönigende, halb reservierte Sicht auf die alte Heimat bei. Gibt er sich äußerlich als stämmiger bodenständiger Bajuware mit Schnauzbart, ländlicher Kleidung, Pfeife mit langem Rohr und Jagdleidenschaft, rutscht er psychisch in Depressionen und beginnt, an Magenkrebs zu leiden, an dem er 54-jährig stirbt.

Eine Art Zusammenfassung seiner literarischen Ambitionen – Im Wachs der Seele hat sich auch alles Äußere so abgedrückt, daß ich dadurch immer noch die treuesten Bilder von Menschen und Dingen geben konnte – und seines inneren Zustands bietet nach meinem Dafürhalten der Roman «Altaich» (1918). Der Untertitel «Eine heitere Sommergeschichte» wirkt fast provokant, denn es geht im Dachauer Umfeld um das Aufmotzen eines neuerdings durch Lokalbahn angebundenen stattlichen Dorfs zum Luftkurort. Während einer Saison treffen hier Auswärtige ein, Münchner(!) Beamte, Schweizer Poet, habsburgischer Offizier, Berliner Kaufmann mit Gattin und Tochter, eine halbseidene Dorfstämmige, ein überkandidelter Kunstgeschichtler, denen einige Dorfgranden und Hausdiener in derselben, nicht zuletzt sprachlichen Überzeichnung gegenübergestellt werden mit dem einzigen Antipol einer ehrbaren Müllerfamilie. Das Karikaturenhafte einer altbaierischen Verwurzelung gegenüber städtischem Milieu erinnert an die Simplicissimus-Zeiten, in dem solche Wesensarten bereits mit spitzer Feder aufgespießt wurden, nunmehr allerdings durch das gutmütig dramatische, rückwärtsgewandt-utopische Geschehen und durch eingewobene persönliche Erinnerungen wie jene an seinen Bruder gemildert.

Letztlich zieht Thoma selbst (s)ein Fazit: Leute, die meine Bücher beurteilen, sehen über ein paar lustigen Dingen nicht die Hauptsache, in der allein die Schwierigkeit und darum auch das Können liegt. Das ist, daß alle Menschen leben müssen, nach ihrem Typus denken und handeln.[1] Da winkt nicht nur der von ihm geschätzte Fontane, dessen «Jenny Treibel» er verehrte, von fern, diese Haltung rückt ebenfalls vieles heimattümelnd Ehemalige, vieles In-sich-Kreisende, auch mehrstimmige Ungeordnete, vieles etwas aufstoßende Durchsichtige in ein von uns Heutigen leidlich akzeptabel nachvollziehbares literarisches Licht. Dass er in einem Testament seine Nächsten reich bedachte, mag zudem über seinen schwierigen, nicht gerade geradlinigen Charakter hinweghelfen.

[1] Die beiden Zitate stammen aus Briefen an Maidi von Liebermann vom 8. 9. und 4. 10. 1919; in L. Th., Ausgewählte Briefe, München (Langen) 1927

Martin Stankowski
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Der Text wurde veröffentlicht in: «Der Literarische Zaunkönig» Nr. 2/2021

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Friedrich Reinhold Dürrenmatt zum 100. Geburtstag am 5. Januar 2021

Alles ist ausgespielt.

Das Eingangszitat stammt aus «Die Physiker» und müsste für diesen Essay eigentlich mit einem großen Fragezeichen versehen werden[1]. In konträrer Attitude überlegte das St. Galler Tagblatt, «… warum er immer noch beunruhigt und inspiriert», zu Beginn der Gedenkwochen auf seiner November-App. Die publizistischen Würdigungen überschlagen sich, nicht nur zum 100. Geburtstag, sondern überdies zum 30. Todestag am vergangenen 14. Dezember. Macht es Sinn, diesem ernsthaften Potpourri noch etwas hinzuzufügen? Oder anders: Es kann wohl nur um eine persönliche Sicht gehen; deshalb zuerst meine Erinnerungen:

Als 13-/14-Jähriger spielte ich in einer Schulaufführung in «Romulus der Große» den oströmischen Kaiser Zeno, einen vor lauter Unsicherheit blasiert Auftretenden; ich beneidete die titelgebende Hauptperson (den Deutschlehrer), die sich bodenständig wie ungeordnet mit Landwirtschaftlichem abgeben durfte. Die hierher gehörende Anekdote ist einfach zu aussagekräftig: Romulus, der letzte weströmische Kaiser, setzt sich zum Morgenessen, was den Vorwurf eines schlechten Deutschs hervorrief, worauf Dürrenmatt während der Proben das beanstandete Wort beließ, jedoch hinzufügt was richtiges Latein ist, bestimme ich.
Ein anderes Mal hielt man ihm bei einer Rede in Deutschland entgegen, er solle doch Hochdeutsch sprechen, worauf er erwiderte: Ich kann nicht höher! (Auf Dürrenmatts Sprache ist noch zurückzukommen!) Und der nicht nur diese beiden Male, sondern zeit seines Lebens höchst pointiert-flexibel reagierende Autor hätte zweifellos seinen zustimmenden Spaß gehabt bei einer etwas später von mir erlebten Aufführung des Stücks auf Italienisch mit dem Gag, dass die einbrechenden Germanen ihr heimisches Idiom sprachen, das dann von einem der Ihren für Romulus simultan übersetzt wurde.

Zweitens: Nicht von ungefähr setzt sich meine Erinnerung fest am letzten öffentlichen Auftritt Dürrenmatts in der Schweiz am 22. November 1990: In einer Rede[2] verglich er sein Land mit einem sicheren Gefängnis, wohinein sich die Schweizer geflüchtet haben, sprich dasjenige ihrer Neutralität. Als frei gelten [nun einmal] für die Aussenwelt nur die Wärter, denn wären diese nicht frei, wären sie ja Gefangene. Um diesen Widerspruch zu lösen, führten die Gefangenen die allgemeine Wärterpflicht ein: Jeder Gefangene beweist, indem er sein eigener Wärter ist, seine Freiheit. Aber: Wer [dergestalt] dialektisch lebt, kommt in psychologische Schwierigkeiten.
Das Remedium stellt die Anlage von Akten über diejenigen Insassen, welche sich doch nicht frei fühlen; Dürrenmatt spielt dabei ganz konkret auf den gerade aufgeflogenen «Fichenskandal» an[3]. Für ihn höchst bezeichnend seine sarkastisch-parodistische Folgerung: Aber da das Aktengebirge so gewaltig ist, kam die Gefängnisverwaltung zum Entschluss, dass es sich selber angelegt hat. Wo alle verantwortlich sind, ist niemand verantwortlich. […] So ist denn das Gefängnis in Verruf geraten. Es zweifelt an sich selber.

Der Inhalt wirkt auf seine Sichtweise: eine fast erbarmungslose Konsequenz und ein verbindlicher fast belletristischer Ton. (Anders als sein, immer wieder mit ihm im gleichen Atemzug genannter, landsmännischer Zeitgenosse Max Frisch, der es eher mit schlüssiger Härte und einem sachlichen Ton hielt.)
Dabei war das nur, einen guten Monat vor seinem Tod, sozusagen der (vor)letzte Trumpf und in gewisser Weise auch ein Rückblick. Bereits der doppelt im Zentrum stehende Satz Durch den Menschen wird alles paradox, verwandelt sich der Sinn in Widersinn, Gerechtigkeit in Ungerechtigkeit, Freiheit in Unfreiheit, weil der Mensch selber ein Paradoxon ist, eine irrationale Rationalität beschreibt das Credo und, nehmen wir die Wendung von Handeln in Schuld hinzu, die von ihm immer wieder aufs Neue entdeckten Thematiken seines Werks.

Bei F.D. geht es zutiefst um die nicht aus dem Zusammenhang der gesamten Lebenssituation lösbare Situation des Einzelmenschen in Relation zur höchst komplex verstandenen individuellen Freiheit. Ein letztes Mal aus der Rede: Was sind wir Schweizer für Menschen? Vom Schicksal verschont zu werden ist weder Schande noch Ruhm, aber es ist ein Menetekel. Aus der ihn immer umtreibenden Frage des Wo stehen wir? ergibt sich eine Weltsicht, die, meine ich, durch die angepasst bürgerlichen Existenzen hindurch von Melancholie im wörtlichen Sinn der Schwarzgalligkeit – nachgerade dürrenmattisch ist natürlich der Sieg des Passiven[4] – mit depressiven Anklängen im Sinn von Verstimmtheit insbesondere über das Scheitern getragen wird. Daß ich immer wieder die schlimmstmögliche Wendung – für ihn sozusagen der einzig mögliche (Werk-)Schluss – darstelle, hat nichts mit Pessimismus zu tun, auch nichts mit einer fixen Idee. Die schlimmstmögliche Wendung ist das dramaturgisch Darstellbare[5] – und, so kann hinzugefügt werden, wohl neben der steten Reflexion über den Zufall, der die Rolle der Moral[6] und – nicht zuletzt durch seine eigene gesundheitliche Situation mitgetragen[7] – das Phänomenon des Leidens einschließt, eine seiner Konsequenzen aus der zwiespältig erlebten Herkunft aus einem Pfarrerhaus im Berner Umfeld.

Ein dritter persönlicher Einstieg ist für mich als gelernten Kunsthistoriker die (an sich nicht seltene) Doppelbegabung Dürrenmatts als Mann der Sprache und als Mann der Malerei resp. Zeichnung[8]. Insbesondere aufschlussreich ist dabei die eigene grundlegende Darstellung zum Thema in einer kurzen Publikation anlässlich einer Ausstellung mit begleitendem Band 1978[9]. Man hat seine Arbeiten mit ihren vielen Anspielungen seinerzeit als surrealistisch bezeichnet, dagegen wandte sich Dürrenmatt mit Verve: So sind denn auch die Assoziationen, aus denen sich meine Bilder zusammenbauen, Resultate meines persönlichen Denkabenteuers, nicht die einer allgemeinen Denkmethode. Ich male nicht surrealistische Bilder (…), ich male für mich verständliche Bilder: Ich male für mich. Darum bin ich kein Maler. Ich stelle mich der Zeit, und unserer Zeit kommt man nicht mit dem Wort allein bei.

Zweifellos lassen sich (den Umfang dieses Essays sprengend) aus den häufigen Bildmotiven wie Kreuzigung oder Turmbau oder Schwangerschaft oder Ratten Rückschlüsse auf dort nicht in dieser Form expressis verbis geäußerte Verbindungen im schriftstellerischen Werk herstellen, so wie ihrerseits die häufig karikaturenhaften Zeichnungen Hinweise auf einen Einstieg in die inhaltliche Materie geben mögen. So stellt denn mein Malen und Zeichnen eine Ergänzung meiner Schriftstellerei dar - für alles, das ich nur bildnerisch ausdrücken kann. So gibt es denn auch nur wenig rein ‚Illustratives‘ von mir. Auch beim Schreiben gehe ich nicht von einem Problem aus, sondern von Bildern, denn das Ursprüngliche ist stets das Bild, die Situation - die Welt.

Als mindestens ebenso wesentlich ergibt sich für mich eine andere Verbindung durch den Umstand, dass die Arbeiten mit Pinsel und Stift mit Unterbrechungen über eine lange Zeitspanne entstanden, vielfach nicht effektiv beendet wurden. In der Kunstwissenschaft finden sich reihenweise Überlegungen zum «non finito» mit den jeweiligen Untersuchungen über die Gründe (Absicht aus dem Werk heraus; aus der persönlichen Lage; den Zeitumständen verpflichtet? etc.).
Man verband Dürrenmatt gerne mit einem barocken Stil, nahm dabei allerdings primär seinen Lebenswandel aufs Korn[10], vergaß, wie ich meine, jedoch, in unserem Zusammenhang unbedingt passender, seine publizistische Relevanz für eine Originalität, die dem Original keinen letztgültigen Wert zuerkannte.

