Im Zeichen des Hasen

Die erste Begegnung mit Adolf Muschg

Sein erster Roman kam 1965 bei Fischer heraus. Ich kaufte das dünne Bändchen „Im Sommer des Hasen“ und verschlang es, fraß es auf, immer und immer wieder. Es war meine initiierende Begegnung mit dem geheimnisvollen Reich Japan. Ich, damals eine 17-jährige Gymnasiastin aus der österreichischen Provinz, er ein 31-jähriger Jungstar aus Zürich. Eigentlich fand ich ihn uralt, um sieben Jahre älter als mein ältester Bruder. Das war die absolute Grenzmarke. Darüber gab es nur noch das Alter, die nächste und übernächste Generation.
Die zarte Liebesgeschichte zwischen der jungen Japanerin Yoko und einem älteren Mann aus Europa, auf Lesereise durch Japan, berührte mich zutiefst und bestärkte meine eigenen Sehnsüchte nach dem Ausbruch aus dem bürgerlichen Milieu, raus in andere Kulturen und vermeintlich feste Grenzen überschreiten.

Ich stand damals noch am Anfang der Erkenntnis, zwischen Werk und Autor unterscheiden zu können. Ich verliebte mich in einen Text oder in die Welt dahinter und übertrug die jugendliche Schwärmerei auf den Autor. An weibliche Identifikationsfiguren von damals kann ich mich nicht erinnern. Die traten erst später auf, als ich mit der Frauenbewegung in Berührung kam.
Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger, Elfriede Jelinek, Marlen Haushofer, das waren die ersten. Zwei Jahre nach dem „Sommer des Hasen“ begann ich mit Germanistik an der Universität Wien. Ich weiß es noch genau, dass ich zur Lesung im Audimax das zerlesene, rundherum angestrichene und bunt beklebte Bändchen mitnahm, in der Hoffnung, ein Autogramm zu ergattern. Eigentlich war ich keine klassische Unterschriftensammlerin, nur hatte ich schon verstanden, dass das ein Einstieg in ein Näherkommen sein konnte.

Muschg war damals Gymnasiallehrer und litt seit früher Jugend unter Hypochondrie. Der eingebildete Kranke. Darum ging es auch in seinem ersten Theaterstück „Rumpelstilz“, um Ferdinand Raimund, in Person des hypochondrischen Gymnasiallehrers Benjamin Pilz. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, dass Muschg Kontakt mit Menschen aus Angst vor Ansteckungen mied. Das wird sich durch alle viele seiner Werke in verschiedensten Personen und Konstellationen ziehen.

Am Anfang steht A. Wer von seinen Eltern mit dem Namen Adolf gebrandmarkt wurde, ist 1968 in Wien grundsätzlich verdächtig. Aber auch schon Adolf Muschgs Vater hieß Adolf und wurde im schweizerischen Braunstadt, nicht im innviertlerischen, 17 Jahre nach A.H. in Zürich geboren. Adolf war im deutschen Sprachraum ein gebräuchlicher Name. Westgotisch rex, König der Wölfe. Alles lange vor dem schrecklichsten Adolf der Weltgeschichte, dem A. H-Schicklgruber. Adolf Muschg, der Schriftsteller, wurde 1934 in Zollikon, im Kanton Zürich, geboren.

Ich war als einfache Zuhörerin nicht eingeladen zur Tafelrunde danach im Hinterzimmer des Café Landtmann. Lange, U-förmige Tischreihen mit weißen Tischtüchern und schwarz-befrackten Kellnern. Hinter den Stühlen der geladenen Gäste drängten sich natürlich viele Hörer des Audimax, Journalisten und Fotografen und wer weiß, wer noch alles. Ich glaube nicht, dass Bezeichnungen wie Fan oder Groupie bei uns damals schon gebräuchlich waren. Aber ich war sicher einer von ihnen. Vielleicht sogar in einer Stimmung wie die hysterischen Teenager bei einem Konzert der Beatles. Wer Platz an der Tafel gefunden hatte, bekam einen Teller mit Würsteln serviert und Körbchen mit Gebäck. Senf und Kren, Wasser, Rot- und Weißwein.

Langsam und beharrlich kämpfte ich mich durch das Gedränge nach vorne zum Tisch an der Kopfseite. Ich war klein und schmal, aber wendig. Da saß mein Held, mein Star, Adolf Muschg, im Gespräch mit wichtigen Kulturbeamten und Professoren, die ihn nach Wien eingeladen hatten. Dozenten und Assistenten waren sicher auch dabei. Die ersten Blicke auf ihn zwischen hohen Männerschultern. Ich fand ihn unaussprechlich schön und interessant, das gewellte Haar, die vollen Lippen, die großen Augen mit den üppigen Augenbrauen. Von der Unterhaltung bekam ich wegen des allgemeinen Lärms nichts mit: Gespräche und Blitzlichtgewitter, Teller- und Gläserklirren, Bestecke und Zurufe. Langsam schob ich mich vor in die erste Reihe hinter den Stühlen.

Ich war ihm fast ein wenig bös, dass er wie ein normaler Mensch ins Würstl biss und die Semmel in Senf und Kren tunkte. Ich hatte damals noch überhöhte Vorstellungen von Heldentum, Ehre, Würde und Erhabenheit. Wer gefiel, wurde auf ein Podest gestellt, bekam einen Heiligenschein und wurde in ein übermenschliches Geheimnis gehüllt. So werden Götter gemacht. Ich erinnere mich genau an den schrecklichen Moment, als einmal meinem Vater beim Bücken ein Wind entkam. Nur ein kurzes, dumpfes Pu, und vorbei war’s mit der Gottgleichheit. Jetzt im Landtmann schämte ich mich für das quietschende Geräusch, das das Kaiserwürstl machte, als es zwischen seinen Zähnen verschwand. Die resche Kaisersemmel krachte genauso wie bei allen Sterblichen. Diese Banalität hatte ihn in meinen Augen ein bisschen „entgöttert“.