Stets blieb er, der Theaterpraktiker, Änderungen in seinen Dramen gegenüber offen, selbst partielle Neufassungen wie des «Romulus» sind nicht selten, gleichermaßen veränderte er viele Prosawerke namentlich in den abschließenden Textpassagen wie etwa im letzten Kapitel in «Grieche sucht Griechin», goss sie in beträchtlicher Anzahl in Hörspielform, in Filmtextbücher und zwei Mal sogar in Opernlibretti[11] um.
Als ein bezeichnendes pars pro toto darf die – noch? – Schullektüre «Die Panne» gelten: Die Erzählung entstand 1955 und fast parallel als Hörspiel, das, 1957 zum Fernsehspiel umfunktioniert, 1979 in eine Komödie umgewandelt wurde. Hinter dieser Großzügigkeit gegenüber Mehrfachfassungen standen praktische Überlegungen: Es wäre die Form des scheinbar fragmentarischen vielleicht doch die dichterischste[12] einerseits, andererseits, wohl entscheidender, die nicht nachlassende Chance, die kreativen Potentiale der Einfälle und Motive auszuloten.

Ich male aus dem gleichen Grund, wie ich schreibe: weil ich denke. Dieses Denken ist – der vierte Punkt, der mich jetzt als Schreibenden fasziniert – in einer kaum zu übertreffenden Weise unmittelbar mit der sprachlichen Formulierung verbunden. Trotz des Rückzugs in eine mit 31 Jahren selbst gebaute Idylle oberhalb des Neuenburger Sees erscheint Dürrenmatt als mündlicher Kommunikator ersten Ranges. Seine Korrespondenz erfolgt ab den 1950er Jahren kaum mehr schriftlich (umfangreich hingegen die Typographien seiner Sekretärin), die Länge seiner Telefonate ist legendär. Die Basis gilt auch in umgekehrter Hinsicht, Max Frisch urteilt über Dürrenmatt als Rekonvaleszenten nach Herzinfarkt im Unterengadin, er sei ein Herkules im Zuhören; es kommt auf den Partner an. Die Basis des gesprochenen Worts wirkt sich auf alle Texte aus, noch einmal Frisch: Dürrenmatt ist ein Erzähler von Geblüt, er braucht Zuhörer, die gewillt oder gezwungen sind, sich unterrichten zu lassen.[13]

Zweifellos kommt F.D.s grandioser Erfolg im Theater nach dem Durchbruch 1949 mit Romulus, namentlich 1956 mit «Der Besuch der alten Dame», eines in der Folge weltweit meistaufgeführten Stücke, und dem ebenso internationalen Ruhm erringenden «Die Physiker» 1962 somit keineswegs von ungefähr; seit 1954 übt er auch die Gegenseite des Verfassers als Regisseur anderer (älterer) und eigener Stücke, sogar, wenngleich eher unglücklich, als Mitarbeiter der Basler und Zürcher Bühnen[14], schrieb eine Zeitlang Theaterkritiken[15], verfasste theoretische Arbeiten wie die Theaterprobleme aus 1954.

Selbst seine vielen Prosawerke leben trotz aller für ihn (selbst in den «unendlichen» Szenenangaben in den Dramen) unerlässlicher prägnanter Charakterisierung der räumlichen Umstände von den durchdacht geführten Dialogen. Und er hielt darüber hinaus als glänzender Rhetoriker bei vielen Gelegenheiten, nicht zuletzt bei zahlreichen Preisverleihungen[16] und Ehrendoktoraten, der insbesondere einheimischen Kulturwelt ihren zeitgenössischen Spiegel vor, Reden, deren Texte er, der Gattungs-Ungebundene, für die Drucklegung in eine Essay-Form überarbeitete.
Sprache ist also gewissermaßen die Ursubstanz seines Seins. Je länger, desto persönlicher geriert sich die Ausdrucksweise über den freien Umgang mit Grammatik und Interpunktion bis, nach anfänglicher Zurückhaltung immer dezidierter im Antagonismus zu deutschen Lektoren[17], zum gezielten Einbau von Helvetismen, die später sogar im Duden Aufnahme fanden. Ich schreibe ein Deutsch, das auf dem Boden des Berndeutschen gewachsen ist[18], aber darin liegt mehr begründet als das gern eingesetzte Lokalkolorit: Gerade bei F.D. lebt das Dialektische ganz ursprünglich vom Beschreiben des Praktischen und von seiner Bildhaftigkeit – womit sich der Kreis zum Maler und Zeichner schließt.

Der erwähnte Höhenflug führte zwar nicht ikarusgleich zum Absturz, doch fiel Dürrenmatt nach Misserfolgen mehrfach in schwere Krisen, ein besonderer Verdruss erwuchs ihm  Anfang der 1970er Jahre. Kathartisch wecken sie neues Bewusstsein: [… meine Theaterarbeiten stehen im luftleeren Raum des Nichts-Einbringens, ich muss mich wahrscheinlich auf einige Zeit auf die Prosa stürzen und einige Romane schreiben um leben zu können.[19] Schriftstellerisch geht diese Rechnung so ganz nicht auf, seine Produktion in den verschiedensten literarischen Sparten läuft mit den ihm zur Natur gewordenen Spannungsbögen weiter auf sehr hohem Niveau.

Für Dürrenmatt – für den Distanz grundsätzlich eine Voraussetzung von Wahrnehmung war[20] bis hin zur Liebe zur Astronomie mit eigenem Teleskop – bleibt der, meines Erachtens, in der  zweiten Lebenshälfte ebenso kultivierte (denn Sie wissen ja, dass auch die Besten nur von wenigen verstanden werden[21]) wie ausgeklügelte Rückzug eine Form der Selbstbestimmung bis zum Punkt der Zensur für die private, stark familiär geprägte Sphäre[22]; offensichtlich gedachte er stets des Bilds, das er der Öffentlichkeit präsentieren wollte.

Eine besondere Reprise ergibt sich im letzten abgeschlossenen Werk, dem kurzen Roman «Durcheinandertal» 1989. Hier zieht der Autor in gedrängt aufeinander folgenden Rundumschlägen noch einmal alle Register, um im fiktiven Kosmos das Gewohnte auf den Kopf zu stellen, Negatives und Positives ins Gegenteilige umzukehren, um dann in apokalyptischem Furor die Welt in Flammen untergehen zu lassen (mit Ausnahme, wohl bezeichnenderweise, einer Schwangeren).

Wer nicht zum nicht zuletzt durch mannigfaches Rekurrieren auf Bibelworte provokanten Chaos greifen will[23], erhielte ein besonderes, in vieler Hinsicht autobiografisch geprägtes Weiterverfolgen im das halbe Leben umfassenden Unternehmen der «Stoffe». Die Vorgabe Die Geschichte meiner Schriftstellerei ist die Geschichte meiner Stoffe, Stoffe jedoch sind verwandelte Eindrücke 1964[24] wird unter Beizug von viel Unveröffentlichtem von 1969 bis zum Lebensende intensiviert. Hier erscheinen in den Titeln der Bände die Überschriften das Labyrinth, der Turmbau (nicht nur in der gewohnten Metapher, sondern zugleich als der Immer-wieder-Bau verstanden) sowie der Gedankenschlosser.

Das letztlich Unvollendete passt wie ein Fazit zu diesem Autor, für den die Zufälle so umfassend sind, dass es keine Zufälle geben kann …[25]

 

[1] Gut hätte wohl auch, aus demselben Stück, das Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden gepasst, aber das Zitat wurde zwischenzeitlich geradezu inflationär gebraucht.

[2] Zur Verleihung des Gottlieb-Duttweiler-Preises an Václav Havel; die Rede lässt sich verschiedentlich auch im Internet nachlesen.

[3] Vor allem Bundes- und kantonale Polizeibehörden, aber auch privat organisierte Schnüffler hatten jahrzehntelang umfangreiche Registerkarten («Fichen») über Ausländer, für 30 Jahre indes auch allgemein der der «Subversion» Verdächtige, für die Staatsschützer namentlich «linke» Aktivisten, Politiker und Organisationen, angelegt; die Sache flog 1989 auf, führte zu massiven Protestkundgebungen und in der Folge zu einer wissenschaftlich fundierten Aufarbeitung.

[4] M.F. an F.D. 27.3.1949 über «Romulus» (Kurzform des Stücks «Romulus derGrosse»); Max Frisch Friedrich Dürrenmatt Briefwechsel, hrsg. von Peter Rüedi, Zürich Diogenes 1998, S. 99

[5] Zitat aus: F.D. Werkausgabe Bd. 32, Literatur und Kunst, Zürich Diogenes 1998: «Persönliche Anmerkung zu meinen Bildern und Zeichnungen» (1978)

[6] expressis verbis in der Rede «Das Theater als moralische Anstalt» 1986

[7] 1943 Gelbsucht, 1950 Diabetes-Diagnose, 1969 Herzinfarkt, 1975 Spitalsaufenthalt

[8] Man hat etwa Vergleichbares erst jüngst im Zusammenhang mit den runden Jahrestagen zu Geburtstag und Literaturnobelpreisverleihung für Carl Spitteler herausgestellt resp. entdeckt; siehe dazu den Essay im «Der literarische Zaunkönig» 3/2020. Andere Mehrfachbegabung gelten etwa Sprache und Musik. Zu diesem Aspekt bei Dürrenmatt siehe auch die Website des Centre Dürrenmatt in Neuenburg. Friedrich Dürrenmatt war als angehender Student hin- und hergerissen zwischen Malerei und Literatur. Schliesslich entschied er sich für den Beruf des Schriftstellers. Während seines ganzen Lebens hat Dürrenmatt immer auch gezeichnet und gemalt. Abgesehen von einigen Karikaturen und Buchillustrationen blieb sein Bildwerk jedoch lange unbekannt. Die Sammlung des umfasst rund 1000 Einzelbilder und verschiedene Hefte.

[9] Siehe oben Anm. 5; der Band Bilder und Zeichnungen zur Werkschau in der Galerie Daniel Keel; vorausgegangen 1976 eine Bilderpräsentation im Restaurant du Rocher in Neuchâtel; folgend eine Ausstellung Das zeichnerische Werk/L’Œeuvre graphique in Neuchâtel im Musée d’Art et d’Histoire 1985. Heute dauerhafte Ausstellung im Centre Dürrenmatt in einem Neubau Mario Bottas, siehe auch oben Anm. 8.

[10] Vom auserlesenen Weinkeller über üppige Essgewohnheiten bis zu teuren Karossen.

[11] 1971 «Der Besuch der alten Dame», Musik von Gottfried von Einem, Uraufführung an der Wiener Staatsoper; 1977 «Ein Engel kommt nach Babylon» für das Zürcher Opernhaus.

[12] So in einem Briefentwurf zu M.F.s 50. Geburtstag am 15,5.1961, Rüedi wie Anm. 4, S. 157

[13] Beide Zitate Rüedi wie Anm. 4, S. 77 resp. 133.

[14] Basel 1986-69, Zürich 1970-73

[15] für die Berner Zeitung «Die Nation» 1947 und die Zürcher «Weltwoche» 1951-53

[16] allein in Österreich: 1968 Grillparzer-Preis der Österr. Akademie der Wissenschaften; 1984 Österr. Staatspreis für Europäische Literatur

[17] Als »Justiz» 1985 im Stern vorabgedruckt wurde mit Bereinigung des Mundartlichen, ließ es Dürrenmatt sogar auf einen Prozess ankommen.

[18] in seinem Essay «Zu einem Sprachproblem»

[19] Letzter erhaltener Brief FD an MF 19.2.1951, Rüedi wie Anm. 4, S. 128, damit zwar vor dem internationalen Durchbruch, doch letztlich eine Art grundsätzlicher Einstellung markierende, die auch späterhin Relevanz behält.

[20] Rüedi wie Anm. 4, S. 87

[21] F.D. an M.F. 24.1.1947, Rüedi wie Anm. 4, S. 97

[22] F.D. war zweimal verheiratet, 1947 mit der Schauspielerin Lotti Geißler (gest. 1983), mit der er drei Kinder hatte; 1984 mit der Journalistin und Theaterfrau Charlotte Kerr.

[23] Eine Zusammenfassung zum Nachlesen auf Wikipedia / Dürrenmatt / 3.2. Prosa / Durcheinandertal.

[24] Rüedi wie Anm. 4, S. 217

[25] Im Diogenes Verlag erschien eine «textgenetische Edition» «aus dem Nachlass» in 5 Bänden resp. Auf 2208 Seiten am 26. Mai 2021.

 

Martin Stankowski
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Der Text wurde veröffentlicht in: «Der Literarische Zaunkönig» Nr. 1/2021.

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Johann Heinrich Pestalozzi zum 275sten Geburtstag am 12. Januar 2021

Es ist ein großes Ding in der Welt, die Zeichen der Zeit richtig zu erkennen[1].

Alles ist bei Pestalozzi weitläufig, seine (wie bei vielen Erziehern) zahlreichen Lebensstationen, seine umfangreichen pädagogischen, philosophischen, politischen, sozialreformerischen Schriften, seine Ansprachen, Reden und, nicht zuletzt durch den europäischen Zulauf, seine Briefe: Grund genug, auch ihn selbst als Motor zu Wort kommen zu lassen.

Die Grundlagen

Johann Heinrich entstammt einer wichtigen Stadtzürcher Familie, jedoch aus wenig begütertem Zweig; seine Mutter musste als Witwe bei Verwandten in der Landschaft unterkommen. Was dem Bub nach eigenem Zeugnis eine Art Außenseiterdasein aufnötigte, das zu hoher Nervosität führte. Allerdings standen dem jungen Mann als Bürger alle den «Besseren» vorbehaltenen (unentgeltlichen) Schulen zur Verfügung; dem Abschluss schloss sich ein Jusstudium an. Parallel geriet er in den Kreis, der sich «Patrioten» nannte und gegenüber dem strengen Regiment des Stadtpatriarchats im Schutz der internationalen Berühmtheit des Lehrer-Leiters Johann Jakob Bodmer äußerst kritisch eingestellt war.

Bodmer betonte den Rang der freie(n) Einbildungskraft, die das Wirkliche und das Mögliche zum Schauplatz habe[2]. Naheliegend ergab sich eine Schwärmerei für Jean-Jacques Rousseau und dessen Ideal des natürlichen selbstgestalteten Lebens[3] und Aufforderung zum einfachen ruralen Dasein[4]. Pestalozzis Begeisterung führte nicht nur zu ersten Schriften («Agis», «Wünsche»), die sich mit den negativen Seiten patriarchalischen Regiments auseinandersetzten, vor allem ließ sie ihn das Studium abbrechen, um den Weg in die wahre ländliche Existenz einzuschlagen. Dazu sollte ihm ein Praktikum bei dem Reformer Johann Rudolf Tschifferli verhelfen, der als ein Vertreter der Helvetischen Ökonomischen Gesellschaft in der Reform der Landwirtschaft ein Mittel zur Hebung des gesamten volkswirtschaftlichen Nutzens sah.

Pestalozzi wollte dieser sogenannten Agrikultur nacheifern, zum einen, um selbständiger Unternehmer zu werden, zum anderen und nicht zuletzt aus Liebe zu der um acht Jahre älteren Anna Schulthess, einer Schönheit aus ebenfalls einflussreicher Familie, welche sich gegen die Heirat mit dem unansehnlichen armen Schlucker, der von hochfliegenden Plänen lebte, wehrte, aber letztlich wohl aufgrund eines intensiven, Zwischenträger benötigenden Briefwechsels[5], nichts ausrichtete. Die Gattin sollte ihm über 45 Jahre die beständige Unterstützung, über das Hauswesen hinaus für monetäre Hilfen und mannigfache Tätigkeiten im Hintergrund bleiben: ein unschätzbarer Hort in der jahrzehntelangen stürmischen Brandung.

Die erste Stufe

Birr, eine gut 4000 Einwohner zählende Gemeinde, breitet sich 25 km nordwestlich von Zürich in einer Ebene, dem Birrfeld, zwischen den Grenzhügeln zu Reuss und Aare und wie so häufig mit Reihenhaussiedlungen und dank der Industrialisierung gestaffelten Mehrfamilienblöcken aus. Ursprünglich habsburgisch, wurde es 1528 bernisch-reformiert und kam zu Lebzeiten Pestalozzis 1798 im Rahmen der nach dem Einmarsch der Franzosen gegründeten Helvetischen Republik zum Kanton Aargau.
Mit einer Mischung aus doppeltem familiärem Erbe und verschiedenen Darlehen erwarb Pestalozzi einige Jahre nach der Hochzeit 1767 etwa 600 Meter südöstlich des kleinen Ortskerns, heute inmitten des urbanen Weichbilds, etwa 20 Hektar wenig ertragreiches Land, um – Du lebst nicht für dich allein auf Erden[6] – seine sozialen Ideale der Hebung des Volkswohls zu leben.

Von Beginn an stand das auf Feldanbau gründende Unternehmen unter ungünstigem Stern, das Unverständnis der Bauern trug maßgeblich zu Misswirtschaft und Verschuldung bei. Nach mehrmaligem Versuch mit verschiedenen Anpflanzungen entschied sich der Philanthrop Pestalozzi 1775 zur Gründung einer «Erziehungsanstalt für arme Kinder» in dem von ihm erbauten, wohl programmatisch «Neuhof» benannten Landhaus: (…) auch der Allerelendeste ist fast unter allen Umständen fähig, zu einer alle Bedürfnisse der Menschheit befriedigenden Lebensart zu gelangen[7].
Dank dem Einsatz von Ehepaar und Angestellten erhielten bis zu 37 Kinder eine neue Lebensgrundlage: Händische Arbeit auf dem Acker, Spinnen und Weben paarten sich mit Schulunterricht und religiöser Erziehung. Der Verkauf der Produkte misslang neuerlich, 1779 musste die Einrichtung mangels finanzieller Grundlagen, selbst eine Art Crowdfunding-Versuch schlug fehl, schließen. Dem Wunschbild einer Vaterfigur unter bedürftigen Kindern blieb Pestalozzi indes bis zum Lebensende treu.

Jetzt stand er nur noch für die Familie ein, deren Unterhalt er als Kleinunternehmer zumal mit Stoffdruckerei halbwegs sichern konnte. Der vorangehende horrende Misserfolg allerdings stürzte ihn in eine starke psychische Identitätskrise. Er erkannte den Fehlschlag seiner Ideale und wandelte sich durch existentielle Tiefen hindurch zum die harte Realität in die Waagschale werfenden Denker. Litt er einerseits unter der Missachtung zahlreicher Zeitgenossen nachgerade aus dem Erzieherumfeld, gelang ihm gleichwohl zunehmend die Fühlungnahme zu auswärtigen Persönlichkeiten: Kontakte, die bis zum illusorischen Liebäugeln mit Anstellungen reichten[8], die er als Aufruf zu politischen Aktivitäten etwa in der Herausgabe des «Helvetischen Volksblatts», zu pädagogischen Bekundungen wie dem Engagement für eine Volksschule, zu Schriftenrezensionen verstand und die ihn zum Literaten formten.

Letzteres gelang vor allem dank Isaak Iselin, in Basel Gründer der «Gesellschaft zur Beförderung des Guten und Gemeinnützigen», der zum väterlichen Freund und Förderer avancierte, insbesondere durch die Publikationen in den «Ephemeriden der Menschheit und Bibliothek der Sittenlehre» seinem geistigen Zögling in einer der führenden Zeitschriften ein Sprachrohr im deutschen Sprachraum vermittelte.

Die folgenden Jahrzehnte werden somit entscheidend für den unermüdlichen Schriftsteller Pestalozzi, der in rund 60 Texten sowohl theoretisch wie literarisch seine Erfahrungen verwertete. Als zentral darf 1780 «Die Abendstunde eines Einsiedlers» – in der gemäß Titel noch der Mensch, optimistisch, als harmoniebegabtes Ebenbild Gottes begriffen wird – gelten und insbesondere 1781/87 der Roman «Lienhard und Gertrud», bei dem bereits der erste Band Pestalozzis internationalen Ruhm begründet. Hier weitet sich der Blick vom Einzelmenschen auf das Dorfleben, in dem die Herrschsucht des Vorstehers durch den Einsatz der Hauptfiguren in eine wirtschaftlich-tugendsame Bahn gelenkt wird, mit Auswirkungen auf das gesamte Staatsgebilde.

Eine Konsequenz zieht der Autor 1783 in «Über Gesetzgebung und Kindermord» mit einem engagierten Appell, die subjektiven Beweggründe und ein Vermeiden des Racheaspekts in den Strafprozess einfließen zu lassen. 1797 folgen das Sammelwerk «Figuren zu meinem ABC-Buch oder zu den Anfangsgründen meines Denkens», 1803 in «Fabeln» umbenannt, also Geschichten aus dem Tier- und Pflanzenreich mit belehrendem Charakter, sowie «Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts», eine Philosophie der existentiellen menschlichen Ambivalenz zwischen sinnlichen resp. niederen und inneren resp. göttlichen Eigenschaften. Überdies engagierte sich Pestalozzi nach dem Motto Die Wahrheit ist eine Arznei, die angreift[9] redaktionell und in verschiedenen «Gesellschaften».

Zwischenphase mit Neubeginn

Hatte schon im Mai 1798 Pestalozzi schriftlich dem Direktorium (der neuen Zentralregierung) seine aktive Teilnahme für eine Verbesserung der Erziehung und der Schulen für das einfache Volk angeboten, ließ sich das Projekt erst nach langem Hin und Her in der Innerschweiz in dem von den Franzosen nach dem örtlichen Aufstand verwüsteten Stans als eine Art politische Wiedergutmachung realisieren. Am 14. Januar 1799 öffnete seine Anstalt, in der er 80 Kinder, mitten unter ihnen lebend, betreute. Er griff auf die Grundlagen des Neuhof zurück, die er jetzt weiter ausarbeitete.

Das Projekt scheiterte aus politischen und konfessionellen Gründen bereits im Juni; Pestalozzi, schwer getroffen, fasst während einer ihm ermöglichten Erholungskur im «Stanser Brief»[10] seine Bemühungen zusammen, ein Text, der rasch als bedeutende Kernaussage erkannt wurde. Meine Überzeugung war mit meinem Zweck eins. [...] Schulunterricht ohne Umfassung des ganzen Geistes, den die Menschenerziehung bedarf, und ohne auf das ganze Leben der häuslichen Verhältnisse gebaut, führt in meinen Augen nicht weiter als zu einer künstlichen Verschrumpfungsmethode unseres Geschlechts[...] Überhaupt achtete ich das Lernen als Wortsache in Rücksicht auf die Worte, die sie [die Kinder] lernen mußten, und selbst auf die Begriffe, die sie bezeichneten, für ziemlich unwichtig. Ich ging eigentlich darauf aus, das Lernen mit dem Arbeiten, die Unterrichts- mit der Industrieanstalt zu verbinden und beides ineinander zu schmelzen.