Aber so schnell gab ich nicht auf. Als ein Mann an seiner Seite aufstand, quetschte ich mich blitzschnell auf den freiwerdenden Sessel und rückte sofort das Fischer-Bändchen heraus, samt Kuli und der Bitte um ein Autogramm. Er schaute von seinem Teller auf, verzog das Gesicht, rückte etwas ab und verschluckte seinen letzten Bissen. Während er Gabel und Messer an den Seiten des Tellers verstaute, langsam die Lippen mit der weißen Stoffserviette abtupfte, stieß ich atemlos meine Fragen hervor:
Hat Yoko wirklich so ausgesehen, war sie so übernatürlich schön, ist das alles so passiert wie im Buch, werden sie sich wiedersehen, gibt es eine Fortsetzung, kann man als Europäer überhaupt die japanische Kultur verstehen? Und was ist mit den Ainu, den Urjapanern im Norden, auf Hokkaido und den Kurilen? Sowjetische Besetzung und japanische Unterdrückung? Was sagen Sie als Schweizer zu dieser Ungerechtigkeit? Yoko war doch eine von den Ainu?

Damals kam ich mir unheimlich klug vor, aber ich werde noch heute rot darüber. Dumme Fragen zur Literatur und zur Politik, die er als Schriftsteller nicht beantworten musste oder konnte. Das Einzige, was ich wollte, war brillieren und ihm auffallen. Er nahm den Kuli und kritzelte seine Unterschrift auf die erste Seite mit den drei Fischen. Er beantwortete keine meiner Fragen, sondern setzte zu einer Erklärung an: Er interessiere sich nicht für Frauen, die sich für seine Bücher interessierten, er möchte nicht mit Frauen über Bücher sprechen, am liebsten seien ihm Japanerinnen, die kein Wort Deutsch könnten und ihm nie solche Fragen stellen würden. Sogar eine taubstumme Japanerin wäre ihm lieber als … Und überhaupt gebe er als neutraler Schweizer zu politischen Fragen keine Kommentare.

Dann warf er seine Serviette auf den Tisch, stieß den Thonet-Stuhl heftig zurück und stand auf. Ich sah ihn noch Richtung WC verschwinden, dann wurde er von der Menschenmenge verschluckt. Ich drängte nach draußen, über die Terrasse auf die Straße, links das Burgtheater, gegenüber das Rathaus, dazwischen der Ring. Nichts wirklich etwas zum Anhalten, da die Bäume schwankten und der Boden unter mir einbrach. Anfangs verstand ich nicht, was da gerade geschehen war, nur dass es etwas Schreckliches gewesen sein musste. Ich lief im Zickzackkurs und schlug Haken am Gutenberg-Denkmal vorbei über den Platz neben der Burg, als hetzte eine Jagdgesellschaft hinter mir her.
Trost suchte ich bei der steinernen Sisi im Volksgarten und warf mich heulend auf die weiße Marmorbank. Das war schon oft mein Rückzugsort vor der Uni gewesen. Wenn nur das Seerosenbecken tiefer gewesen wäre, ich hätte mich darin ertränkt. So eine Abfuhr hatte ich noch nie bekommen. Mir war schlecht, und das ganze Gesicht brannte von dem Schlag, auch die Augen, die Ohren und die Seele. Ich fühlte mich gedemütigt und besudelt.

Ich kühlte mein heißes Gesicht an ihren kalten Marmorfüßen und schluchzte hinein: Warum kann ich nicht japanisch und taubstumm sein. Dann machte ich mich auf den Weg nach Hause, im Bummelzug vom Franz-Joseph-Bahnhof nach Tulln an der Donau.

Ich weiß nicht, wie lange ich gebraucht habe, mich von dieser Schmach und Schande zu erholen, von meiner eigenen und der, die er mir angetan hatte. Vergessen habe ich sie aber nie und danach nie wieder versucht, einem angehimmelten Schriftsteller persönlich näherzukommen, bis ich es 28 Jahre später als Kulturbeamtin beruflich machen musste. Seine nachfolgenden Bücher las ich alle, mit mehr seelischem Abstand als beim Hasen, und verfolgte seinen Lebenslauf: immer mehr Lehraufträge und Reisen, politische Engagements, Erfolge und Misserfolge, Dozentur in Japan, erste Heirat mit einer Schweizerin, Professur, Akademie, zweite Ehe mit einer anderen Schweizerin, 1991, mit 57, eine dritte Ehe mit der Japanerin Atsuko Kanto, lebt ständig in Japan, insgesamt drei Söhne, mehrere Romane und Essays über Japan und die Kritik daran. Japanlastigkeit und Europaunverständnis lastet man ihm an.

Alles Blödsinn, ein Schriftsteller darf immer alles im Rahmen seiner Kunst – und darüber hinaus. Dann musste ich schon einmal sehr schmunzeln, dass er seit dem „Sommer des Hasen“ immerhin 26 Jahre gebraucht hat, eine Japanerin zu finden, die ihm offenbar keine dummen Fragen zu seinen Büchern stellte. Ich hoffe nur, Atsuko ist nicht taubstumm.

31.1.21, 1.2. bis 3.2.22

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
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www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 22036

 

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