Die gleichsam parallele Erkenntnis, wie sehr ansonsten in der Regel Kinder der unteren Schichten nach einer sich selbst überlassenen Phase in einen rigide unnachgiebigen, quälend trockenen Schulalltag verbannt würden, führten ihn mit nunmehr 53 Jahren zum Entscheid, persönlich das gesellschaftlich verachtete Lehrerdasein in den Fokus seiner Bemühungen zu stellen. Die Chance bot sich ihm in Burgdorf, wo er im Schloss innert Monaten eine eigentliche Erziehungsanstalt aufbauen konnte. Hier entwickelte er mit nunmehr zahlreichen Mitarbeitern intensiv seinen erzieherischen Dreiklang von Kopf, Hand und Herz in der Praxis als umfassende Methode und literarisch durch zahlreiche Schriften, vor allem 1801 durch das grundlegende «Wie Gertrud ihre Kinder lehrt»[11]: Er wurde in seinem «Fach» weit herum berühmt; der Besuch von Burgdorf wuchs zum Must für die Bildungsreisen der europäischen Eliten.
Das «Aus» im Juli 1804 resultierte neuerlich aus politischen Verwerfungen: die Mediation von Napoleons Gnaden stellte die alten Herrschaften wieder her, Bern entzog die Unterstützung. Mit einem Zwischenstopp in Münchenbuchsee nahm Pestalozzi das Angebot des jungen Kantons Waadt an, in Yverdon (Iferten) sein Werk fortzuführen.

Yverdon

In dem burgartig angelegten Schloss lebten bis zu 250 Menschen, knapp die Hälfte Kinder (ab sieben) aus allen Schichten und Jugendliche (bis 15), Lehrpersonen und Pestalozzis Haushalt mit Frau und Angestellten, zu dem zeitweise ein Töchterinstitut stieß. Die finanzielle Basis blieb stets prekär, da oft auf Schulgeld verzichtet wurde und folglich viel ehrenamtliche Arbeit zu leisten war. Neben dem fachlich sehr breit aufgestellten Unterricht bis zu 60 Wochenstunden gehörte (kaum verwunderlich) wiederum das Erlernen vielfältiger handwerklicher Tätigkeiten dazu, ebenso Sport und ausgedehnte Wanderungen. Dabei ging es immer um die Förderung jedes einzelnen Eleven in seiner Eigenart, Vergleiche und Noten blieben verpönt.

Für diese Großfamilie amtete Pestalozzi weniger als Vorstand, sondern gern als solcherart apostrophierter «Vater», wenn nicht als Übervater, der tägliche zahlreiche Besucher, Eltern wie Fachkollegen wie interessierte Laien aus halb Europa, insbesondere aus Mitteldeutschland und Preußen, empfing, publizistisch die Situation analysierte und sich täglich an alle Insassen wandte, an Festtagen auch große Reden hielt. Er war der hingebungsvolle, selbstlose Spiritus Rector schlechthin, doch fehlte die wirklichkeitsnahe organisatorische Leitung. Dies und der mangelnde ökonomische Rückhalt führte zu zunehmenden, öffentlich ausgetragenen Streitigkeiten von Mitarbeitern, was parallel zum Ansehensverlust zu einem stetigen Niedergang des Instituts führte, der im März 1825 in einer De-facto-Auflösung sein Ende fand[12].

«Schwanengesang»

Pestalozzi zog sich neuerlich auf den Neuhof in Birr zurück. Hier wollte er, nunmehr mit seinem Enkel, seine Arbeit wiederum auf die Armenfürsorge abstützen[13]. Wesentlich beherrschten seine letzten Jahre die ehrliche autobiographische Aufarbeitung seines Lebensgangs und die auch eine Selbstkritik im Bewusstsein Fehlen ist menschlich, aber in seinen Fehlern verharren ist etwas mehr[14] nicht scheuende, gleichwohl von seinen Überzeugungen getragene umfassende Darstellung seiner Erziehungsgrundsätze gleichsam im Rückblick, wenn nicht als eine Art Testament, wie der Titel «Schwanengesang» nahelegt. Denn der Mensch weiß unendlich viel, dessen er sich durchaus nicht klar bewußt ist.[15]
Nicht zuletzt massive schweizweit ausgetragene Anfeindungen vergällten seine letzten Tage; er starb kurz nach dem 81. Geburtstag.

Die Erscheinung

Ein schöner Mann (eine Anmerkung: Ganzfigurige Porträts des etwa 170 cm hohen Mannes scheint es kaum zu geben) war er zweifellos nicht: ein schmales bleiches Gesicht mit hoher Stirn, betont durch schulterlanges nach hinten gekämmtes, dunkles Haar, eine lange sich unten verbreiternde Nase, ein ausgeprägter schmallippiger Mund, betont durch starke Faltenzüge, runde, aber fallende Schultern. Intensiv jedoch wirken seine hellblauen Augen mit einem warmen, die Kontaktaufnahme suchenden Blick. Güte ist ein eherner Grundsatz: Mit dem Herzen wird das Herz geleitet[16], zumal gilt Der Mensch ist Mensch, er soll nichts tun ohne Vernunft, ohne Liebe[17].

Was bleibt

▪ Seine unzähligen Texte[18] verbleiben in der Sprache der Zeit, aber in der dadurch für unsere Zeit schwer nachvollziehbaren Weitschweifigkeit beeindruckt Pestalozzis Versuch, höchst anschaulich zu sein bis hin zu drastischen Formulierungen – Hundert Menschen schärfen ihre Säbel, Tausende ihre Messer, aber Zehntausende lassen ihren Verstand ungeschärft, weil sie ihn nicht üben[19] –, darin immer zu spüren der zutiefst von Mitmenschlichkeit getragene leidenschaftliche Gestus;
▪ das Betonen der Kindheit als eigene Lebensphase und als Basis für alles Weitere: Die Idee der Elementarbildung [...] ist nichts anders als die Idee der Naturgemäßheit in der Entfaltung und Ausbildung der Anlagen und Kräfte des Menschengeschlechts[20];
▪ die Erziehung als betont authentische Daseinsform: Pestalozzi lebte stets vor, was er fordert;
▪ daraus folgend in der (Schul-)Bildungsfrage das sich Abstützen auf eine Methode – ein ihm zentraler Begriff –, mit der Pestalozzi bis heute der gültige Anreger für eine ganzheitliche Prägung der Pädagogik bleibt;
▪ nicht zuletzt auch gesellschaftlich ein namhafter Verfechter des Menschenrechts: Ihr kennt kein Völkerrecht ohne ein Volksrecht und kein Volksrecht ohne ein Menschenrecht. Reiche vergehen und Staaten verschwinden, aber die Menschennatur bleibt und ihre Gesetze sind ewig[21].

[1] aus Fabeln, 1803. 94. Faule Eichen und junge Tannen, Zusatz

[2] in Kritische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie, 1740

[3] 1762, in demselben Jahr dt. Emile oder von der Erziehung: Bis zur eigenen Urteilsbildung gilt eine Art eigener Weg nach dem Motto try and error; für P. späterhin daraus wichtig die Rolle der Körpererziehung im Zusammenhang mit der Bildung der Intelligenz; 1762 Du Contrat Social, dt. Vom Gesellschaftsvertrag 1782 mit der für P. maßgeblichen Betonung des Gemeinwohls.

[4] insbesondere Julie ou La Nouvelle Héloise Briefroman ab 1756; dt. Julie oder die neue Héloise 1761/1771: die Geschichte eines einfachen Glücks inklusive zahlreicher Landschaftsbeschreibungen rund um den Genfer See; kurz zuvor auch die Komposition einer programmatischen einaktigen Oper Le devin du village.

[5] 485 sind ediert worden.

[6] aus Die Abendstunde eines Einsiedlers 1780

[7] aus Bruchstück aus der Geschichte der niedrigsten Menschheit 1778

[8] etwa gar am Kaiserhof in Wien

[9] so in Ein Schweizer-Blatt (Wochenschrift) 1782

[10] Er ist nicht im Original erhalten, aber wurde 1822, also noch zu Pestalozzis Lebzeiten, in der Cottaschen Gesamtausgabe seiner Schriften abgedruckt.

[11] Im Grundsatz stellt es eine intensive Ausführung dar von dem im «Stanser Brief» formulierten Mein Zweck dabei war, die Vereinfachung aller Lehrmittel so weit zu treiben, daß jeder gemeine Mensch leicht dahin zu bringen sein könne, seine Kinder zu lehren und allmählich die Schulen nach und nach für die ersten Elemente beinahe überflüssig zu machen.

[12] Trotz seines Endpunkts wirkte das Vorbild Yverdons erfolgreich weiter in (Mittel-)Europa. Es kann allerdings nicht übersehen werden, dass sich zeitgleich – nicht zuletzt in der Schweiz – eine andere Form der Ausbildung ausformte, die sich alternativ primär an der Schule als eigentliche institutionelle Organisation orientierte. Hier ist im etwa 45 km entfernten, allerdings in einem anderen «Stand» (heute Kanton) gelegenen Freiburg im Üechtland ausdrücklich Pater Gregor Girard OFM zu nennen nicht zuletzt mit Blick auf die Lehrerausbildung seinerseits Nachfolge weit über den Wirkungsort namentlich ins Französische hinaus.

[13] Heute ein Berufsbildungszentrum; aus dessen Website: Der Neuhof verfügt über breite und differenzierte Angebote im Wohnbereich, in der Berufsvorbereitung und der beruflichen Grundbildung. Er steht Jugendlichen offen, die straf- oder zivilrechtlich eingewiesen werden.

[14] in Meine Lebensschicksale als Vorsteher meiner Erziehungsinstitute in Burgdorf und Iferten 1826

[15] aus Schwanengesang 1826

[16] aus Drei Briefe an Niklaus Emanuel Tscharner über die Erziehung der armen Landjugend 1777

[17] aus Ansprachen bei den Morgen- und Abendandachten des Instituts 1810

[18] vielfach nachzulesen auf www.projekt-gutenberg.org und insbesondere auf der Website der deutschen Pestalozzigesellschaft www.heinrich-pestalozzi.de.

[19] aus Über die Idee der Elementarbildung. Eine Rede, gehalten vor der Gesellschaft der schweizerischen Erziehungsfreunde im Jahre 1809 (sog. Lenzburger Rede). Nochmals passt ein Hinweis auf Père Girard bzw. dessen preisgekröntes pädagogisches Hauptwerk «De l'enseignement regulier de la langue maternelle [...]» 1835/1844.

[20] aus Schwanengesang 1826

[21] aus An die Unschuld, den Ernst und den Edelmut meines Zeitalters und meines Vaterlandes 1815

 

Martin Stankowski
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Der Text wurde veröffentlicht in: «Der Literarische Zaunkönig» Nr. 2/2021.

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Adolph Franz Friedrich Ludwig Freiherr von Knigge zum 225sten Todestag am 6. Mai 2021

Sei, was du bist, immer ganz, und immer derselbe![1]

Lebte Knigge noch, er täte mir leid: ein talentierter, fleißiger Literat, dessen Bekanntheit trotz breiter Produktion auf ein einziges Werk reduziert wird, das die Welt zusätzlich grob missversteht. Außerdem wird sein Name inflationär als Kurzformel für verschiedenerlei Aperçus verwendet, somit letztlich diskreditiert. Dabei kündet, beeindruckend, dieses Werk von dreierlei: von grenzüberschreitender Bildung; von breit gespannter gesellschaftlicher Erfahrung, die ohne eigenes Wollen und Hinzutun nicht gelingen kann; von philanthropischem Geist, der effektiv das Ergehen der Mitmenschen in den Mittelpunkt der Überlegungen stellt.

Entscheidendes für die heutige Reduktion gründet im 18. Jahrhundert, in dem er lebte.
Zu diesem gehört die Ausdruckweise, die, niederdeutsch, zwar bereits unser noch allgemein gebrauchtes Idiom verwendet, aber in der damals für einen Schriftsteller offenbar notwendigen Weitschweifigkeit uns Heutige langatmig redselig dünkt und gespreizt wirkt. Schon viele Titel muten umständlich an – wofür ein Beispiel genügen mag: Über Friedrich Wilhelm den Liebreichen und meine Unterredung mit ihm von Meywerk, eine Art Roman – und verleiten uns kaum mehr zum Lesen.
Auch die eigentlichen Texte dehnen sich lang, selbst die Reise nach Braunschweig entpuppt sich als weit ausholende, uns allzu wortreich anmutende Schilderung. Das uns bekannte «Was du nicht willst …» lautet dann bei ihm: Wie würde es dir unter denselben Umständen gefallen, wenn man dir dies zumutete, gegen dich also handelte, von dir das forderte? - diesen Dienst, diese Verwendung diese langweilige Arbeit, diese Erklärung?[2]

Bei alledem gilt nicht zu vergessen: Knigges Lebensverhältnisse blieben für den Stand, dem  er angehörte, zwar angemessen in der Lebensform, nicht zuletzt bei wechselnden Kammerherr- und Beamten-Diensten, im Networking bis zu standesgemäßer Heirat, sozial engagiert, kulturell wach, doch blieb seine Lage generell reichlich prekär, durch den bescheidenen Adelstitel, durch die Akzeptanz des Erbes eines überschuldeten Guts, was ihm ökonomisch das Leben lang Mühsale aufnötigte, und nicht zuletzt durch das Bewusstsein eigener geistiger Kapazitäten.

Genauer hingesehen, hatte Knigge das Problem vieler vielfachbegabter Generalisten, die aus Not auswärtige Stellen, in diesem Fall und Jahrhundert an «fremden» Höfen, annehmen müssen. Fähig, sich rasch in «neue» Arbeitsgebiete einzuarbeiten – so in Hanau 1777 in den Kulturbetrieb, was zu eigenen achtbaren Kompositionen führte[3], so in Kassel 1791 in die Tabakregie –, weckte er unter den alteingesessenen Höflingen jede Menge Vorbehalte, die zu Intrigen und zum baldigen Ausscheiden aus dem Dienst führten.
Vermutlich Ähnliches widerfuhr ihm in den «Gesellschaften», der Beitritt zu den Freimaurern brachte ihm zwar Titel, aber kaum Aufstieg; die aktive Teilnahme am kurz zuvor gegründeten Illuminatenorden brachte ihn mit seinen aufklärerischen Ideen in die Bredouille, bald trat er wieder aus, um sich auch öffentlich gegen alle Geheimbünde zu stellen[4].

Zweifellos förderten diese missgünstigen, ihm zuwiderlaufenden äußeren Umstände in hohem Maß seine innere Selbständigkeit, während er finanziell von der Familie im weitesten Sinn abhängig blieb. Zum eigentlichen Remedium avancierte die Schreibarbeit im redlichen Erwerb[5]; er dürfte mithin als einer der ersten »freien Schriftsteller» gelten. Wenn er formuliert: Mache dir keine Langeweile! das heißt: Sei nie ganz müßig![6], so galt dies für ihn selbst nicht als lebensphilosophische Maxime, sondern als zwingende Notwendigkeit.
Dabei sah er den Zwang zum Schreiben nicht als Qualitätsgarant: Ich habe zu viel geschrieben, um immer gut zu schreiben[7], meinte er 1789. Nun, hierher gehören zum einen Übersetzertätigkeit[8], Rezensionen[9] wie Theaterkritiken[10]. Seine Romane sind, einmal mehr, einmal weniger, literarisch geformte Abhandlungen zu Fragen der Zeit, in denen wie in seinen Schriften zu Ethik und namentlich zur Politik immer wieder in satirischen Überzeichnungen die Auswüchse der ständischen Ordnung für Alltag und Gesellschaftsstruktur in aller Breite abgehandelt werden.

In seinen Analysen gibt Knigge sogar gezielte, die Errungenschaften der französischen Revolution gutheißende Erklärungen ab – ein modern anmutendes Beispiel: Neue Gesetze, welche die Freiheit gewisser Handlungen einschränken, können nur mit Wissen und Willen aller erwachsenen Bürger im Staate gegeben werden – und macht, indirekt, wenngleich letztlich wenig verklausuliert, in republikanischer Gesinnung die Hebung der nicht adligen Stände zu seinem Anliegen. Trotzdem gilt, Knigge verlor (zwangsweise?) seine Rezipienten nicht aus dem Blick, wobei allerdings das von ihm gewünschte Lesepublikum breit aufgestellt zu sein hatte. Als Freiherr musste er mit dem Adel rechnen, als Gesellschafter durfte er Gesinnungsgenossen nicht außer Acht lassen, sein eigentliches Augenmerk galt hingegen dem aufstrebenden Mittelstand, …

… den er letztlich bei der Abfassung des seinen hohen Bekanntheitsgrad begründenden «Über den Umgang mit Menschen» in den Fokus stellte. Ein grobes Missverständnis besteht darin, «den Knigge» als jenen den erhobenen Zeigefinger ersetzenden Benimmapostel zu verstehen. Oder, noch fataler, «Knigge» inflationär als Etikette für alles und jedes zu missbrauchen, ergo für das, was sich vermeintlich gehöre. Was im Buch hingegen richtig, wichtig, wenn nicht entscheidend ist, ist die Bereitschaft, sich im Alltag dezidiert auf die jeweiligen Personen als Typen einzustellen.
Gerade dieser Anstoß erlaubt Knigge den Durchblick auf das menschlich allzu Menschliche, mithin den Blickpunkt auf eine Welt, die beileibe noch nicht vergangen ist; so kümmert er sich, in heutiger Diktion, um die Alles-an-sich-Zieher, die Die-andern-Überfahrer, die Sich-Anbiedernden, die penetranten Schweiger, die narzisstisch Selbstgefälligen.

Seine kompetente Hilfestellung beruht nicht in strengen Verhaltensmaßregeln, sondern in unzählbaren mild engagierten Hinweisen auf die förderliche Art, sich in den verschiedenen Kreisen zu bewegen. Nicht von ungefähr befasst sich ein (kurzes) frühes Kapitel ausdrücklich mit dem Umgang mit sich selber, der in den Kerngedanken mündet: Respektiere Dich selbst, wenn Du willst, daß andere Dich respektieren sollen! Das bedeutet konkret: Verliere nie die Zuversicht zu Dir selber, das Bewußtsein Deiner Menschenwürde, das Gefühl […] irgend jemand nachzustehen![11] Aus dieser Grundlage resultiert ein «Benehmen» (wenn man es denn so nennen will), bei dem dieser esprit de conduite[12] ein kalkulierendes Beobachten der erlebten Verhaltensweisen fordert. Für eine Sicherheit der Feststellungen wähle zu Deinen Beobachtungen solche Augenblicke, in welchen sie [die Leute] Dir unbemerkt zu sein glauben[13], dabei ist dezidiert Achtsamkeit gefordert auf geringe Dinge, auf Kleinigkeiten, die man feurigen Genies selten antrifft … um danach (im Nachsatz) selbständig – und wir können dazusetzen: selbstbestimmt – zu handeln[14].

Knigge hielt, beachtlich, persönlich seine Maximen durch bis zu seinem Typhus-Tod mit 44 Jahren in Bremen, aber er fand in seiner Tochter nicht nur eine Nachfolge als Lyrikerin, sondern auch seine erste Biographin.

Obwohl, noch einmal, Knigge kaum verhohlen den Mittelstand in den Blick nimmt, um ihn gesellschaftsfähig zu machen, lehnte das 19. Jahrhundert zahlreiche Textstellen ab, die man in Neuauflagen der politischen Passagen entkleidete und in kleinbürgerlicher Weise umgewandelte[15].

Uns Heutige aber muss Knigges Habitus in seiner überlegten, die Zeitumstände ebenso einbeziehenden wie zugleich transponierenden Umsicht beeindrucken. So mag der Schluß in seinem Hauptwerk als Schlusswort dieses Essays auch auf ihn selbst gemünzt sein: Aber das wünscht, und das kann jeder Rechtschaffene und Weise bewirken, […] daß er Genuß aus dem Umgange mit allen Klassen von Menschen schöpfe […]. Und wenn er ausdauert, […] so kann er sich allgemeine Achtung erzwingen, kann auch, wenn er die Menschen studiert hat und sich durch keine Schwierigkeiten abschrecken läßt, fast jede gute Sache am Ende durchsetzen.[16]

[1] aus: Über den Umgang mit Menschen, ausgewählt und eingeleitet von Iring Fetscher, Frankfurt/Main 1962, Fischer Bücher des Wissens 434, S. 44; die Ausgabe bildet wieder den entscheidenden Text Knigges dritter Fassung von 1790 ab.

[2] wie Anm. 1, S. 48

[3] Konzert für Fagott, Streicher und basso continuo 1776; in Hanau zwei Balletts nach 1777, später sechs Sonaten für Klavier 1781 und zwei Lieder Der stille Abend kömmt herbei und Ergreift das Werk, ihr guten Kinder.1785.

[4] Philo's endliche Antwort auf verschiedene Anforderungen und Fragen, meine Verbindung mit dem Orden der Illuminaten betreffend, eine Abhandlung, 1788. Zuvor bereits Sechs Predigten gegen Despotismus, Dummheit, Aberglauben, Ungerechtigkeit, Untreue und Müßiggang 1783.

[5] Zitat aus der Allg. Dt. Bibliographie 16, 1882, Online-Version

[6] Wie Anm. 1, S. 42

[7] wie Anm. 1, S. 9

[8] wie – inhaltlich kaum zufällig – des Librettos (1786) von Mozarts Figaros Hochzeit; der Confessions (1781) von Rousseau 1786-90

[9] 1779–1797 für die renommierte «Bibliothek» Friedrich Nicolais in Berlin (Gesamtedition 2009)

[10] 1786-90 in Hannover

[11] wie Anm. 1, S. 59

[12] wie Anm. 1, passim

[13] wie Anm. 1, S. 55

[14] wie Anm. 1, S. 195

[15] Der Beitrag in der ADB 1882 (wie Anm. 5) überschüttet Knigge mit geradezu gehässigen Bemerkungen.

[16] wie Anm. 1, S. 196

Martin Stankowski
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Sebastian Brant zum 500sten Todestag am 10. Mai 2021

Vß sytten man gar bald verstat / Was einer jn sym hertzen hat[1]

Vielleicht ist es in diesem Fall ja falsch, ein Lebensdatum als Anlass der Würdigung zu wählen, denn das mit dem Mann verbundene Buch sticht bei weitem seinen Namen aus, weshalb der 11. Februar 1494 mit dem Erscheinen vom «Narrenschiff» primär festzuhalten sei? Diese Sicht ist indessen in mehrfacher Hinsicht fragwürdig. Sebastian Brants Werk stellt nicht einfach eine Singulärleistung dar, es beruht auf seinem intellektuellen Werdegang, seiner akademisch-politischen Stellung wie auf der Zusammenarbeit mit handwerklichen Spitzenunternehmern: So gesehen bildet es die Spitze eines Eisbergs.
Obwohl beileibe nicht (wie oft) inhaltlich das erste seiner Gattung, obwohl in der Disposition auf Bewährtes zurückgreifend, bringt es als Prototyp und Auslöser eines kaum zu überschätzenden Hypes die «Sache» buchstäblich vorbildlich auf den zentralen Punkt und gewährt dem rund 40-jährigen Medium des Buchdrucks formidable mediale Chancen. Was zum Verständnis uns – auch – eine gehörige Portion Kulturgeschichte abnötigt.

Relativ übersichtlich ist das geographische Lebensspektrum Brants: Sohn eines Gastwirts und Ratsherrn der Reichsstadt Strassburg, wechselt er 1475 zum Studium an die Universität Basel, erst 15 Jahre zuvor gestiftet von Papst Pius II. (der die Stadt vom Konzil 1431–48 her kannte). Ab dem Alter von etwa 25 Jahren lehrt er für 17 Jahre römisches und kanonisches Recht, macht Karriere bis zum Fakultätsdekan und, sympathisch weil für einmal ein nicht zölibatärer Gelehrter, heiratet 1485 in die besten Familien ein (und wird 7-facher Vater). Nicht nur homo honoratus, wirkt Brant (latinisiert in Titio) als In beiden rechten doctorem in seinen Fachgebieten als Koryphäe, nicht zuletzt basierend auf reicher Quellenkenntnis. Neben der Jurisprudenz lehrt er Poetik, schreibt lateinische Gedichte, übersetzt (etwa Catho […] getütschet 1498), wirkt als Lektor und programmatischer Herausgeber (etwa von Werken Petrarcas oder Augustinus) im intensiven Basler Buchdruckgeschehen.

Nicht zuletzt diese «Nebentätigkeiten» förderten parallel sein Bemühen, in populärwissenschaftlichen Abhandlungen auch Nichtfachleuten die sperrige Materie zugänglich zu machen, wozu indirekt auch ein 1490 aus den Vorlesungen hervorgegangenes vielbenutztes Handbuch zu rechnen ist. Diese einer breitgefächerten Reflexion offene Haltung wirkte sich überdies in diversen bis hin zu Flugblättern kürzeren Schriften aus, in denen er Stellung zu allgemeinen religiös-moralischen oder politischen Fragen und ebenfalls zum Tagesgeschehen (wie einem Meteoriteneinschlag im Elsass) nimmt. Kurzum: Vor uns steht ein in Lehre und (Stadt-)Gesellschaft hochgeschätzter Mann, der betriebsam-vielfältig das Leben kommentiert und mit Blick auf seine Aktivität den materiell-praktischen Gegebenheiten der Kommunikation großes Gewicht beimisst.

Aus diesem Kern entsteht in zwei Jahren das «Narrenschiff». Dessen Plot, in der Eingangsvignette verdichtet, besteht im sich Versammeln aller Schelme auf dem Schiff, das wegen des nahen Weltuntergangs nach Narragonien aufbricht. Die geballte Ladung vereinigt die in Selbstgefälligkeit und Stolz kumulierenden Schwächen und Fehler der menschlichen Gattung in ihren verschiedenen Ausprägungen. Der stets mitschwingende mittelalterliche Blick auf die Vergänglichkeit paart sich mit der Kritik an den sozialen Zeitumständen und wird durchwoben von der humanistischen Forderung nach Selbsterkenntnis.
Die Einsicht im Schlussabsatz zů nutz / heilsamer ler / ermanung / vnd eruolgung / der wißheit / vernunfft / vnd gůter sytten / Ouch zů verachtung / vnd stroff der narrheyt / blintheit / Irrsal / vnd dorheit / aller stådt / vnd geschlecht der menschen fördert der Rückgriff auf die vertraute Sprache, die die Fälle kaum etwas aussparenden Fehlverhaltens drastisch-sarkastisch nachvollziehbar zu schildern vermag. Gleichwohl ist das Buch rhetorisch geschickt aufgebaut und wird von Volksweisheit und Bildungsgut durchzogen. Kein abschätziger Blick also, sondern ein Abschätzen der menschlichen Schwächen, das im Motto Den narren spiegel ich diß nenn / Jn dem ein yeder narr sich kenn didaktisch in die Lehre mündet, dass es Vernunft braucht, die sich auf die göttliche Weisheit zu beziehen hat.

Als hätte man darauf gewartet, schlug das Buch wie eine Sensation ein, es gehörte in unterschiedlich aufgemachten Nachdrucken bis weit ins 18. Jh. zu den meistgelesenen deutschsprachigen Werken. Nicht nur folgt unmittelbar eine Vielzahl auch nicht autorisierter Auflagen (gegen die sich Brant in der Ausgabe von 1499 ausdrücklich verwahrt), ebenso führt die lateinische Nachdichtung Stultifera navis seines Schülers Jakob Locher zu zahllosen Übertragungen ins Französische, Englische, Niederländische. Der Erfolg gebiert eine Narren-Literaturgattung, die teils die Figur überführt in das einfache Gemüt bis zu Grimmelshausens Simplicissimus, teils den Ansatz transponiert in eine intellektuelle Ebene, bald schon bedeutend im «Lob der Torheit» 1511 des Erasmus von Rotterdam, der ersichtlich wegen der Nähe zum Druckergewerbe 1521 in derselben Stadt Wohnsitz nimmt.

Brants dementsprechender Hinweis Gedruckt zů Basel vff die Vasenaht / die man der narren kirchwich nennet bietet nicht nur die Möglichkeit kirchlich-religiöser Einordnung, sondern bezieht sich für mich direkt auf den Ort. Denn wenn es in der Vorrede All strassen / gassen / sindt voll narren heißt, bietet die Basler Fasnacht seit 1418 bis heute dieses Schauspiel; die Unkenntlichkeit durch die «Larven» ermöglicht(e) für drei Tage die ständeaufhebende (Narren-)Freiheit. Aber nicht nur als Ortsansässiger wählt der ausgewiesene «Lateiner» das gängige Deutsch. Die häufige Erklärung im belehrenden Charakter greift allein nicht; ich meine, der Band ist eben, erleichtert durch Reime, zum Vorlesen gedacht, damit für die Nutzer (durchaus in unserem Verständnis) ein Hörbuch. Aber es ist zugleich ein Bildband zum addierten Begreifen, indem Vorrede und den 112 Kapiteln je ein Holzschnitt mitsamt sinndeutendem Drei- oder Vierzeiler voransteht.

Die Darstellungen sind nicht zwingend originär entstanden, partiell nicht zwingend im Konnex und von verschiedenen Künstlern, unter denen die Mitautorschaft des jungen, stadtanwesenden Dürer kontrovers diskutiert wird. Wie auch immer, das Buch bildet in seinem Layout die beeindruckende Frucht zahlreicher Vorstufen und eine Art neugültiger Zusammenfassung des technisch und medial Möglichen.
Auch diesbezüglich entsteht eine nicht minder bedeutende Entwicklungslinie. Deren einer Zweig richtet sich auf die einfachere Gegenüberstellung von Text und Bild, das damit enigmatische Reste als unmittelbare Illustration auflöst und sich ebenso in populärer Breite verwerten ließ wie in immer perfekterem Druckverfahren – in dem, nicht zuletzt dank Brant, Basel zur Hochburg des Genres wuchs. Der zweite Zweig baut den Konnex zum Ensemble aus, dessen Teile als Darstellungsform der Eliten multifunktional ineinandergreifen. Hierher gehören die monumentalen publizistischen Bemühungen Kaiser Maximilians I., die kurz nach 1500 mit Macht einsetzen.

Deren Entwicklung ist trotz der gelehrten und künstlerisch versierten Berater am Hof wohl direkt mit unserem Mann verbunden, der politisch ganz auf der Linie des habsburgischen Selbstverständnisses lag, ja diesem in seiner Schrift «De origine et conversatione bonorum regum» 1495 und den direkt den Kaiser ansprechenden «Varia Carmina» 1498 den zentralen Gedanken des obersten Miles Christianus vertiefte. Ebenso engagierte, gewiss auf Basis seiner intimen Rechtskenntnisse, Brant sich direkt in den Fragen der Reichsreform mit ihren neuen institutionellen Tendenzen. Zu diesen gehörte der Versuch, die unbotmäßigen Eidgenossen in den Reichsverband zurückzuzwingen.
Der 1499 an mehrfachen Orten ausgefochtene «Schwabenkrieg» fand auch vor den Toren der Stadt am Rheinknie statt; die Niederlage des Reichsheers verstärkte die Absatzbewegung Basels, das 1501 der Eidgenossenschaft beitrat.

Und Brant verließ, seinen Überzeugungen treu, den Ort seines Wirkens, um, nach Straßburg zurückgekehrt, für die nächsten 20 Jahre hohe Ämter wie Ratssyndikus und Stadtschreiber anzunehmen, Aufgaben, die, scheint es, seine literarische Produktion schmälerten; der Praktiker bedachte in der Verantwortung für Archiv und Chronistik die politisch-rechtliche Relevanz der Dokumente. Seine eindeutige Haltung (passend zur heutigen Diskussion um den neuen Wert-Konservativen?) zahlte sich aus: Maximilian ernannte Brant aufgrund seiner Meriten zum kaiserlichen Rat, später zum Pfalzgrafen und berief ihn als Beisitzer in das noch «junge» Reichskammergericht (ab 1514 am Amtssitz im nahen Worms) – und führt letztlich zu Brants «Strassburger Antrittsbesuch» beim Nachfolger Karl V. 1520 in Gent.

[1]Alle Zitate sind entnommen dem Abdruck des «Narrenschiff» auf www.projekt-gutenberg.org und aus kurzen Ausschnitten auf www.getabstract.com.

Martin Stankowski
www.stankowski.info

Der Text wird demnächst veröffentlicht in: Literarisches Österreich

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Christian Otto Joseph Wolfgang Morgenstern zum 150sten

Ein rechter Künstler schildert nie, um zu gefallen, sondern um zu – zeigen.[1]

Christian Otto Joseph Wolfgang Morgenstern zum 150sten Geburtstag am 6. Mai 2021

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Ich gestehe es am besten gleich: Die Zeilen Er gehört zu jenen Käuzen, die oft unvermittelt nackt / Ehrfurcht vor dem Schönen packt packten mich als stimmige Charakterisierung meines Studentendaseins in der Kunstwissenschaft intensiv: nicht nur damals, sondern lange weiter wirkend mit dem Kauf der einschlägigen Gedichte Morgensterns, die mich in ihrer Prägnanz seither nicht mehr verließen – und diese letztere soll hier im Fokus stehen. Der Aha-Effekt dürfte um 1970 herum gewesen sein.
Das Datum ist insofern nicht ganz unwichtig, weil damals die kleinbürgerlichen verwaltungsaffinen Vorstellungen, von Morgenstern vor einem Haufen von Jahrzehnten zuvor aufs Korn genommen, trotz aller Nachkriegswunderwelt beileibe nicht ausgestorben waren. Somit mag den heutigen jungen Erwachsenen ein spezifischer Kern der Poeme Morgensterns nicht mehr recht zugänglich sein? Faszinieren, meine ich, könnten die heutigen Generationen immerhin gleichwohl die nonchalante Reimkunst und die (je nach Gusto des seinerzeitigen Bezugfelds entkleidete) aufmüpfige Diktion.
Womit sich die Frage stellte, was dann der Unterschied zu einem gut gelungenen Rap sei? Diese Anmerkungen vielleicht als eine Art Ehrenrettung meiner selbst? Nein, in mancher Beziehung bleibt Morgenstern zeitlos!

Als Nicht-Germanisten (siehe oben) sind mir endemische Analysekategorien nicht gegeben, wenngleich mich die Aufgabe, künstlerische Sachverhalte in Worte zu fassen (noch einmal siehe oben) fast das ganze Leben begleite(te)n. Also, da ist zum einen die Melodie: Ein Wiesel / saß auf einem Kiesel / inmitten Bachgeriesel, kaum ein «klassisches» Versmaß aber kongenial zu den wenig inhaltsschwangeren Worten leicht plätschernd fließend bis zum Abbruch als Zäsur Wisst ihr weshalb / das Mondkalb, um dann in hiatus-beladenem Rhythmus halbwegs wiederaufgenommen zu werden Das raffinier / te Tier / tat’s um des Reimes willen.

Der an sich (im ursprünglichen Sinn) blöde Spruch «Reim, oder ich fress dich» passt somit ganz und gar nicht: Morgenstern beherrschte das Wortfinden perfekt. Denn jedes (Wort) fordert, sobald es nur sichtbar wird, zur Produktion heraus (1909). Sprache ist für ihn in welcher Form auch immer Material zum (helvetisch stilgerecht ausgedrückt) Hintersinnen. Dabei lotet er die realitätsbezogenen Verbindungen aus: Ich habe oft bemerkt, daß wir uns durch allzuvieles Symbolisieren die Sprache für die Wirklichkeit untüchtig machen (1896). Grammatikalisch wird es etwa beim Werwolf, dessen erste Silbe der Deklination anheimfällt. Das Ge-dicht (!) avanciert zum Setzen markanter Punkte, die – und das macht wesentlich die Qualität aus – gleichsam unwiderruflich als Markierung platziert werden, damit kaum verrückbar.

Der Versuch eines Weglassens endete wie die berühmte eine Dose im Dosenberg, die (zuunterst) herausgezogen den ganzen Aufbau zum Einsturz brächte. Vielleicht stimmt das aber auch nicht so recht, denn Morgenstern weiß stets den Beginn als perfekten Einstieg zu inszenieren und vor allem den Schluss als zusammenfassend illustrierenden Leitgedanken punktgenau zu platzieren, damit kernig hervorzuheben: daß ihm (dem Huhn auf dem Bahnhofsvorplatz) unsere Sympathie gehört / selbst an diesem Orte / wo es stört und regelrecht unvergesslich zu machen (als Palmströms berühmt gewordenes Ergebnis der Ursachenforschung) weil, so schließt er messerscharf, / nicht sein kann, was nicht sein darf. Somit gibt Morgenstern nicht einfach einen Endpunkt an, sondern bietet uns ein regelrechtes Finale, das nachebbt, echo-gleich, darin – und seine «subkutane» Größe begründend – meditativ.

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Ich gestehe noch einmal, dieser Morgenstern ist mir in seinen Gedichten lebendig. Der philosophische, der zeichnende und malende, also letztlich zeitgebunden eben doch irgendwie «bürgerliche» Morgenstern wirkt da fast wie ein fremder Schatten. Vielleicht, weil ich ihn erst viel später wahrnahm. Fast musste ich mich zwingen, diesen Schemen als unbedingt zugehörig zu akzeptieren. Hierher gehört zum Verständnis zwingend die Geschichte eines nur knapp 43-jährigen Lebens, das geprägt wird von der wohl von der Mutter weitergegebenen Tuberkulose. Diese befällt ihn in Krankheitsschüben und führt zu ausgedehnten «Reisen» von Kurort zu Kurort, nach Versuchen in Nord- und Mitteldeutschland ab 1905 in den bayerischen, Tiroler und Schweizer Alpen, darunter nach Davos (das er als Patient ganz konträr zu dem «Nurbesucher» Thomas Mann erlebt) und mehrfach und ausgedehnter in das nahegelegene Arosa: stets, ohne einen gesundheitlichen Durchbruch zu erringen.

Aber bereits die späte Kindheits- und Jugendzeit kennt ein häufiges Aufbrechen, sieht ihn an wechselnden Orten, unter denen Breslau (beim Vater, dem Kunstprofessor, und im Studium der Nationalökonomie) eine etwas längere Phase abgibt, auf die ab 1894 Jahre in Berlin folgen. Wohl nicht zuletzt aufgrund einiger erster Arbeiten und kleinerer Veröffentlichungen wird er kurzzeitig Dramaturg, Mitarbeiter renommierter Zeitschriften und Lektor im Verlag Bruno Cassirers, wo er (den auf seine Weise höchst eigenwilligen) Robert Walser betreut; 1905 erscheint Morgensterns bis heute bekanntestes Werk, die «Galgenlieder», die dem Kinde im Menschen und dessen Bildnertrieb gewidmet sind; 1910 folgt der «Palmström».

Morgenstern konnte den widrigen Bedingungen seiner weltlichen Existenz nicht entgehen, eine seiner Schlussfolgerungen lautet: Der Mensch ist mein Fach und hier will ich bis zum Äußersten gehen (1909). Im Mental-Geistigen bedeutet ein erster Bezugspunkt das Sich-Beschäftigen mit Kierkegaard und, intensiv, mit Nietzsche. Darauf folgt ein anderthalb Jahre umfassendes Erforschen Norwegens, das er bereist, um sprachlich die richtige Grundlage für das Übersetzen mehrfacher Dramen Ibsens, Knut Hamsuns und der Werke des (Nobelpreisträgers 1903) Bjørnstjerne Bjørnson zu gewinnen. Währenddessen Morgenstern, alles andere als nebenbei, des Landes Natur nachhaltig aufnimmt und, im Band «Sommer» (1900), in kurzgefassten sensibel wie prägnant darstellenden Texten beschreibt – mit der Schlussfolgerung im letzten der 68 Gedichte Wie vieles ist denn Wort geworden / von all dem Glück, das mich durchdrang! / Von all den seligen Accorden / ach, nur ein schwacher, flacher Klang.

Eine dritte innere Entwicklung beginnt im Sich-Befassen mit dem Mittelalter; er überträgt Verse von Walther von der Vogelweide, liest Meister Eckhart und nachfolgend Jakob Böhme; es entstehen die Sammlungen «Einkehr» (1910) – darin etwa O Leben, Leben, lass mich nicht allein! / Dies Herz hier ist bereit zu jeder Last – und «Ich und Du» (1911) mit der Aufnahme strengerer Poetikformen, sprich Sonette und Ritornelle.

Die Auseinandersetzung mit religiös begründeter Weltanschauung, ja Mystik führt ihn zu Rudolf Steiner, der ihm als großer spiritueller Forscher (…) ganz dem Dienste der Wahrheit gewidmet (1913) eine die Realität durchschreitende höhere Welt zu öffnen scheint. Seinen Wandel legt Morgenstern nachdrücklich in der langen Sammlung «Wir fanden einen Pfad» (1914) nieder, er formuliert etwa Denn zu fragen ist / nach den stillen Dingen, / und zu wagen ist, / will man Licht erringen.
Die Beziehung führt zur Mitgliedschaft in der «Theosophischen Gesellschaft» und zugleich zu einer persönlichen Freundschaft bis dahin, dass Steiner Morgensterns Aschenurne im Anthroposophischen Zentrum des «Goetheanums» in der Nordostschweiz beisetzt.

Der nicht aufhören wollende Wechsel von Ort zu Ort bringt – obwohl im Tiefsten nicht gewollt: Die Sehnsucht meines Lebens ist eine oft übermächtige Sehnsucht nach praktischem Schaffen im Großen (1897) – kaum von ungefähr die stete, beständige, perfektionierte Kurzform der Gedankenäußerungen mit sich.
«Stufen. Eine Entwickelung in Aphorismen und Tagebuch-Notizen» betitelt seine Witwe Margarete geb. Gosebruch 1918 die posthume Herausgabe des von ihrem Gatten verstreut Aufgeschriebenen mit dem Hinweis auf das Material für einen autobiographisch gedachten Roman; ein Germanist mag in den Texten auch andere formale Formate finden. Die Sammlung besticht in der Intensität der in knappe Zeilen gebrachten Überlegungen, die wie die Gedichte die verschiedenen (sich auch widersprechenden) Stimmungen, die konstruktiven Kritikansätze und die konzentrierten Überlegungen zu einem sich evolutiv entwickelnden eigenen Weltbild widerspiegeln.

3

Ich gestehe, noch weiß ich einiges auswendig zu rezitieren, wobei mir «Palmström» mit seinen subversiv nachdenklichen Passagen (Und er kommt zu dem Ergebnis / nur ein Traum war das Erlebnis; oder: Kein Fühlender wird ihn verdammen / wenn er ungeschneuzt entschreitet) einen schwer zu überbietenden Höhepunkt bedeutet. Zumal die genial auf den Punkt gebrachten Zeilen bleiben definitiv haften, wenn sie, wie ebenfalls in vielen anderen Gedichten, als ein geniales Einstimmen wirken Die Möwen sehen alle aus / als ob sie Emma hießen, oder sogar, wenn sie absonderlich scheinen, wie im «Gebet»: Die Rehlein beten zur Nacht, / hab acht! / Sie falten die kleinen Zehlein, / die Rehlein, da bleibt zwingend nachhallend das Laut-Malerische bestehen. Das Stichwort ist grundlegend: Ich bin Maler bis in den letzten Blutstropfen hinein. – Und das will heraus ins Reich des Wortes (1894, Brief an Marie Goettling vom 2. Juni).

Darin gründet der andere Teil des Erbes, nunmehr seines Großvaters (bis hin zum Vornamen), der als ein wichtiger Vertreter einer realistischen Landschaftsmalerei gelten darf. Auch der andere Großvater mütterlicherseits (Schertel) und sein Vater oblagen vollberuflich dieser Kunstsparte. Die Konsequenz für den Jüngsten liegt zum einen allgemein im Bildnertrieb, zum anderen ganz konkret im niemals aufgegebenen sensibel-feinen Beobachten, das ihm – siehe oben zu den Aphorismen – die in ihrer Vielschichtigkeit dichte Fülle des menschlichen (Da-)Seins erschließt. Mein Hauptorgan ist das Auge. Alles geht bei mir durch das Auge ein (1909), es gebiert in breiter Fülle kaum von anderen nachahmensfähige Ein-Sichten Es war einmal ein Lattenzaun, / mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.
Keine Kunst ohne die Diskussion von Ästhetik, Morgenstern kommt dezidiert zur Ansicht Schönheit ist empfundener Rhythmus. Rhythmus der Wellen, durch die uns alles Außen vermittelt wird.
Die innere Größe des Menschen Morgenstern offenbart sich in der anschließenden Fortsetzung Oder auch: Schön ist eigentlich alles, was man mit Liebe betrachtet. Je mehr jemand die Welt liebt, desto schöner wird er sie finden. In dieser das ganze Leben umfassenden Haltung, in diesem dezidierten Habitus liegt denn letztlich auch der Sprachwitz des jüngeren Morgenstern, der die ihm in der Besichtigung der Realität den notwendig erscheinenden Wechsel in den Perspektiven als (wörtlich) Durchblicke durch das Gesehene und Erlebte generiert, mit begründet – womit sich der Kreis schließt.

[1] Die Zitate, wenn nicht den Gedichten entnommen, stammen mit einer angegebenen Ausnahme aus dem Band «Stufen» 1918.

Martin Stankowski
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Zustand, Erinnerung und Ausblick. Mein Nachdenken über Emily.

No Coward Soul Is Mine: diese Zeilen, nein das ganze Gedicht der anderen, früher geborenen Emily werde ich an meiner bevorstehenden Beerdigung in diesem frühlingsfreudigen Mai 1886 vortragen lassen. Man wird meinem letzten Wunsch entsprechen, obwohl er wohl bei den meisten von jenen, die mich zu kennen und an diesem Anlass nicht fehlen zu dürfen meinen, ein Stirnrunzeln auslöst, vielleicht ein unwilliges Lächeln hervorbringt. Solche gewaltig tönenden Worte letztlich über sie, die sich sensibel vor der Welt verbarg, in einer der Erinnerung geweihten Situation? Was soll in einem solchen Moment dieser in Worte gefasste Fremdkörper? Nein, der bestimmende Körper bin ich selbst, war ich selbst – wohl von zarter Gestalt, indessen unbeugsam in seinem Ausdruckswillen.

Wer kannte mich schon, die ich, wie man weiß, vornehmlich im Hause, ja im Zimmer lebte? Da sind, da waren der das Heim der Dickinsons in Amherst prägende politisch tätige Vater und die Geschwister, also mein Anwaltsbruder mit der prachtvollen Schwägerin, meiner Schulfreundin Susan, meine Schwester Lavinia, die nach wie vor um mich in unserer Wohnstatt lebt – sowie der eine oder die andere gute, freundliche, freundschaftliche, auch liebevoll mir geistig zugewandte Bekannte. Nun, ich schrieb einiges: Zahlreich sind meine Briefe, in denen ich dann nicht allzu viel von mir verbarg, fügte ich ihnen eines meiner Gedichte bei. Ansonsten schrieb ergiebig ich nur für mich: Es dürften weit mehr als tausend Blätter in etwa fünfzig Manuskriptheften sein, die bei mir auf dem, in dem Pult liegen; fast nichts demnach wurde veröffentlicht. Rechne ich meine Umgebung nicht: Wer hätte schon die Lyrik einer Frau wahrgenommen, gar gekauft: Soll ich hinter diesen Satz ein Ausrufe- oder ein Fragezeichen setzen?

Ich zog mich zurück von der Welt. Ich zog mich zurück in mich. Freilich bedeutete das keine Weltferne. Ich nahm teil am Geschehen, gerade der große grausame Bürgerkrieg beschäftigte mich tief: Nicht dass ich kämpferische Passagen verfasste, er wirkte hinein in meine rastlosen Gedanken über die Begrenztheit des Lebens und die Sache dessen Endes selbst – mit, nein: in der Hoffnung, es bleibe vom einzelnen Menschen etwas Greifbares für die Nachwelt zurück. Und: Der Liebe gleich, der stetig ich ebenfalls nachsann, von Mann und Frau, von Mann zu Frau und umgekehrt, einer Liebe, die sich über die Grenzen hinaus verströmen sollte, verlangt meine mich uneingeschränkt zum Berührtsein und Empfinden aufrufende Teilnahme kein feminin sittsames Betragen, kein weiblich zurückhaltendes Auftreten, keine stille Bescheidenheit. Eine derartige, aus den starren Gesellschaftsregeln resultierende Haltung mag für das sich Aufführen in und außerhalb des Hauses Geltung besitzen. Bei welchem Benehmen, sollte ich nicht auffallen respektive wollte ich nicht anecken, ich eine bestimmte Rolle einzunehmen, sprich: im vorgegebenen Rahmen zu spielen hatte – wodurch in solchem Vollzug das Angepasste buchstäblich sich veräußerlicht.

Die innere Haltung ist eine ganz andere Sache: Hier verblasst, bin ich, wenn ehrlich, ganz bei mir selbst, die bürgerliche, die puritanische, die kirchlich geprägte Sozietät, wird zu Schattierungen des Gefühlten, wenn nicht gar zu immer stärker verblassenden Schatten degradiert. Hier ist die ewig kindliche Emotion erlaubt, das ewig kindliche Fragen ja Nachfragen angebracht, das ewig kindliche Aufbegehren legitim: im steten Verlangen erneut, neu aufbrechen zu können: wie im buntfrohen Aufblühen die Natur, welche mir in ihrer auf Entdeckung wartenden Sinnhaftigkeit unendlich viel bedeutet; wie zu kaum bekannten, dunstig grünen oder graubraunen Ufern, welche das Empfinden bereithält; wie in die herrliche frühe Helle oder die sanfte abendliche Kühle eines Maientags, wie in die angesichts der ungebunden strahlenden Fülle des die Jahreszeiten zusammenfassenden Indian Summer ausschwingende Seele: Not knowing when the Dawn will come, / I open every Door, / Or has it Feathers, like a Bird, / Or Billows, like a Shore – Doch ich formulierte ebenso: It would never be Common – more – I said – / Difference – had begun – / Many a bitterness – had been – / But that old sort – was done – Mein geistlicher Freund, inzwischen weit entfernt, weil hinüber an den Pazifischen Ozean übersiedelt, und die meisten all der anderen hätten wohl in dieser verknappten Struktur, in diesen Auslassungen, im frei gelassenen Schluss kaum das zum Weiterspinnen Aufgegebene, nur eine zumindest zum Teil ins Stocken geratene, reduzierte Beobachtung empfunden: nicht aber den Ausdruck einer eindringlichen Suche nach klarer Festigkeit.

Und ich ahne, nein ich weiß es, auch in Zukunft werden, nach der mutmaßlichen Publikation meiner Texte, viele Leser dieses Gebaren einer emanzipierten Bestimmtheit nicht nur schwerlich begreifen, sondern zugleich im umgekehrten Sinn rätseln, welche Beziehung sich darin ausdrücken sollte, dabei namentlich werweißend, welcher Mann, welche Frau angesprochen sein möchte. Im Bewusstsein, wie sehr die Lyrik, wie sehr meine Poetik in der Verdichtung vieles in Andeutungen verborgen, Geheimnisvolles undeklariert lässt, wie sehr Empfindungen, selbst wenn in unmissverständlichen Ausdrücken vorgelegt, in einer Echowirkung zugleich verstärkt zurückkommend wie abgeschwächt verhallend aufscheinen – muss ich lächeln: Bleibt doch mein Formuliertes offen, so offen, dass ich oft und gerne auf das Geschriebene zurückgreife, um es zu ändern.

No Coward Soul Is Mine: Durch diese mir eigene Kraft einer ebenso vorwärtsdrängenden wie Ungewohntes aufwerfenden, vermeintlich hart anmutenden Verkürzung wird: „War ihr, unerkannt, ein wildes, gar ein geheimes rebellisches Wesen eigen?“,  man womöglich fragen, nimmt man sich dereinst meine Gedichte vor. Ja, bis hinüber zum Pazifik ist der Wilde Westen hinausgezogen, von dem mich eine mittlerweile veränderte Welt zu trennen scheint. War hier im Staate Massachusetts jemals ein Westen, den es lohnte zu bezwingen? Ich erlaube mir die Gegenfrage, was denn ein Säkulum sei? Hundert Jahre vor meiner Geburt entstand an diesem Ort im Indianerland die erste Siedlung in einer, wie wir heute sagen würden, romantischen Landschaft mit hohen Erhebungen, mit tiefen Farben und ausgreifender Sicht.
Ein Rundumblick, stieg ich, wenngleich selten, hinauf. Dann allemal meinte ich ihn zu schmecken – den Anhauch der Weite, welcher die natürlichen Gegebenheiten ebenso wie die menschlichen Eingriffe enthält, vom Rauch der Feuer dort draußen seit alters her bis zum Rauch der Industrie aus jüngster Zeit unter mir – jene Luft, welche berichtet von den Interventionen der letzten Generationen in der Nähe, doch zugleich von dem fernen Geschehen in der Zeit und im Raum eines vermeintlich freien Lands.
Der Atem der Vergangenheit ist nicht mehr direkt fassbar: Wo sind sie hin, die Indianer und die Siedler, die Späher und die Kämpfer ebenso wie die Aufbauenden und die Kultivierenden? Ja, in meinem Sehnen überwinde ich die Vergangenheit, spüre ich die Unendlichkeit, obgleich der Weg zu ihr durch die starken Umformungen erschwert, wenn nicht verbarrikadiert ist – wäre da nicht das stete kleinteilige Leben, das in seinem Tagwerk nachweist, wie Grenzen den Träumen gleich überwunden werden können: To make a prairie it takes a clover and one bee, / One clover, and a bee, / And revery. / The revery alone will do, / If bees are few –

Das eine ist die Prairie, ihr Gegenpol die See; ich kann sie, so ich wollte, erreichen im Atlantik, er liegt nicht allzu entfernt von hier. Ihn mir zu vergegenwärtigen, genügt derweil meine Erinnerung und meine Phantasie – ewig bewegt in ein rauschendes Hinaus, das sich mittels der Horizontlinie wieder zu uns zurückbeugt: Land, ho! Eternity! / Ashore at last! Nicht nur hierbei, in einer Rückkoppelung, mir seit unendlichen Kindheitstagen vertraut, fuhr ich fort: There is no Frigate like a Book / To take us Lands away

I dwell in Possibility / A fairer Hause than Prose: Selbst wenn ich letztlich doch nicht alles niederschrieb von den Stimmen, Tönen, Worten, denen ich in mir nachging – es soll, es wird von meinen be-, von meinen verarbeiteten Möglichkeiten gleichwohl etwas bleiben. Da ist sie, die Stimme des Ewigen von vor der Zeit bis über die Zeit hinaus, wie, um darauf zurückzukommen, unser Indian Summer in seiner Endlosigkeit über die Höhen und Täler das Wesen des Ganzen enthält, Kraft und Vergänglichkeit, Reichtum und Vergehen, Zusammenbruch der Farbfülle und Aufbruch zu erneuertem Leben. Er ist als die wichtige Alternative zum, ich sprach es an, von mir gleich stark empfundenen Frühlingserwachen seinerseits nur in seinem Erscheinen zu erkennen; da galt es dann: The low Grass loaded with the Dew – / The Twilight stood, as Strangers do – / With Hat in Hand, polite and new – / To stay as if, or go – Was ist fremd, was bleibt uns fremd? Was ist gewohnt, was steigt nur aus uns hervor? Was bleibt, was vergeht? We never know we go when we are going / We jest and shut the Door / Fate – following – behind us bolts it – / And we accost no more – Nicht nur das Schreiben, auch das Erkennen ist, ich begriff es wohl, ein einsamer Prozess.

Gleichwohl, allein fühlte ich mich niemals: Die Religion gab mir den sicheren Standort. Es ist nicht mehr genug Platz und Zeit, Genaueres auszuführen, die Thematik ist ohnehin schlussendlich unerhört persönlich, nur dem, der Einzelnen eigen. Jedoch ich wusste immer: Gott sah mich! Indes, welcher Gott? Ich komme auf mein Wunschgedicht zurück: O God within my breast / Almighty ever-present Deity / Life, that in me hast rest, / As I Undying Life, have power in Thee heißt es dort in der nächsten Strophe. Ja, diese zweite, nein: Diese erste Emily schrieb es mir vor einem Vierteljahrhundert bereits aus dem Herzen. So ist Er, obgleich nicht greifbar, mithin hier, findet Raum selbst in der Enge des Zimmers mit Bett und Pult, weil in meinem das Umfassende des Seins suchenden Gemüt. Ich formulierte die Erkenntnis stärker von einem scheinbaren Punkt außerhalb meiner Person: Prayer is the little implement / Through which men reach / Where presence is denied them. Wobei ich betonen möchte, Er neigte sich mir persönlich zu, zu mir, wandte sich nicht zuletzt zu mir auch als bewusst weiblich empfindendem Wesen.

Ach Emily Brontë, so vieles Weiteres verbindet uns, hingesehen oder besser: hingelesen. Wir benötigen keinen Wechsel: Der unaufhaltsame Wandel ist ja, wenngleich für uns auf fester Grundlage, stets um und in uns. Die Farbe deines dortigen Moors und meiner weiten Wälder. Die Verbundenheit mit dem in allem Kreatürlichen zu erspürenden Leben – das über sich hinausweist – im immerwährenden Kreislauf – der ewige heraufziehende Nebel – ich –

Martin Stankowski
www.stankowski.info

veröffentlicht in: Literarisches Österreich 2020/2  «Freiheit», S. 93-97

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